Language of document : ECLI:EU:T:2021:782

URTEIL DES GERICHTS (Zehnte Kammer)

10. November 2021(*)

„Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsverfahren – Eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster, das eine Bauplatte darstellt – Älteres Geschmacksmuster, das eine Lärmschutzwandplatte darstellt – Nichtigkeitsgrund – Fehlende Eigenart – Betreffender Wirtschaftszweig – Informierter Benutzer – Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers – Kein unterschiedlicher Gesamteindruck – Relevanz der tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse – Art. 6 und Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 6/2002“

In der Rechtssache T‑193/20,

Eternit mit Sitz in Capelle-au-Bois (Belgien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte J. Muyldermans und P. Maeyaert,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch J. Ivanauskas und V. Ruzek als Bevollmächtigte,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO und Streithelferin vor dem Gericht:

Eternit Österreich GmbH mit Sitz in Vöcklabruck (Österreich), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt M. Prohaska-Marchried,

betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des EUIPO vom 5. Februar 2020 (Sache R 1661/2018-3) zu einem Nichtigkeitsverfahren zwischen Eternit Österreich und Eternit

erlässt

DAS GERICHT (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov (Berichterstatter) sowie der Richter E. Buttigieg und G. Hesse,

Kanzler: J. Pichon, Verwaltungsrätin,

aufgrund der am 10. April 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

aufgrund der am 17. August 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung des EUIPO,

aufgrund der am 21. August 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung der Streithelferin,

auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2021

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Die Klägerin, Eternit, ist Inhaberin des Gemeinschaftsgeschmacksmusters, das am 15. September 2014 beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) nach der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) angemeldet und unter der Nr. 2538140-0001 eingetragen wurde.

2        Das angegriffene Geschmacksmuster wird wie folgt wiedergegeben:

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3        Das angegriffene Geschmacksmuster ist zur Verwendung bei den Erzeugnissen „Platten [Bau]“ in Klasse 25.01 im Sinne des Abkommens von Locarno zur Errichtung einer Internationalen Klassifikation für gewerbliche Muster und Modelle vom 8. Oktober 1968 in geänderter Fassung bestimmt.

4        Am 12. Dezember 2016 beantragte die Streithelferin, die Eternit Österreich GmbH, nach Art. 52 der Verordnung Nr. 6/2002, das angegriffene Geschmacksmuster für nichtig zu erklären.

5        Der Antrag wurde auf den Nichtigkeitsgrund in Art. 25 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit den Art. 4 bis 8 der Verordnung Nr. 6/2002 gestützt.

6        In ihrem Antrag auf Nichtigerklärung machte die Streithelferin u. a. geltend, das angegriffene Geschmacksmuster sei nicht neu im Sinne von Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002, es habe keine Eigenart im Sinne von Art. 6 der Verordnung und seine Erscheinungsmerkmale seien ausschließlich durch die technische Funktion im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung bedingt.

7        Am 28. Juni 2018 erließ die Nichtigkeitsabteilung eine Entscheidung, in der sie zum einen feststellte, die Streithelferin habe nicht nachgewiesen, dass das angegriffene Geschmacksmuster nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vom Schutz ausgeschlossen sei, und zum anderen das angegriffene Geschmacksmuster für nichtig erklärte, weil es im Hinblick auf ein am 4. März 2013 – also vor dem Tag der Anmeldung des angegriffenen Geschmacksmusters – in einer auf der Webseite „http://www.rieder.at“ zugänglichen Broschüre für Lärmschutzwandplatten mit dem Titel Lärmschutz offenbartes Geschmacksmuster keine Eigenart im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 habe. Dieses Geschmacksmuster wird wie folgt wiedergegeben:

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8        Am 23. August 2018 legte die Klägerin gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung nach den Art. 55 bis 60 der Verordnung Nr. 6/2002 beim EUIPO Beschwerde ein.

9        Mit Entscheidung vom 5. Februar 2020 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Dritte Beschwerdekammer des EUIPO die Beschwerde mit der Begründung zurück, dem angegriffenen Geschmacksmuster fehle die Eigenart im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002, da es für den informierten Benutzer dem älteren Geschmacksmuster insgesamt ähnlich sei.

 Anträge der Parteien

10      Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–        dem EUIPO und der Streithelferin die Kosten aufzuerlegen.

11      Das EUIPO und die Streithelferin beantragen,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

12      Zur Stützung ihrer Klage macht die Klägerin einen einzigen Klagegrund geltend, nämlich einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002. Der Klagegrund besteht aus drei Teilen, mit denen Beurteilungsfehler der Beschwerdekammer gerügt werden, und zwar erstens bei den Definitionen des betreffenden Wirtschaftszweigs und des verständigen Benutzers, zweitens bei der Bestimmung des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers in diesem Wirtschaftszweig und drittens beim Ergebnis der Prüfung der von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindrücke.

13      In Rn. 15 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer ausgeführt, dass das ältere Geschmacksmuster der Öffentlichkeit vor dem Tag der Anmeldung des angegriffenen Geschmacksmusters im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 zugänglich gemacht worden sei. Dies wird von den Parteien nicht bestritten. Daher ist die fehlende Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters nach Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 im Hinblick auf das ältere Geschmacksmuster zu beurteilen.

 Zum ersten Teil: Definitionen des betreffenden Wirtschaftszweigs und des informierten Benutzers

14      In Rn. 18 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer festgestellt, dass es sich bei den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern um Platten handele, die im Bausektor verwendet würden. Unabhängig von der Frage, ob diese Plattentypen als „Lärmschutzwand“ einzustufen seien, wie die Klägerin für das ältere Geschmacksmuster geltend gemacht hatte, oder als „faserige Fassadeplatten für Gebäude“, wie es nach Ansicht der Klägerin speziell beim angegriffenen Geschmacksmuster der Fall sei, zeigten sie denselben äußeren Teil eines Erzeugnisses, nämlich einer Bauplatte. Außerdem erstrecke sich der Umfang des Schutzes aus einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 auf „jedes Geschmacksmuster“, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erwecke. Der Schutzumfang eines Geschmacksmusters hänge demnach nicht von der Art des Erzeugnisses ab, in das dieses Geschmacksmuster aufgenommen oder bei dem es verwendet werde. Diese Argumentation wurde auf das Urteil vom 21. September 2017, Easy Sanitary Solutions und EUIPO/Group Nivelles (C‑361/15 P und C‑405/15 P, EU:C:2017:720), gestützt.

