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Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 8. Mai 2024(1)

Rechtssache C126/23 [Burdene](i)

UD,

QO,

VU,

LO,

CA

gegen

Presidenza del Consiglio dei Ministri,

Ministero dell‘Interno

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Ordinario di Venezia [Gericht Venedig, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/80/EG – Art. 12 Abs. 2 – Nationale Regelungen für die Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten – Tod des Opfers – Entschädigung von nahen Familienangehörigen – Begriff ‚Opfer‘ – Nationale Regelung, die die Zahlung einer Entschädigung an nahe Familienangehörige des Opfers ausschließt, wenn es einen hinterbliebenen Ehepartner und Kinder gibt – ‚Gerechte und angemessene‘ Entschädigung“






I.      Einleitung

1.        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten(2), der Art. 20 und 21, von Art. 33 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(3) sowie von Art. 1 des Protokolls Nr. 12 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(4).

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Eltern, der Schwester und den Kindern des Opfers eines Tötungsdelikts einerseits und der Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats, Italien) sowie dem Ministero dell‘Interno (Innenministerium, Italien) andererseits über den Ersatz ihrer Schäden durch den italienischen Staat aufgrund der Zahlungsunfähigkeit des Täters, wobei dieser Ersatz entweder zu niedrig ausgefallen oder gänzlich ausgeblieben sein soll.

3.        Ich werde darlegen, aus welchen Gründen ich der Ansicht bin, dass eine nationale Regelung, die im Fall des Todes des Opfers die Zahlung von Entschädigungen an bestimmte Familienangehörige aufgrund einer vom Erbrecht abgeleiteten Rangfolge automatisch ausschließt, nicht mit dem Unionsrecht auf dem Gebiet der Entschädigung der Opfer von Straftaten in Einklang steht.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2004/80

4.        In den Erwägungsgründen 3, 5 bis 7 und 10 der Richtlinie 2004/80 heißt es:

„(3)      Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere dazu aufgerufen, Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich deren Zugang zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche, einschließlich der Prozesskosten – auszuarbeiten.

(5)      Am 15. März 2001 hat der Rat den Rahmenbeschluss 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren[(5)] angenommen. Nach diesem Beschluss, der sich auf Titel VI [‚Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen‘(6)] des Vertrags über die Europäische Union stützt, haben Opfer von Straftaten das Recht, im Rahmen eines Strafverfahrens eine Entschädigung durch den Täter zu erwirken.

(6)      Opfer von Straftaten in der Europäischen Union sollten unabhängig davon, an welchem Ort in der [Union] die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben.

(7)      Mit dieser Richtlinie wird ein System der Zusammenarbeit eingeführt, damit Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung erhalten; dieses System sollte sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten stützen. Daher sollte es in allen Mitgliedstaaten eine Entschädigungsregelung geben.

(10)      Opfer von Straftaten können oft keine Entschädigung vom Täter erhalten, weil dieser möglicherweise nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um einem Schadensersatzurteil nachzukommen, oder weil der Täter nicht identifiziert oder verfolgt werden kann.“

5.        Kapitel II („Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“) der Richtlinie 2004/80 enthält Art. 12, der vorsieht:

„(1)      Die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen stützen sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten.

(2)      Alle Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet.“

6.        Kapitel III („Durchführungsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/80 umfasst die Art. 13 bis 21. In Art. 17 („Günstigere Bestimmungen“), heißt es:

„Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran,

a)      günstigere Bestimmungen zugunsten der Opfer von Straftaten oder sonstiger von Straftaten betroffener Personen einzuführen oder beizubehalten;

b)      vorbehaltlich der von den Mitgliedstaaten zu diesem Zweck festgelegten Bedingungen Bestimmungen für die Entschädigung der Opfer von außerhalb ihres Hoheitsgebiets begangenen Straftaten oder sonstiger durch eine solche Straftat betroffener Personen einzuführen oder beizubehalten.“

2.      Richtlinie 2012/29/EU

7.        Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI(7) heißt es:

„Eine Person sollte unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde und unabhängig davon, ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Täter und der betroffenen Person besteht, als Opfer betrachtet werden. Auch die Familienangehörigen der Opfer können durch die Straftat einen Schaden erleiden. Insbesondere können Familienangehörige einer Person, deren Tod direkte Folge einer Straftat ist, durch die Straftat einen Schaden erleiden. Daher sollten die Schutzmaßnahmen dieser Richtlinie auch diesen Familienangehörigen, die indirekte Opfer der Straftat sind, zugutekommen. Allerdings sollten die Mitgliedstaaten Verfahren einrichten können, um die Zahl der Familienangehörigen, denen die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zugutekommen können, zu begrenzen. Bei Kindern sollte das Kind oder der Träger des elterlichen Sorgerechts – es sei denn, letzteres dient nicht dem Wohle des Kindes – die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte im Namen des Kindes wahrnehmen dürfen. Diese Richtlinie lässt einzelstaatliche Verwaltungsverfahren, die zur Bestätigung der Opfereigenschaft einer Person erforderlich sind, unberührt.“

