Language of document : ECLI:EU:C:2018:803

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

4. Oktober 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzen, Asyl und Einwanderung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 3 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ohne ausdrückliche Entscheidung zur Bestimmung des für die Prüfung zuständigen Mitgliedstaats – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 9 und 10 – Auf der Religion beruhende Verfolgungsgründe – Beweis – Iranische Rechtsvorschriften über die Apostasie – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 46 Abs. 3 – Wirksamer Rechtsbehelf“

In der Rechtssache C‑56/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 23. Januar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Februar 2017, in dem Verfahren

Bahtiyar Fathi

gegen

Predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und E. Tóth als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von M. Gray, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 und Abs. 5 Buchst. b, Art. 9 Abs. 1 und 2 sowie Art. 10 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9), von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung) und von Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Bahtiyar Fathi und dem Predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite (Direktor der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge) über dessen Entscheidung, den Antrag von Herrn Fathi auf internationalen Schutz abzulehnen.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Genfer Flüchtlingskonvention

3        Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft und wurde ergänzt und geändert durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).

4        Nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“.

 EMRK

5        Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht in Art. 15 („Abweichen im Notstandsfall“) vor:

„(1)      Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.

(2)      Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 [‚Recht auf Leben‘] nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3 [‚Verbot der Folter‘], Artikel 4 Absatz 1 [‚Verbot der Sklaverei‘] und Artikel 7 [‚Keine Strafe ohne Gesetz‘] in keinem Fall abgewichen werden.

…“

 Unionsrecht

 Richtlinie 2011/95

6        Durch die Richtlinie 2011/95 wurde mit Wirkung vom 21. Dezember 2013 die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) aufgehoben.

7        Im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. …“

8        Art. 2 dieser Richtlinie besagt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

h)      ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht;

…“

9        Art. 4 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2)      Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.

(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(4)      Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

(5)      Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

a)      der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;

b)      alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

c)      festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;

d)      der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war;

e)      die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“

10      Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a)      aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 [EMRK] keine Abweichung zulässig ist, oder

b)      in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.

(2)      Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

b)      gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,

c)      unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

…“

11      Nach Art. 10 der Richtlinie 2011/95 gilt:

„(1)      Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

b)      der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;

(2)      Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“

 Richtlinie 2013/32

12      Die Erwägungsgründe 12, 53 und 54 der Richtlinie 2013/32 lauten:

„(12)      Hauptziel dieser Richtlinie ist die Weiterentwicklung der Normen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes im Hinblick auf die Einführung eines gemeinsamen Asylverfahrens in der Union.

(53)      Diese Richtlinie betrifft nicht die Verfahren zwischen Mitgliedstaaten im Rahmen der [Dublin‑III‑]Verordnung …

(54)      Diese Richtlinie sollte für Antragsteller, für die die [Dublin‑III‑] Verordnung … gilt, zusätzlich zu den Bestimmungen jener Verordnung und unbeschadet ihrer Bestimmungen gelten.“

13      In Art. 2 dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

b)      ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ oder ‚Antrag‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und der nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2011/95… ersucht;

…“

14      In Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie ist zu lesen:

„Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Artikel 43 durchgeführt wird, wenn

e)      der Antragsteller eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht hat, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, so dass die Begründung für seine Behauptung, dass er [als] Person mit Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95… anzusehen ist, offensichtlich nicht überzeugend ist;

…“

15      Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie sieht vor:

„Im Falle von unbegründeten Anträgen, bei denen einer der in Artikel 31 Absatz 8 aufgeführten Umstände gegeben ist, können die Mitgliedstaaten einen Antrag ferner als offensichtlich unbegründet betrachten, wenn dies so in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist.“

16      Art. 46 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben gegen

a)      eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz, einschließlich einer Entscheidung,

i)      einen Antrag als unbegründet in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft und/oder den subsidiären Schutzstatus zu betrachten;

ii)      einen Antrag nach Artikel 33 Absatz 2 als unzulässig zu betrachten;

iii)      die an der Grenze oder in den Transitzonen eines Mitgliedstaats nach Artikel 43 Absatz 1 ergangen ist;

iv)      keine Prüfung nach Artikel 39 vorzunehmen;

b)      eine Ablehnung der Wiederaufnahme der Prüfung eines Antrags nach ihrer Einstellung gemäß den Artikeln 27 und 28;

c)      eine Entscheidung zur Aberkennung des internationalen Schutzes nach Artikel 45.

(3)      Zur Einhaltung des Absatzes 1 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95… zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird.“

 DublinIII-Verordnung

17      Die Erwägungsgründe 4, 5 und 19 der Dublin‑III-Verordnung lauten:

„(4)      Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)      Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

(19)      Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.“

18      Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen …“

19      In Art. 2 der Verordnung heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

b)      ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 2 Buchstabe h der Richtlinie 2011/95…;

d)      ‚Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz‘ die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen oder Urteile der zuständigen Behörden in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß der Richtlinie 2013/32… und der Richtlinie 2011/95… mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß dieser Verordnung;

…“

20      Art. 3 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

21      Die Art. 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung sehen ein Recht der Person, die internationalen Schutz beantragt, auf Information sowie Regeln über die Führung des Gesprächs mit dem Antragsteller vor.

22      In Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 dieser Verordnung heißt es:

„Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. …“

23      Nach Art. 20 Abs. 1 der Verordnung gilt:

„Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.“

24      Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung regelt die Rechtsmittel, über die eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen der Anwendung dieser Verordnung verfügt.