15      In den Rn. 19 bis 21 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer ausgeführt, informierte Benutzer im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 seien vorliegend Gewerbetreibende des Bausektors, beispielsweise Bauunternehmen, Bauträger oder Architekten. Diese Gewerbetreibenden besäßen eine gewisse Kenntnis verschiedener Bauplatten und wiesen einen relativ hohen Aufmerksamkeitsgrad auf. Die von der Klägerin durch die Beschränkung des vom angegriffenen Geschmacksmuster betroffenen Wirtschaftszweigs auf den der „faserigen Fassadeplatten für Gebäude“ befürwortete Kategorisierung habe keinen erheblichen Einfluss auf die Definition des informierten Benutzers.

16      Die Klägerin ist der Ansicht, die Beschwerdekammer habe einen Rechtsfehler begangen, indem sie den betreffenden Wirtschaftszweig und den informierten Benutzer nicht genauer definiert habe. Der vom angegriffenen Geschmacksmuster betroffene Wirtschaftszweig sei auf den der „Fassadeplatten für Gebäude“ zu beschränken, der sehr spezifische Merkmale aufweise, und nicht auf den der Bauplatten allgemein auszudehnen. Demnach sei auf den informierten Benutzer der „Fassadeplatten für Gebäude“ abzustellen, der im Allgemeinen einen direkten Vergleich der fraglichen Geschmacksmuster vornehme, indem er Zeitschriften und Webseiten lese oder Erzeugnisse oder Produktproben in den Verkaufsstellen prüfe.

17      Die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 21. September 2017, Easy Sanitary Solutions und EUIPO/Group Nivelles (C‑361/15 P und C‑405/15 P, EU:C:2017:720), fänden nur auf den Ausdruck „betreffender Wirtschaftszweig“ in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 Anwendung, so dass sie als Hinweis darauf zu verstehen seien, dass es nicht erforderlich sei, dass der informierte Benutzer des Erzeugnisses, bei dem das angegriffene Geschmacksmuster verwendet oder in das es aufgenommen werde, das ältere Geschmacksmuster kenne, wenn dieses bei einem Erzeugnis eines anderen als dem von dem angegriffenen Geschmacksmuster betroffenen Industriezweigs verwendet oder darin aufgenommen werde. Wenn aber alle Geschmacksmuster, auch die aus unterschiedlichen Wirtschaftszweigen, bei der Prüfung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters zu berücksichtigen seien, sei diese Berücksichtigung nur beim vierten und letzten Prüfungsschritt, nämlich beim Vergleich des Gesamteindrucks der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster, relevant. Dagegen seien die ersten drei Prüfungsschritte – Bestimmung des betreffenden Wirtschaftszweigs, des informierten Benutzers und des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers in diesem Wirtschaftszweig – nur in Bezug auf das angegriffene Geschmacksmuster durchzuführen. Im Übrigen ermögliche bzw. verlange dieses Urteil sogar, die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse, in die das angegriffene Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet werde, zu berücksichtigen.

18      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

 Anwendbare Grundsätze

19      Angesichts der unterschiedlichen Argumentationen der Parteien ist zunächst der Prüfungsrahmen für die Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 zu bestimmen. Insbesondere ist zu klären, ob der betreffende Wirtschaftszweig, der informierte Benutzer und der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers allein in Bezug auf das angegriffene Geschmacksmuster zu definieren sind. Außerdem ist zu klären, ob die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse, in die das angegriffene Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet wird, bei der Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters relevant sind.

20      Was erstens den Prüfungsrahmen für die Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 betrifft, so sieht Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung u. a. vor, dass ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster Eigenart hat, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung zugänglich gemacht worden ist. Nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 wird bei der Beurteilung der Eigenart der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters berücksichtigt.

21      Nach ständiger Rechtsprechung erfolgt die Beurteilung der Eigenart eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters im Wesentlichen in einer Prüfung in vier Schritten. Zu bestimmen sind erstens der Wirtschaftszweig der Erzeugnisse, in die das Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet werden soll, zweitens der informierte Benutzer dieser Erzeugnisse je nach ihrer Zweckbestimmung und mit Bezug auf diesen informierten Benutzer der Grad der Kenntnis vom Stand der Technik sowie der Grad der Aufmerksamkeit beim Vergleich der Geschmacksmuster, drittens der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters, deren Einfluss auf die Eigenart umgekehrt proportional ist, und viertens, unter Berücksichtigung der Eigenart, das Ergebnis des möglichst direkten Vergleichs der Gesamteindrücke, die das angegriffene Geschmacksmuster und jedes ältere, der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Geschmacksmuster beim informierten Benutzer jeweils hervorrufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2019, Visi/one/EUIPO – EasyFix [Informationstafeln für Fahrzeuge], T‑74/18, EU:T:2019:417, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Der erste Prüfungsschritt, d. h. die Bestimmung des Wirtschaftszweigs der Erzeugnisse, in die das Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet werden soll, ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, doch ist dieser Schritt in Wirklichkeit eine notwendige Voraussetzung für die Definition der ausdrücklich in Art. 6 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 6/2002 angeführten Begriffe „informierter Benutzer“ und „Gestaltungsfreiheit des Entwerfers“. Insoweit hat das Gericht bereits festgestellt, dass die Ermittlung des Erzeugnisses, auf das sich das fragliche Geschmacksmuster bezieht, es ermöglicht, den informierten Benutzer und den Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters zu bestimmen (Urteile vom 18. März 2010, Grupo Promer Mon Graphic/HABM – PepsiCo [Wiedergabe eines runden Werbeträgers], T‑9/07, EU:T:2010:96, Rn. 56, und vom 21. Juni 2018, Haverkamp IP/EUIPO – Sissel [Fußmatte], T‑227/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:370, Rn. 39).

23      Was zweitens die Frage betrifft, in welchem Schritt der Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 jedes der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster zu berücksichtigen ist, so ist es, da Gegenstand der Beurteilung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 die Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters ist, folgerichtig, den betreffenden Wirtschaftszweig, den informierten Benutzer und den Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei dessen Entwicklung im Hinblick auf die Erzeugnisse zu bestimmen, in die das angegriffene Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet werden soll.