8.        Art. 2 der Richtlinie 2012/29 bestimmt:

„(1)       Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Opfer‘:

i)      eine natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust, der direkte Folge einer Straftat war, erlitten hat;

ii)      Familienangehörige einer Person, deren Tod eine direkte Folge einer Straftat ist, und die durch den Tod dieser Person eine Schädigung erlitten haben;

b)      ‚Familienangehörige‘ den Ehepartner des Opfers, die Person, die mit dem Opfer stabil und dauerhaft in einer festen intimen Lebensgemeinschaft zusammenlebt und mit ihm einen gemeinsamen Haushalt führt, sowie die Angehörigen in direkter Linie, die Geschwister und die Unterhaltsberechtigten des Opfers;

(2)      Die Mitgliedstaaten können Verfahren einführen,

a)      um die Zahl der Familienangehörigen, denen die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zugutekommen können, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu begrenzen, und

b)      um im Zusammenhang mit Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii zu bestimmen, welche Familienangehörigen in Bezug auf die Ausübung der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte Vorrang haben.“

B.      Italienisches Recht

9.        Art. 11 der Legge n. 122 – Disposizioni per l‘adempimento degli obblighi derivanti dall‘appartenenza dell‘Italia all‘Unione europea – Legge europea 2015-2016 (Gesetz Nr. 122 mit Vorschriften zur Umsetzung der Verpflichtungen aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Union – Europäisches Gesetz 2015-2016)(8) vom 7. Juli 2016 in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 122/2016) sieht vor:

„(1)      Unbeschadet der Maßnahmen zugunsten von Opfern von Straftaten nach anderen, günstigeren Rechtsvorschriften hat das Opfer einer vorsätzlichen Straftat, die mit Gewalt gegen die eigene Person begangen wurde, und in jedem Fall einer Straftat nach Art. 603bis des Codice penale [(Strafgesetzbuch)], mit Ausnahme der Straftaten gemäß den Art. 581 und 582, sofern keine erschwerenden Umstände gemäß Art. 583 des Strafgesetzbuchs vorliegen, das Recht auf eine Entschädigung durch den Staat.

(2)      Die Entschädigung für Verbrechen der Tötung, der sexuellen Nötigung oder der besonders schweren Körperverletzung gemäß Art. 583 Abs. 2 des Strafgesetzbuches … wird dem Opfer oder den in Abs. 2bis genannten Rechtsnachfolgern in dem Umfang gezahlt, der in dem in Abs. 3 genannten Dekret festgelegt ist. Bei anderen als den soeben genannten Straftaten wird eine Entschädigung für die Kosten der ärztlichen Behandlung und der Pflegeleistungen gezahlt.

(2bis)      Stirbt das Opfer infolge der Straftat, so wird die Entschädigung dem überlebenden Ehepartner und den Kindern gewährt; gibt es weder einen Ehepartner noch Kinder, wird die Entschädigung an die Eltern gezahlt; gibt es auch keine Eltern mehr, an die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat [mit dem Opfer] in häuslicher Gemeinschaft lebenden und unterhaltsberechtigten Geschwister …

(2ter)      Im Fall des Zusammentreffens mehrerer Anspruchsberechtigter wird die Entschädigung nach den Quoten aufgeteilt, die in den Bestimmungen des Zweiten Buches Titel II des Codice civile [(Zivilgesetzbuch)] vorgesehen sind.

(3)      Die Entschädigungsbeträge werden durch ein innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes verkündetes Dekret des Ministro dell‘interno [(Innenminister, Italien)] und des Ministro della giustizia [(Justizminister, Italien)] im Einvernehmen mit dem Ministro dell‘economia e delle finanze [(Wirtschafts- und Finanzminister, Italien)] festgelegt, [und zwar] in jedem Fall im Rahmen der Mittel, über die der in Art. 14 genannte [Fondo di rotazione per la solidarietà alle vittime dei reati di tipo mafioso, delle richieste estorsive, dell‘usura e dei reati intenzionali violenti (Solidaritätsfonds für die Opfer von mafiösen Handlungen, Erpressung, Wucher und vorsätzlicher Gewaltkriminalität, Italien)(9)] verfügt, um für die Opfer von sexuellen Übergriffen und Tötungsdelikten und insbesondere für die Kinder des Opfers bei Tötungsdelikten, die vom Ehepartner, einschließlich getrennt lebender oder geschiedener Ehepartner, oder von einer Person, die mit dem Opfer emotional verbunden ist oder war, begangen wurden, die größtmögliche Entschädigung zu gewährleisten.“

10.      In Art. 13 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 122/2016 heißt es:

„Der Antrag muss innerhalb von 60 Tagen nach der Entscheidung, das Verfahren aufgrund der Unbekanntheit des Täters einzustellen, oder nach der letzten erfolglosen Strafverfolgungsmaßnahme oder nach dem Tag, an dem das Strafurteil rechtskräftig geworden ist, gestellt werden.“

