Language of document : ECLI:EU:C:2012:114

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 1. März 2012(1)

Rechtssache C‑522/10

Doris Reichel‑Albert

gegen

Deutsche Rentenversicherung Nordbayern

(Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Würzburg [Deutschland])

„Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Prüfung eines Anspruchs auf Altersrente – Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten – In einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte Zeiten – Voraussetzungen – Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten“






I –    Einleitung

1.        Das Sozialgericht Würzburg (Deutschland) ersucht den Gerichtshof – im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Reichel‑Albert, einer deutschen Staatsangehörigen, die ihre Kinder in Belgien zur Welt gebracht und erzogen hat, und dem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern (im Folgenden: DRN) – um die Auslegung von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit(2).

2.        In dem Vorabentscheidungsersuchen geht es speziell um die Voraussetzungen, unter denen für die Berechnung einer zukünftigen Altersrente Kindererziehungszeiten, die in einem Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, von einem anderen Mitgliedstaat, der für einen Elternteil nach den Kollisionsregeln des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit(3) nicht mehr zuständig ist, berücksichtigt werden müssen. Nach den deutschen Rechtsvorschriften ist die Berücksichtigung solcher Zeiten davon abhängig, dass die betreffende Person während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt hat, die als Pflichtbeitragszeit gilt.

3.        Die Vorlagefragen sind neu; denn es sind die ersten, die die Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 987/2009 und insbesondere ihres Art. 44 betreffen. Es gab keine Bestimmung mit einem diesem Artikel entsprechenden Inhalt in der vorhergehenden Koordinierungsregelung, die sich aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern(4), und ihrer Durchführungsverordnung – der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(5) – zusammensetzt. Die Entstehungsgeschichte von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 zeigt, dass dieser Artikel vom Unionsgesetzgeber als Reaktion auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs geschaffen wurde, wie sie sich aus den Urteilen Elsen(6) und Kauer(7) ergibt, deren Anwendungsbereich eingegrenzt werden musste(8).

4.        Ich weise sogleich darauf hin, dass der Gerichtshof in Bezug auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ein Problem hinsichtlich der zeitlichen Anwendbarkeit der in der Vorlageentscheidung herangezogenen unionsrechtlichen Bestimmungen festgestellt hat(9). Es stellt sich nämlich die Frage, ob das Ausgangsverfahren sowie der in Rede stehende Sachverhalt unter die derzeitige Regelung zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit in Gestalt der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 oder unter die alte Regelung in Gestalt der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 542/72 fallen.

5.        Sollte dieses erste Problem vom Gerichtshof dahin gehend gelöst werden, dass Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 anwendbar ist, dann muss dieser in einer Weise ausgelegt werden, die es ermöglicht, zu beurteilen, ob die im Vorabentscheidungsersuchen herangezogenen nationalen Bestimmungen mit ihm im Einklang stehen. Das setzt jedoch zuvor voraus, dass festgestellt wird, ob die deutschen Rechtsvorschriften tatsächlich diejenigen sind, die nach den einschlägigen Kollisionsnormen die Situation von Frau Reichel‑Albert regeln sollen und ob bei dieser die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 tatsächlich vollständig erfüllt sind.

6.        In den vorliegenden Schlussanträgen werden verschiedene Hypothesen erörtert, einige vorrangig, andere hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof meinen ersten Antwortvorschlägen nicht folgen sollte.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Die Verordnung Nr. 883/2004

7.        Die Verordnung Nr. 883/2004 bezweckt die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Sie ist zum 1. Mai 2010(10) an die Stelle der Verordnung Nr. 1408/71 getreten, die wiederholt geändert worden war. Sie soll die bisherige Regelung kürzer und klarer fassen und die Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Bereich berücksichtigen(11).

8.        Der mit „Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen“ überschriebene Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Sofern in dieser Verordnung nicht anderes bestimmt ist, gilt … Folgendes:

b)      Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.“

9.        In Art. 11 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 883/2004, der eine „Allgemeine Regelung“ zum Gegenstand hat und in Titel II über die „Bestimmung des anwendbaren Rechts“ enthalten ist, heißt es:

„(1)      Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3)      Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)      eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

e)      jede andere Person, die nicht unter die Buchstaben a bis d fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.“

10.      Art. 87 der Verordnung Nr. 883/2004, der „Übergangsbestimmungen“ vorsieht, bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung begründet keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem Beginn ihrer Anwendung.

(2)      Für die Feststellung des Leistungsanspruchs nach dieser Verordnung werden alle Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit oder Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat zurückgelegt worden sind.

(3)      Vorbehaltlich des Absatzes 1 begründet diese Verordnung einen Leistungsanspruch auch für Ereignisse vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung in dem betreffenden Mitgliedstaat.

(8)      Gelten für eine Person infolge dieser Verordnung die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, der durch Titel II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bestimmt wird, so bleiben diese Rechtsvorschriften so lange anwendbar, wie sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert, es sei denn, die betreffende Person beantragt, den gemäß dieser Verordnung anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden. Der Antrag ist innerhalb von drei Monaten nach dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung bei dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften gemäß dieser Verordnung anzuwenden sind, zu stellen, wenn die betreffende Person den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats ab dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung unterliegen soll. Wird der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, so gelten diese Rechtsvorschriften für die betreffende Person ab dem ersten Tag des darauf folgenden Monats.“

2.      Die Verordnung Nr. 987/2009

11.      Die Verordnung Nr. 987/2009 legt die Modalitäten für die Durchführung der Grundverordnung Nr. 883/2004 fest.

12.      Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 betrifft die „Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten“ und hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Im Sinne dieses Artikels bezeichnet der Ausdruck ‚Kindererziehungszeit‘ jeden Zeitraum, der im Rahmen des Rentenrechts eines Mitgliedstaats ausdrücklich aus dem Grund angerechnet wird oder Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente gibt, dass eine Person ein Kind aufgezogen hat, unabhängig davon, nach welcher Methode diese Zeiträume berechnet werden und unabhängig davon, ob sie während der Erziehungszeit anfallen oder rückwirkend anerkannt werden.

(2)      Wird nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Grundverordnung zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeit berücksichtigt, so bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehung in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden. …“

13.      In dem mit „Übergangsbestimmungen“ überschriebenen Art. 93 der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:

„Artikel 87 der Grundverordnung gilt für die Sachverhalte im Anwendungsbereich der Durchführungsverordnung.“

B –    Nationales Recht

14.      Der mit „Kindererziehungszeiten“ überschriebene § 56 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (im Folgenden: SGB VI) bestimmt:

„(1)      Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch) wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn

1.      die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,

2.      die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und

3.      der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.