 Bulgarisches Recht

25      In Bulgarien wird die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz durch den Zakon za ubezhishteto i bezhantsite (Asyl- und Flüchtlingsgesetz) in seiner im DV Nr. 103 vom 27. Dezember 2016 veröffentlichten Fassung (im Folgenden: ZUB) geregelt.

26      Art. 6 Abs. 1 ZUB bestimmt:

„Die durch das vorliegende Gesetz eingeräumten Befugnisse werden von den Beamten der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge ausgeübt. Diese stellen die Tatsachen und Umstände fest, die für das Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes maßgebend sind, und leisten den Ausländern, die solchen Schutz beantragen, Beistand.“

27      Die Art. 8 und 9 ZUB betreffen die Flüchtlingseigenschaft in Bulgarien sowie den humanitären Status.

28      Art. 67a Abs. 2 ZUB sieht vor:

„Das im vorliegenden Abschnitt vorgesehene Verfahren wird eingeleitet

1.      durch Entscheidung der Behörde, bei der die Gespräche stattfinden, wenn Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz vorliegen;

2.      auf Ersuchen des Ministers für Inneres und der Staatlichen Agentur für ‚nationale Sicherheit‘ betreffend den illegalen Aufenthalt eines Ausländers im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien;

3.      auf Ersuchen um Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Ausländers.“

29      In Art. 68 ZUB heißt es:

„Das allgemeine Verfahren wird eingeleitet

(1)      durch Registrierung des Ausländers infolge seines Antrags auf internationalen Schutz;

(2)      Wenn die Republik Bulgarien als zuständig bestimmt wird oder einen Ausländer wiederaufgenommen hat …, wird das im vorliegenden Abschnitt vorgesehene Verfahren kraft Registrierung des Ausländers bei der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge im Anschluss an seine Überstellung eingeleitet.

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

30      Herr Fathi ist ein Iraner kurdischer Abstammung, der am 1. März 2016 bei der Darzhavna agentsia za bezhantsite (Staatliche Agentur für Flüchtlinge, im Folgenden: DAB) einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Zur Begründung dieses Antrags gab er an, er sei von den iranischen Behörden aus religiösen Gründen verfolgt worden, insbesondere wegen seiner Ende 2008/Anfang 2009 erfolgten Konversion zum Christentum.

31      Bei seinen Anhörungen vor den bulgarischen Behörden legte Herr Fathi dar, er habe eine illegale Satellitenschüssel besessen, mit der er den verbotenen christlichen Fernsehsender „Nejat TV“ empfangen habe, und einmal habe er sich telefonisch an einer Live-Fernsehsendung beteiligt. Zum Beweis dieser Tatsache legte er den Behörden ein Schreiben von Nejat TV vom 29. November 2012 vor. Ferner gab Herr Fathi an, er besitze eine Bibel in einer ihm verständlichen Sprache und sei bei Zusammenkünften mit anderen Christen in Kontakt getreten, ohne allerdings Mitglied einer Religionsgemeinschaft zu sein.

32      Im September 2009 sei er für die Dauer von zwei Tagen vom iranischen Geheimdienst festgenommen und zu seiner Beteiligung an der oben genannten Fernsehsendung verhört worden. Während seiner Inhaftierung sei er gezwungen worden, zu gestehen, dass er zum Christentum konvertiert sei.

33      Mit Bescheid vom 20. Juni 2016 lehnte die DAB den Antrag von Herrn Fathi auf internationalen Schutz als unbegründet ab, da sie der Ansicht war, dass dessen Aussagen mit erheblichen Widersprüchen behaftet seien und weder erwiesen sei, dass er verfolgt werde oder Gefahr laufe, zukünftig verfolgt zu werden, noch, dass ihm die Todesstrafe drohe. Angesichts seiner insgesamt unglaubhaften Aussagen sei davon auszugehen, dass es sich bei dem Schriftstück vom 29. November 2012, das Herr Fathi zum Beweis seiner Konversion zum Christentum vorgelegt habe, um eine Fälschung handle.

34      Herr Fathi beantragte beim vorlegenden Gericht, dem Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien), die Aufhebung dieses Bescheids. Er trägt vor, die DAB habe das in der vorstehenden Randnummer erwähnte Schriftstück, das seine Konversion zum Christentum belege, fehlerhaft beurteilt. Auch habe diese Behörde Informationen, nach denen das „islamische Gesetz über die Apostasie“ (Gesetz über den Abfall vom Glauben) für eine solche Konversion als Proselytismus, „Feindseligkeit gegenüber Gott“ und „Beleidigung des Propheten“ die Todesstrafe vorsehe, nicht hinreichend berücksichtigt. Das vorlegende Gericht ergänzt, Herr Fathi sei zwar kurdischer Abstammung, aber seinen Angaben zufolge beruhten seine Probleme im Iran auf seinen Beziehungen zu Christen und auf seiner Konversion zum Christentum.

35      Zur Situation der Christen im Iran führt das vorlegende Gericht aus, Berichten zufolge habe die iranische Regierung mindestens 20 Personen wegen „Feindseligkeit gegenüber Gott“ hinrichten lassen, darunter einige kurdische Sunniten. Laut eines Berichts der Vereinten Nationen (VN) vom 15. April 2015 seien Personen, die unlängst zum Christentum konvertiert seien, im Iran zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zu zweijährigen Ausreiseverboten verurteilt worden.

36      Herr Fathi trägt vor, er müsse wegen seiner Religionszugehörigkeit als Flüchtling anerkannt werden. Was den Nachweis der maßgeblichen Tatsachen angehe, sei der Grundsatz anzuwenden, dass im Zweifel für den Antragsteller zu entscheiden sei.