24      Ob ein Geschmacksmuster Eigenart besitzt, sollte gemäß dem 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 nämlich danach beurteilt werden, inwieweit sich der Gesamteindruck, den der Anblick des Geschmacksmusters beim informierten Benutzer hervorruft, deutlich von dem unterscheidet, den der vorbestehende Formschatz bei ihm hervorruft, und zwar unter Berücksichtigung der Art des Erzeugnisses, bei dem das „Geschmacksmuster“ benutzt wird oder in das „es“ aufgenommen wird, und insbesondere des jeweiligen Industriezweigs und des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des „Geschmacksmusters“. Die Bezugnahme auf das „Geschmacksmuster“ in der Einzahl zur Bestimmung des jeweiligen Industriezweigs und des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei seiner Entwicklung, im Gegensatz zur Verwendung des Begriffs „vorbestehender Formschatz“, der die Vielzahl der bereits vorhandenen Geschmacksmuster umfasst, zeigt deutlich, dass die ersten drei Prüfungsschritte, d. h. die Bestimmung des betreffenden Wirtschaftszweigs, des informierten Benutzers und des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers nur in Bezug auf das individuelle Geschmacksmuster, dessen Eigenart beurteilt wird – vorliegend das angegriffene Geschmacksmuster – durchzuführen sind.

25      Dagegen wird das ältere Geschmacksmuster bei der Prüfung der ersten drei Schritte der oben in Rn. 21 genannten Beurteilung nicht berücksichtigt. Die Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters kann nämlich durch ein älteres Geschmacksmuster zunichtegemacht werden, das bei Erzeugnissen verwendet werden soll, die zu einem völlig anderen Wirtschaftszweig gehören als dem, zu dem die von dem angegriffenen Geschmacksmuster betroffenen Erzeugnisse gehören. Somit ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 6/2002, dass diese Bestimmung die Offenbarung gegenüber der Öffentlichkeit ausschließlich von den tatsächlichen Umständen dieser Offenbarung und nicht von dem Erzeugnis, in das dieses Geschmacksmuster aufgenommen oder bei dem es verwendet werden soll, abhängig macht (Urteil vom 21. September 2017, Easy Sanitary Solutions und EUIPO/Group Nivelles, C‑361/15 P und C‑405/15 P, EU:C:2017:720, Rn. 99). Der Gerichtshof hat klargestellt, dass sich aus dieser Bestimmung keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es erforderlich wäre, dass der informierte Benutzer des Erzeugnisses, in das das angegriffene Geschmacksmuster aufgenommen oder bei dem es verwendet wird, das ältere Geschmacksmuster kennt, wenn dieses in ein Erzeugnis eines anderen Industriezweigs als den des angegriffenen Geschmacksmusters aufgenommen oder bei diesem verwendet wird (Urteil vom 21. September 2017, Easy Sanitary Solutions und EUIPO/Group Nivelles, C‑361/15 P und C‑405/15 P, EU:C:2017:720, Rn. 131). Das ältere Geschmacksmuster kann mithin zu einem ganz anderen Wirtschaftszweig gehören, der durch andere informierte Benutzer und eine andere Gestaltungsfreiheit des Entwerfers gekennzeichnet ist, und ist daher für die Bestimmung des von dem angegriffenen Geschmacksmuster betroffenen Wirtschaftszweigs, seines informierten Benutzers und der Gestaltungsfreiheit seines Entwerfers unerheblich.

26      Die Klägerin macht daher zu Recht geltend, dass die ersten drei Prüfungsschritte allein in Bezug auf das angegriffene Geschmacksmuster durchzuführen sind, was das EUIPO im Übrigen auch einräumt.

27      Beim vierten und letzten Schritt der Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters sind sowohl das angegriffene Geschmacksmuster als auch das ältere Geschmacksmuster zu berücksichtigen. Wie oben in Rn. 21 ausgeführt, werden in diesem Schritt nämlich die von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindrücke verglichen, was die Berücksichtigung jedes dieser Geschmacksmuster impliziert.

28      Was drittens die Frage betrifft, ob die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse, in die die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen sie verwendet werden, bei der Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 von Bedeutung sind, so lässt es die Rechtsprechung, wie die Klägerin zu Recht geltend macht, unter bestimmten Voraussetzungen zu, die von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern betroffenen tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse heranzuziehen.

29      Nach der Rechtsprechung ist es nämlich nicht falsch, bei der Beurteilung des Gesamteindrucks, den die fraglichen Geschmacksmuster hervorrufen, die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse, die diesen Geschmacksmustern entsprechen, heranzuziehen (Urteil vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 73, und vom 29. April 2020, Bergslagernas Järnvaru/EUIPO – Scheppach Fabrikation von Holzbearbeitungsmaschinen [Holzspaltwerkzeuge], T‑73/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:157, Rn. 39).

30      Die Berücksichtigung der tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse zur Veranschaulichung beim Vergleich der Gesamteindrücke ist allerdings nur gültig, wenn die Erzeugnisse den Geschmacksmustern, wie sie eingetragen sind, entsprechen (Urteile vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 73 und 74, sowie vom 6. Juni 2019, Porsche/EUIPO – Autec [Kraftfahrzeuge], T‑209/18, EU:T:2019:377, Rn. 76).

31      Ferner bezeichnet gemäß Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 6/2002 ein „Geschmacksmuster“ die „Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt“. Der Schutz eines Geschmacksmusters im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 besteht somit im Schutz der Erscheinungsform eines Erzeugnisses. Dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 ist insoweit zu entnehmen, dass der Schutz sich weder auf Bauelemente erstrecken sollte, die während der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Erzeugnisses nicht sichtbar sind, noch auf Merkmale eines Bauelements, die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. September 2014, Biscuits Poult/HABM – Banketbakkerij Merba [Biscuit], T‑494/12, EU:T:2014:757, Rn. 22 bis 24, und vom 3. Oktober 2014, Cezar/HABM – Poli-Eco [Insert], T‑39/13, EU:T:2014:852, Rn. 40).

32      Auch wenn die grafische oder fotografische Wiedergabe des fraglichen Geschmacksmusters für sich allein nicht erkennen lässt, welche Aspekte des Geschmacksmusters sichtbar wären oder wie das Geschmacksmuster visuell wahrgenommen werden wird, können daher gerade zu diesem Zweck tatsächlich vertriebene Erzeugnisse oder deren Verwendungsweise berücksichtigt werden.

33      Daraus folgt, dass die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse, bei denen die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster verwendet oder in die sie aufgenommen werden, nur zur Veranschaulichung berücksichtigt werden dürfen, um die visuellen Aspekte dieser Geschmacksmuster zu bestimmen. Diese Berücksichtigung ist jedoch nur unter der Voraussetzung zulässig, dass die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse den Geschmacksmustern in ihrer eingetragenen Form entsprechen. Ein tatsächlich vertriebenes Erzeugnis darf daher dann nicht berücksichtigt werden, wenn das Geschmacksmuster, das bei ihm verwendet oder in ihm aufgenommen wurde, von dem Geschmacksmuster in seiner eingetragenen Form abweicht oder wenn sich gewisse Erscheinungsmerkmale des Erzeugnisses nicht eindeutig aus der eingetragenen grafischen Wiedergabe des Geschmacksmusters ergeben.