(3)      Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat. Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war.

(5)      Die Kindererziehungszeit beginnt nach Ablauf des Monats der Geburt und endet nach 36 Kalendermonaten. …“

15.      In § 57 SGB VI – „Berücksichtigungszeiten“ – heißt es:

„Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr ist bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen. …“

16.      § 249 Abs. 1 SGB VI, der „Beitragszeiten wegen Kindererziehung“ betrifft, bestimmt: „Die Kindererziehungszeit für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind endet zwölf Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt.“

III – Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

17.      Frau Reichel‑Albert hatte bis zum 30. Juni 1980 eine abhängige Beschäftigung in Deutschland ausgeübt und dort gelebt. Anschließend bezog sie bis zum 10. Oktober 1980 Arbeitslosengeld aus diesem Mitgliedstaat.

18.      Im Zeitraum vom 1. Juli 1980 bis zum 30. Juni 1986 wohnte sie in Belgien zusammen mit ihrem Ehemann, der dort in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stand. Das Ehepaar hat zwei Kinder, die am 25. Mai 1981 bzw. am 29. Oktober 1984 in Belgien geboren wurden.

19.      Ab dem 1. Januar 1984 entrichtete Frau Reichel-Albert freiwillige Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.

20.      Seit dem 1. Juli 1986 sind Frau Reichel‑Albert, ihr Ehemann und ihre Kinder offiziell mit Wohnsitz in Deutschland gemeldet.

21.      Mit Bescheiden vom 12. August 2008 und 28. Oktober 2008 lehnte die DRN den Antrag von Frau Reichel-Albert auf Anerkennung und Anrechnung von Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten während des Aufenthalts in Belgien mit der Begründung ab, dass die Kinder in dieser Zeit im Ausland erzogen worden seien. Nur die Zeiten nach dem 1. Juli 1986, dem Zeitpunkt, zu dem die Familie erneut offiziell in Deutschland wohnhaft war, wurden als Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung angerechnet. Am 1. Dezember 2008 legte Frau Reichel‑Albert dagegen Widerspruch ein, den die DRN mit Bescheid vom 29. Januar 2009 zurückwies.

22.      In den Bescheiden der DRN wird ausgeführt, während des Aufenthalts von Frau Reichel-Albert in Belgien sei der Bezug zur deutschen Arbeitswelt weder durch ihr eigenes noch durch das Beschäftigungsverhältnis ihres Ehegatten erhalten geblieben, so dass zwischen dem Ende ihrer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit – der der Zeitraum der Arbeitslosigkeit gleichgestellt sei – und dem Beginn der Kindererziehungszeit mehr als ein voller Monat liege.

23.      Mit Schriftsatz vom 13. Februar 2009 erhob Frau Reichel-Albert beim Sozialgericht Würzburg Klage auf Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2009 und beantragte, die DRN zu verurteilen, für das erste ihrer Kinder die Zeit vom 25. Mai 1981 bis 30. Juni 1986 und für das zweite die Zeit vom 29. Oktober 1984 bis 30. Juni 1986 zu berücksichtigen. Zur Stützung ihrer Klage berief sie sich auf die Urteile Elsen und Kauer und trug vor, dass sie damals nicht vollständig von Deutschland nach Belgien verzogen sei.

24.      Die Beteiligten folgten dem Vorschlag des vorlegenden Gerichts nicht, sich auf die Anerkennung von Kindererziehungszeiten ab dem 1. Januar 1984, dem Zeitpunkt, ab dem Frau Reichel-Albert freiwillige Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtete, zu einigen.

25.      Nach Ansicht des Sozialgerichts Würzburg ermöglicht § 56 Abs. 3 SGB VI in Verbindung mit Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 Frau Reichel-Albert nicht, die streitigen Zeiten, in denen sie ihre Kinder erzogen hat, anrechnen zu lassen, und zwar weder in Deutschland noch in Belgien, da sie zum Zeitpunkt, zu dem die betreffenden Zeiträume für das jeweilige Kind begonnen hätten, weder in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis noch selbständig erwerbstätig gewesen sei; sie werde somit, weil sie von ihrem Recht aus Art. 21 AEUV auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt im Gebiet der Europäischen Union Gebrauch mache, benachteiligt. Vor diesem Hintergrund hat das Sozialgericht Würzburg beschlossen, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Kindererziehungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückgelegt wurden, nur dann wie solche, die im Inland zurückgelegt wurden, anzuerkennen sind, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat oder wenn bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 SGB VI genannten Personen gehörte oder nach § 6 SGB VI von der Versicherungspflicht befreit war (§§ 56 Abs. 3 Sätze 2 und 3, 57, 249 SGB VI)?

2.      Ist Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 über den Wortlaut hinaus dahin auszulegen, dass im Ausnahmefall auch ohne eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit eine Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten erfolgen muss, wenn sonst eine solche weder im zuständigen Mitgliedstaat noch in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sich die Person während der Erziehung der Kinder gewöhnlich aufgehalten hat, nach den jeweiligen Rechtsvorschriften angerechnet wird?

26.      Das Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Würzburg ist am 9. November 2010 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden.

27.      Frau Reichel‑Albert als Klägerin des Ausgangsverfahrens, die DRN als dortige Beklagte sowie die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Österreich und die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht.

28.      Mit am 27. Oktober 2011 versandtem Schreiben hat der Gerichtshof im Hinblick auf die mündliche Verhandlung folgende Frage zur schriftlichen Beantwortung gestellt:

„Die Parteien des Ausgangsverfahrens und die übrigen Beteiligten werden gebeten, ihre Erklärungen zur Anwendbarkeit von Art. 44 der Verordnung [Nr. 987/2009] auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende und auf einen Antrag auf Anrechnung von während der Geltung der Verordnung Nr. 1408/71 zurückgelegten Kindererziehungszeiten abzugeben.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland in Randnr. 21 ihrer Erklärungen vorgetragen hat, dass die Regelungen der Verordnung Nr. 883/2004 – zeitgleich mit der Verordnung Nr. 987/[2009] in Kraft getreten – zum Zeitpunkt der Erziehung der Kinder von Frau Reichel-Albert keine Anwendung gefunden hätten.“

29.      Frau Reichel‑Albert, die DRN, die deutsche Regierung und die Kommission haben als Antwort auf die vom Gerichtshof gestellte Frage Erklärungen abgegeben.