37      Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Folgt aus Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, ausgelegt in Verbindung mit dem zwölften Erwägungsgrund und Art. 17 der Verordnung, dass ein Mitgliedstaat eine Entscheidung erlassen darf, die eine Prüfung eines bei ihm gestellten Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Verordnung darstellt, ohne dass ausdrücklich über die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats nach den Kriterien der Verordnung entschieden wurde, wenn im konkreten Fall keine Anhaltspunkte für eine Abweichung nach Art. 17 der Verordnung gegeben sind?

2.      Folgt aus Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung, ausgelegt in Verbindung mit dem 54. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Verordnung, wenn keine Abweichung gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung erfolgt, eine Entscheidung erlassen werden muss, mit der sich der Mitgliedstaat verpflichtet, den Antrag nach den Kriterien der Verordnung zu prüfen, und die darauf gestützt wird, dass die Vorschriften der Verordnung für den Antragsteller gelten?

3.      Ist Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass das Gericht in einem Klageverfahren gegen einen Bescheid über die Versagung von internationalem Schutz nach dem 54. Erwägungsgrund der Richtlinie beurteilen muss, ob die Vorschriften der Dublin‑III-Verordnung für den Antragsteller gelten, wenn der Mitgliedstaat nicht ausdrücklich über seine Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz nach den Kriterien der Verordnung entschieden hat? Ist aufgrund des 54. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2013/32 davon auszugehen, dass, wenn keine Anhaltspunkte für die Anwendung von Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung gegeben sind und der Antrag auf internationalen Schutz auf der Grundlage der Richtlinie 2011/95 von dem Mitgliedstaat, bei dem er gestellt wurde, geprüft worden ist, die Rechtslage des Betreffenden vom Anwendungsbereich der Verordnung auch dann erfasst ist, wenn der Mitgliedstaat nicht ausdrücklich über seine Zuständigkeit nach den Kriterien der Verordnung entschieden hat?

4.      Folgt aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens der Verfolgungsgrund der „Religion“ vorliegt, wenn der Antragsteller nicht in Bezug auf alle vom Religionsbegriff im Sinne dieser Vorschrift umfassten Komponenten, die für die Zugehörigkeit des Betreffenden zu einer bestimmten Religion von grundlegender Bedeutung sind, Erklärungen abgegeben und Dokumente vorgelegt hat?

5.      Folgt aus Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, dass auf der Religion im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie beruhende Verfolgungsgründe gegeben sind, wenn der Antragsteller unter den Umständen des Ausgangsverfahrens geltend macht, dass er wegen seiner religiösen Zugehörigkeit verfolgt worden sei, er aber keine Erklärungen und Beweise in Bezug auf Umstände, die für die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Religion charakteristisch sind und für den Verfolger ein Grund zur Annahme wären, dass der Betreffende dieser Religion angehört – darunter Umstände, die mit der Vornahme oder Nichtvornahme religiöser Betätigungen oder mit religiösen Meinungsäußerungen zusammenhängen –, oder in Bezug auf Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind, abgegeben bzw. vorgelegt hat?

6.      Folgt aus Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95, ausgelegt in Verbindung mit den Art. 18 und 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem Begriff der Religion im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens:

a)      der Begriff der Religion im Sinne des Unionsrechts keine Handlungen umfasst, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten? Können solche Handlungen, die im Herkunftsstaat des Antragstellers als strafbar gelten, Verfolgungshandlungen darstellen?

b)      Sind im Zusammenhang mit dem Verbot des Proselytismus und dem Verbot von Handlungen, die der Religion zuwiderlaufen, auf der die Gesetzes- und Verordnungsvorschriften in diesem Land beruhen, Einschränkungen als zulässig zu betrachten, die zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer und der öffentlichen Ordnung im Herkunftsstaat des Antragstellers festgelegt sind? Stellen die genannten Verbote als solche Verfolgungshandlungen im Sinne der angeführten Vorschriften der Richtlinie dar, wenn der Verstoß dagegen mit der Todesstrafe bedroht ist, auch wenn die Gesetze nicht ausdrücklich gegen eine bestimmte Religion gerichtet sind?

7.      Folgt aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, ausgelegt in Verbindung mit Abs. 5 Buchst. b der Vorschrift, Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens die Bewertung der Tatsachen und der Umstände nur anhand der vom Antragsteller abgegebenen Erklärungen und vorgelegten Dokumente erfolgen darf, es jedoch zulässig ist, einen Nachweis der vom Begriff der Religion im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie umfassten Komponenten, die fehlen, zu verlangen, wenn:

–        ohne diese Angaben der Antrag auf internationalen Schutz als unbegründet im Sinne von Art. 32 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit deren Art. 31 Abs. 8 Buchst. e gelten würde und

–        das nationale Recht vorsieht, dass die zuständige Behörde alle für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz relevanten Umstände feststellen und das Gericht im Fall der Anfechtung des Versagungsbescheids darauf hinweisen muss, dass der Betreffende keine Beweise angeboten und vorgelegt hat?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

38      Eingangs ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in der Begründung seines Vorabentscheidungsersuchens darlegt, die bei ihm anhängige Klage richte sich gegen den Bescheid, mit dem die DAB den Antrag von Herrn Fathi auf internationalen Schutz als unbegründet abgelehnt habe.

