Rechtsprechungsstatistiken des Gerichts

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Kommentierte Statistiken der Tätigkeit des Gerichts im Jahr 2022

von Emmanuel Coulon, Kanzler des Gerichts

 

Die Statistiken zur Rechtsprechungstätigkeit des Gerichts sind sowohl ein unentbehrliches Instrument zur Steuerung der gerichtlichen Tätigkeit als auch ein Instrument zur Bewertung der Auswirkungen der gerichtlichen Entscheidungen, zugleich spiegelt sich in den Rechtsstreitigkeiten die Gesetzgebungs‑, Verordnungs- und Entscheidungstätigkeit der Organe und Einrichtungen der Europäischen Union wider. Die Auswertung dieser von der Kanzlei des Gerichts vorgelegten Zahlen steht in engem Zusammenhang mit der Verpflichtung, öffentlich über die vom Gericht geleistete Arbeit und die in der Entwicklung der Rechtsstreitigkeiten festgestellten Tendenzen zu berichten. Sie ist daher von entscheidender Bedeutung.

Im Jahr 2022 führte das Gericht seine Politik der dynamischen Rechtssachenverwaltung fort und traf Vorkehrungen dafür, dass die Verfahren in den großen Fallgruppen, die bis zur Erledigung von als Pilotfälle ausgewählten Rechtssachen ausgesetzt worden waren, fortgesetzt werden konnten. Diese Veränderungen haben zu einer Intensivierung der gerichtlichen Tätigkeit geführt, wie aus den Zahlen zur Tätigkeit der Kanzlei deutlich hervorgeht. Gleichzeitig war das Gericht stets auf der Höhe der aktuellen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, umweltpolitischen und geopolitischen Entwicklungen in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten. Nach den Rechtssachen im Zusammenhang mit der Gesundheitskrise (staatliche Beihilfen, öffentliches Auftragswesen, Handelspolitik, öffentliche Gesundheit, Zugang zu Dokumenten und öffentlicher Dienst), die das Jahr 2021 kennzeichneten, war eine der prägenden Entwicklungen des Jahres 2022 das Aufkommen von Streitigkeiten über restriktive Maßnahmen, die von der Europäischen Union im Kontext des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine erlassen wurden.

Ganz allgemein ist festzustellen, dass mit 904 neu eingegangenen und 858 erledigten Rechtssachen die Zahl der anhängigen Fälle auf 1 474 gestiegen ist.

Der Begriff der anhängigen Rechtssachen umfasst die neu eingegangenen Rechtssachen, die der Präsident des Gerichts noch nicht einem Spruchkörper zugewiesen hat, die Rechtssachen, die sich in Bearbeitung befinden, und die Rechtssachen, in denen das Verfahren gemäß der Verfahrensordnung ausgesetzt wurde.

 

Neu eingegangene Rechtssachen: Überblick über die wichtigsten betroffenen Rechtsgebiete

Die Zahl der neu eingegangenen Rechtssachen übersteigt die der beiden Vorjahre (882 im Jahr 2021 und 847 im Jahr 2020), bleibt aber unter den Zahlen früherer Jahre (939 im Jahr 2019, 917 im Jahr 2017, 974 im Jahr 2016 und 912 im Jahr 2014). Da das Gericht für die Entscheidung in erster Instanz über Klagen von Mitgliedstaaten sowie natürlichen und juristischen Personen zuständig ist, mit Ausnahme derjenigen, die dem Gerichtshof vorbehalten bleiben, ist seine Tätigkeit weitgehend von den Rechtsakten, die von den Organen und Einrichtungen der Europäischen Union erlassen werden, und der Anfechtung dieser Rechtsakte als rechtswidrig abhängig.

Von den rund 40 Rechtsgebieten, in denen Klagen erhoben wurden, sind die Bereiche des auswärtigen Handelns der Europäischen Union (restriktive Maßnahmen) und der für Staaten geltenden Wettbewerbsregeln (staatliche Beihilfen) näher zu betrachten.