30.      In der mündlichen Verhandlung am 12. Januar 2012 sind nur die deutsche Regierung und die Kommission vertreten gewesen.

IV – Würdigung

A –    Vorbemerkungen

31.      Nach den einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften werden Zeiten der Kindererziehung im System der gesetzlichen Rentenversicherung auf zwei Arten berücksichtigt:

–        Die erste Art ist die Anerkennung von „Kindererziehungszeiten“ als Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung, so dass diese Zeiträume auf die erforderliche Wartezeit für einen Anspruch auf Altersrente angerechnet werden können.

–        Die zweite Art ist die Anrechnung in Form von „Berücksichtigungszeiten“, die keinen Rentenanspruch begründen, aber bei der Erfüllung bestimmter Wartezeiten berücksichtigt werden, den Erwerbsminderungsschutz aufrechterhalten und sich positiv bei der Bewertung beitragsfreier Zeiten auswirken.

32.      Vorab weise ich darauf hin, dass ich bei der Beantwortung der beiden dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht dem diesen Fragen zugrunde liegenden Vorverständnis folgen werde. Denn ich habe den Eindruck, dass es das vorlegende Gericht unterlassen hat, auf ein Problem hinsichtlich der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 987/2009 einzugehen, das meines Erachtens gelöst werden muss, bevor auf die materielle Rechtslage eingegangen werden kann.

B –    Zur zeitlichen Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 987/2009

33.      Insoweit stellen sich nacheinander zwei Fragen. An erster Stelle ist zu prüfen, ob diese Verordnung in zeitlicher Hinsicht auf das Ausgangsverfahren angewandt werden kann, und, falls ja, muss an zweiter Stelle erörtert werden, wie es sich insoweit in Bezug auf den Sachverhalt verhält, der gegebenenfalls den Anspruch auf die streitige soziale Vergünstigung, nämlich die Anrechnung von Kindererziehungszeiten im Sinne des Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009(12), begründet.

34.      Die österreichische Regierung hat darauf hingewiesen, dass sich die beiden dem Gerichtshof vorgelegten Fragen ausschließlich auf Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 beziehen, während das Ausgangsverfahren begonnen hat, bevor diese Vorschrift – am 1. Mai 2010 – in Kraft getreten ist. Denn Frau Reichel‑Albert hatte ihre Klage gegen die ihre Anträge ablehnenden Bescheide, von denen der letzte auf den 29. Januar 2009 datiert, am 13. Februar 2009 erhoben.

35.      Die deutsche Regierung wiederum hat ausgeführt, dass die Regelungen der Verordnung Nr. 883/2004, auf die Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 verweise, zu dem Zeitpunkt, zu dem sich Frau Reichel‑Albert der Erziehung ihrer Kinder gewidmet habe, in Anbetracht der Tatsache, dass sich der in Rede stehende Zeitraum von 1981 bis 1986 erstrecke, keine Anwendung gefunden hätten, weil die Grundverordnung Nr. 883/2004 erst ab dem 1. Mai 2010 infolge des Inkrafttretens ihrer Durchführungsverordnung anwendbar geworden sei.

36.      Die Rechtsprechung betont regelmäßig die klare Trennung zwischen den Aufgaben des Gerichtshofs und denen der nationalen Gerichte, die ein Vorabentscheidungsersuchen an diesen richten. Aufgrund dieser Trennung ist es dem Gerichtshof untersagt, über die konkrete Anwendung des Unionsrechts auf einen Einzelfall zu entscheiden(13). Wenn sich jedoch herausstellt, dass eine Vorschrift des Unionsrechts zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar war, braucht eine Frage nach der Auslegung dieser Vorschrift nicht beantwortet zu werden(14).

37.      Der neue Mechanismus, der mit den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 geschaffen wurde, findet grundsätzlich ab dem 1. Mai 2010 Anwendung, wodurch die Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 mit Wirkung für die Zukunft und nicht rückwirkend aufgehoben werden. Dies ergibt sich aus Art. 87 der Verordnung Nr. 883/2004(15) und aus Art. 93 der Verordnung Nr. 987/2009, der auf den erstgenannten Artikel verweist.

38.      Obwohl die Verordnung Nr. 883/2004 mittlerweile Anwendung findet, werden bestimmte Situationen aufgrund spezieller Übergangsvorschriften, wie die in Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zu den Kollisionsnormen des Titels II und die in Art. 94 der Verordnung Nr. 987/2009 zur Festsetzung von Renten(16), weiterhin durch die Verordnung Nr. 1408/71 geregelt. Das Ziel dieser Übergangsvorschriften ist, zu ermöglichen, dass vergangene Ereignisse, die langfristige Auswirkungen für die Zukunft haben, in einem bestimmten Umfang berücksichtigt werden, weil Ansprüche auf Leistungen wie Altersrenten zeitversetzt sind, was dazu führt, dass die Zeiträume, in denen sich die rentenbegründenden Tatsachen ereignen, und der Zeitraum, in dem die zugehörigen Ansprüche tatsächlich gewährt werden, möglicherweise Jahre oder sogar Jahrzehnte auseinander liegen. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um „Anwartschaftsrechte“, einen Begriff, der dem deutschen Sozialrecht wohlvertraut ist.

39.      Aus Art. 87 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 geht hervor, dass, wenn das Sozialleistungen rechtfertigende Ereignis während des Anwendungszeitraums dieser Verordnung eintritt, ein Anspruch auf Gewährung dieser Leistungen auch für vor dem Beginn ihrer Anwendbarkeit liegende Ereignisse besteht. Dieser Grundsatz ist gemäß Art. 93 der Verordnung Nr. 987/2009 auf diese übertragbar. Dies ergibt sich auch aus der ständigen Rechtsprechung, der zufolge das Rückwirkungsverbot nicht verhindert, dass eine neue Vorschrift für die künftigen Auswirkungen eines laufenden Sachverhalts, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist, unmittelbar Anwendung findet(17). Konkret würde dies bedeuten, dass sich Frau Reichel‑Albert ab dem 1. Mai 2010 auf die Bestimmung der Verordnung Nr. 987/2009 hätte berufen können, um zu verlangen, dass bei der Berechnung ihrer Rentenansprüche die Zeiträume, in denen sie ihre Kinder erzogen hat, berücksichtigt werden. Schließt man sich diesen Überlegungen an, würde die Verordnung Nr. 987/2009 keine Rückwirkung entfalten, sondern diese Tatsachen würden, obgleich sie vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung eingetreten sind, für die Bewertung zukünftiger Altersrentenansprüche der Betroffenen berücksichtigt(18).