11.      Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des Decreto ministeriale – Determinazione degli importi dell‘indennizzo alle vittime dei reati intenzionali violenti (Ministerialdekret zur Festsetzung der Höhe der Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten)(10) vom 22. November 2019, das zur Umsetzung von Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 122/2016 verabschiedet wurde (im Folgenden: ministeriales Umsetzungsdekret), sieht „bei Tötungsdelikten, die vom Ehepartner, einschließlich getrennt lebender oder geschiedener Ehepartner, oder von einer Person, die mit dem Opfer emotional verbunden ist oder war, begangen werden, einen festen Betrag von 60 000 Euro ausschließlich zugunsten der Kinder des Opfers“ vor.

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

12.      Mit Urteil vom 18. September 2018 verurteilte das Tribunale di Padova (Gericht Padua, Italien) den Täter des in Italien begangenen Verbrechens der Tötung an seiner ehemaligen Partnerin zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren und entschied, dass er den Familienangehörigen des Opfers, die als Nebenkläger auftraten, eine vorläufige Entschädigung zu zahlen habe. So wurden jedem der beiden Kinder des Opfers 400 000 Euro, dem Vater, der Mutter und der Schwester 120 000 Euro und dem Ehepartner, von dem das Opfer getrennt, aber nicht geschieden war, 30 000 Euro zugesprochen.

13.      Den innerstaatlichen Vorschriften entsprechend zahlte der italienische Staat aufgrund der Tatsache, dass der Täter weder über Vermögen noch über Einkommen verfügte und ihm Prozesskostenhilfe gewährt worden war, ausschließlich jedem der Kinder eine Entschädigung in Höhe von 20 000 Euro, während dem getrennt lebenden Ehepartner eine Entschädigung in Höhe von 16 666,66 Euro gewährt wurde.

14.      Am 1. Februar 2022 erhoben die Kläger, d. h. die Familienangehörigen des Opfers mit Ausnahme des Ehepartners, die der Ansicht waren, dass das Gesetz Nr. 122/2016 unter Verstoß gegen die Richtlinie 2004/80 erhebliche Einschränkungen bei der Zahlung von Entschädigungen herbeigeführt habe, Klage beim Tribunale Ordinario di Venezia (Gericht Venedig, Italien), dem vorlegenden Gericht. Ihre Anträge zielen, nachdem die Anwendung des ministerialen Umsetzungsdekrets wegen dessen Rechtswidrigkeit ausgeschlossen wurde, darauf ab, die Beträge, die ihnen aufgrund ihres Verwandtschaftsgrads mit dem Opfer des Tötungsdelikts als Entschädigung zu zahlen seien, in „gerechter und angemessener“ Weise im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie festzusetzen und dabei – hinsichtlich der Kinder des Opfers unter Abzug des ihnen bereits gezahlten Betrags – das in dem Urteil, mit dem der Täter des Tötungsdelikts verurteilt wurde, festgestellte Ausmaß des Schadens zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der Solidaritätsfonds nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel verfüge. Hilfsweise beantragen die Kläger, das den italienischen Staat vertretende Präsidium des Ministerrats zur Zahlung der gleichen Beträge als Entschädigung für den Schaden, den sie durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung der genannten Richtlinie, insbesondere ihres Art. 12, erlitten haben wollen, zu verurteilen.

15.      Die Kläger machen erstens geltend, dass die in Art. 11 Abs. 2bis des Gesetzes Nr. 122/2016 festgelegte Beschränkung, die die Anerkennung der Entschädigung der Eltern des Opfers nur für den Fall vorsehe, dass es keinen Ehepartner und keine Kinder gebe, und die die Entschädigung der Geschwister davon abhängig mache, dass es keine Personen aus den zuvor genannten Kategorien gebe, gegen die in Art. 12 der Richtlinie 2004/80 vorgesehene Entschädigungspflicht verstoße, da sie von den Geschädigten, denen das Recht auf Entschädigung abstrakt zugestanden werde, diejenigen, die konkret zu entschädigen seien, willkürlich und ohne Bezugnahme auf gerechte und angemessene Kriterien für den vorliegenden Fall auswähle. Darüber hinaus sei im vorliegenden Fall die Entschädigung auch dem Ehepartner des Opfers des Tötungsdelikts gewährt worden, von dem dieser seit dem Jahr 2006, fast elf Jahre vor dem Tod des Opfers, getrennt gewesen sei. Das Recht auf Entschädigung werde somit anerkannt, obwohl die emotionale Bindung offensichtlich so stark geschwächt worden sei, dass sie praktisch nicht mehr vorhanden sei.

