SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
DÁMASO RUIZ-JARABO COLOMER
vom 6. September 20051(1)
Rechtssache C‑230/03
Mehmet Sedef
gegen
Freie und Hansestadt Hamburg
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])
„Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates – System der schrittweisen Rechtsgewährung − Kontinuierliche Ausübung einer Beschäftigung − Als Seemann auf Schiffen unter der Flagge eines Mitgliedstaats beschäftigter türkischer Arbeitnehmer − Unerheblichkeit berufstypischer Besonderheiten“
1. Das Bundesverwaltungsgericht hat dem Gerichtshof gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80) zur Vorabentscheidung vorgelegt(2).
2. Die genannte Vorschrift verleiht türkischen Arbeitnehmern bestimmte Rechte, deren Erlangung von der Dauer der Beschäftigung abhängt, die sie in einem der Mitgliedstaaten ausgeübt haben.
3. Die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen sich auf die Wirkungen einiger Unterbrechungen des Berufslebens eines Seemanns auf die Berechnung der Beschäftigungszeiten, die erforderlich sind, um den freien Zugang zu jeder Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu erlangen.
I – Anwendbares Recht
4. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union verändern sich nach den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Umständen(3), der rechtliche Rahmen bleibt jedoch unverändert(4).
A – Das Assoziationsabkommen
5. Am 12. September 1963 wurde in Ankara das Abkommen über die Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei unterzeichnet, das mit Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963(5) im Namen der Gemeinschaft gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Assoziierungsabkommen).
6. Wie ich bereits in den Schlussanträgen in der Rechtssache Öztürk(6) ausgeführt habe, will das Abkommen eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien fördern und den beschleunigten Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleisten. In der Präambel wird anerkannt, dass die Hilfe, die die Gemeinschaft dem türkischen Volk bei seinem Bemühen um die Besserung seiner Lebenshaltung zuteil werden lässt, später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft erleichtern wird(7).
7. Um diese Ziele zu erreichen, wurden eine Vorbereitungsphase, in der die Türkische Republik ihre Wirtschaft mit der Hilfe der Gemeinschaft festigt (Artikel 3), eine Übergangsphase, die auf die Gewährleistung einer schrittweisen Errichtung einer Zollunion(8) gerichtet ist (Artikel 4), und eine Endphase entworfen, die die Koordinierung dieser Politiken verstärken soll (Artikel 5).
8. Um die schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die ihm in dem Abkommen zugewiesen sind (Artikel 6), und ist zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens in den vorgesehenen Fällen befugt, Beschlüsse zu fassen.
9. Die zweite Phase brachte die Überprüfung der schrittweisen Liberalisierung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer(9) mit sich; hierzu stützten sich die Vertragspartien auf die Artikel 48, 49 (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 40 EG) und 50 EWG-Vertrag (jetzt Artikel 41 EG) (Artikel 12)(10).
B – Das Zusatzprotokoll
10. Höhepunkt der Vorbereitungsphase war 1970 die Einfügung des seit 1973 in Kraft befindlichen Zusatzprotokolls(11) in das Assoziierungsabkommen (Artikel 62), durch das die Bedingungen, die Einzelheiten und der Zeitplan für die Verwirklichung der folgenden Phase präzisiert werden sollten (Artikel 1).
11. Titel II regelt die Freizügigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr und widmet den Arbeitnehmern das Kapitel I, nach dessen Artikel 36 diese Freiheit nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens zwischen dem Ende des zwölften und dem Ende des zweiundzwanzigsten Jahres nach dem Inkrafttreten des genannten Abkommens schrittweise hergestellt wird(12); der Assoziationsrat legt die hierfür erforderlichen Regeln fest.
12. Nach Artikel 37 genießen die in der Gemeinschaft beschäftigten Türken im Verhältnis zu den Staatsangehörigen der Gemeinschaftsstaaten Gleichbehandlung bei den Arbeitsbedingungen und beim Entgelt.
C – Der Beschluss Nr. 1/80
13. Nach dem Vorgang des früheren Beschlusses Nr. 2/76 vom 20. Dezember 1976 zur Durchführung des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens erließ der Assoziationsrat am 19. September 1980 den Beschluss Nr. 1/80(13).