40.      Wie dem auch sei, meines Erachtens dürften die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 – da sie erst seit dem 1. Mai 2010 anwendbar sind, also ab einem Zeitpunkt, der nicht nur später liegt als die Tatsachen, die den Anspruch auf die begehrte soziale Vergünstigung begründen, sondern auch als die Zeitpunkte, zu denen Frau Reichel‑Albert die ablehnenden Bescheide der DRN erhalten hat – in zeitlicher Hinsicht nicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar sein(19).

41.      Da die Verordnung Nr. 987/2009 nicht anwendbar ist, haben die Vorlagefragen nach der Auslegung von Art. 44 dieser Verordnung hypothetischen Charakter, da sie es nicht ermöglicht, den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Daher bin ich der Auffassung, dass für den Gerichtshof keine Veranlassung besteht, sie zu beantworten.

42.      Dessen ungeachtet möchte ich hilfsweise Antworten vorschlagen für den Fall, dass der Gerichtshof meine Auffassung zu dieser Vorfrage nicht teilen und annehmen sollte, dass die Verordnung Nr. 987/2009 auf die in Rede stehende Situation in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist.

C –    Zur eventuellen Anwendung von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009

1.      Die Leitlinien für die Auslegung

43.      Es steht fest, dass die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009(20) keine Harmonisierung oder auch nur eine Annäherung, sondern lediglich eine Koordinierung der von den Mitgliedstaaten geschaffenen Systeme der sozialen Sicherheit bezwecken und daher die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich nicht antasten, allerdings unter dem Vorbehalt, dass diese im Einklang mit dem Unionsrecht und insbesondere im Einklang mit den Zielen dieser Verordnungen und den Bestimmungen des EG-Vertrags zur Freizügigkeit handeln(21).

44.      Eines der grundlegenden Prinzipien des Systems zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit ist der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts, wie ihn Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 festlegt. Dadurch sollen Probleme vermieden werden, die sich aus dem Zusammenspiel der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben, seien es positive Konflikte im Fall des Zusammentreffens mehrerer auf einen Sachverhalt anwendbarer Rechte(22) oder negative Konflikte bei Fehlen eines anwendbaren Rechts.

45.      Außerdem ist eines der Kernprinzipien für die Auslegung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009, dass die Versicherten – gemäß ständiger Rechtsprechung im Bereich der sozialen Sicherheit – nicht verlangen können, dass ihr Umzug in einen anderen Mitgliedstaat keine Auswirkungen auf die Art oder das Niveau der Leistungen hat, die sie in ihrem Herkunftsstaat beanspruchen konnten(23). Die Tatsache, dass die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die soziale Sicherheit möglicherweise nicht neutral ist, d. h. je nach Einzelfall Vorteile oder gar Nachteile haben kann, ist eine unmittelbare Folge dessen, dass der zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehende Unterschied beibehalten wurde.

46.      Außerdem kann die Auslegung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 nicht unter Berücksichtigung des jeweiligen Resultats vorgenommen werden, das sich im Ausgangsverfahren aus der Anwendung des von einer Kollisionsnorm bestimmten materiellen Rechts ergibt, es sei denn, dass diese Prüfung des konkreten Ergebnisses von einer dieser beiden Verordnungen vorgesehen ist, insbesondere dann, wenn eine Bestimmung den Betroffenen die Wahl des auf ihren Fall anwendbaren Rechts ermöglicht. Das von diesen Verordnungen als anwendbar bestimmte Recht hat für die betreffende Person in einem Fall möglicherweise günstige Auswirkungen und kann sich wiederum für diejenigen, bei denen andere Sachverhalte vorliegen, negativ auswirken.

47.      Gemäß dem bisher vom Gerichtshof, u. a. im Urteil Kauer, verfolgten Ansatz ist folgende Vorgehensweise anzuwenden, die sich in zwei aufeinanderfolgende und unterschiedliche Phasen gliedert. Der erste Schritt besteht in der Anwendung der Vorschriften des Unionsrechts über die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und der anwendbaren Rechtsvorschriften ohne Berücksichtigung der Resultate, die sich aus der Anwendung der Rechtsvorschriften der verschiedenen betroffenen Mitgliedstaaten ergeben. Der zweite Prüfungsschritt ist die Untersuchung, ob die Voraussetzungen für die Gewährung einer Leistung oder eines Vorteils, wie die Anrechnung einer Kindererziehungszeit, mit dem Unionsrecht, genauer gesagt mit den Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 und/oder den Grundfreiheiten, im Einklang stehen. Erst im letztgenannten Stadium kommt Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004, der den Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen aufstellt, zum Tragen.

48.      Demzufolge ist in der vorliegenden Rechtssache erst auf der zweiten Stufe, d. h. nach der Bestimmung des anwendbaren Rechts, zu prüfen, ob die deutschen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht und insbesondere den betreffenden Verordnungen inhaltlich im Einklang stehen.

2.      Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und der anwendbaren Rechtsvorschriften

49.      Zunächst stelle ich fest, dass es dem Vorabentscheidungsersuchen an Klarheit – und auch an Kohärenz – fehlt, vor allem, was den Inhalt der zweiten Frage verglichen mit der für sie gegebenen Begründung betrifft. Das vorlegende Gericht macht nämlich keine genaue Aussage dazu, ob es das belgische oder das deutsche Recht für anwendbar hält, da es zwar feststellt, dass das belgische Recht nach Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar sei, dann aber seine zweite Vorlagefrage auf die Annahme gründet, dass das Königreich Belgien nicht der nach diesen Vorschriften zuständige Mitgliedstaat sei.

50.      Jedenfalls gibt es, was das anwendbare Recht betrifft, nur zwei Möglichkeiten, die gemäß dem in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgestellten Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts alternativ sind.

51.      Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009, um dessen Auslegung in der vorliegenden Rechtssache ersucht wird, verweist hinsichtlich der Anrechnung von Kinderziehungszeiten auf „die Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Grundverordnung zuständigen Mitgliedstaats“, d. h. auf die Art. 11 ff. der Verordnung Nr. 883/2004. Aufgrund der von diesem Artikel somit vorgenommenen Verweisung auf die Kollisionsnormen in der Verordnung Nr. 883/2004 muss im vorliegenden Fall zuallererst festgelegt werden, welches der beiden Rechte, das belgische oder das deutsche, die Berücksichtigung der Erziehungszeiten regelt, die Frau Reichel‑Albert in Belgien zurückgelegt hat, obgleich sie dort niemals gearbeitet hat und in Deutschland seit mehreren Monaten aufgehört hatte zu arbeiten(24).