39      Dieser Antrag sei nach Eingang registriert worden, und Herr Fathi sei zweimal persönlich angehört worden. Formal gesehen, sei nur eine Sachentscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz erlassen worden, und es sei keine ausdrückliche Entscheidung nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ergangen, mit der festgestellt worden wäre, dass dieser Antrag von der Republik Bulgarien als dem nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung zuständigen Staat geprüft worden sei. Fraglich sei nun, ob die Dublin‑III-Verordnung für sämtliche Anträge auf internationalen Schutz gelte, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellt würden, oder nur für Verfahren zur Überstellung von Personen, die internationalen Schutz beantragten.

40      Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem Herr Fathi den Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, Art. 67a ZUB in Kraft gewesen sei, wonach das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats durch Entscheidung der Behörde, bei der die Gespräche stattfänden, eingeleitet werde, „wenn Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz vorliegen“.

41      Da keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen hätten, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags von Herrn Fathi auf internationalen Schutz zuständig gewesen wäre, habe die DAB gemäß Art. 68 Abs. 1 ZUB das „allgemeine Verfahren“ zur Entscheidung über die Begründetheit dieses Antrags eröffnet. Insoweit gibt das vorlegende Gericht weder an, dass Herr Fathi nicht über die Eröffnung dieses Verfahrens informiert wurde, noch, dass er irgendeine Einwendung dagegen erhob.

42      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen 1 und 2, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen ist, dass er die Behörden eines Mitgliedstaats daran hindert, die inhaltliche Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Verordnung vorzunehmen, ohne dass eine ausdrückliche Entscheidung dieser Behörden vorliegt, in der anhand der in dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien festgestellt worden wäre, dass dieser Mitgliedstaat für eine solche Prüfung zuständig ist.

43      Zunächst ist festzustellen, dass die Dublin‑III-Verordnung gemäß ihrem Art. 1 die Kriterien und Verfahren festlegt, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen. Art. 2 Buchst. b der Verordnung definiert einen „Antrag auf internationalen Schutz“ im Sinne dieser Verordnung als einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95. Nach letzterer Bestimmung versteht man unter einem solchen Antrag „das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt“.

44      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass der von der DAB abgelehnte Antrag von Herrn Fathi, einem Drittstaatsangehörigen, auf die in Art. 8 bzw. Art. 9 ZUB vorgesehene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des dem subsidiären Schutzstatus entsprechenden humanitären Status abzielt. Wie auch der Generalanwalt in Nr. 14 seiner Schlussanträge festgestellt hat, fällt demnach der Antrag von Herrn Fathi als Antrag, der von einem Drittstaatsangehörigen in Bulgarien gestellt wurde, nach Art. 1 der Dublin‑III-Verordnung in deren Anwendungsbereich.

45      Nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung wird ein Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt, grundsätzlich allein von dem nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmten Mitgliedstaat geprüft. In Kapitel IV dieser Verordnung werden die Fälle, in denen ein Mitgliedstaat abweichend von diesen Kriterien als für die Prüfung eines solchen Antrags zuständig angesehen werden kann, genau bezeichnet.

46      Ferner ist ein Mitgliedstaat, bei dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, verpflichtet, die in Kapitel VI dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren anzuwenden, um den für die Prüfung dieses Antrags zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 58).

47      Unter den zu Kapitel VI gehörenden Vorschriften der Dublin‑III-Verordnung bestimmt deren Art. 20 Abs. 1, dass das in dieser Verordnung vorgesehene Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet wird, „sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird“.

48      Die mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführten Mechanismen zur Sammlung der im Rahmen dieses Verfahrens notwendigen Informationen sollen also im Anschluss an die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz angewandt werden. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung sieht im Übrigen ausdrücklich vor, dass der Antragsteller nach Stellung eines solchen Antrags u. a. über die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Durchführung eines persönlichen Gesprächs und die Möglichkeit, den zuständigen Behörden Angaben zu machen, informiert werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab, C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 86 und 87).

49      Im vorliegenden Fall geht, wie der Generalanwalt in Nr. 20 seiner Schlussanträge festgestellt hat, keineswegs aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die bulgarischen Behörden ihre Zuständigkeit nicht anhand der in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Kriterien ermittelt haben, nachdem sie gemäß Art. 67a ZUB festgestellt hatten, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz keinem anderen Mitgliedstaat oblag. Die Zweifel, die das vorlegende Gericht insoweit in der Vorlageentscheidung äußert, hängen nämlich nur damit zusammen, dass die zuständige bulgarische Behörde nach dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats keine ausdrückliche Entscheidung erließ.

50      Was die Frage anbelangt, ob dieses Verfahren unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens mit dem Erlass einer ausdrücklichen Entscheidung enden muss, mit der anhand der in dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats für eine solche Prüfung festgestellt wird, so sind für die Beantwortung nicht nur der Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, sondern auch dessen Kontext und die allgemeine Systematik der Regelung, zu der er gehört, sowie die von dieser verfolgten Ziele zu berücksichtigen (Urteil vom 5. Juli 2018, X, C‑213/17, EU:C:2018:538, Rn. 26).

51      Erstens ist zum Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung festzustellen, dass diese Vorschrift weder den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, ausdrücklich dazu verpflichtet, explizit eine Entscheidung zu erlassen, mit der anhand der in dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien seine eigene Zuständigkeit festgestellt wird, noch die Form vorschreibt, die eine solche Entscheidung aufweisen müsste.