14. Artikel 6 steht in Kapitel II – Soziale Bestimmungen – Abschnitt 1 – Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Er hat folgenden Wortlaut:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
− nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
− nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung − vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs − das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
− nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.
…“
II – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15. Der Kläger Sedef, ein 1952 geborener türkischer Staatsangehöriger, war seit 1977 als Seemann bei verschiedenen deutschen Unternehmen beschäftigt, wofür zwar keine Arbeitserlaubnis, wohl aber eine Aufenthaltserlaubnis erforderlich war, die er – beschränkt auf das jeweilige Arbeitsverhältnis – erhielt. Seit dem 18. Januar 1993 ist er aus gesundheitlichen Gründen seedienstuntauglich.
16. Die vom Beginn dieser Beschäftigungen bis zum Eintritt der Berufsunfähigkeit vergangene Zeit lässt sich, wie dies das vorlegende Gericht tut, in vier Gruppen einteilen:
1. Arbeitszeit, einschließlich Jahresurlaub, wobei festzustellen ist, dass er verschiedentlich bei demselben Arbeitgeber länger als ein Jahr beschäftigt war, in keinem Fall jedoch drei Jahre erreicht hat(14);
2. Arbeitslosigkeit, zu der nur die von den Behörden festgestellten Zeiträume gerechnet werden, die von einem Monat und einigen Tagen bis zu beinahe acht Monaten reichen(15);
3. Krankheitszeiten, die kurze und längere (in einem Fall über ein Jahr) Ausfallzeiten umfassen(16);
4. sonstige Zeiten, unter denen die Zeiträume zusammengefasst werden, die vom Kläger selbst als – insgesamt 17 – „unbezahlte Urlaube“ qualifiziert wurden und von einem bis zu 70 Tagen dauerten; − in ungefähr 15 Jahren machen sie etwa 13 Monate (7,2 %) aus(17).
17. Um einer unselbständigen Beschäftigung an Land nachgehen zu können, beantragte er 1992 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die nicht auf eine Erwerbstätigkeit in der Seeschifffahrt beschränkt war; diese wurde ihm von der Freien und Hansestadt Hamburg versagt.
18. Das Verwaltungsgericht Hamburg, das der Kläger anrief, entschied unter Hinweis auf Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80, dass die Erlaubnis zu erteilen sei.
19. Die beklagte Verwaltung legte beim Hamburgischen Oberverwaltungsgericht Berufung ein, das ihrer Berufung stattgab, da der Tatbestand der genannten Vorschrift nicht erfüllt sei.
20. Auf die vom Kläger eingelegte Revision hat das Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung, dass eine Erteilung der Erlaubnis nur nach den europäischen Bestimmungen möglich sei, da der Kläger nach den nationalen Vorschriften(18) keinen Anspruch auf sie habe, das Verfahren ausgesetzt, um dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind Artikel 6 Absatz 1 dritter Spiegelstrich und Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates dahin auszulegen, dass ein türkischer Arbeitnehmer, der seit 1977 länger als 15 Jahre bei wechselnden Arbeitgebern in der dem regulären Arbeitsmarkt zuzurechnenden Seeschifffahrt eines Mitgliedstaats ohne Erfordernis einer Arbeitserlaubnis ordnungsgemäß beschäftigt war und in dieser Zeit die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster Spiegelstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erreicht hat, Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat, wenn seine Beschäftigung in der Seeschifffahrt – neben mehrfachen Unterbrechungen wegen Krankheit und von der zuständigen Behörde festgestellter unverschuldeter Arbeitslosigkeit – in der Zeit zwischen zwei Beschäftigungsverhältnissen 17-mal von einem bis zu 70 Tagen (insgesamt ca. 13 Monate) unterbrochen war und der türkische Arbeitnehmer die längeren Unterbrechungszeiten nach seinen Angaben bei seiner Familie in der Türkei verbracht hat, ohne dass insoweit unverschuldete Arbeitslosigkeit festgestellt worden ist? Kommt es insoweit darauf an, ob derartige Unterbrechungen berufstypisch (hier: seefahrtstypisch) sind?