16.      Zweitens machen die Kläger geltend, dass der Betrag von 20 000 Euro, der den Kindern des Opfers des Tötungsdelikts gemäß dem ministerialen Umsetzungsdekret gewährt worden sei und der 5 % des vorläufigen Betrags entspreche, der durch die gerichtliche Entscheidung zugesprochen worden sei, nicht im Einklang mit dem zu stehen scheine, was der Gerichtshof in Rn. 69 des Urteils vom 16. Juli 2020, Presidenza del Consiglio dei Ministri,(11) festgelegt habe.

17.      Drittens sind die Kläger der Ansicht, dass die nationale Regelung auch insofern rechtswidrig sei, als sie die Zahlung der Entschädigung an die Bedingung knüpfe, dass der Staat die Mittel zur Gewährung der Entschädigung zurückgestellt habe, was im Widerspruch zum zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 stehe.

18.      Die beklagten italienischen Behörden betonen, dass die Festsetzung des Entschädigungsbetrags im Hinblick auf die Situation der Kinder unter strikter Einhaltung der geltenden Bestimmungen und unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten des überlebenden Ehepartners erfolgt sei. Sie erinnern auch daran, dass der Gerichtshof, nachdem er in Rn. 58 des Urteils BV ausgeführt habe, dass die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung des Betrags der Entschädigung nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 über einen weiten Ermessensspielraum verfügten, in Rn. 65 dieses Urteils festgestellt habe, dass diese Bestimmung einer pauschalen Entschädigung der Opfer nicht entgegenstehe, sondern lediglich verlange, dass diese Entschädigung „gerecht und angemessen“ sein müsse. In Rn. 69 des genannten Urteils habe der Gerichtshof festgestellt, dass diese Anforderung erfüllt sei, wenn die Entschädigung, auch wenn sie pauschal sei, „[einen] adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des [vom Opfer] erlittenen materiellen und immateriellen Schadens“ darstelle.

19.      Die Beklagten machen außerdem geltend, dass die Anträge des Vaters, der Mutter und der Schwester des Opfers des Tötungsdelikts unzulässig seien. Denn die für die Einreichung eines Entschädigungsantrags auf dem Verwaltungsweg vorgesehene Ausschlussfrist von 60 Tagen sei abgelaufen, da das Strafurteil am 6. Mai 2021 rechtskräftig geworden sei, das anhängige Verfahren am 1. Februar 2022 eingeleitet worden sei und ihr Antrag auf Mediation die Verjährung nicht unterbreche.

20.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass für die Beurteilung der Begründetheit des bei ihm anhängigen, auf die fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie 2004/80 gestützten Schadensersatzanspruchs vorab zu klären sei, ob die nationale Regelung, wie sie sich aus Art. 11 Abs. 2bis, 2ter und 3 des Gesetzes Nr. 122/2016 ergebe, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

21.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese nationale Regelung, die selbst dann, wenn ein rechtskräftiges Urteil zugunsten bestimmter Familienangehöriger einen Anspruch auf Ersatz ihrer Schäden und dessen Höhe feststelle, die Zahlung der Entschädigung an die Eltern des Opfers des Tötungsdelikts davon abhängig mache, dass es weder einen Ehepartner noch Kinder gebe, und die Zahlung der Entschädigung an die Geschwister dieses Opfers davon, dass es keine Eltern mehr gebe, sowie von der Frage, ob sie zum Zeitpunkt der Straftat mit dem Opfer zusammengelebt hätten und von ihm unterhalten worden seien, den immateriellen Aspekt des Leids aufgrund des gewaltsamen Verlusts des Opfers außer Acht lasse.

22.      Mit Blick auf den Ehepartner und die Kinder stellt das vorlegende Gericht fest, dass das Ausmaß des erlittenen Schadens nicht berücksichtigt werde. So werde im vorliegenden Fall der Tatsache, dass der Ehepartner seit einiger Zeit vom Opfer getrennt gewesen sei, keine Bedeutung beigemessen, da ausschließlich eine Zuteilung der Entschädigung auf der Grundlage erbrechtlicher Bestimmungen vorgesehen sei, unter dem Vorbehalt, dass der Solidaritätsfonds ausreichend gefüllt sei. Die Schwere der Folgen der Tat für die Opfer werde somit unter Missachtung des Urteils BV unberücksichtigt gelassen. Darüber hinaus sei die Entschädigung für die Kinder auf einen Betrag festgesetzt worden, der weitgehend dem Betrag entspreche, der dem Ehepartner gewährt worden sei; dieser Betrag stehe in keinem Verhältnis zu dem im Rahmen des Strafverfahrens festgelegten Betrag der vorläufigen Entschädigung und berücksichtige keines der Kriterien, die üblicherweise im Zusammenhang mit dem Verlust der Elternbeziehung angewandt würden, wie das Alter des Opfers, das Alter des Überlebenden, der Verwandtschaftsgrad und die Art des Zusammenlebens, mit der Möglichkeit, Korrekturen am Endbetrag entsprechend den Besonderheiten des Einzelfalls vorzunehmen. Der den Kindern im vorliegenden Fall gewährte Betrag könne daher nicht als „gerecht und angemessen“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angesehen werden.