34      Im Licht dieser Grundsätze ist der erste Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes zu prüfen.

 Zum betreffenden Wirtschaftszweig

35      Wie oben in Rn. 21 ausgeführt, besteht der erste Schritt bei der Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters darin, den Wirtschaftszweig zu bestimmen, zu dem die von dem Geschmacksmuster betroffenen Erzeugnisse gehören.

36      Dazu ist die aus der Anmeldung hervorgehende Angabe der Erzeugnisse zu berücksichtigen, in die das angegriffene Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet werden soll. Nach Art. 36 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 muss die Anmeldung nämlich die Angabe der Erzeugnisse enthalten, in die das Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet werden soll.

37      Gegebenenfalls ist auch das Geschmacksmuster selbst zu berücksichtigen, soweit es die Art, Bestimmung oder Funktion des Erzeugnisses näher bestimmt. Die Berücksichtigung des Geschmacksmusters selbst kann es nämlich ermöglichen, das Erzeugnis innerhalb einer bei der Eintragung angegebenen weiter gefassten Erzeugniskategorie zu ermitteln und damit den informierten Benutzer und den Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters wirksam zu bestimmen (Urteile vom 18. März 2010, Wiedergabe eines runden Werbeträgers, T‑9/07, EU:T:2010:96 Rn. 56, und vom 21. Juni 2018, Fußmatte, T‑227/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:370, Rn. 39).

38      Vorliegend geht erstens aus der der Anmeldung des angegriffenen Geschmacksmusters beigefügten Beschreibung hervor, dass die von ihm erfassten Erzeugnisse als „Platten [Bau]“ in Klasse 25.01 im Sinne des Abkommens von Locarno beschrieben werden. Mithin hat sich die Klägerin selber dafür entschieden, die Eintragung des angegriffenen Geschmacksmusters nicht auf Fassadeplatten für Gebäude zu beschränken. Die in der Anmeldung angegebenen „Platten [Bau]“ beziehen sich nämlich ohne Einschränkung auf den Bausektor im weiten Sinne.

39      Zweitens lassen auch die oben in Rn. 2 wiedergegebenen Abbildungen des angegriffenen Geschmacksmusters nicht die Art der Erzeugnisse, in die dieses Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen es verwendet werden soll, ihre Bestimmung oder ihre Funktion erkennen. Kein Bestandteil des Geschmacksmusters deutet nämlich darauf hin, dass es ausschließlich bei Fassadeplatten für Gebäude und bei keiner anderen Bauplatte verwendet werden soll.

40      Unter diesen Umständen durfte die Beschwerdekammer fehlerfrei davon ausgehen, dass es sich bei dem betreffenden Wirtschaftszweig um den der Bauplatten handelte.

41      Die Klägerin versucht, dieses Ergebnis in Zweifel zu ziehen, indem sie betont, dass es sich bei den von ihr vertriebenen Erzeugnissen, bei denen sie das angegriffene Geschmacksmuster verwende, ausschließlich um Fassadeplatten für Gebäude handele. Dieses Vorbringen beruht also auf der Prämisse, dass der von dem angegriffenen Geschmacksmuster betroffene Wirtschaftszweig ausschließlich nach den tatsächlich vertriebenen Erzeugnissen zu bestimmen ist.

42      Dieser Prämisse kann jedoch nicht gefolgt werden. Zum einen stützt sich diese Prämisse nämlich auf keine Bestimmung der Verordnung Nr. 6/2002. Darüber hinaus würde sie die gemäß Art. 36 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 in der Anmeldung zwingend erforderlichen Angaben bedeutungslos machen, indem diese durch Informationen ersetzt würden, die auf der momentanen Marktsituation beruhten. Diese ist jedoch definitionsgemäß veränderlich, da sich das Sortiment der tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse aufgrund zahlreicher Faktoren wie der Geschäftsstrategie des Geschmacksmusterinhabers, des Angebots und der Nachfrage oder auch dem Erfolg oder Misserfolg eines bestimmten Erzeugnisses erheblich ändern kann.

43      Zum anderen ist es zwar nach den oben in den Rn. 29 bis 33 angeführten Grundsätzen nicht falsch, die auf dem Markt tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse zu berücksichtigen, doch ist diese Berücksichtigung nur zur Veranschaulichung zulässig, um die bildlichen Aspekte des betreffenden Geschmacksmusters zu bestimmen, und sie setzt voraus, dass die Erzeugnisse dem Geschmacksmuster in seiner eingetragenen Form entsprechen. Ergibt sich bei der Prüfung selbst des angegriffenen Geschmacksmusters in seiner eingetragenen Form, dass es sich um eine spezielle Kategorie innerhalb einer bei der Eintragung angegebenen weiter gefassten Erzeugniskategorie handelt, kann somit diese spezielle Kategorie berücksichtigt werden (Urteil vom 18. März 2010, Wiedergabe eines runden Werbeträgers, T‑9/07, EU:T:2010:96, Rn. 59 und 60). Ergibt sich hingegen bei der Prüfung selbst des angegriffenen Geschmacksmusters nicht, dass dieses, wie im vorliegenden Fall, eine engere Erzeugniskategorie erfassen soll, kann die bloße Bezugnahme auf die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse nicht zu einer anderen Definition des betreffenden Wirtschaftszweigs führen.

44      Zu Recht weist die Klägerin außerdem darauf hin, dass die Beschwerdekammer bei der Definition des betreffenden Wirtschaftszweigs in den Rn. 17 und 18 der angefochtenen Entscheidung unzutreffend sowohl auf das angegriffene Geschmacksmuster als auch auf das ältere Geschmacksmuster Bezug genommen hat. Wie jedoch oben aus den Rn. 23 bis 27 hervorgeht, ist im ersten Prüfungsschritt allein auf das angegriffene Geschmacksmuster abzustellen, was das EUIPO im Übrigen nicht bestreitet.

45      Diese Ungenauigkeit hat jedoch keine Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung, da die Beschwerdekammer den für die Prüfung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters betreffenden Wirtschaftszweig, nämlich den der Bauplatten, zutreffend definiert hat, wie oben aus den Rn. 36 bis 40 hervorgeht.