2. Setzt ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Artikel 6 Absatz l dritter Spiegelstrich des Beschlusses Nr. 1/80 voraus, dass der türkische Arbeitnehmer die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 zweiter Spiegelstrich des Beschlusses Nr. 1/80 zuvor erfüllt hat? Kommt es insoweit darauf an, ob ein Wechsel des Arbeitgebers vor Ablauf von drei Jahren berufstypisch (hier: seefahrtstypisch) ist?
III – Das Verfahren vor dem Gerichtshof
21. Schriftliche Erklärungen haben innerhalb der in Artikel 20 der Satzung des Gerichtshofes bestimmten Frist die Freie und Hansestadt Hamburg, die deutsche Regierung und die Kommission eingereicht.
22. In der Sitzung vom 30. Juni 2005 haben der Kläger und die Kommission mündlich verhandelt.
IV – Erörterung der Vorlagefragen
23. Da sich die Fragen des vorlegenden Gerichts auf Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 beziehen, sind vor ihrer Prüfung im Hinblick auf den vorliegenden Fall einige allgemeine Erwägungen über den Inhalt dieser Vorschrift anzustellen; außerdem ist der Einfluss der Tatsache, dass der Kläger Seemann war, zu behandeln.
A – Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80
24. Der Beschluss Nr. 1/80 stellt die türkischen Arbeitnehmer nicht den gemeinschaftlichen Arbeitnehmern gleich, weil sie weder die sich aus der Freizügigkeit herleitenden Rechte noch das Recht auf Ein- und Ausreise und Aufenthalt beanspruchen können. Sie genießen lediglich in dem Aufnahmeland, in das sie rechtmäßig eingereist sind und in dem sie eine bestimmte Zeit lang ordnungsgemäß beschäftigt gewesen sind(19), einige Rechte; sie befinden sich auch nicht in derselben Lage wie die Staatsangehörigen von Drittländern(20).
25. Nach Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 erlangt der Arbeitnehmer je nach Dauer der Zugehörigkeit unterschiedliche Rechte, wenn er „dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört“.
1. Die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt
26. Diese Zugehörigkeit setzt ein Arbeitsverhältnis voraus, das im Gemeinschaftsgebiet zu lokalisieren oder zumindest eng damit verbunden ist und darüber hinaus eine „reguläre“ Beschäftigung darstellt.
27. Zur Prüfung des ersten dieser Punkte verwendet die Rechtsprechung dieselben Kriterien wie im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer(21) und bejaht das Vorliegen des Arbeitsverhältnisses, wenn der Arbeitnehmer für einen anderen nach dessen Weisung eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, für die er eine Vergütung erhält(22). Entsprechend stellt sie die gebietsmäßige Verknüpfung fest, wobei die Orte der Einstellung und der Ausübung der lohn- oder gehaltsabhängigen Tätigkeit und darüber hinaus die nationalen Vorschriften im Bereich des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen sind(23).
28. Die Ordnungsmäßigkeit der Eingliederung in den Arbeitsmarkt setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Situation(24) und weiter voraus, dass der Arbeitnehmer die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmestaats beachtet hat und somit in diesem Land einen Beruf ausüben darf(25).
2. Die zuerkannten Rechte
29. Das System der schrittweisen Integration gewährt verschiedene Vorteile, die Voraussetzungen unterliegen, die je nach der Dauer der Beschäftigung unterschiedlich sind(26).
30. Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80, der nach ständiger Rechtsprechung unmittelbare Wirkung hat(27), führt unter seinen drei Gedankenstrichen weitere Arten von Rechten auf, die mit der Dauer der Beschäftigung in dem Mitgliedstaat nacheinander erworben werden und zu einem entsprechendes Aufenthaltsrecht führen(28).
31. Wenn sich die ordnungsgemäße Beschäftigung über mehr als ein Jahr erstreckt, wird das Recht auf Erneuerung der Arbeitserlaubnis mit dem ursprünglichen Arbeitgeber erworben; dauert sie zwei Jahre an, kann der Arbeitgeber gewechselt werden, Beruf und Land jedoch nicht; schließlich ist nach einem weiteren Jahr der Zugang zu jeder Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis eröffnet.
32. Sobald die letzte Stufe erreicht ist, gehen die erlangten Vergünstigungen nur dann verloren, wenn der Arbeitsmarkt endgültig verlassen wird, unabhängig von der Ursache hierfür(29), oder wenn der für die Eingehung eines neuen Arbeitsverhältnisses nach einer vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit angemessene Zeitraum überschritten wird(30).