Die Streitigkeiten über restriktive Maßnahmen, die eng mit den geopolitischen Entwicklungen verknüpft sind, machten mit 103 neuen Rechtssachen 11,4 % aller im Jahr 2022 neu eingegangenen Rechtssachen aus (gegenüber 4,8 % im Jahr 2021 und 3 % im Jahr 2020). Ab Februar 2022 erließ die Europäische Union im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eine Reihe von restriktiven Maßnahmen gegen natürliche Personen und Organisationen. Die Rechtmäßigkeit der zahlreichen Rechtsakte, mit denen diese Maßnahmen verhängt wurden und von denen mehrere Hundert Bürger und Einrichtungen betroffen waren, war Gegenstand von 75 Klagen, die zwischen dem 30. März und dem 31. Dezember eingereicht wurden. Zu erwähnen ist die am 8. März 2022 von der Gesellschaft RT France, einer in Frankreich ansässigen Gesellschaft, die im Bereich von Spartenprogrammen tätig ist, gegen den Rat der Europäischen Union eingereichte Klage, die darauf abzielte, die Nichtigerklärung des vorübergehenden Verbots der Ausstrahlung von Inhalten zu erreichen. Diese Rechtssache (T‑125/22), in der das Gericht insbesondere über die Wahrung der Verteidigungsrechte und die behauptete Missachtung der Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit zu entscheiden hatte, wurde von der Großen Kammer des Gerichts (mit 15 Richtern) in einem beschleunigten Verfahren nach vier Monaten und 19 Tagen entschieden.

Auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen sind nicht weniger als 68 Rechtssachen neu eingegangen (gegenüber 46 im Jahr 2021 und 42 im Jahr 2020), davon 50 von natürlichen und juristischen Personen, die den Beschluss der Kommission über die von Portugal zugunsten der Freizone Madeira eingeführte Beihilferegelung anfechten.

Im Gegensatz zu den Zuwächsen in diesen beiden Bereichen ist ein Rückgang der Zahl neuer Klagen auf den Gebieten des geistigen Eigentums (270 gegenüber 308 im Jahr 2021 und 282 im Jahr 2020) und des öffentlichen Dienstes (66 gegenüber 81 im Jahr 2021 und 120 im Jahr 2020) zu verzeichnen.

Schließlich ist festzustellen, dass die Zahl der Klagen auf dem Gebiet des Bank- und Finanzwesens zwar nicht deutlich steigt, dort aber jedes Jahr einige Klagen hinzukommen. Im Jahr 2022 wurden 49 neue Klagen registriert, darunter 37 Klagen von Banken und Finanzinstituten gegen den Einheitlichen Abwicklungsausschuss, eine Agentur der Europäischen Union, die für die Verwaltung des einheitlichen Abwicklungsfonds sowie für die Vorbereitung und Durchführung der Abwicklung von Banken mit Sitz in den am einheitlichen Abwicklungsmechanismus beteiligten Mitgliedstaaten zuständig ist.

Dass zudem die Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten ein hochaktuelles Thema sind, zeigt sich an der Nichtigkeitsklage, die Meta Platforms Ireland im Jahr 2022 gegen einen Beschluss des Europäischen Datenschutzausschusses (Rechtssache T‑682/22) eingereicht hat. Dies ist die zweite Klage gegen einen Beschluss dieses Ausschusses, die erste war die von WhatsApp Ireland im Jahr 2021 eingereichte Klage (Rechtssache T‑709/21), die vom Gericht im Jahr 2022 als unzulässig abgewiesen wurde.

2022: Ausscheiden und Amtsantritt von Richtern

Mit 858 erledigten Rechtssachen hat das Gericht weniger Rechtssachen abgeschlossen als im Jahr 2021 (951). Dieser Rückgang um 9,8 % ist weitgehend konjunkturell bedingt. Die Zusammensetzung des Gerichts hat sich nämlich signifikant geändert, da zum einen im Laufe des Jahres neue Richter ihr Amt angetreten haben und zum anderen im Rahmen der dreijährlichen teilweisen Neubesetzung des Gerichts Richter ausgeschieden und hinzugekommen sind. Diese Veränderungen sind natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die Organisation und die Arbeitsweise des Gerichts und seiner Kanzlei geblieben, die erläutert werden sollten.