52.      Aufgrund von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004, wonach eine nicht erwerbstätige Person den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats unterliegt, sofern diese Verordnung keine für die betreffende Person günstigeren Vorschriften vorsieht, bin ich der Auffassung, dass die Situation von Frau Reichel-Albert gemäß dieser Verordnung durch das belgische Recht geregelt werden sollte, und zwar aus den von mir nachstehend dargestellten Gründen.

53.      Allerdings enthält Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004, der erweiternd auch für die Sachverhalte im Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 987/2009 gilt(25), besondere Übergangsvorschriften hinsichtlich der in Titel II der erstgenannten Verordnung enthaltenen Kollisionsnormen. Dieser Artikel sieht einen Übergangszeitraum vor, in dem für jede Person, für die die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen gelten, dessen Rechtsvorschriften für sie nach Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 galten, dies so lange weiter gilt, wie sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert. Diese Grundsatzlösung gilt auch für Frau Reichel‑Albert, da sie innerhalb der vorgesehenen Frist von drei Monaten ab dem 1. Mai 2010 keinen Ausnahmeantrag bei dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwenden sind, gestellt hat. Ihre Situation unterliegt daher meines Erachtens dem Recht des Mitgliedstaats, der nach Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt worden ist.

54.      Unbeschadet dessen führt die Anwendung der von der neuen Grundverordnung aufgestellten Kollisionsnormen meines Erachtens zu denselben Rechtsvorschriften hin, nämlich die des Staates, in der die nicht mehr erwerbstätige Person zur Zeit des in Rede stehenden Sachverhalts wohnte, da die beiden einschlägigen Vorschriften, nämlich Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71(26) und Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004, inhaltlich im Wesentlichen übereinstimmen.

55.      Allerdings lässt sich die Frage stellen, ob Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 im Rahmen der vorliegenden Rechtssache anwendbar ist, und zwar aus zeitlichen Gründen. Denn dieser Buchstabe wurde erst 1991 eingefügt(27), wohingegen die in Rede stehenden Kindererziehungszeiten vorher endeten, nämlich am 30. Juni 1986, dem Zeitpunkt der Rückkehr von Frau Reichel‑Albert und ihrer Familie nach Deutschland. Randnr. 31 des Urteils Kauer in Verbindung mit der von Generalanwalt Jacobs in dieser Rechtssache vertretenen Auffassung(28) könnte zu der Schlussfolgerung veranlassen, dass die Fassung der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden ist, die zur Zeit der Erziehung der betreffenden Kinder galt.

56.      Ich bin jedoch der Auffassung, dass der Gerichtshof mit der Formulierung „Selbst wenn das Bestehen von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f, der durch die Verordnung Nr. 2195/91 – also viele Jahre nach Zurücklegung der Kindererziehungszeiten der Klägerin in Belgien – in die Verordnung Nr. 1408/71 eingefügt worden ist, zu berücksichtigen sein sollte“ – die betreffenden Kinder waren zwischen 1966 und 1969 geboren worden – den großen zeitlichen Abstand von rund 20 Jahren zwischen den einschlägigen Zeiten und der Einführung der neuen Kollisionsnorm hervorgehoben hat. Hingegen liegen in der vorliegenden Rechtssache – wie in der Rechtssache Elsen – die Geburten der Kinder, die 1981 und 1984 stattfanden, zeitlich näher an der Überarbeitung der Verordnung Nr. 1408/71. Im Urteil Elsen hat der Gerichtshof die Relevanz von Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71 nicht förmlich ausgeschlossen, sondern die Tatsache betont, dass die dortige Klägerin weiterhin von den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats erfasst wurde, um die Außerachtlassung dieser Spezialvorschrift zu begründen, wie er sie im Übrigen meines Erachtens auch im Urteil Kauer begründet hat. Die von dem genannten Buchst. f aufgestellte Kollisionsnorm ist nämlich nachrangig, da sie als Verweisung auf die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats nur zur Anwendung kommt, wenn keine anderen Rechtsvorschriften, u. a. die des Beschäftigungsstaats, auf den grundsätzlich abgestellt wird, anwendbar sind. Bezweckt wird zur Vermeidung einer Rechtslücke infolge eines negativen Kompetenzkonflikts, durch die Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit entzogen würde, den Versicherten, der von seiner Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union Gebrauch gemacht hat, dem System eines Mitgliedstaats zu unterstellen, wenn nicht das eines anderen einschlägig ist(29).

57.      Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71, d. h. die Fassung dieses Artikels aus dem Jahr 1991, kann meiner Ansicht nach in zeitlicher Hinsicht auf die Situation von Frau Reichel‑Albert angewandt werden, vorausgesetzt, dass die dort genannten materiellen Voraussetzungen erfüllt sind. Meines Erachtens ist Frau Reichel‑Albert „eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gemäß einer der Vorschriften in den vorhergehenden Buchstaben [von Art. 13 der Verordnung Nr. 1408/71] oder einer der Ausnahmen bzw. Sonderregelungen der [Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1408/71] auf sie anwendbar würden“, im Sinne dieser Vorschrift, was jedoch in der Rechtssache Elsen nicht und in der Rechtssache Kauer weniger klar der Fall war.

58.      In den beiden letztgenannten Rechtssachen galten für die jeweilige Situation der Betroffenen nämlich noch die Rechtsvorschriften des Staates, in denen diese zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder, auf die deren Erziehung folgte, gearbeitet hatten. Frau Elsen unterlag weiterhin den deutschen Rechtsvorschriften als dem Recht des Beschäftigungsstaats, da sie, obgleich sie ihren Wohnsitz drei Jahre vor der Geburt ihres Kindes nach Frankreich verlegt hatte, weiterhin in Deutschland als Grenzgängerin berufstätig war. Frau Kauer hatte zwar eindeutig vor der Geburt ihrer Kinder aufgehört, ihrer Arbeit in Österreich nachzugehen, für sie galten aber während der Zeiträume, in denen sie wegen der Erziehung ihrer Kinder keine Erwerbstätigkeit ausübte, weiterhin die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats(30), da sie erst nach der Geburt des letzten Kindes nach Belgien gezogen war. Der Gerichtshof hat im Urteil Elsen (Randnr. 26) eine „enge“ bzw. im Urteil Kauer (Randnr. 32) eine schlicht „hinreichende“ Verbindung zwischen den streitigen Kindererziehungszeiten und den Versicherungszeiten angenommen, die aufgrund einer Berufstätigkeit in dem Mitgliedstaat zurückgelegt worden waren, von dem die Rentenzulage verlangt wurde.