23.      Ferner betont das vorlegende Gericht, dass die in Art. 13 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 122/2016 festgelegte Ausschlussfrist für die Einreichung eines Antrags auf Entschädigung bei der Verwaltung, die für den Antrag der Eltern und der Schwester des Opfers des Tötungsdelikts gelte, übermäßig kurz sei, was gegen Art. 47 der Charta zu verstoßen scheine.

24.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale Ordinario di Venezia (Gericht Venedig) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Genügt die Zahlung der Entschädigung, die zugunsten der Eltern und der Schwester eines Opfers einer vorsätzlichen Gewalttat, die, im Fall eines Tötungsdelikts, durch Art. 11 Abs. 2bis des Gesetzes Nr. 122/2016 festgelegt wurde und die für die Eltern voraussetzt, dass es weder Kinder und noch einen Ehegatten des Opfers gibt, und für die Geschwister, dass es keine Eltern mehr gibt, den Anforderungen von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 sowie der Art. 20 (Gleichheit) und 21 (Nichtdiskriminierung), von Art. 33 Abs. 1 (Schutz der Familie) und Art. 47 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht) der Charta sowie von Art. 1 des Protokolls Nr. 12 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Nichtdiskriminierung)?

2.      Kann die Bedingung für die Zahlung der Entschädigung gemäß Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 122/2016, nämlich in den Worten „in jedem Fall im Rahmen der Mittel, über die der [Solidaritätsfonds] verfügt“, ohne dass der italienische Staat durch irgendeine Rechtsvorschrift verpflichtet wäre, Beträge zurückzustellen, die konkret für die Zahlung der Entschädigungen geeignet sind, die auch auf statistischer Grundlage ermittelt werden und die in jedem Fall im Ergebnis konkret für die Entschädigung der Anspruchsberechtigten innerhalb einer angemessenen Frist geeignet sind, als „gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angesehen werden?

25.      Die Eltern und die Schwester des Opfers des Tötungsdelikts sowie seine Kinder, die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie haben die ihnen vom Gerichtshof gestellten Fragen zur mündlichen Beantwortung in der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2024 beantwortet.

IV.    Würdigung

A.      Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

26.      In ihren schriftlichen Erklärungen vertritt die italienische Regierung die Auffassung, dass die Frage nach der Zuständigkeit des Gerichtshofs und der Zulässigkeit der Vorlagefragen zu stellen sei, da der Ausgangsrechtsstreit einen Sachverhalt betreffe, der nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/80 falle.

27.      Dieses Argument wird nicht daraus abgeleitet, dass die Kläger, die die Vereinbarkeit der anwendbaren nationalen Regelung mit Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 in Frage stellen, alle in Italien wohnen, d. h. in dem Gebiet, in dem die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde. Ich halte es jedoch für angebracht, daran zu erinnern, dass der Gerichtshof im Urteil BV in Rn. 52 entschieden hat, dass diese Bestimmung „jedem Mitgliedstaat die Pflicht auferlegt, eine Regelung für die Entschädigung aller Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten einzuführen“, und in Rn. 55, dass diese Bestimmung „das Recht, eine gerechte und angemessene Entschädigung zu erhalten, nicht nur den Opfern von im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorsätzlich begangenen Gewalttaten in einem grenzüberschreitenden Fall im Sinne von Art. 1 dieser Richtlinie verleiht, sondern auch den Opfern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats haben“.

28.      Die italienische Regierung macht zum einen geltend, dass das vorlegende Gericht nicht nach der Eigenschaft der Kläger als Opfer im Sinne der Richtlinie 2004/80 gefragt habe, und zum anderen, dass der Begriff „Opfer“ so zu verstehen sei, dass er die unmittelbar geschädigte Person bezeichne. Daher falle die beanstandete italienische Regelung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, was die Unzulässigkeit der Vorlagefragen begründe.

29.      Die Frage, ob der Begriff „Opfer“ einer vorsätzlichen Gewalttat im Sinne der Richtlinie 2004/80 im Fall eines Tötungsdelikts auch die Rechtsnachfolger des Opfers wie den überlebenden Ehepartner, die Kinder, die Eltern oder die Geschwister des Opfers umfasst, betrifft jedoch den Geltungsbereich dieser Richtlinie.

30.      Somit bin ich der Ansicht, dass es keinen Zweifel an der Zuständigkeit des Gerichtshofs und der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gibt.

B.      Zur Zulässigkeit der zweiten Vorlagefrage

31.      Meiner Ansicht nach ist diese zweite Frage, die sich auf die Begrenzung der in der italienischen Regelung vorgesehenen Entschädigung anhand einer Obergrenze bezieht, die sich aus dem Budget ergibt, das dem für diesen Zweck vorgesehenen Solidaritätsfonds zugewiesen wurde, nicht zulässig.