52      Zweitens ist zum Kontext dieser Vorschrift zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung zu deren Kapitel II gehört, das die allgemeinen Grundsätze und Schutzgarantien für die Anwendung dieser Verordnung betrifft. Zu diesen Schutzgarantien, die von dem Mitgliedstaat, der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmt, zu beachten sind, zählt ein Informationsrecht des Antragstellers, das in Art. 4 der Verordnung geregelt ist. Dieses Informationsrecht betrifft nicht nur die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Rangfolge derartiger Kriterien in den einzelnen Schritten des Verfahrens und die Verfahrensdauer, sondern auch die Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat nach dieser Verordnung zuständig wird, selbst wenn diese Zuständigkeit nicht auf derartigen Kriterien beruht.

53      Ferner sieht Art. 17 („Ermessensklauseln“) der Dublin‑III-Verordnung in Abs. 1 ausdrücklich vor, dass jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung beschließen kann, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist, wodurch er zum zuständigen Mitgliedstaat wird und die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen übernimmt. Der Gerichtshof hat insoweit darauf hingewiesen, dass diese Befugnis es jedem Mitgliedstaat ermöglichen soll, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er hierfür nach den oben genannten Kriterien nicht zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2013, Halaf, C‑528/11, EU:C:2013:342, Rn. 37).

54      Schließlich sieht Kapitel VI Abschnitt IV („Verfahrensgarantien“) der Dublin‑III-Verordnung für den Fall einer Entscheidung, den Antragsteller zu überstellen, vor, dass Letzterer von dieser Entscheidung, die auch eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, in Kenntnis zu setzen ist. Hingegen enthält diese Verordnung – vorbehaltlich der in ihren Art. 4 und 5 vorgesehenen Garantien – keine derartigen spezifischen Verfahrensgarantien, wenn der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat wie im Ausgangsverfahren zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Überstellung des Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat nicht angezeigt ist, weil keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, und der die Zuständigkeit bestimmende Mitgliedstaat nach den in dieser Verordnung genannten Kriterien für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

55      Drittens besteht eines der mit der Dublin‑III-Verordnung verfolgten Ziele darin, organisatorische Regeln über die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zum Zweck der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats aufzustellen und, wie aus ihren Erwägungsgründen 4 und 5 hervorgeht, eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 57).

56      In Anbetracht dieser wortlautbezogenen, systematischen und teleologischen Gesichtspunkte ist auf die Fragen 1 und 2 zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen ist, dass er die Behörden eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, die inhaltliche Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Verordnung vorzunehmen, ohne dass eine ausdrückliche Entscheidung dieser Behörden vorliegt, in der anhand der in dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien festgestellt worden wäre, dass dieser Mitgliedstaat für eine solche Prüfung zuständig ist.

 Zur dritten Frage

57      Eingangs ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht angibt, es sei mit der Klage von Herrn Fathi gegen die Entscheidung der DAB, seinen Antrag auf internationalen Schutz als unbegründet abzulehnen, befasst und sei für die in Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Prüfung zuständig. Nach nationalem Recht sei es verpflichtet, zu prüfen, ob das Verfahren zum Erlass dieser Entscheidung eingehalten worden sei.

58      In diesem Zusammenhang sei zu beachten, dass die Richtlinie 2013/32 gemäß ihrem 54. Erwägungsgrund für Antragsteller, für die die Dublin‑III-Verordnung gelte, „zusätzlich zu den Bestimmungen jener Verordnung und unbeschadet ihrer Bestimmungen“ gelten sollte.

59      Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob es als erstinstanzliches Gericht, das mit einer Klage gegen eine Entscheidung, die Gewährung internationalen Schutzes abzulehnen, befasst ist, die in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, von Amts wegen zu überprüfen hat.

60      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage wissen möchte, ob Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen ist, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats im Rahmen einer Klage einer Person, die internationalen Schutz beantragt, gegen eine Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz als unbegründet zu betrachten, von Amts wegen prüfen muss, ob die in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist, korrekt angewandt wurden.

61      Nach Art. 46 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit deren Art. 2 Buchst. b stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht u. a. gegen eine Entscheidung hat, einen bei ihnen gestellten Schutzantrag dieses Antragstellers, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, als unbegründet zu betrachten.

62      Art. 46 Abs. 3 dieser Richtlinie präzisiert die Reichweite des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das Personen, die internationalen Schutz beantragen, gegen Entscheidungen über ihre Anträge zustehen muss. So bestimmt er, dass die Mitgliedstaaten zur Einhaltung des Abs. 1 dieses Artikels sicherstellen, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95 zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird.

63      Der Gerichtshof hat insoweit hervorgehoben, dass die Wortfolge „stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt“ – wenn ihr nicht ihr gewöhnlicher Sinn genommen werden soll – dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 verpflichtet sind, ihre nationalen Rechtsordnungen so zu gestalten, dass die Bearbeitung der betreffenden Rechtsbehelfe eine Prüfung aller tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte durch das Gericht umfasst, die ihm eine Beurteilung des Einzelfalls anhand des aktuellen Standes ermöglichen (Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 110).

64      Insoweit wird durch die Wendung „ex nunc“ hervorgehoben, dass das Gericht verpflichtet ist, eine Beurteilung vorzunehmen, bei der gegebenenfalls neue, nach Erlass der angefochtenen Entscheidung aufgetretene Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Das Adjektiv „umfassend“ in Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 bestätigt seinerseits, dass das Gericht verpflichtet ist, die Gesichtspunkte zu prüfen, die die Asylbehörde berücksichtigt hat oder hätte berücksichtigen können (Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 111 und 113).