Mehrere Richter traten ihr Amt im Laufe des Jahres 2022 außerhalb der dreijährlichen Neubesetzung an und übernahmen damit die Nachfolge von Richtern, deren Stellen nach ihrer Ernennung zum Gerichtshof im Oktober 2021 frei geworden waren (Herr Gratsias [Griechenland] wurde zum Richter und Herr Collins [Irland] zum Generalanwalt ernannt), sowie eines Richters, der 2021 verstorben war (Richter Berke [Ungarn]). So wurden Richterin Kingston (Irland) und Richter Dimitrakopoulos (Griechenland) am 13. Januar 2022 sowie Richter Tóth (Ungarn) am 6. Juli 2022 vereidigt.

Zudem traten zwei neue Richter, die gemäß der Verordnung (EU, Euratom) 2015/2422 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (ABl. 2015, L 341, S. 14) ernannt wurden, ihr Amt im Januar 2022 (Richter Kukovec [Slowenien]) und im Juli 2022 (Richterin Ricziová [Slowakei]) an, wodurch das Gericht zum ersten Mal seit dem Abschluss der Reform, mit der das Gericht mit zwei Richtern pro Mitgliedstaat besetzt werden sollte, aus 54 Richtern besteht.

Im Rahmen der teilweisen Neubesetzung des Gerichts im September 2022 traten drei neue Richter ihr Amt an (Richterin Tichy-Fisslberger [Österreich], Richter Valasidis [Griechenland] und Richter Verschuur [Niederlande]).

Das Gericht hat somit im Jahr 2022 acht neue Richter aufgenommen.

Darüber hinaus wählten die Richter, wie alle drei Jahre, unmittelbar nach der teilweisen Neubesetzung den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die Kammerpräsidenten des Gerichts.

Diese Änderungen der Zusammensetzung des Gerichts machten zahlreiche interne organisatorische Maßnahmen erforderlich. Im Rahmen dieser Maßnahmen hat das Gericht beschlossen, zusätzlich zu den acht Kammern mit fünf Richtern zwei Kammern mit sechs Richtern zu bilden und die teilweise Spezialisierung der Kammern zu bestätigen, wobei die Regel beibehalten wurde, wonach vier Kammern Rechtssachen des öffentlichen Dienstes und sechs Kammern Rechtssachen des geistigen Eigentums bearbeiten, während die übrigen Streitsachen auf alle Kammern verteilt werden. Darüber hinaus wurde die Zahl der Spruchkörper, die mit drei Richtern tagen, auf 68 erhöht, zu denen die zehn Spruchkörper mit fünf Richtern sowie die Große Kammer mit 15 Richtern und – im Gegensatz dazu – die Besetzung mit einem Einzelrichter hinzukommen. Die Verwaltung dieser Organisation des aus 54 Richtern zusammengesetzten Gerichts erfordert Genauigkeit und Augenmaß.

Die Durchführung von Begleitmaßnahmen zu den aufeinanderfolgenden Amtsantritten, die mithin im Januar, Juli und September erfolgten, erforderte jeweils den Erlass neuer Entscheidungen des Gerichts (über die Zusammensetzung der Großen Kammer, die Kriterien für die Zuweisung der Rechtssachen an die Kammern, die Modalitäten der Bestimmung des Richters, der einen verhinderten Richter vertritt, die Bildung der Kammern und die Zuteilung der Richter an die Kammern), die im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden und unter der Rubrik „Verfahren“ des Gerichts zugänglich sind.

Die Kanzlei war stark in die Aufnahme neuer Richter und in die Maßnahmen zur Gestaltung und Umsetzung der Modalitäten der Arbeitsorganisation des Gerichts eingebunden. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass aufgrund des Amtsantritts neuer Richter und der Neuzuteilung von Richtern an die Kammern eine große Zahl von Rechtssachen zugewiesen und neu zugewiesen werden musste. Die Umsetzung und die Mitteilung der Zuweisungen und Neuzuweisungen, für die die Kanzlei zuständig ist, betrafen 938 Rechtssachen.

Einige wichtige Zahlen

Festzustellen ist:

  • 82% der Rechtssachen wurden von Spruchkörpern mit drei Richtern erledigt (84% im Jahr 2021 und 75% im Jahr 2020) und fast 12% von erweiterten Spruchkörpern mit fünf Richtern (gegenüber 9% im Jahr 2021 und 15% im Jahr 2020);
  • eine Rechtssache wurde vom Gericht als Große Kammer erledigt (Rechtssache RT France/Rat);
  • zwei Rechtssachen wurden in der Einzelrichterbesetzung entschieden (drei im Jahr 2021 und eine im Jahr 2020);
  • in allen Streitsachen und Rechtsgebieten wurden 57% der Rechtssachen durch Urteil (60% im Jahr 2021 und 55% im Jahr 2020) und 43% durch Beschluss (40% im Jahr 2021 und 45 %im Jahr 2020) erledigt;
  • in 55% der durch Urteil erledigten Rechtssachen fand eine mündliche Verhandlung statt (63% im Jahr 2021 und 62% im Jahr 2020).