3. Die Berechnung der Zeit
33. Die Entstehung der Rechte gemäß den Gedankenstrichen des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 unterliegt der „ununterbrochenen“ Ausübung einer Beschäftigung für ein, drei oder vier Jahre. Folglich wird die jeweilige Frist unterbrochen, wenn die Beschäftigung unterbrochen wird, so dass sie, wenn Letztere wieder aufgenommen wird, nicht fortgesetzt wird, sondern wieder von neuem beginnt.
34. Da dieser Grundsatz Ungerechtigkeiten bewirken könnte, sieht Absatz 2 einige Ausnahmetatbestände vor, wobei nach der Art und der Dauer der Beschäftigungsunterbrechungen zwischen solchen unterschieden wird, die zu einem positiven Ergebnis führen, weil diese Zeit einer solchen der ordnungsgemäßen Beschäftigung gleichgestellt wird (Jahresurlaub, Abwesenheit wegen Mutterschaft sowie Arbeitsunfälle und kürzere Krankheiten), und solchen, die ein negatives Ergebnis verhindern, da sie die Beeinträchtigung der früher erworbenen Rechte vermeiden (ordnungsgemäß festgestellte unverschuldete Arbeitslosigkeit, Abwesenheit wegen langer Krankheit).
35. In diesen letzteren Fällen wird derjenige, der aus einem der genannten Gründe keiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen ist, davon befreit, dass die Frist wieder so zu laufen beginnt, als ob er im Aufnahmestaat noch niemals ordnungsgemäß beschäftigt gewesen wäre(31).
36. Die Besonderheiten in Bezug auf die Dauer der Beschäftigung werden unanwendbar, wenn der türkische Arbeitnehmer die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich für die unbeschränkte Freiheit, die diese Bestimmung gewährt(32), erfüllt und außerdem berechtigt ist, seine Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt zu unterbrechen, da er bereits ordnungsgemäß in dessen Struktur eingegliedert ist(33). Dieser Fall, in dem einige Unterbrechungen ohne Relevanz sind, ist nicht mit den früheren zu verwechseln, in denen der Erwerb der Rechte auf dem Spiel steht.
37. Hervorzuheben ist auch, dass die genannten Fälle eng auszulegen sind(34), da andernfalls die Berechnung verfälscht würde; gleichwohl können Umstände vorliegen, unter denen unterschiedliche Zeiten von im Allgemeinen kurzer Dauer zu berücksichtigen sind(35).
B – Die Auslegung von Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 und der Beruf des Seemanns
38. Jeweils am Ende der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen fragt das vorlegende Gericht, ob es eine Rolle spielt, dass bestimmte Umstände seefahrtstypisch sind.
39. Die Seefahrt stellt einen Bereich dar, der seit jeher zahlreiche Gefahren und große Schwierigkeiten in sich birgt, da er in einem feindlichen und unbarmherzigen Umfeld ausgeübt wird, auch wenn sich die Bedingungen seiner Ausübung im Laufe der Zeit verändert haben(36). „Für uns Seeleute ist das Meer grundsätzlich eine Straße, es ist ausschließlich ein Weg. Doch was für einer! Ich werde nie das erste Mal vergessen, als ich den Ozean überquerte. Noch beherrschten die Segelschiffe die Welt. Was für eine Zeit das war! Ich sage nicht, dass das Meer damals besser war, nein; aber es war doch poetischer, geheimnisvoller, unbekannter. Heute wird das Meer zusehends industrialisiert … Der Seemann in seinem Schiff aus Eisen weiß, wann er ablegt, wann er anlegen wird, ihm werden die Tage und die Stunden gezählt …; damals war das nicht so; man stach mit Zufall, Schicksal und günstigem Wind in See … heute hat sich das Meer verändert, das Schiff hat sich verändert, und auch der Seemann hat sich verändert.“ So lässt ein bekannter spanischer Autor der „Generación de 1898“ seinen Protagonisten sprechen(37).
40. Diese Tätigkeit weist heute wie damals erhebliche Unterschiede zu sonstigen auf. Der Härte und den besonderen Umständen des Lebens und der Arbeit der Seeleute haben das Völkerrecht(38), das Recht der Mitgliedstaaten(39) und das Gemeinschaftsrecht Rechnung getragen.