59.      Bei Frau Reichel‑Albert hingegen besteht meines Erachtens keine hinreichende Verbindung zwischen zum einen den Versicherungszeiten, die sie in Deutschland bis zum Verlust ihrer Beschäftigung am 30. Juni 1980 zurückgelegt hatte – wobei sie von diesem Mitgliedstaat bis Oktober 1980 Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezog –, und zum anderen den Zeiten, in denen sie ihre am 25. Mai 1981 und 29. Oktober 1984 geborenen Kinder erzogen hat, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie und ihr Ehemann seit dem 1. Juli 1980 in Belgien wohnten, dem Land, in dem die beiden Kinder geboren wurden und ihr Ehemann als Arbeitnehmer Beiträge entrichtete(31). Da die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie berufstätig war, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, zu der Zeit, zu der sie sich um die Erziehung ihrer Kinder kümmerte, meines Erachtens auf sie nicht mehr anwendbar waren, sind die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in den sie ihren Wohnsitz verlegt hatte, nämlich des Königreichs Belgien, dazu bestimmt, die Führung zu übernehmen und somit die eventuelle Zuerkennung der streitigen Zulage zur Altersrente zu regeln.

60.      Es spielt meiner Ansicht nach für dieses Zusammenspiel der Kollisionsnormen keine Rolle, dass Frau Reichel‑Albert ab dem 1. Januar 1984, also vor der Geburt ihres zweiten Kindes, freiwillige Beiträge in Deutschland entrichtet hat. Denn da die soziale Sicherheit ein Bereich ist, in dem die Betreffenden über ihre Ansprüche nicht frei verfügen und daher das nationale System, dem sie angehören, nicht wählen können, können Willensäußerungen der Betreffenden keinen Einfluss auf die Bestimmung des insoweit anwendbaren Rechts haben(32), es sei denn, die Verordnung sieht eine solche Option ausnahmsweise vor(33).

61.      Demzufolge ist meines Erachtens das Königreich Belgien „der gemäß Titel II der Grundverordnung zuständige Mitgliedstaat“ im Sinne des einleitenden Halbsatzes von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009.

3.      Die Verpflichtungen, die sich aus Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 ergeben können

62.      Sollten die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 dem Gerichtshof zufolge in der vorliegenden Rechtssache einschlägig sein, was meines Erachtens nicht der Fall ist, müsste noch geprüft werden, wie sich die Bestimmungen des Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 im Hinblick auf die Entscheidung eines Trägers der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats, der einer Situation gegenübersteht, wie sie der DRN vorliegt, konkret auswirken. Ich erinnere daran, dass der Gerichtshof zum ersten Mal aufgerufen ist, diese Bestimmungen auszulegen, was in Anbetracht ihres recht komplexen Wortlauts nicht einfach ist.

63.      Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 stellt meines Erachtens keine echte Kollisionsnorm dar, da er insoweit auf entsprechende Normen verweist, die in Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 enthalten sind; es handelt sich vielmehr um eine materielle Norm, die, worauf die Überschrift dieses Artikels hinweist, die „Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten“ begünstigen soll. Diese Vorschrift ist in die neue Regelung zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit aufgenommen worden, um der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die insbesondere aus den Urteilen Elsen und Kauer hervorgegangen ist, Rechnung zu tragen. Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 begründet eine – allerdings lediglich nachrangige – Zuständigkeit für einen Mitgliedstaat, der nach den allgemeinen Regeln nicht zuständig ist, um die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten zu ermöglichen, sofern die in diesem Artikel festgelegten Voraussetzungen vorliegen.

64.      In ihrer ersten Fassung hatte die genannte Vorschrift folgenden Wortlaut(34): „Vorbehaltlich der Zuständigkeit des Mitgliedstaates gemäß Titel II der Verordnung [Nr. 883/2004] muss der Träger des Mitgliedstaates, in dem der Rentenbezieher in den 12 Monaten nach Geburt eines Kindes am längsten gewohnt hat, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten berücksichtigen, sofern auf die betreffende Person nicht aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates anwendbar werden.“ In dieser Fassung war also eine Verpflichtung zur Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten vorgesehen, die in erster Linie den Träger des Beschäftigungsstaats und hilfsweise den Träger des Wohnsitzstaats traf, sofern die betreffende Person eine Mindestzeit in dem letztgenannten Staat gewohnt hat.

65.      In seiner aktuellen Fassung setzt Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 für seine Anwendung erstens voraus, dass die Kindererziehungszeiten nicht nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats berücksichtigt werden, der gemäß Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 zuständig ist. Nur in diesem Fall, in dem die Kindererziehungszeiten nach den grundsätzlich anwendbaren Rechtsvorschriften keine Rechtsfolgen haben, kann der Träger der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats(35) verpflichtet sein, diese zu berücksichtigen.

66.      Im vorliegenden Fall sollten meines Erachtens die Rechtsvorschriften des belgischen Staates auf den Antrag von Frau Reichel‑Albert, ihr eine Zulage zur Altersrente zu gewähren, Anwendung finden. Aus den Akten, die dem Gericht vorgelegt worden sind, geht nicht eindeutig hervor, dass das belgische Recht keine derartige Vergünstigung für eine Person in einer Situation wie der von Frau Reichel‑Albert vorsieht. Die deutsche und österreichische Regierung sowie die Kommission haben vorgetragen, dass das belgische Recht die Möglichkeit einer Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten vorsehe, wobei die Erstgenannten sich insoweit auf das Vorabentscheidungsersuchen berufen.