Die Zahl der mündlichen Verhandlungen ist nahezu identisch mit der von 2021 (241 Verhandlungen, gegenüber 240 im Jahr 2021 und 227 im Jahr 2020), bei 303 verhandelten Rechtssachen (290 im Jahr 2021 und 335 im Jahr 2020) (diese Abweichung der Zahl der mündlichen Verhandlungen von der Zahl der verhandelten Rechtssachen ist darauf zurückzuführen, dass in Rechtssachen, die verbunden wurden, nur eine mündliche Verhandlung stattfindet). Die mündliche Verhandlung in der Rechtssache Google und Alphabet/Kommission (Google AdSense for Search) (Rechtssache T‑334/19), die vom 2. bis 4. Mai 2022 stattfand, erforderte – wie einige andere – koordinierte Maßnahmen der Kanzlei, damit ein reibungsloser Ablauf gewährleisten werden konnte.

Der Anteil der mündlichen Verhandlungen über Videokonferenz, der sich in absoluten Zahlen von 2020 bis 2021 fast verdoppelt hatte (von 38 auf 72), ist stark zurückgegangen: 4,6% der mündlichen Verhandlungen (d. h. 11 von 241) wurden auf diese Weise durchgeführt, gegenüber 30% im Jahr 2020 (72 von 240 mündlichen Verhandlungen). Diese Entwicklung ist logisch. Der Einsatz von Videokonferenzen, der seit 2020 möglich ist, war daran geknüpft, dass die Partei – Hauptpartei oder Streithelfer – aufgrund der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit der COVID 19-Pandemie nicht nach Luxemburg reisen konnte und dem Einsatz dieses Mittels zugestimmt hat. Zudem war er technisch von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen abhängig, mit denen sichergestellt werden sollte, dass die Verhandlung im Einklang mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens ablief, und in deren Rahmen im Vorfeld der mündlichen Verhandlung die Qualität der gesicherten Übertragung und die Problemlosigkeit der Simultanverdolmetschung überprüft wurden.

Nach dem Ende der Pandemie war die Situation im Jahr 2022 jedoch nicht mehr die gleiche wie im Jahr 2021.

Für die Zukunft wird es interessant sein, zu verfolgen, wie sich die Situation entwickelt, nachdem die neue Bestimmung der Verfahrensordnung, die vom Gericht vorgeschlagen und vom Rat der Europäischen Union angenommen wurde, in Kraft getreten ist. Die Regelung über den Einsatz von Videokonferenzen, die in einem neuen Art. 107a der Verfahrensordnung vorgesehen ist, legt insbesondere die rechtlichen Bedingungen fest, unter denen eine Videokonferenz eingesetzt werden kann, sowie die Zuständigkeit für die Entscheidung über etwaige Anträge, wobei vorgesehen ist, dass die technischen Bedingungen in den Praktischen Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung des Gerichts zu finden sind.

In dem Bestreben, die Politik der Barrierefreiheit des Organs zu konkretisieren, wurden zum ersten Mal in der Geschichte des Organs die Voraussetzungen geschaffen, um einer Person mit Höreinschränkungen die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor dem Gericht zu ermöglichen.

Die durchschnittliche Verfahrensdauer ist sehr zufriedenstellend. Die durchschnittliche Dauer bei durch Urteil oder Beschluss erledigten Rechtssachen beträgt 16,2 Monate (gegenüber 17,3 Monaten im Jahr 2021 und 15,4 Monaten im Jahr 2020) und 20,4 Monate, wenn nur die durch Urteil erledigten Rechtssachen berücksichtigt werden, und schwankt zwischen durchschnittlich 13,4 Monaten bei Rechtssachen des geistigen Eigentums und 43,7 Monaten bei umfangreichen und komplexen Wettbewerbssachen (darunter die Rechtssachen Intel Corporation/Kommission [T‑286/09 RENV], Qualcomm/Kommission [Qualcomm – Ausschließlichkeitszahlungen] [T‑235/18], Google und Alphabet/Kommission [Google Android] [T‑604/18] sowie 13 Rechtssachen zu Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen in Bezug auf mehrere Preiselemente für Luftfrachtdienste).