41. Gemeinschaftsrechtliche Beispiele sind die Richtlinie 1999/63/EG des Rates vom 21. Juni 1999 zu der vom Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und dem Verband der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (FST) getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten(40) sowie die Richtlinie 1999/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 1999 zur Durchsetzung der Arbeitszeitregelung für Seeleute an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen(41).
42. Ähnlich wie in anderen Bereichen, z. B. dem der Beförderung(42), spiegeln sich die Besonderheiten der Arbeit der Seeleute in den Vorschriften, hauptsächlich in Aspekten des Schutzes und der Sicherheit, wider.
43. Das Bestehen einer eigenen Regelung zeigt, dass den Besonderheiten eines Berufes Rechnung getragen wurde, wenn dies für angebracht gehalten wurde.
44. In dem Beschluss Nr. 1/80 gibt es keine Bezugnahme auf bestimmte Kategorien von Arbeitnehmern, weil seine Bestimmungen unterschiedslos für alle lohn- oder gehaltsabhängig Beschäftigten gelten, gleichgültig, welcher Tätigkeit sie nachgehen.
45. Dieser Feststellung steht nicht Artikel 12 entgegen, der die Mitgliedstaaten und die Türkei dazu ermächtigt, vorübergehend die Artikel 6 und 7 nicht automatisch anzuwenden, wenn der Lebensstandard oder das Beschäftigungsniveau in einem Gebiet, einem Wirtschaftszweig oder einem Beruf ernsten Störungen ausgesetzt oder von ernsten Störungen bedroht sind, weil diese Bezugnahme allgemeiner Art ist und sich aus dem zeitlich begrenzten Ausnahmecharakter der Situation erklärt.
46. Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 6 Absatz 1 allgemein und unbedingt gefasst sei, da er keine Befugnis der Mitgliedstaaten vorsehe, bestimmte Kategorien von türkischen Arbeitnehmern von der Inanspruchnahme der Rechte auszuschließen, die ihnen diese Vorschrift unmittelbar verleihe(43). Diese Auffassung ist auf all die Fälle übertragbar, in denen berufstypische Umstände geltend gemacht werden.
47. Folglich sind die typischen Umstände einer Tätigkeit, wenn sie umfassend betrachtet wird, bei der Auslegung der genannten Vorschrift unerheblich, deren Einheitlichkeit in Gefahr wäre, würden Ausnahmen zugelassen und die Regeln nach den ausgeübten Berufen abgestuft, da sich nicht verhindern ließe, dass für andere Tätigkeitsbereiche ebenfalls eine privilegierte Behandlung angestrebt würde; dies hätte eine kasuistische Rechtsprechung zur Folge, die die Kohärenz des Systems und die Rechtssicherheit in Frage stellen würde, auch wenn nichts dem entgegensteht, dass bei der Bestimmung der in dieser Vorschrift enthaltenen Rechte den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird.
C – Die erste Vorlagefrage
48. Die zentrale Frage des vorlegenden Gerichts betrifft die Auslegung von Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich und Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 bei der Untersuchung der Folgen, die die weder durch ordnungsgemäß festgestellte Arbeitslosigkeit noch durch Krankheitszeiten verursachten Unterbrechungen für die Anerkennung des freien Zugangs zur Beschäftigung haben, sowie die Auswirkung des Umstands, dass der Wechsel des Arbeitgebers berufstypisch ist, wobei ich diesen letzten Aspekt, der auch die andere Vorlagefrage betrifft, eben behandelt habe.
49. Diese Frage stellt sich im vorliegenden Fall, weil der Kläger mehr als 15 Jahre auf deutschen Schiffen bei verschiedenen Arbeitgebern arbeitete, nach den vom Bundesverwaltungsgericht mitgeteilten Daten ununterbrochen jedoch nur für die Zeit, die erforderlich ist, um das Recht auf Erneuerung der Arbeitserlaubnis beim ersten Arbeitgeber nach dem ersten Gedankenstrich des erwähnten Artikels zu erlangen.
