Language of document : ECLI:EU:C:2012:623

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTSHOFS

5. Oktober 2012(*)

„Beschleunigtes Verfahren“

In der Rechtssache C‑394/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Asylgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 21. August 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 27. August 2012, in dem Verfahren

Shamso Abdullahi

gegen

Bundesasylamt

erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS

aufgrund des Vorschlags des Berichterstatters A. Rosas,

nach Anhörung des Generalanwalts P. Cruz Villalón

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 10, 16, 18 und 19 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Abdullahi, einer somalischen Staatsangehörigen, die in Österreich einen Asylantrag gestellt hatte, und dem Bundesasylamt über die Bestimmung des für die Prüfung dieses Asylantrags zuständigen Staates.

3        Die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens war zunächst illegal nach Griechenland eingereist, ohne dort einen Asylantrag zu stellen, und reiste sodann über Drittländer und Ungarn nach Österreich, wo sie weniger als zwölf Monate nach ihrer ersten Einreise in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union einen Asylantrag stellte.

4        Der Asylgerichtshof möchte erstens u. a. wissen, ob mit der Zustimmung eines Mitgliedstaats zur Aufnahme eines Asylbewerbers dieser Mitgliedstaat jener ist, der im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, oder ob sich der betroffene Asylbewerber auf die Anwendung der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung und auf die nach diesen Kriterien bestimmte Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats berufen kann.

5        Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Mitgliedstaat, in den ein Asylbewerber zuerst illegal eingereist ist, seine Zuständigkeit für die Prüfung des von ihm gestellten Asylantrags anzuerkennen hat.

6        Drittens möchte das vorlegende Gericht u. a. wissen, ob, wenn das Asylsystem des Mitgliedstaats der ersten Einreise in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union systemische Mängel aufweist, ein Aufenthalt in einem solchen Mitgliedstaat von vornherein nicht als geeignet anzusehen ist, die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003 für die Prüfung eines Asylantrags zu begründen.

7        Das vorlegende Gericht beantragt beim Gerichtshof, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren nach Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

8        Das vorlegende Gericht begründet seinen Antrag u. a. damit, dass es nach der österreichischen Gesetzeslage verpflichtet sei, seine Entscheidung binnen zwei Wochen zu treffen, dass sich die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens, die die Stadt Wien nicht verlassen dürfe, in einer Situation der Unsicherheit befinde, dass die vorliegende Rechtssache Auslegungsprobleme aufwerfe, die einen sensiblen Tätigkeitsbereich des Unionsgesetzgebers und Fragen der Handhabung der Verordnung Nr. 343/2003 beträfen, zu denen sich der Gerichtshof zum ersten Mal äußern solle, und dass in Österreich eine Vielzahl ähnlicher Verfahren anhängig sei.

9        Aus Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung und aus Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union geht hervor, dass auf Antrag des nationalen Gerichts der Präsident des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts ausnahmsweise beschließen kann, ein Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen der Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn sich aus den angeführten Umständen die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage ergibt.

10      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht zwar die Bedeutung der Fragen, die es dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, insbesondere für die in Österreich anhängigen Verfahren herausgestellt, doch hat es nicht die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über diese Fragen dargetan.

11      Nach der Rechtsprechung kann nämlich die Tatsache, dass von der Entscheidung, die das vorlegende Gericht zu treffen hat, nachdem es den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, potenziell eine große Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen betroffen ist, als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der geeignet wäre, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. September 2006, KÖGÁZ u. a., C‑283/06 und C‑312/06, Randnr. 9, vom 3. Juli 2008, Plantanol, C‑201/08, Randnr. 10, vom 23. Oktober 2009, Lesoochranárske zoskupenie, C‑240/09, Randnr. 11, und vom 1. Oktober 2010, N. S., C‑411/10, Randnr. 7).

12      Im Übrigen erwähnt das vorlegende Gericht in seinem Beschluss zwar, dass es nach der österreichischen Gesetzeslage verpflichtet sei, seine Entscheidung binnen zwei Wochen zu treffen, doch geht aus demselben Beschluss zum einen hervor, dass das vorlegende Gericht diese Frist schon überschritten hat, und zum anderen, dass das Verfahren in Österreich schon seit August 2011 anhängig ist.

13      Außerdem darf zwar die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens die Stadt Wien nicht verlassen, doch ist nicht ersichtlich, dass sie während der Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens in Haft genommen werden müsste oder ihr unmittelbar eine Überstellung drohen würde.

14      Unter diesen Umständen kann die Rechtsunsicherheit bei der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der geeignet wäre, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. September 2011, O u. a. C‑356/11 und C‑357/11, Randnr. 14, und vom 7. Februar 2012, MA u. a. C‑648/11, Randnr. 12).

15      Aus dem Vorstehenden folgt, dass dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Rechtssache einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, nicht stattgegeben werden kann.

Aus diesen Gründen hat der Präsident des Gerichtshofs beschlossen:

Der Antrag des Asylgerichtshofs (Österreich), die Rechtssache C‑394/12 dem beschleunigten Verfahren nach Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen, wird zurückgewiesen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.