67.      Das vorlegende Gericht führt nämlich aus, dass „[d]as Königreich Belgien … in seinen Rechtsvorschriften Kindererziehungszeiten vor[sieht], so dass eine Anerkennung der deutschen Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten nicht aus dem Grund erfolgen muss, dass der andere Mitgliedstaat solche Zeiten nicht vorsieht“. Ihm zufolge kommt es zudem „dabei nicht darauf an, dass im konkreten Fall auch Kindererziehungszeiten tatsächlich angerechnet werden, sondern nur darauf, dass das Recht des Mitgliedstaates die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten als rentenrechtliche Zeiten überhaupt vorsieht“. Ich teile diese Wertung, wonach es ausreicht, dass der nach Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 zuständige Mitgliedstaat, also in der vorliegenden Rechtssache das Königreich Belgien, die Möglichkeit der Berücksichtigung solcher Zeiten vorsieht. Es ist unschädlich, dass die Betroffene im konkreten Fall wegen ihrer persönlichen Situation nicht in den Genuss dieser Vergünstigung kommt.

68.      Zweitens verlangt Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 darüber hinaus, dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats – im vorliegenden Fall möglicherweise das deutsche Recht – nach Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat – und zwar zu dem Zeitpunkt, zu dem nach diesen Rechtsvorschriften die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind begann.

69.      Im Ausgangsverfahren hat Frau Reichel‑Albert während des in Rede stehenden Zeitraums keine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit mit einer Verbindung zum deutschen Hoheitsgebiet unter den Voraussetzungen des Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 mehr ausgeübt. Ihre Situation unterscheidet sich insoweit deutlich von der, die dem Urteil Elsen zugrunde liegt, wo die betreffende Mutter unmittelbar vor der Geburt des von ihr erzogenen Kindes als Grenzgängerin im Gebiet des Mitgliedstaats erwerbstätig war, von dem sie eine an die betreffende Erziehungszeit gebundene soziale Vergünstigung verlangte.

70.      Nur wenn die beiden vorgenannten Kriterien erfüllt sind, ist der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften als das Recht des Orts der Berufsausübung der betreffenden Person anwendbar waren, verpflichtet, nach seinen Rechtsvorschriften die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegte Kindererziehungszeit auf die gleiche Weise anzurechnen, wie wenn das Kind in seinem Gebiet erzogen worden wäre.

71.      Folglich ist Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 im Rahmen des Ausgangsverfahrens meines Erachtens nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern auch deshalb nicht anwendbar, weil – wie die deutsche Regierung und die Kommission ausgeführt haben – die persönliche Situation von Frau Reichel‑Albert nicht die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt. Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 kann daher nicht zu einer Verpflichtung der DRN führen, die von Frau Reichel‑Albert auf belgischem Gebiet zurückgelegten Kindererziehungszeiten – nach deutschem Recht – zu berücksichtigen, als wären sie auf deutschem Gebiet zurückgelegt worden.

72.      Die Kommission hat aus der Feststellung der Unanwendbarkeit von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 abgeleitet, dass die Vorlagefragen nicht anhand dieser Verordnung, sondern auf der Grundlage des Unionsrechts und insbesondere der Art. 21 AEUV und 45 AEUV beantwortet werden müssten. Ich teile diese Auffassung nicht.

D –    Zur Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen, die Gegenstand der Vorlagefragen sind, mit dem Unionsrecht

73.      Falls der Gerichtshof – entgegen meiner Auffassung – der Ansicht ist, dass die deutschen Rechtsvorschriften im Wege einer zeitlichen Ausdehnung der Anwendung des Rechts des Beschäftigungsstaats gemäß Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 oder entsprechend den Urteilen Elsen und Kauer für die im Ausgangsverfahren streitige soziale Vergünstigung gelten, muss geprüft werden, ob die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die des SGB VI, auf die sich die Vorlagefragen beziehen, mit den Anforderungen des Unionsrechts im Einklang stehen.

74.      Insoweit müssen zwei Fallgestaltungen unterschieden werden, je nachdem, welchen Weg der Gerichtshof bei der Lösung der zuvor behandelten Probleme einschlägt.

75.      Falls der Gerichtshof Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 im Rahmen der vorliegenden Rechtssache für anwendbar halten sollte, bin ich, wie die Kommission, der Ansicht, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die Kindererziehungszeiten, die die betreffende Person in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, ebenso wie die zum System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats entrichteten Beiträge in demselben Umfang zu berücksichtigen, als wären diese Sachverhalte in Deutschland eingetreten, d. h. mit der Zuerkennung identischer Rechtsfolgen. Die deutsche Regierung hat nicht in Abrede gestellt, dass die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei Altersrenten nicht auf dieselbe Art und Weise berücksichtigt werden wie für in Deutschland erzogene Kinder, wenn eine Situation wie bei Frau Reichel‑Albert vorliegt. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Beiträge ihres Ehemanns zum belgischen Rentenversicherungssystem.

76.      Da Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 eine Kodifizierung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes darstellt, der keine Auswirkungen auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und des anwendbaren Rechts hat(36), ist es somit nicht erforderlich, zu prüfen, ob die deutsche Regelung möglicherweise nicht mit den Bestimmungen der Art. 21 AEUV und 45 AEUV vereinbar ist(37).

77.      Sollte der Gerichtshof hingegen meinem Vorschlag folgen, wonach Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 in der vorliegenden Rechtssache nicht einschlägig ist, würde die Anwendung der Rechtsprechung, die im Rahmen der Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 entwickelt worden ist, zum gleichen Ergebnis führen. Der Gerichtshof hat nämlich einen Grundsatz der Gleichstellung von in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen Sachverhalten entwickelt, der sich im Wesentlichen mit dem deckt, was nunmehr ausdrücklich in Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 steht(38).

78.      Folglich ist meines Erachtens unabhängig davon, welche dieser Rechtsgrundlagen als einschlägig angesehen werden, festzustellen, dass die streitigen Bestimmungen des materiellen Rechts mit den Anforderungen des Unionsrechts nicht vereinbar sind, sofern der Gerichtshof das deutsche Recht im Rahmen des Ausgangsverfahrens für anwendbar halten sollte.

V –    Ergebnis

79.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Sozialgerichts Würzburg wie folgt zu antworten:

–      In erster Linie:

Da Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auf das Ausgangsverfahren und insbesondere auf den ihm zugrunde liegenden Sachverhalt in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar ist, sind die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen gegenstandslos. Daher ist keine Antwort auf dieser Grundlage erforderlich.