46      Folglich ist das Vorbringen der Klägerin zur Definition des von dem angegriffenen Geschmacksmuster betroffenen Wirtschaftszweigs zurückzuweisen.

 Zum informierten Benutzer

47      Nach der Rechtsprechung ist der Begriff des informierten Benutzers als Begriff zu verstehen, der zwischen dem im Markenbereich anwendbaren Begriff des Durchschnittsverbrauchers, von dem keine speziellen Kenntnisse erwartet werden und der im Allgemeinen keinen direkten Vergleich zwischen den einander gegenüberstehenden Marken anstellt, und dem des Fachmanns als Sachkundigen mit profunden technischen Fertigkeiten liegt. Somit kann der Begriff des informierten Benutzers als Bezeichnung eines Benutzers verstanden werden, dem keine durchschnittliche Aufmerksamkeit, sondern eine besondere Wachsamkeit eigen ist, sei es wegen seiner persönlichen Erfahrung oder seiner umfangreichen Kenntnisse in dem betreffenden Bereich (Urteil vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 53).

48      Außerdem ist der Begriff des informierten Benutzers, der gerade für die Prüfung der Eigenart eines Geschmacksmusters nach Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 geschaffen wurde, nur allgemein als Hinweis auf eine Person mit Standardeigenschaften zu definieren, nicht aber von Fall zu Fall in Bezug auf eine spezielle Benutzung des angegriffenen Geschmacksmusters (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Juni 2019, Kraftfahrzeuge, T‑209/18, EU:T:2019:377, Rn. 37).

49      Was insbesondere den Grad der Aufmerksamkeit des informierten Benutzers betrifft, so ist dieser zwar nicht der durchschnittlich informierte und angemessen aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher, der ein Geschmacksmuster in der Regel als Ganzes wahrnimmt und nicht auf die verschiedenen Einzelheiten achtet, aber auch kein Sachkundiger oder Fachmann, der minimale Unterschiede, die zwischen den betreffenden Geschmacksmustern bestehen können, im Detail feststellen kann. So setzt die Bezeichnung „informiert“ voraus, dass der Benutzer, ohne ein Entwerfer oder technischer Sachverständiger zu sein, verschiedene Geschmacksmuster kennt, die es in dem betroffenen Wirtschaftsbereich gibt, dass er gewisse Kenntnisse in Bezug auf die Elemente besitzt, die diese Geschmacksmuster gewöhnlich aufweisen, und dass er die betreffenden Erzeugnisse aufgrund seines Interesses an ihnen mit vergleichsweise hoher Aufmerksamkeit benutzt (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      In Anbetracht der oben in den Rn. 47 bis 49 angeführten Rechtsprechung und da es sich bei dem von dem angegriffenen Geschmacksmuster betroffenen Wirtschaftszweig um den der Bauplatten handelt, durfte die Beschwerdekammer vorliegend davon ausgehen, dass der informierte Benutzer ein Gewerbetreibender des Bausektors ist, beispielsweise ein Bauunternehmen, ein Bauträger oder ein Architekt, der über eine gewisse Kenntnis der verschiedenen Bauplatten verfügt und eine erhöhte Aufmerksamkeit aufweist.

51      Das Vorbringen der Klägerin, wonach es bei dem informierten Benutzer um den der „Fassadeplatten für Gebäude“ gehe, ist daher aus denselben Gründen wie den oben in den Rn. 38 und 39 dargelegten zurückzuweisen.

52      Im Übrigen ist die Klägerin zwar der Ansicht, dass der betreffende Wirtschaftszweig enger zu bestimmen gewesen sei, nämlich als der der Fassadeplatten für Gebäude, jedoch macht sie nicht geltend, dass ein informierter Benutzer von Fassadeplatten für Gebäude einen anderen Aufmerksamkeitsgrad hätte als der Gewerbetreibende des Bausektors.

53      Folglich durfte die Beschwerdekammer, ohne einen Beurteilungsfehler zu begehen, davon ausgehen, dass der informierte Benutzer vorliegend ein Gewerbetreibender des Bausektors ist, der einen erhöhten Aufmerksamkeitsgrad aufweist.

54      Nach alledem ist der erste Teil des einzigen Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum zweiten Teil: Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers des angegriffenen Geschmacksmusters

55      In Rn. 24 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer ausgeführt, die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung von Bauplatten sei in gewissem Maße dadurch eingeschränkt, dass die Platten die technische Funktion der Witterungsbeständigkeit erfüllten oder andere Eigenschaften hätten (Schall- und Feuerschutz und strukturelle Eigenschaften), dass sie fest an der Wand, der Fassade oder dem Dach befestigt werden müssten und dass sie das Gebäude verschönern sollten. Der Entwerfer habe jedoch einen beträchtlichen Grad an Gestaltungsfreiheit in Bezug auf Art, Form, Farben und Muster der Oberfläche. Ferner habe die Klägerin eine Sättigung des vorherigen Stands der Technik nicht nachgewiesen. In Rn. 35 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer festgestellt, dass die gemeinsamen Merkmale der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster Bestandteile beträfen, bei denen der Entwerfer einen durchschnittlichen Grad an Gestaltungsfreiheit habe.

56      Die Klägerin macht geltend, die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers sei anhand des Wirtschaftszweigs der „Fassadeplatten für Gebäude“ zu beurteilen. Das angegriffene Geschmacksmuster werde weitgehend durch die Funktionen dieser Platten bestimmt. Diese Vorgaben wirkten sich auf die Gestaltung der Oberfläche der Platten aus, die notwendigerweise ziemlich flach sein und im Allgemeinen ein Zusammenspiel aus Linien und Farben aufweisen müsse. Da die Zahl der Farben begrenzt sei, ebenso wie die Motive, „wenn man mit Linien arbeitet“, habe der Entwerfer keine unbegrenzte oder beträchtliche Gestaltungsfreiheit. Auch sei der Stand der Technik bei Fassadeplatten für Gebäude mit linearem Muster in gewissem Maße gesättigt. Daher sei die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers von Fassadeplatten für Gebäude allenfalls durchschnittlich.

57      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

58      Der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung eines Geschmacksmusters wird nach der Rechtsprechung insbesondere durch die Vorgaben bestimmt, die sich aus den durch die technische Funktion des Erzeugnisses oder eines Bestandteils des Erzeugnisses bedingten Merkmalen oder aus den auf das Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften ergeben. Diese Vorgaben führen zu einer Standardisierung bestimmter Merkmale, die dann zu gemeinsamen Merkmalen aller beim betreffenden Erzeugnis verwendeten Geschmacksmuster werden (Urteil vom 18. März 2010, Wiedergabe eines runden Werbeträgers, T‑9/07, EU:T:2010:96, Rn. 67).