Bei den durch Beschluss erledigten Rechtssachen ist die durchschnittliche Verfahrensdauer mit 8,9 Monaten die kürzeste, die jemals festgestellt wurde.

Wie oben erwähnt, waren am 31. Dezember 2022 beim Gericht 1 474 Rechtssachen anhängig (46 mehr als am 31. Dezember 2021, aber 23 weniger als Ende 2020). Von diesen Rechtssachen entfielen 6,5% bzw. 20,3% auf den Bereich des öffentlichen Dienstes bzw. des geistigen Eigentums. Fast 27% der anhängigen Rechtssachen stammten also aus Bereichen, in denen das Gericht beschlossen hat, Kammern zu spezialisieren.

Die vorstehenden statistischen Daten berücksichtigen weder die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz, die in die Zuständigkeit des Präsidenten des Gerichts (oder des Vizepräsidenten, der ihn im Falle seiner Verhinderung vertritt) fallen, noch die Anträge auf beschleunigtes Verfahren, die in die Zuständigkeit des Spruchkörpers fallen, dem die Rechtssache zugewiesen wurde. Diese Darstellung wäre daher unvollständig, wenn sie nicht einen besonderen Abschnitt zu diesen Eilverfahren enthielte, bei denen die Kanzlei sowohl bei der Bearbeitung der eingereichten Schriftstücke als auch bei der Ausführung der vom Präsidenten oder vom Gericht getroffenen Entscheidungen eine schnelle Reaktionsfähigkeit beweisen muss.

Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann beim Präsidenten des Gerichts (oder, wenn dieser verhindert ist, beim Vizepräsidenten) beantragt werden, die Vollziehung einer Handlung auszusetzen oder eine andere einstweilige Maßnahme zum Schutz der Interessen des Antragstellers zu erlassen, bis das Gericht in der Hauptsache entschieden hat. Einige Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz wurden mit Ersuchen um eine Entscheidung in äußerster Dringlichkeit verbunden.

Das beschleunigte Verfahren kann auf Antrag einer Hauptpartei oder von Amts wegen vom Gericht gewährt werden. Wenn beschlossen wird, im beschleunigten Verfahren zu entscheiden, gelten besondere Verfahrensregeln, damit das Gericht schnell über die Klage entscheiden kann.

 

Die Zahl der Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz ging 2022 im Vergleich zu 2021 um 22% zurück (37 [davon 9 im Bereich der restriktiven Maßnahmen] gegenüber 45), ebenso wie die Zahl der abgeschlossenen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (37 gegenüber 45).

Die Zahl der Anträge auf beschleunigtes Verfahren belief sich auf 20 (gegenüber 38 im Jahr 2021 und 22 im Jahr 2020), 13 davon im Zusammenhang mit Rechtssachen, in denen die Rechtmäßigkeit der restriktiven Maßnahmen angefochten wurde, die die Europäische Union im Kontext des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine erlassen hatte. Nur einem dieser Anträge im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission über die Rückforderung von zu Unrecht gezahlten Beträgen wurde stattgegeben. Das Gericht hat seinerseits fünfmal von der in Art. 151 der Verfahrensordnung vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, von Amts wegen das beschleunigte Verfahren zu gewähren (u. a. in der Rechtssache RT France/Rat).

Erläuterungen zur Tätigkeit der Kanzlei des Gerichts

Schließlich ist ein besonderer Fokus auf die sehr intensive Tätigkeit der Kanzlei des Gerichts im Jahr 2022 zu richten. Neben der Einbindung des Kanzlers und seines Kabinetts in die Verwaltung des Gerichts, den Änderungen der Verfahrensregeln und den laufenden gerichtlichen und institutionellen Projekten haben alle Teams dieser Dienststelle, die aus 71 Beamten und sonstigen Bediensteten besteht, ihren Teil dazu beigetragen, das Gericht bei der Verfolgung seiner Ziele zu unterstützen. Die Kanzlei war somit stark in die proaktive Verwaltung der Rechtssachen eingebunden, die vom Gericht gewollt und getragen wird.