65      Wie der Gerichtshof ebenfalls festgestellt hat, ist die in Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Verpflichtung im Kontext des gesamten durch die Richtlinie geregelten Verfahrens zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 42), wobei die speziell im Rahmen der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Rechtsmittel in deren Art. 27 geregelt sind, wie sich auch aus ihrem 19. Erwägungsgrund ergibt.

66      Hauptziel der Richtlinie 2013/32 ist aber, wie namentlich aus ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht, die Weiterentwicklung der Normen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes.

67      Zwar heißt es im 54. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32, dass diese für Antragsteller, für die die Dublin‑III-Verordnung gilt, zusätzlich zu den Bestimmungen jener Verordnung und unbeschadet ihrer Bestimmungen gelten sollte.

68      Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats im Rahmen einer nach Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 erhobenen Klage einer Person, die internationalen Schutz beantragt, gegen eine Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz als unbegründet zu betrachten, von Amts wegen prüfen muss, ob die in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist, korrekt angewandt wurden.

69      Zum einen heißt es nämlich im 53. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich, dass diese nicht die Verfahren zwischen Mitgliedstaaten im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung betrifft.

70      Zum anderen bestimmt Art. 2 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung, dass der Ausdruck „Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“ im Sinne dieser Verordnung „die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen oder Urteile der zuständigen Behörden in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß der Richtlinie 2013/32… und der Richtlinie 2011/95… mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß dieser Verordnung“ bezeichnet.

71      Daraus folgt, wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, dass das nationale Gericht, das mit einer Klage gegen einen nach Abschluss des Verfahrens zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz im Sinne dieser Vorschrift ergangenen Bescheid befasst ist, nicht von Amts wegen prüfen muss, ob das Verfahren zur Bestimmung des nach der Dublin‑III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaats ordnungsgemäß angewandt wurde.

72      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen ist, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats im Rahmen einer Klage einer Person, die internationalen Schutz beantragt, gegen eine Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz als unbegründet zu betrachten, nicht von Amts wegen prüfen muss, ob die in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist, korrekt angewandt wurden.

 Zu den Fragen 4, 5 und 7

73      Das vorlegende Gericht führt in seinem Vorabentscheidungsersuchen aus, dass die im Ausgangsverfahren betroffene Person, die internationalen Schutz beantrage, sich einfach als „Christ“ betrachte, ohne sich als Mitglied einer traditionellen Religionsgemeinschaft ausgewiesen zu haben, und weder Belege noch Erklärungen vorgebracht habe, anhand deren festgestellt werden könnte, ob und wie sie ihre Religion ausübe. Auch sei nicht klar, ob die Überzeugungen des Antragstellers die Vornahme von Handlungen in der öffentlichen Sphäre erforderten und ob seine Erklärungen genügten, um bestimmte Überzeugungen als Religion im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 anzusehen. Der Verfolger könne aber nur anhand der öffentlichen Komponenten der christlichen Religion eine Verbindung zwischen einer Person, die internationalen Schutz beantrage, und dieser Religion herstellen.

74      Zu beachten sei auch, dass ein Antrag auf internationalen Schutz nach Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit deren Art. 31 Abs. 8 Buchst. e als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden könne, wenn die in diesen Vorschriften genannten Voraussetzungen erfüllt seien. Allerdings dürfe die fehlende Aufklärung relevanter Umstände, die gegebenenfalls dazu führe, dass ein Antrag auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt werde, nicht darauf beruhen, dass die Verwaltungsbehörde im Verfahren passiv geblieben sei.

75      Im vorliegenden Fall fielen die Umstände, anhand deren die Tatbestandsmerkmale des Begriffs „Religion“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zu prüfen seien, jedoch unter das Recht auf Schutz des Privatlebens. Der Gerichtshof habe aber ausgeschlossen, dass bei Anträgen auf internationalen Schutz der Nachweis bestimmter Aspekte des Privatlebens verlangt werden dürfe. Daher sei zu klären, ob es zulässig sei, den Antragsteller im Rahmen der Prüfung seines Antrags über die Bekundung seiner Überzeugungen oder sein religiös motiviertes Verhalten, auf die bzw. das sein Antrag auf internationalen Schutz gestützt sei, zu befragen.

76      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen 4, 5 und 7 wissen möchte, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt und zur Stützung ihres Antrags eine Gefahr der Verfolgung aus religiösen Gründen geltend macht, zur Stützung ihres Vorbringens zu ihren religiösen Überzeugungen Erklärungen abgeben oder Schriftstücke vorlegen muss, die sich auf alle Komponenten des Begriffs „Religion“ im Sinne dieser Vorschrift beziehen.

77      In Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 heißt es: „Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes: … der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind“.

78      Der Gerichtshof hat bereits bezüglich der Auslegung der Richtlinie 2004/83 hervorgehoben, dass diese Bestimmung eine weite Definition des Religionsbegriffs enthält, die alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbezieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Y und Z, C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518, Rn. 63).

79      Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, namentlich aus der Verwendung der Formulierung „insbesondere“, geht klar hervor, dass die darin enthaltene Definition des Begriffs „Religion“ nur eine nicht abschließende Aufzählung von Gesichtspunkten bietet, die im Rahmen eines Antrags auf internationalen Schutz, der auf die Befürchtung gestützt wird, wegen der Religion verfolgt zu werden, geeignet sind, diesen Begriff auszufüllen.