59      Bei der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers handelt es sich in diesem Zusammenhang um einen Faktor, der es ermöglicht, die Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters zu nuancieren, und nicht um einen eigenständigen Faktor, der bestimmt, wie stark zwei Geschmacksmuster voneinander abweichen müssen, damit einem von ihnen Eigenart zukommt. Anders ausgedrückt ist der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers ein Faktor, der die Schlussfolgerung in Bezug auf den von jedem der in Rede stehenden Geschmacksmuster auf den informierten Benutzer hervorgerufenen Gesamteindruck untermauern oder, im Gegenteil, nuancieren kann (vgl. Urteil vom 6. Juni 2019, Kraftfahrzeuge, T‑209/18, EU:T:2019:377, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Der Einfluss des Faktors der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers auf die Eigenart variiert nach einer umgekehrten Proportionalitätsregel. Je größer die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters ist, desto weniger reichen kleine Unterschiede zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern aus, um beim informierten Benutzer einen unterschiedlichen Gesamteindruck hervorzurufen. Je beschränkter umgekehrt die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters ist, desto eher genügen kleine Unterschiede zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern, um beim informierten Benutzer einen unterschiedlichen Gesamteindruck hervorzurufen. Somit stützt ein hoher Grad an Gestaltungsfreiheit des Entwerfers die Schlussfolgerung, dass Geschmacksmuster, die keine erheblichen Unterschiede aufweisen, beim informierten Benutzer denselben Gesamteindruck hervorrufen und das angegriffene Geschmacksmuster daher keine Eigenart besitzt. Umgekehrt stützt ein geringer Grad an Gestaltungsfreiheit des Entwerfers die Schlussfolgerung, dass hinreichend deutliche Unterschiede zwischen den Geschmacksmustern beim informierten Benutzer einen unähnlichen Gesamteindruck hervorrufen und das angegriffene Geschmacksmuster daher Eigenart besitzt (vgl. Urteil vom 13. Juni 2019, Informationstafeln für Fahrzeuge, T‑74/18, EU:T:2019:417, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Vorliegend ist erstens festzustellen, dass die Beschwerdekammer aus den oben in den Rn. 35 bis 54 dargelegten Gründen keinen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers von „Bauplatten“ und nicht die des Entwerfers von „Fassadeplatten für Gebäude“ geprüft hat.

62      Zweitens ist die Klägerin selbst der Ansicht, dass die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers von Fassadeplatten für Gebäude durchschnittlich sei, was die Beschwerdekammer in den Rn. 24 und 35 der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers von Bauplatten ebenfalls festgestellt hat.

63      Drittens greift das Vorbringen der Klägerin, wonach die Oberfläche der in Rede stehenden Platten im Allgemeinen ein Zusammenspiel von Linien und Farben enthalte und der Entwerfer, „wenn man mit Linien arbeitet“, keine unbegrenzte oder beträchtliche Gestaltungsfreiheit habe, nicht durch. Die Klägerin hat nämlich nicht dargetan, dass Bauplatten, im Übrigen ebenso wenig wie Fassadeplatten für Gebäude, notwendigerweise lineare Muster in Form von linearen Erhöhungen und Vertiefungen und bestimmte Farben unter Ausschluss jeder anderen Form oder Farbe aufweisen müssen. Sollte nicht ausgeschlossen werden, dass es im Bereich des Designs für Gebäudeplatten, einschließlich der Fassadeplatten für Gebäude, solch eine allgemeine Tendenz gibt, kann dieser Umstand nicht als ein Faktor angesehen werden, der die Freiheit des Entwerfers beschränkt, weil gerade diese Freiheit des Entwerfers es ihm erlaubt, neue Formen und neue Tendenzen zu entdecken oder innerhalb einer bestehenden Tendenz Neues zu schaffen (Urteil vom 13. November 2012, Antrax It/HABM – THC [Heizkörper], T‑83/11 und T‑84/11, EU:T:2012:592, Rn. 95).

64      Außerdem ist die Frage, ob ein Geschmacksmuster einer allgemeinen Designtendenz folgt oder nicht, allenfalls in Bezug auf die ästhetische Wahrnehmung des betreffenden Geschmacksmusters von Bedeutung und kann sich daher unter Umständen auf den wirtschaftlichen Erfolg des Erzeugnisses auswirken, in das dieses Geschmacksmuster aufgenommen ist. Dagegen spielt diese Frage keine Rolle im Rahmen der Prüfung, ob das betreffende Geschmacksmuster Eigenart besitzt, für die – unabhängig von ästhetischen oder kommerziellen Erwägungen – zu untersuchen ist, ob sich der von dem Geschmacksmuster hervorgerufene Gesamteindruck von dem unterscheidet, der jeweils von älteren Geschmacksmustern hervorgerufen wird (Urteile vom 22. Juni 2010, Shenzhen Taiden/HABM – Bosch Security Systems [Fernmeldegeräte], T‑153/08, EU:T:2010:248, Rn. 58, vom 4. Februar 2014, Sachi Premium-Outdoor Furniture/HABM – Gandia Blasco [Sessel], T‑357/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:55, Rn. 24, und vom 17. November 2017, Ciarko/EUIPO – Maan [Dunstabzugshaube], T‑684/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:819, Rn. 58).

65      In Bezug auf das Vorbringen der Klägerin, dass der Stand der Technik gesättigt sei, genügt im Übrigen der Hinweis darauf, dass die Klägerin das Vorliegen einer solchen Sättigung nicht durch konkrete und stichhaltige Beweise nachgewiesen hat, wie auch die Beschwerdekammer in Rn. 25 der angefochtenen Entscheidung festgestellt hat.

66      Der zweite Teil des einzigen Klagegrundes ist daher als unbegründet zurückzuweisen.


 Zum dritten Teil: Vergleich der von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindrücke

67      Vorliegend sind folgende Geschmacksmuster zu vergleichen:

Angegriffenes Geschmacksmuster

Älteres Geschmacksmuster

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68      In den Rn. 31 bis 35 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer ausgeführt, dass den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern folgende Merkmale gemein seien: a) durch zahlreiche Erhöhungen und Vertiefungen definierte flache lineare Oberflächen, b) in gleichen Proportionen und parallel auf der gesamten Fläche angeordnete Erhöhungen und Vertiefungen, c) identische Struktur aus steil ansteigenden und abfallenden Flanken, die die Erhöhungen und die Vertiefungen miteinander verbinden, d) eine identische Folge von zu den Erhöhungen aufsteigenden und zu den Vertiefungen abfallenden Flanken und e) ähnliche Breiten zwischen den Erhöhungen und den Vertiefungen. Somit riefen die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster beim informierten Benutzer den gleichen Gesamteindruck hervor.