50. Wenn die Zeiträume von einem bis 70 Tagen mitgerechnet würden, die der Kläger als „unbezahlten Urlaub“ bezeichnet, würde die Höchstgrenze für die letzte Stufe nach dem dritten Gedankenstrich unter der Bedingung erreicht, dass diese Zeiten auch unter Absatz 2 dieser Vorschrift fallen.
51. Insoweit scheint klar, dass die Gleichstellung mit den genau berechenbaren Zeiten des Jahresurlaubs oder des Ausfalls wegen kürzeren Krankheiten nicht angebracht ist, und so versteht es auch das vorlegende Gericht.
52. Auch die Gleichstellung mit den Zeiten, in denen er an längeren Krankheiten litt, die in einem anderen Abschnitt aufgenommen sind, kommt nicht in Betracht.
53. Hinsichtlich der Gleichstellung mit den Fällen unverschuldeter Arbeitslosigkeit ist zu bemerken, dass die Vorschrift nur die erwähnt, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt werden. Diese Feststellung ist im Zusammenhang mit ihrem Zweck auszulegen, Betrug zu verhindern und die Überwachung der Arbeitnehmer durch den Staat zu erleichtern, da die Unterlassung der behördlichen Meldung die Ordnungsmäßigkeit des Status beeinträchtigen kann(44).
54. Den im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts mitgeteilten Daten ist zu entnehmen, dass der Kläger in der Erwartung einer baldigen Beschäftigung rechtmäßig davon absehen konnte, sich arbeitslos zu melden(45), was vielfach vorkam, und es wird ebenfalls festgestellt, dass er nach der Rückkehr nach Deutschland, wo für die Beschäftigung als Seemann außerdem keine Arbeitserlaubnis erforderlich ist, sondern eine Aufenthaltserlaubnis ausreicht, gewöhnlich ohne größere Probleme einer entgeltlichen Beschäftigung nachging(46).
55. Folglich wären die kürzeren Unterbrechungen den Zeiten ordnungsgemäß festgestellter unverschuldeter Arbeitslosigkeit gleichzustellen, da die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats nicht beeinträchtigt ist und auch die Zweckbestimmung der behördlichen Feststellung der Arbeitslosigkeit nicht verfälscht wird(47).
56. Das ist auch deshalb gerechtfertigt, weil, wie ich oben ausgeführt habe, Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer bezweckt, wobei er die ordnungsgemäße Ausübung einer Beschäftigung voraussetzt, die im Fall des Klägers hinreichend nachgewiesen ist.
57. Dem entspricht weiter das Urteil vom 17. April 1997 in der Rechtssache C‑351/95(48), das die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen erwähnt. Auch wenn es sich auf Artikel 7 des Beschlusses Nr. 1/80 bezieht, der für die Zusammenführung des türkischen Arbeitnehmers mit seinen Familienangehörigen konzipiert ist, wenn sie seit drei Jahren im Aufnahmestaat „ununterbrochen“ ihren Wohnsitz haben, heißt es dort, „dass sich der Betroffene … aus berechtigten Gründen für einen angemessenen Zeitraum vom gemeinsamen Wohnsitz entfernen [darf], z. B. um Urlaub zu machen oder seine Familie im Heimatland zu besuchen“ (Randnr. 48).
58. Unter diesen letzteren Fall lassen sich einige der streitigen Zeiten subsumieren, nicht jedoch die, die sich übermäßig lang ausdehnten, weil das Beschäftigungsangebot lange unkonkret blieb oder der Besuch bei der Verwandtschaft zeitlich über ein vernünftiges Maß hinausging.
59. Wie dem auch sei, es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofes, die Zeiten zu konkretisieren, die den Fällen des Artikels 6 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 gleichzustellen sind, da er sich in die Zuständigkeiten des nationalen Gerichts einmischen würde; er hat sich daher darauf zu beschränken, ihm die notwendigen Hinweise zu geben, um das Gemeinschaftsrecht im Ausgangsverfahren angemessen anzuwenden.
60. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 6 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 Unterbrechungen in Arbeitsverhältnissen wie die des vorliegenden Falles umfasst, soweit sie nicht zu lange andauern, weil das Beschäftigungsangebot lange unkonkret bleibt oder weil die Besuche bei der Familie über ein vernünftiges Maß hinausgehen, wobei es Sache des nationalen Richters ist, solche Unterbrechungen zu qualifizieren.