32.      Wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden ist, hat sich eine solche Begrenzung nicht auf die vom italienischen Staat im Ausgangsverfahren gewährten Entschädigungsbeträge ausgewirkt. Ich teile daher die Auffassung der Kommission und der italienischen Regierung, dass die Frage des vorlegenden Gerichts keine Auswirkungen auf die Entscheidung des Rechtsstreits hat. Außerdem ist festzustellen, dass eine Präzisierung durch das vorlegende Gericht hinsichtlich der Finanzierung oder der Funktionsweise des Solidaritätsfonds fehlt(12).

33.      Im Übrigen konstatiere ich, dass sich keine Vorlagefrage auf andere vom vorlegenden Gericht aufgezeigte Schwierigkeiten bezieht, d. h. den äußerst geringen Entschädigungsbetrag, den die Kinder des Opfers des Tötungsdelikts erhalten haben(13), sowie die kurze Frist für die Einreichung eines Antrags auf Entschädigung.

C.      Zur ersten Vorlagefrage

34.      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 nationalen Vorschriften entgegensteht, die eine Regelung über die Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten vorsehen, die den Entschädigungsanspruch der Eltern des verstorbenen Opfers davon abhängig machen, dass es weder Kinder und einen hinterbliebenen Ehepartner gibt, sowie den Anspruch der Geschwister dieses Opfers davon, dass es keine Eltern mehr gibt.

35.      Der Gerichtshof ist also aufgefordert, den Begriff „Opfer“ zu präzisieren und seine Auslegung des Begriffs „gerechte und angemessene Entschädigung“ im Urteil BV zu ergänzen.

1.      Zum Begriff „Opfer“

36.      Als Erstes ist zu klären, ob die nationale Regelung, soweit sie die Familienangehörigen als diejenigen bestimmt hat, die im Fall des Todes des Opfers eine Entschädigung erhalten können, in den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/80 fällt. Ich bin der Ansicht, dass diese Bestimmung nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt, wie sich aus der Auslegung von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie ergibt(14).

37.      Denn erstens ist mangels einer Definition des Begriffs „Opfer“ in der Richtlinie 2004/80 und mangels eines Verweises auf das nationale Recht davon auszugehen, dass es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt. Er soll gemäß dem Ziel dieser Richtlinie gewährleisten, dass es zwischen den Mitgliedstaaten keine Unterschiede bei der Bestimmung der Personen gibt, die von der nationalen Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet begangenen vorsätzlichen Gewalttaten profitieren.

38.      Zweitens muss die von der italienischen Regierung unter Bezugnahme auf Art. 17 der Richtlinie 2004/80 vertretene gegenteilige Auslegung meiner Meinung nach verworfen werden. Zwar sieht dieser Artikel vor, dass die Mitgliedstaaten im Interesse der Opfer von Straftaten günstigere Bestimmungen erlassen können, indem sie den Kreis der Begünstigten auf „sonstige von Straftaten betroffene Personen“ erweitern. Der genannte Artikel befindet sich jedoch in Kapitel III dieser Richtlinie, das mit „Durchführungsbestimmungen“ überschrieben ist, und hat daher nur die Umsetzung der Regelung zum Gegenstand, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des in den vorherigen Kapiteln festgelegten Mindestsockels erlassen wurde. Sollte Art. 12 Abs. 2 der genannten Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass er den Geltungsbereich dieser Richtlinie ausschließlich auf Opfer beschränkt, die eine Straftat im Bereich der „vorsätzlichen Gewalttaten“ überlebt haben, hätte dies zudem zur Folge, dass Tötungsdelikte von der Liste dieser Straftaten gestrichen würden, da es in diesem Fall kein unmittelbares Opfer mehr gäbe, das entschädigt werden müsste. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass der Anwendungsbereich der Opferentschädigungsregelung nicht auf bestimmte Gewalttaten beschränkt werden darf(15).

39.      Drittens muss ebenfalls die Kohärenz der Auslegung mit anderen Bestimmungen des Unionsrechts gewahrt werden. So geht aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 hervor, dass sie an den Rahmenbeschluss 2001/220 anschließt, der durch die Richtlinie 2012/29 ersetzt wurde.