69      Die Klägerin hebt als Erstes mehrere Unterschiede zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervor, die zu unterschiedlichen Gesamteindrücken führten:

–        Erstens enthalte das angegriffene Geschmacksmuster viel mehr Linien (Erhöhungen und Rillen) pro Oberflächeneinheit;

–        zweitens weise das angegriffene Geschmacksmuster Erhöhungen oder Protuberanzen auf, die nur wenig aus den Platten herausragten (2 mm), und in einem stumpfen Winkel von etwa 100° zu den Rillen abstünden, was zu einer leicht trapezförmigen Struktur führe, während das ältere Geschmacksmuster keine solche trapezförmige Struktur aufweise;

–        drittens seien beim angegriffenen Geschmacksmuster die flachen Oberflächen der Erhöhungen im Vergleich zu den Abmessungen der flachen Rillen etwas kleiner (Verhältnis von etwa 1:1,5), während beim älteren Geschmacksmuster die Erhöhungen mindestens ebenso groß seien wie die Rillen (Verhältnis von 1:1);

–        viertens sei beim angegriffenen Geschmacksmuster die Höhe der Erhöhungen (2 mm) deutlich geringer als die Ausmaße der flachen Rillen (12 mm), während beim älteren Geschmacksmuster die Erhöhungen offenbar viel stärker sichtbar seien;

–        fünftens weise das angegriffene Geschmacksmuster eine wollartige Oberflächenstruktur (Faserzement) in kontrastreichen Grautönen auf, während das ältere Geschmacksmuster aus einer klinisch aussehenden glatten khakigrünen Oberfläche zu bestehen scheine;

–        sechstens zeigten die tatsächlichen Erzeugnisse, bei denen die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster verwendet würden, eindeutig, dass diese völlig unterschiedliche Größen und Abmessungen hätten, da die Erhöhungen des älteren Geschmacksmusters viel breiter seien als die des angegriffenen Geschmacksmusters.

70      Das EUIPO und die Streithelferin treten diesem Vorbringen entgegen.

71      Nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich die Eigenart eines Geschmacksmusters aus einem Gesamteindruck der Unähnlichkeit oder des Fehlens eines „déjà-vu“ aus der Sicht des informierten Benutzers im Vergleich zum vorbestehenden Formschatz älterer Geschmacksmuster, ungeachtet der Unterschiede, die – auch wenn sie über unbedeutende Details hinausgehen – nicht markant genug sind, um diesen Gesamteindruck zu beeinträchtigen, aber unter Berücksichtigung von Unterschieden, die hinreichend ausgeprägt sind, um einen unähnlichen Gesamteindruck hervorzurufen (vgl. Urteil vom 16. Februar 2017, Antrax It/EUIPO – Vasco Group [Thermosiphons für Heizkörper], T‑828/14 und T‑829/14, EU:T:2017:87, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Der Vergleich der durch die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster erweckten Gesamteindrücke muss synthetischer Art sein und kann sich nicht auf den analytischen Vergleich einer Aufzählung von Ähnlichkeiten und Unterschieden beschränken. Diesem Vergleich müssen die im angegriffenen Geschmacksmuster offenbarten Merkmale zugrunde gelegt werden, und er darf sich nur auf die tatsächlich geschützten Elemente stützen, ohne die vom Schutz ausgeschlossenen Merkmale – insbesondere technischer Art – zu berücksichtigen. Dieser Vergleich muss sich grundsätzlich auf die Geschmacksmuster in ihrer eingetragenen Form beziehen, wobei vom Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren keine der Wiedergabe im Antrag auf Eintragung des angegriffenen Geschmacksmusters vergleichbare grafische Darstellung des geltend gemachten Geschmacksmusters verlangt werden kann (vgl. Urteil vom 13. Juni 2019, Informationstafeln für Fahrzeuge, T‑74/18, EU:T:2019:417, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73      Vorliegend ist zunächst in Übereinstimmung mit der Beschwerdekammer festzustellen, dass die beiden Geschmacksmuster eine sehr ähnliche Form und ähnliche, vergleichbar angeordnete Elemente haben, nämlich eine flach geriffelte lineare Oberfläche mit mehreren parallelen Erhöhungen und Vertiefungen. Sodann machen die Proportionen der parallel auf der Oberfläche angebrachten Erhöhungen und Vertiefungen, insbesondere deren Breiten, einen sehr ähnlichen Eindruck. Schließlich ist die Struktur mit aufsteigenden und absteigenden Flanken, die die Vertiefungen mit den Erhöhungen verbinden, sehr ähnlich.

74      Zu den von der Klägerin hervorgehobenen Unterschieden zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern ist festzustellen, dass sich die oben in Rn. 69 angeführten Unterschiede eins bis vier und sechs auf die behaupteten Dimensionen, die Neigung und die Proportionen der verschiedenen Bestandteile der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster beziehen.

75      Zum einen sind, da sich der beantragte Schutz auf Geschmacksmuster bezieht, unabhängig von den konkreten Ausmaßen der Erzeugnisse, bei denen diese Geschmacksmuster Anwendung finden sollen, Behauptungen betreffend solche Ausmaße im Rahmen des Vergleichs der von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindrücke völlig irrelevant (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2012, Heizkörper, T‑83/11 und T‑84/11, EU:T:2012:592, Rn. 67).

76      Zum anderen, und dies ist wesentlich, ergeben sich die behaupteten Unterschiede nicht hinreichend klar aus dem Vergleich der Wiedergaben der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster. Insbesondere ergeben sich die von der Klägerin angeführten Ausmaße und Proportionen des angegriffenen Geschmacksmusters nicht aus dessen eingetragener Wiedergabe.