Mehrere Schwellen wurden zum ersten Mal überschritten:

  • die Zahl von 60 000 Schriftstücken, die in das von der Kanzlei geführte Register eingetragen wurden (60 691 gegenüber 56 827 im Jahr 2021 und 51 399 im Jahr 2020). Eine genauere Analyse zeigt, dass das letzte Quartal außerordentlich arbeitsintensiv war, insbesondere aufgrund der Zuweisungen und Neuzuweisungen von Rechtssachen infolge der Neuzusammensetzung der Spruchkörper im September 2022 sowie aufgrund von Eingängen und Zustellungen in Rechtssachen, die in Gruppen zusammengefasst sind (14% aller Registereintragungen im letzten Quartal entfallen auf Serien von Rechtssachen, an denen der einheitliche Abwicklungsausschuss beteiligt ist);
  • die Zahl von 10 000 Verfahrensschriftsätzen, die von Anwälten und Bevollmächtigten bei der Kanzlei eingereicht wurden (10 412 gegenüber 9 728 im Jahr 2021 und 9 572 im Jahr 2020);
  • die Zahl von 14 600 digitalen Übermittlungsformularen, die die Kanzlei im Rahmen der Verfahren erstellt und mit den Kabinetten der Richter austauscht (14 631 gegenüber 14 314 im Jahr 2021 und 12 636 im Jahr 2020).

Die Kanzlei erbrachte ihre Leistungen auch bei 352 Kammerkonferenzen (Sitzungen, in denen die Richter die Rechtssachen erörtern und Maßnahmen zur Vorbereitung der Entscheidung beschließen) (338 im Jahr 2021 und 325 im Jahr 2020) und bei 241 mündlichen Verhandlungen.

Schließlich konnte die Kanzlei erneut größten Nutzen aus der Anwendung e‑Curia ziehen, deren Nutzung am 1. Dezember 2018 vorbehaltlich einiger Ausnahmen verbindlich vorgeschrieben wurde. Im Jahr 2022 wurden 94% der Schriftstücke elektronisch bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht, was einem Umfang von fast einer Million Seiten (979 676 Seiten) entspricht. Seit 2018 wurden insgesamt 4 588 664 Seiten Dokumente eingereicht und von der Kanzlei des Gerichts bearbeitet, was einen Eindruck davon vermittelt, wie umfangreich einige der Akten sind, die dem Gericht zur Prüfung vorgelegt werden.

Diese Daten geben zwei wichtige Entwicklungen des Jahres 2022 nicht wieder. Die erste zielte darauf ab, die Sicherheitsvorkehrungen zu verstärken, um den Schutz sensibler Daten innerhalb des Gerichts und des Organs zu gewährleisten. Die zweite, die die ständigen Bemühungen des Gerichts um Modernität widerspiegelt, ist die Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur von Urteilen, Beschlüssen und Protokollen der mündlichen Verhandlungen des Gerichts. Die Kanzlei hat ihren vollen Beitrag geleistet, um die internen Verfahren anzupassen und ein System zu erhalten, das den rechtlichen Anforderungen genügt und eine dauerhafte elektronische Archivierung ermöglicht.

Das Gericht der Europäischen Union und seine Kanzlei haben sich also einmal mehr an die tatsächlichen Gegebenheiten angepasst, um den berechtigten Erwartungen der Rechtsuchenden bestmöglich gerecht zu werden. Die Verfahrensvorschriften des Gerichts wurden weiter angepasst, um eine effiziente Bearbeitung der Rechtssachen zu ermöglichen und dabei auftretenden Anforderungen und neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Schließlich wurden anknüpfend an die in den Vorjahren ergriffenen Maßnahmen die Bemühungen fortgesetzt, die gesamte Kette des gerichtlichen Verfahrens von der Einreichung der Schriftstücke über die Anwendung e‑Curia bis zur Zustellung der elektronisch unterzeichneten Entscheidungen auf demselben Weg zu digitalisieren und so zur notwendigen Modernisierung der Rechtspflege beizutragen.


Die Rechtsprechungsstatistiken mehrerer vorangegangener Jahre können ebenfalls auf der Curia-Website (unter der Rubrik „Archiv") eingesehen werden.