80      Insbesondere umfasst der Begriff „Religion“ nach dieser Definition zum einen theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, was angesichts der Allgemeinheit der verwendeten Begriffe verdeutlicht, dass er sowohl „traditionelle“ Religionen als auch andere Glaubensüberzeugungen einschließt, und zum anderen die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, was impliziert, dass die Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft für sich genommen bei der Subsumtion dieses Begriffs nicht ausschlaggebend sein kann.

81      Was im Übrigen den Begriff „Religion“ im Sinne von Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) anbelangt, die gemäß dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ebenfalls bei deren Auslegung zu berücksichtigen ist, hat der Gerichtshof die weite Bedeutung dieses Begriffs hervorgehoben, die sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfassen kann, da sich die Religion in der einen wie in der anderen Form ausdrücken kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 44, sowie vom 10. Juli 2018, Jehovan todistajat, C‑25/17, EU:C:2018:551, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

82      Vor diesem Hintergrund kann von einer Person, die unter Berufung auf eine Gefahr der Verfolgung aus religiösen Gründen internationalen Schutz beantragt, nicht verlangt werden, dass sie zum Nachweis ihrer religiösen Überzeugungen zu jedem von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 erfassten Aspekt Erklärungen abgibt oder Schriftstücke vorlegt.

83      Denn wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 43 und 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind die Maßnahmen, die im Fall der Rückkehr des Antragstellers in sein Herkunftsland von den dortigen Behörden aus religiösen Gründen gegen ihn ergriffen zu werden drohen, nach ihrer Schwere zu beurteilen. Sie können also anhand dieses Kriteriums als „Verfolgung“ eingestuft werden, ohne dass sie jeden einzelnen Aspekt des Religionsbegriffs beeinträchtigen müssten.

84      Erforderlich ist allerdings, dass der Antragsteller sein Vorbringen zu seinem Religionswechsel gebührend substantiiert, da bloße Behauptungen zur religiösen Überzeugung oder zur Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nur den Ausgangspunkt des in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Verfahrens zur Prüfung der Tatsachen und Umstände bilden (vgl. entsprechend Urteile vom 2. Dezember 2014, A u. a., C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 49, sowie vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 28).

85      Insoweit ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten es als Pflicht des Antragstellers betrachten können, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a., C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 50).

86      Soweit im Rahmen der Prüfung der zuständigen Behörden nach Art. 4 dieser Richtlinie für Aussagen einer Person, die internationalen Schutz beantragt, Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, können diese Aussagen nur berücksichtigt werden, wenn die kumulativen Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 5 Buchst. a bis e der Richtlinie erfüllt sind.

87      Zu diesen Voraussetzungen gehören u. a. die Tatsache, dass festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, sowie der Umstand, dass die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 33). Gegebenenfalls muss die zuständige Behörde auch Erklärungen für das Fehlen von Beweisen und die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers berücksichtigen (Urteil vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

88      Wie der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, sind im Rahmen von Anträgen auf internationalen Schutz, die mit der Furcht vor Verfolgung aus religiösen Gründen begründet werden, neben der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers u. a. dessen religiöse Überzeugungen und die Umstände ihres Erwerbs, die Art und Weise, in der der Antragsteller seinen Glauben bzw. Atheismus versteht und lebt, sein Verhältnis zu den doktrinellen, rituellen oder regulatorischen Aspekten der Religion, der er nach eigenen Angaben angehört bzw. den Rücken kehren will, seine etwaige Rolle bei der Vermittlung seines Glaubens oder auch ein Zusammenspiel von religiösen Faktoren und identitätsstiftenden, ethnischen oder geschlechtsspezifischen Faktoren zu berücksichtigen.

89      Was schließlich die Zweifel anbelangt, die das vorlegende Gericht hinsichtlich der Möglichkeit hegt, im Rahmen von Anträgen auf internationalen Schutz den Nachweis bestimmter Aspekte des Privatlebens zu erbringen, so hat der Gerichtshof im Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a. (C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406), zwar ausgeführt, dass die Art und Weise, in der die zuständigen Behörden die Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise, auf die solche Anträge gestützt werden, prüfen, im Einklang mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens stehen muss, jedoch bezog sich dieses Urteil speziell auf detaillierte Befragungen zu den sexuellen Praktiken eines Antragstellers, die ganz besonders die Intimsphäre des Einzelnen berühren. Das vorlegende Gericht legt in keiner Weise dar, dass im Rahmen des Ausgangsverfahrens vergleichbare Erwägungen gelten.

90      Nach alledem ist auf die Fragen 4, 5 und 7 zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt und zur Stützung ihres Antrags eine Gefahr der Verfolgung aus religiösen Gründen geltend macht, zur Stützung ihres Vorbringens zu ihren religiösen Überzeugungen keine Erklärungen abgeben oder Schriftstücke vorlegen muss, die sich auf alle Komponenten des Begriffs „Religion“ im Sinne dieser Vorschrift beziehen. Jedoch obliegt es dem Antragsteller, dieses Vorbringen glaubhaft zu substantiieren, indem er Anhaltspunkte darlegt, die es der zuständigen Behörde ermöglichen, den Wahrheitsgehalt des Vorbringens zu überprüfen.

 Zur sechsten Frage

91      Das vorlegende Gericht gibt an, nach den ihm vorgelegten Auskünften sehe das „islamische Gesetz über die Apostasie“ (Gesetz über den Abfall vom Glauben) im Iran für den Wechsel der Religionszugehörigkeit von iranischen Staatsangehörigen als Proselytismus, „Feindseligkeit gegenüber Gott“ und „Beleidigung des Propheten“ die Todesstrafe vor. Auch wenn sich diese Rechtslage nicht spezifisch auf die christliche Religion beziehe, seien Personen, die im Iran zum Christentum konvertiert seien, zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zu zweijährigen Ausreiseverboten verurteilt worden. Im Ausgangsverfahren werde der von Herrn Fathi gestellte Antrag auf internationalen Schutz mit der Verfolgung begründet, die er wegen einer solchen Konversion erlitten habe.