D – Die zweite Vorlagefrage
61. Das Bundesverwaltungsgericht möchte weiter wissen, ob es für die Erlangung des Rechts nach Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erforderlich ist, dass zuvor die im zweiten Gedankenstrich genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
62. Die Gedankenstriche der genannten Bestimmung gewähren zunehmend weiter gehende Rechte auf freien Zugang zur Beschäftigung nach der Zeit, während der eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt wird. Wird ausschließlich der zeitliche Aspekt des Arbeitsverhältnisses betrachtet, so kann eine autonome Beurteilung der der jeweiligen Phase entsprechenden Voraussetzungen derart vorgenommen werden, dass die höhere Stufe die niedrigeren − d. h. vier und drei Jahre oder drei Jahre und ein Jahr − umfasst
63. Die Schwierigkeit ergibt sich bei der Prüfung, ob die Einstellung bei einem einzigen Arbeitgeber oder bei verschiedenen erfolgt ist, da nur dann, wenn die drei Jahre ordnungsgemäßer Beschäftigung überschritten sind, über den zweiten Gedankenstrich hinausgegangen werden kann und ab diesem Zeitpunkt Angebote von anderen als dem ersten Arbeitgeber angenommen werden können.
64. Das System der schrittweisen Eingliederung des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 setzt voraus, dass die verschiedenen Stufen eine nach der anderen erklommen werden müssen, um die höchste Stufe der Vergünstigungen zu erreichen, ohne dass es somit zulässig wäre, in einem Sprung die letzte Stufe zu erreichen.
65. Grafisch sind vier konzentrische Kreise vorstellbar. In dem kleinsten bestehen lediglich Anwartschaften; wird jedoch ein Jahr bei demselben Arbeitgeber gearbeitet, so wird der zweite Kreis betreten, und der Arbeitnehmer kommt in den Genuss der möglichen Erneuerung der Arbeitserlaubnis; für den Fall, dass die Beschäftigung drei Jahre dauert − und zwar beim ersten Arbeitgeber −, wird der dritte erreicht, der bei Beibehaltung desselben Berufes zum Wechsel des Arbeitgebers berechtigt; wenn vier Jahre in derselben Beschäftigung vergangen sind, hat der Arbeitnehmer die Freiheit, den Arbeitgeber zu wählen, sowie die, sich für irgendeine andere Beschäftigung zu entscheiden.
66. Nach dem Urteil Eroglu ist Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 anzuwenden, wenn die Verlängerung der Arbeitserlaubnis „zur Fortsetzung [der] Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber über die ursprüngliche Dauer ordnungsgemäßer Beschäftigung von einem Jahr hinaus“ beantragt wird (Randnr. 13), ohne dass sein Anwendungsbereich so auszudehnen ist, dass der Arbeitgeber „vor Ablauf der im zweiten Gedankenstrich vorgeschriebenen drei Jahre“ gewechselt werden könnte, wodurch außerdem „die Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten den Vorrang [verlören], den ihnen der zweite Gedankenstrich für den Fall gegenüber dem türkischen Arbeitnehmer einräumt, dass dieser seinen Arbeitgeber wechselt“ (Randnr. 14).
67. Entsprechend heißt es im Urteil vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C‑386/95(49), dass „die Kohärenz des … Systems der schrittweisen Eingliederung des türkischen Arbeitnehmers erschüttert [würde], wenn der Betroffene das Recht hätte, eine Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber aufzunehmen, solange er nicht einmal die im ersten Gedankenstrich von Absatz 1 enthaltene Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung von einem Jahr erfüllt hat … der türkische Arbeitnehmer [hat] nämlich erst nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat die Möglichkeit, eine Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber aufzunehmen …“ (Randnr. 23).
68. Die vorstehenden Gründe stellen den Ausgangspunkt für die Beantwortung der Vorlagefrage dar, sind jedoch nicht als Automatismus zu verstehen, bei dem sonstige Umstände, deren Bedeutung der Mitgliedstaat bei der Entscheidung über die Anträge des türkischen Arbeitnehmers ausdrücklich beurteilt hat, außer Acht gelassen würden. Würde von diesen Besonderheiten abgesehen, so würde die Vorschrift nur nach ihrem Wortlaut, ohne Beachtung ihres Zieles und Zweckes und unter Vernachlässigung des Gedankens der Gerechtigkeit angewandt, die mit einer Auslegung ihrer Voraussetzungen nach Sinn und Zweck sowie nach der Systematik zu erreichen ist.