40.      In ihrem am 12. Juli 2023 vorgelegten Richtlinienvorschlag(16) bezeichnet die Kommission diese Richtlinie als „das wichtigste horizontale Instrument für die Rechte von Opfern“(17). Sie betont, dass der Rechtsrahmen der Union für Opferrechte auch die Entschädigungsrichtlinie 2004/80 und die Unionsvorschriften für Schutzanordnungen umfasse(18). Der Erlass der Richtlinie 2012/29 sei ein entscheidender Schritt für die Stärkung der Opferrechte und der opferorientierten Justiz in der Union gewesen, und die Richtlinie habe eine maßgebliche Rolle bei der Schaffung eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gespielt(19). Ich bin mithin der Ansicht, dass die Richtlinie 2004/80, die sich mit der besonderen Frage der Opferentschädigung befasst, im Licht der Richtlinie 2012/29 auszulegen ist, die einen allgemeinen, „horizontalen“ Rahmen festgelegt hat, um den Ausdruck der Kommission wiederaufzugreifen, selbst wenn diese Richtlinie eine andere Rechtsgrundlage hat, nämlich Art. 82 Abs. 2 AEUV(20), während die Richtlinie 2004/80 Art. 308 EG, jetzt Art. 352 AEUV, als Rechtsgrundlage hatte.

41.      Der in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 verwendete Begriff „Opfer“ findet seine Definition also in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2012/29(21). Folglich ist die italienische Regelung, die die Familienangehörigen definiert, die im Fall des Todes des Opfers eine Entschädigung erhalten können, mit dem Unionsrecht vereinbar, nach dem im Übrigen die Zahl der betreffenden Personen begrenzt ist(22).

2.      Zum Begriff „gerechte und angemessene Entschädigung“

42.      Als Zweites ist zu prüfen, ob das Unionsrecht einer Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass der Entschädigungsanspruch der Familienangehörigen eines verstorbenen Opfers von einer an die Regeln der Erbfolge angelehnten Rangfolge abhängt, die dazu führt, dass bei Vorhandensein eines hinterbliebenen Ehepartners und von Kindern des Opfers die anderen dem Opfer nahestehenden Familienangehörigen, im vorliegenden Fall seine Eltern sowie seine Geschwister, schon aus diesem Grund von jeder Entschädigung ausgeschlossen sind.

43.      Es ist daran zu erinnern, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 den Opfern von im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats begangenen vorsätzlichen Gewalttaten das Recht auf eine gerechte und angemessene Entschädigung verleiht(23).

44.      Im Urteil BV hat der Gerichtshof den Begriff „gerechte und angemessene Entschädigung“ ausgelegt, als er zum Betrag der Pauschalentschädigung in Höhe von 4 800 Euro befragt wurde, die Opfern eines sexuellen Übergriffs im Rahmen der italienischen Regelung zur Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wurde.

45.      Der Gerichtshof hat Eckpunkte für die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 geliefert, die meiner Ansicht nach für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts relevant sind, die sich auf die Einzelheiten der Bestimmung der Empfänger einer „gerechten und angemessenen“ Entschädigung beziehen.

46.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Entschädigung, die Opfern vorsätzlicher Gewalttaten zusteht, unter Berücksichtigung „d[er] Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer“ festgelegt werden muss und dass sie andernfalls keinen „adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens“ darstellt(24).

47.      Daraus lässt sich meines Erachtens ableiten, dass eine Entschädigungsregelung, bei der Opfer ohne Rücksicht auf den Umfang ihrer Schäden aufgrund einer abstrakten Rangfolge(25) zwischen den verschiedenen Opfern, die entschädigt werden sollen, ausgeschlossen werden und die allein auf der Art der familiären Bindungen beruht, aus denen bloße Vermutungen über das Vorliegen oder die Schwere der Schäden abgeleitet werden, nicht zu einer „gerechten und angemessenen Entschädigung“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 führen kann.

48.      Diese Einschätzung wird außerdem durch die in der mündlichen Verhandlung bestätigte Feststellung untermauert, dass eine solche Art des Ausschlusses bestimmter Opfer zwar auf den Regeln der Erbfolge basiert, diese aber nicht vollständig anwendet. So nimmt beispielsweise das Vorhandensein eines Gesamtvermächtnisnehmers oder ein Grund für Erbunwürdigkeit dem ausgeschlossenen Erben im italienischen Entschädigungssystem nicht das Recht, eine Entschädigung zu erhalten. Daraus folgt, dass das Ziel der italienischen Regelung zwar darin besteht, einen vereinfachten Weg zur Bestimmung der zu entschädigenden Opfer zu finden(26), dass aber das legitime Erfordernis, eine einfache und schnelle Entschädigung der Opfer zu erreichen, nicht die Verpflichtung verdrängen darf, das Leid, dem die Opfer aufgrund der vorsätzlichen Gewaltstraftat, die den Tod eines Familienangehörigen verursacht hat, ausgesetzt waren, in angemessenem Umfang auszugleichen(27).

V.      Ergebnis

49.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, nur die erste Vorlagefrage des Tribunale Ordinario di Venezia (Gericht Venedig, Italien) wie folgt zu beantworten:

Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten

ist dahin auszulegen, dass

er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die eine Regelung über die Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten vorsehen, in der der Anspruch der Eltern des verstorbenen Opfers auf Entschädigung davon abhängig gemacht wird, dass es weder Kinder noch einen hinterbliebenen Ehepartner gibt, und der Anspruch der Geschwister dieses Opfers davon, dass es keine Eltern mehr gibt.