77      Jedenfalls widmet der informierte Benutzer, wie die Beschwerdekammer in Rn. 32 der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, dem genauen Verhältnis zwischen den Erhöhungen und den Vertiefungen oder dem Grad der verschiedenen Winkel keine besondere Aufmerksamkeit. Besondere Aufmerksamkeit widmet der informierte Benutzer vielmehr der Gesamtform der Geschmacksmuster und deren gemeinsamen Merkmalen, die insgesamt den Eindruck der Ähnlichkeit der verglichenen Geschmacksmuster vermitteln – nämlich eine flache lineare Oberfläche, die durch eine visuell ähnliche Folge von mehreren Erhöhungen und Vertiefungen charakterisiert ist, welche ähnliche Strukturen aufweisen und deren Proportionen, auch wenn sie unterschiedlich sind, nicht geeignet sind, einen Eindruck von „déjà-vu“ im Sinne der oben in Rn. 71 angeführten Rechtsprechung zu vermeiden.

78      Zwar können, wie oben in den Rn. 29 bis 33 ausgeführt, die tatsächlich vertriebenen Erzeugnisse, bei denen die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster verwendet werden sollen, bei diesem Schritt der Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters zur Veranschaulichung berücksichtigt werden, um die sichtbaren Teile und die Art und Weise der Wahrnehmung der Geschmacksmuster zu bestimmen. Hierzu ist in Übereinstimmung mit der Beschwerdekammer festzustellen, dass die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster normalerweise aus einer gewissen Entfernung betrachtet werden, ob es sich nun um Gebäudefassaden oder Lärmschutzwände handelt. Folglich würden etwaige Unterschiede in der Anzahl der Linien und in den Proportionen der Abmessungen der Erhöhungen oder Protuberanzen für die von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindrücke eine untergeordnete Rolle spielen.

79      Was den oben in Rn. 69 angeführten fünften Unterschied betreffend die Oberflächenstruktur des angegriffenen Geschmacksmusters betrifft, ist zwar nicht ausgeschlossen, dass, wie die Klägerin geltend macht, das Bild Nr. 1.3 des angegriffenen Geschmacksmusters, das eine Seitenansicht des Geschmacksmusters zeigt, nach besonders gründlicher Prüfung eine wollartige Oberflächenstruktur erkennen lassen könnte, die in der Darstellung des älteren Geschmacksmusters nicht vorhanden ist. In Ermangelung weiterer Angaben in der Anmeldung kann dieses Bild jedoch auch darauf hindeuten, dass die fragliche Platte angeschnitten wurde, so dass auf dem Bild die von der Klägerin hervorgehobene „wollartige“ Oberflächenstruktur auch einfach als durch einen Schnitt leicht zerfaserte Oberflächen auf den seitlichen Partien oder, wie das EUIPO geltend macht, als bloßer Fehler am verwendeten Material erscheinen könnte. Im Übrigen ist, wie die Beschwerdekammer in Rn. 33 der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, nach der Anbringung der Platten an Gebäuden oder Wänden die Oberseite der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster die einzig sichtbare Fläche, so dass die Seitenansicht Nr. 1.3 weniger relevant ist.

80      Wie das EUIPO zutreffend ausführt, lässt unter diesen Umständen, mangels entsprechender Angaben in der Anmeldung, die Wiedergabe des angegriffenen Geschmacksmusters in ihrer eingetragenen Form das Vorliegen der behaupteten Oberflächenstruktur nicht hinreichend klar erkennen.

81      Wie die Beschwerdekammer in Rn. 33 der angefochtenen Entscheidung zu Recht ausgeführt hat, ist sich im Übrigen der informierte Benutzer wahrscheinlich der Tatsache bewusst, dass die Oberflächenstruktur einer Bauplatte von dem verwendeten Material abhängen kann, so dass die mögliche Verwendung verschiedener Materialien nicht ausreicht, um einen unterschiedlichen Gesamteindruck hervorzurufen.

82      Was das Argument der Klägerin hinsichtlich der unterschiedlichen Farben der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster betrifft, führt das EUIPO zutreffend aus, dass das angegriffene Geschmacksmuster in Schwarzweiß eingetragen ist; da für das angegriffene Geschmacksmuster keine Farbe beansprucht wurde, ist für den Vergleich der Geschmacksmuster die Farbe des älteren Geschmacksmusters irrelevant (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juni 2011, Sphere Time/HABM – Punch [An einem Schlüsselbund befestigte Uhr], T‑68/10, EU:T:2011:269, Rn. 82, und vom 7. Februar 2018, Şölen Çikolata Gıda Sanayi ve Ticaret/EUIPO – Zaharieva [Schachtel zur Präsentation von Tüten], T‑793/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:72, Rn. 67).

83      Als Zweites macht die Klägerin geltend, die Beschwerdekammer habe einen Fehler begangen, indem sie es versäumt habe, für die genaue Definition des älteren Geschmacksmusters die tatsächlichen Erzeugnisse zu berücksichtigen, in die die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster aufgenommen oder bei denen sie verwendet werden sollten.

84      Entgegen dem Vorbringen der Klägerin hat die Beschwerdekammer jedoch die Erzeugnisse, bei denen die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster verwendet werden, und die Art ihrer Verwendung berücksichtigt. Wie oben in Rn. 79 ausgeführt, hat die Beschwerdekammer nämlich beispielsweise festgestellt, dass nach der Anbringung der Platten an Gebäuden oder Wänden die Oberseite der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster die einzig sichtbare Fläche sei, so dass die Seitenansicht Nr. 1.3 weniger relevant sei. Ebenso hat die Beschwerdekammer in Rn. 34 der angefochtenen Entscheidung festgestellt, dass der informierte Benutzer genau wisse, dass die Bauplatten an den Rändern zurechtgeschnitten werden könnten, um an Größe und Form des Gebäudes angepasst zu werden und eine homogene Fläche zu bilden, und dass er daher keinen Grund habe, die genaue Anzahl an Erhöhungen zu zählen. Diese Erwägungen beruhen somit auf der Art der Verwendung der von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern erfassten Erzeugnisse, da die Verwendungsart Auswirkungen darauf hat, wie die Geschmacksmuster vom informierten Benutzer visuell wahrgenommen werden.

85      Daher ist in Übereinstimmung mit der Beschwerdekammer festzustellen, dass das Geschmacksmuster unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers des angegriffenen Geschmacksmusters für den informierten Benutzer den Gesamteindruck von „déjà-vu“ gegenüber dem älteren Geschmacksmuster erweckt.

86      Nach alledem ist der einzige Klagegrund der Klägerin zurückzuweisen und damit die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

87      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß den Anträgen des EUIPO und der Streithelferin deren Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zehnte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Eternit trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Europäischen Amts für geistiges Eigentum (EUIPO) und der Eternit Österreich GmbH.

Kornezov

Buttigieg

Hesse

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. November 2021.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.