92      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner sechsten Frage wissen möchte, ob Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das mit Todes- oder Freiheitsstrafe bewehrte Verbot von Handlungen, die der Staatsreligion des Herkunftslands der Person, die internationalen Schutz beantragt, zuwiderlaufen, eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne dieses Artikels darstellen kann.

93      Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 muss eine Handlung, um als „Verfolgung“ im Sinne des Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b und c dieser Richtlinie gelten als „Verfolgung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 u. a. „gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden“ und „unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung“.

94      Wie der Gerichtshof festgestellt hat, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie, dass eine „schwerwiegende Verletzung“ der Religionsfreiheit vorliegen muss, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt, damit die betreffenden Handlungen als Verfolgung gelten können (Urteil vom 5. September 2012, Y und Z, C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518, Rn. 59).

95      Dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt, aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in ihrem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Y und Z, C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518, Rn. 67).

96      Im vorliegenden Fall kann die Tatsache, dass eine Regelung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Gesetz über die Apostasie mit Todes- oder Freiheitsstrafe bewehrt ist, für sich genommen eine „Verfolgung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 darstellen, sofern eine solche Strafe in dem Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 7. November 2013, X u. a., C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 56).

97      Eine solche Strafe stellt nämlich eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie dar (vgl. entsprechend Urteil vom 7. November 2013, X u. a., C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 57).

98      Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, müssen die Behörden der Mitgliedstaaten, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig sind, in Verfahren, in denen es um die Bestrafung von Handlungen im Zusammenhang mit der Ausübung der Religionsfreiheit geht, auf der Grundlage der Aussagen des Antragstellers und gegebenenfalls der von ihm vorgelegten Dokumente oder auf der Basis von Informationen aus zuverlässigen Quellen ermitteln, ob die in einer solchen Regelung vorgesehene Todes- oder Freiheitsstrafe im Herkunftsland dieses Antragstellers in der Praxis verhängt wird. Im Licht dieser Informationen haben die nationalen Behörden zu entscheiden, ob der Antragsteller tatsächlich Grund zu der Befürchtung hat, nach der Rückkehr in sein Herkunftsland verfolgt zu werden (vgl. entsprechend Urteil vom 7. November 2013, X u. a., C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 59 und 60).

99      Die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage, ob das in dieser Weise strafbewehrte Verbot im Herkunftsland für notwendig erachtet wird, um die öffentliche Ordnung oder die Rechte und Freiheiten anderer zu wahren, ist ohne Belang. Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft muss die zuständige Behörde ermitteln, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der Richtlinie 2011/95 besteht, ohne dass es darauf ankäme, ob die Maßnahme des Herkunftslands, die das Verfolgungsrisiko begründet, den in diesem Land herrschenden Vorstellungen von öffentlicher Ordnung oder Rechten und Freiheiten entspricht.

100    Was schließlich die Art. 10 und 18 der Charta betrifft, die vom vorlegenden Gericht ebenfalls angeführt werden, genügt der Hinweis, dass sich aus diesen Bestimmungen keine besonderen zusätzlichen Erkenntnisse für die Antwort auf die vorliegende Frage zur Vorabentscheidung gewinnen lassen.

101    Nach alledem ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das mit Todes- oder Freiheitsstrafe bewehrte Verbot von Handlungen, die der Staatsreligion des Herkunftslands der Person, die internationalen Schutz beantragt, zuwiderlaufen, eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne dieses Artikels darstellen kann, sofern die Behörden dieses Landes Verstöße gegen dieses Verbot in der Praxis mit solchen Strafen ahnden, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

 Kosten

102    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass er die Behörden eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, die inhaltliche Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. d dieser Verordnung vorzunehmen, ohne dass eine ausdrückliche Entscheidung dieser Behörden vorliegt, in der anhand der in dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien festgestellt worden wäre, dass dieser Mitgliedstaat für eine solche Prüfung zuständig ist.

2.      Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats im Rahmen einer Klage einer Person, die internationalen Schutz beantragt, gegen eine Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz als unbegründet zu betrachten, nicht von Amts wegen prüfen muss, ob die in der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist, korrekt angewandt wurden.

3.      Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt und zur Stützung ihres Antrags eine Gefahr der Verfolgung aus religiösen Gründen geltend macht, zur Stützung ihres Vorbringens zu ihren religiösen Überzeugungen keine Erklärungen abgeben oder Schriftstücke vorlegen muss, die sich auf alle Komponenten des Begriffs „Religion“ im Sinne dieser Vorschrift beziehen. Jedoch obliegt es dem Antragsteller, dieses Vorbringen glaubhaft zu substantiieren, indem er Anhaltspunkte darlegt, die es der zuständigen Behörde ermöglichen, den Wahrheitsgehalt des Vorbringens zu überprüfen.

4.      Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass das mit Todes- oder Freiheitsstrafe bewehrte Verbot von Handlungen, die der Staatsreligion des Herkunftslands der Person, die internationalen Schutz beantragt, zuwiderlaufen, eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne dieses Artikels darstellen kann, sofern die Behörden dieses Landes Verstöße gegen dieses Verbot in der Praxis mit solchen Strafen ahnden, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.