1      Originalsprache: Französisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.


2      ABl. 2004, L 261, S. 15.


3      Im Folgenden: Charta.


4      Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950.


5      ABl. 2001, L 82, S. 1.


6      Nunmehr Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) AEUV.


7      ABl. 2012, L 315, S. 57.


8      GURI Nr. 158 vom 8. Juli 2016, S. 1.


9      Im Folgenden: Solidaritätsfonds.


10      GURI Nr. 18 vom 23. Januar 2020, S. 9.


11      C‑129/19, im Folgenden: Urteil BV, EU:C:2020:566.


12      Vgl. im Übrigen zur Frage der Tragfähigkeit der nationalen Entschädigungsregelung Urteil BV (Rn. 59).


13      Vgl. zur Frage der Übereinstimmung zwischen der „gerechten und angemessenen“ Entschädigung nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 und dem Schadensersatz, zu dem der Täter einer vorsätzlichen Gewalttat zur Zahlung an sein Opfer verurteilt wurde, Urteil BV (Rn. 60).


14      Vgl. zu den üblichen Auslegungsmethoden des Gerichtshofs Urteil BV (Rn. 38).


15      Vgl. Urteil vom 11. Oktober 2016, Kommission/Italien (C‑601/14, EU:C:2016:759, Rn. 46).


16      Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (COM[2023] 424 final).


17      Vgl. S. 2 dieses Richtlinienvorschlags.


18      Vgl. S. 5 des genannten Richtlinienvorschlags. Die Kommission nennt die Richtlinie 2011/99/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Europäische Schutzanordnung (ABl. 2001, L 338, S. 2) und die Verordnung (EU) Nr. 606/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen (ABl. 2013, L 181, S. 4). Sie erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der Rechtsrahmen der Union für Opferrechte des Weiteren mehrere sektorbezogene Rechtsvorschriften umfasse, die die besonderen Bedürfnisse der Opfer bestimmter Kategorien von Straftaten zum Gegenstand hätten.


19      Vgl. S. 2 dieses Richtlinienvorschlags. Dort heißt es: „Darin sind die Rechte aller Opfer aller Straftaten festgelegt, einschließlich des Rechts auf Information, des Rechts auf Unterstützung und Schutz auf der Grundlage der individuellen Bedürfnisse der Opfer, der Verfahrensrechte und des Rechts auf eine Entscheidung über Entschädigung durch den Täter am Ende des Strafverfahrens. Die Opferschutzrichtlinie[, also die Richtlinie 2012/29,] ist seit November 2015 in allen …Mitgliedstaaten [der Union] anwendbar; eine Ausnahme bildet diesbezüglich Dänemark, das nicht durch die Richtlinie gebunden ist.“


20      Der in Fn. 16 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Richtlinienvorschlag stützt sich auf Art. 82 Abs. 2 Buchst. c AEUV (vgl. Nr. 2, S. 7 dieses Vorschlags). Vgl. zur Frage der Beschränkung der Auslegung von Instrumenten des Sekundärrechts unter Bezugnahme auf ihre Rechtsgrundlage die Schlussanträge von Generalanwalt Bobek in der Rechtssache BV (C‑129/19, EU:C:2020:375, Nr. 89). Vgl. auch entsprechend Urteil vom 1. Dezember 2020, Federatie Nederlandse Vakbeweging (C‑815/18, EU:C:2020:976, Rn. 40).


21      Nach Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2001/220, der durch die Richtlinie 2012/29 aufgehoben wurde, ist ein „Opfer“ „eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen“.


22      Vgl. für eine Bewertung der praktischen Umsetzung der Richtlinie 2012/29 und insbesondere von deren Art. 2 in 26 Mitgliedstaaten den zusammenfassenden Bericht des Projekts VOCIARE: Victims of Crime Implementation Analysis of Rights in Europe, auf den sich die Kommission in dem in Fn. 16 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Richtlinienvorschlag bezogen hat, S. 2.


23      Vgl. Urteil BV (Rn. 55).


24      Vgl. Urteil BV (Rn. 69). Diese Bedingungen verbieten es jedoch nicht, eine pauschale Entschädigung vorzusehen, deren Betrag je nach Art der erlittenen Gewalt variieren kann, sofern die Entschädigungstabelle hinreichend detailliert ist (vgl. Urteil BV, Rn. 65 und 66).


25      Dies ist zu unterscheiden von der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Verfahren einzuführen, um die Anzahl der Familienangehörigen zu begrenzen, die die in der Richtlinie 2012/29 verankerten Rechte in Anspruch nehmen können, vgl. 19. Erwägungsgrund und Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie.


26      Nach meinen Recherchen auf dem europäischen E‑Justiz-Portal „Prüfung meines Antrags in diesem Land (europa.eu)“ hat kein anderer Mitgliedstaat eine vergleichbare Regelung getroffen.


27      Vgl. Urteil BV (Rn. 64).