69. Im vorliegenden Fall haben nämlich die deutschen Behörden dem Kläger die Aufenthaltserlaubnisse, die er für seine Beschäftigung als Seemann benötigte, ohne irgendwelche Einwände selbst dann erteilt, wenn er sie beantragte, um Beschäftigungsverhältnisse bei wechselnden Reedern einzugehen, obwohl er niemals ein Beschäftigungsverhältnis mit demselben Arbeitgeber für mehr als drei Jahre aufrechterhielt − lediglich in einigen Fällen überschritt er ein Jahr(50). Sie sahen also von der Strenge des Wortlauts der Vorschrift ab und wogen alle konkurrierenden Gesichtspunkte in ihrer Gesamtheit ab, um ihrem Geist bei der Anwendung auf den Fall des Klägers zu entsprechen. Ausschließlich bei der Bewerbung um Arbeit an Land ist die strikte Erfüllung der Voraussetzungen der Gedankenstriche des Artikels 6 Absatz 1 erforderlich(51).
70. In diesem Sinne fordert das bereits genannte, auch von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen angeführte Urteil Ertanir, „kurze Zeiträume [mitzuberechnen], in denen der türkische Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat keine gültige Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis besaß und die nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 6 Absatz 2 dieses Beschlusses fallen, wenn die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats nicht deswegen die Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts des Betroffenen im Inland in Frage gestellt, sondern ihm vielmehr eine neue Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis erteilt haben“ (Randnr. 69).
71. Unter Berücksichtigung dieser Auffassung lässt sich annehmen, dass unter Umständen wie den dargelegten die Handlungen der zuständigen Behörden in mehr als 16 Jahren den Anschein der Ordnungsmäßigkeit des Status des Klägers schufen, da die Voraussetzungen der Gedankenstriche von Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 flexibel ausgelegt wurden. So wurden dem Kläger, der lediglich das Recht nach dem ersten Gedankenstrich erlangt hatte, die Beschäftigung bei dem ersten Arbeitgeber fortzusetzen, immer wieder Arbeitserlaubnisse für andere Unternehmen des Sektors erteilt, ein im zweiten Gedankenstrich vorgesehenes Recht, das ein Beschäftigungsverhältnis von mehr als drei Jahren bei demselben Reeder voraussetzt.
72. Damit einher geht die Feststellung der Zugehörigkeit zum regulären deutschen Arbeitsmarkt und einer gesicherten Beschäftigung seit Beginn der Arbeit als Seemann im Jahr 1977 bis zum Eintritt der Berufsunfähigkeit im Jahr 1993(52).
73. Die Eigenarten des vorliegenden Falles, die praktische Wirksamkeit, die der Gerichtshof dem Beschluss Nr. 1/80 zuerkannt hat(53), sowie der Zweck des im Zusammenhang mit den übrigen anwendbaren Vorschriften betrachteten Assoziierungsabkommens, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, sprechen dafür, dass unter Umständen wie den beschriebenen die Prüfung der Voraussetzungen des dritten Gedankenstrichs des Absatzes 1 der Vorschrift autonom vorgenommen wird, ohne zuvor die des zweiten Gedankenstrichs zu prüfen.
V – Ergebnis
74. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts wie folgt zu beantworten:
1. Artikel 6 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei umfasst Unterbrechungen in Arbeitsverhältnissen wie die des vorliegenden Falles, soweit sie nicht zu lange andauern, weil das Beschäftigungsangebot lange unkonkret bleibt oder weil die Besuche bei der Familie über ein vernünftiges Maß hinausgehen, wobei es Sache des nationalen Richters ist, solche Unterbrechungen zu qualifizieren.
2. Eine Aufenthaltserlaubnis nach Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 setzt voraus, dass zunächst die Voraussetzungen des zweiten Gedankenstrichs der genannten Vorschrift erfüllt sind. Die Prüfung der Voraussetzungen des dritten Gedankenstrichs kann jedoch unter außergewöhnlichen Umständen, wie denen der Arbeitsverhältnisse des vorliegenden Falles, autonom erfolgen.