–      Hilfsweise, für den Fall, dass diese Verordnung für anwendbar erklärt werden sollte, schlage ich dem Gerichtshof vor, Folgendes festzustellen:

Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 steht dem nicht entgegen, dass, falls nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeiten berücksichtigt werden, der Träger eines anderen Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften unter den Voraussetzungen des Art. 44 hilfsweise anwendbar bleiben, den betreffenden Zeitraum anders als bei einer Erziehung des Kindes in seinem Gebiet nicht als Kindererziehungszeit berücksichtigt, wenn die Kriterien, die von seinen Rechtsvorschriften für eine Berücksichtigung vorgesehen sind, in der in Rede stehenden Situation nicht erfüllt sind. Die Tatsache, dass die Berücksichtigung solcher Zeiten zwar in den Rechtsvorschriften vorgesehen ist, aber im Hinblick auf die in Rede stehende Situation konkret weder in dem grundsätzlich zuständigen Mitgliedstaat noch in dem genannten anderen Mitgliedstaat erfolgt, beeinflusst als solche die Auslegung von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 nicht.

–      Äußerst hilfsweise, für den Fall, dass die Bestimmungen des deutschen Rechts, die Gegenstand der Vorlagefragen sind, nach Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende regeln sollten, schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 verpflichtet einen Mitgliedstaat, wenn er nach Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 zuständig ist oder der Verpflichtung nach Art. 44 Abs. 2 am Ende der Verordnung Nr. 987/2009 unterliegt, in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Erziehungszeiten und entrichteten Beiträgen auf die gleiche Art und Weise Rechtsfolgen zuzuerkennen, als wären diese Sachverhalte oder Ereignisse in seinem eigenen Hoheitsgebiet eingetreten.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 –      ABl. L 284, S. 1.


3 –      ABl. L 166, S. 1.


4 –      ABl. L 149, S. 2; diese ursprüngliche Fassung wurde mehrfach geändert.


5 –      ABl. L 74, S. 1.


6 –      Urteil vom 23. November 2000 (C‑135/99, Slg. 2000, I‑10409).


7 –      Urteil vom 7. Februar 2002 (C‑28/00, Slg. 2002, I‑1343).


8 –      Vgl. den 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 und den 13. Erwägungsgrund des in erster Lesung am 9. Juli 2008 im Hinblick auf den Erlass dieser Verordnung festgelegten Standpunkts des Europäischen Parlaments (P6_TC1-COD[2006]0006) sowie Jorens, Y., und Van Overmeiren, F., „General Principles of Coordination in Regulation 883/2004“, European Journal of Social Security, Volume 11 (2009), Nrn. 1-2, S. 67.


9 – Siehe unten die Fragen, die der Gerichtshof im Hinblick auf die mündliche Verhandlung zur schriftlichen Beantwortung gestellt hat.


10 – Die Grundverordnung Nr. 883/2004 ist am 20. Mai 2004 in Kraft getreten, aber erst seit dem 1. Mai 2010 anwendbar, dem Zeitpunkt, zu dem die Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 ihrerseits in Kraft getreten ist.


11 – Vgl. den dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004.


12 – Art. 44 Abs. 1 der Verordnung enthält eine Definition der Kindererziehungszeiten im Sinne dieser Vorschrift, die umso nützlicher ist, als sich die Konzepte von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheiden.


13 – Vgl. z. B. Urteile vom 19. Dezember 1968, Salgoil (13/68, Slg. 1968, 680), und vom 10. Juli 2008, Feryn (C‑54/07, Slg. 2008, I‑5187, Randnr. 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


14 –      Urteil vom 17. Juli 1997, Pascoal & Filhos (C‑97/95, Slg. 1997, I‑4209, Randnrn. 22 ff.).


15 –      Nach Art. 87 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 „[begründet d]iese Verordnung … keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem Beginn ihrer Anwendung“.


16 – Diese Vorschrift ist meines Erachtens in der vorliegenden Rechtssache nicht einschlägig, in der es nicht um die Festsetzung eines Altersrente geht, sondern um eine Renteninformation, die im Wege von Bescheiden der DRN erfolgt, die zwar potenziell Ansprüche begründen und laut den in der mündlichen Verhandlung gemachten Aussagen verbindlich sind, aber einen zukünftigen Zeitpunkt betreffen, und zwar den nationalen Akten zufolge offenbar einen Zeitpunkt in zwölf Jahren.


17 – Vgl. Urteile vom 10. Juli 1986, Licata/WSA (270/84, Slg. 1986, 2305, Randnr. 31), und vom 21. Januar 2003, Deutschland/Kommission (C‑512/99, Slg. 2003, I‑845, Randnr. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), sowie die Nrn. 65 ff. der Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache Kauer.


18 – Damit wird nicht die Frage beantwortet, inwieweit sich die Verordnung Nr. 987/2009 auf die Rechtsgültigkeit der Bescheide der DRN auswirken könnte, die eindeutig vor dem Inkrafttreten der Verordnung erlassen wurden.


19 – Ich schließe nicht aus, dass es möglicherweise nationale Bestimmungen gibt, die eine andere Lösung ermöglichen, doch meines Erachtens wird die Frage der zeitlichen Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 987/2009 und ihrer Auswirkungen vollständig in den in dieser Verordnung enthaltenen Übergangsbestimmungen geregelt.


20 – Das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Verordnungen, die sich ergänzen, gestaltet sich in der Weise, dass Anhaltspunkte zum Verständnis der Grundverordnung Nr. 883/2004 in der Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 gefunden werden können und umgekehrt.


21 – Vgl. entsprechend Urteil Kauer (Randnr. 26) zu den Voraussetzungen, die nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Zeit als den eigentlichen Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt werden kann, sowie Urteil vom 3. März 2011, Tomaszewska (C‑440/09, Slg. 2011, I‑1033, Randnrn. 26 und 27), zu den Voraussetzungen für den Aufbau von Beschäftigungs- oder Versicherungszeiten nach diesen Rechtsvorschriften.


22 – Eine Kumulierung der Rechtsvorschriften verschiedener Staaten, die nebeneinander auf ein und dieselbe Leistung anwendbar sind, ist nicht möglich, weil die sich möglicherweise daraus ergebenden Komplikationen vermieden werden sollen (Urteil vom 12. Juni 1986, Ten Holder, 302/84, Slg. 1986, 1821, Randnr. 21); ein Sozialversicherter kann aber Leistungen unterschiedlicher Art, wie eine Altersrente und Familienbeihilfen, auf die Rechtsvorschriften verschiedener Staaten anwendbar sind, kumulieren (Urteil vom 20. Mai 2008, Bosmann, C‑352/06, Slg. 2008, I‑3827, Randnr. 31).


23 – Vgl. u. a. Urteile vom 9. März 2006, Piatkowski (C‑493/04, Slg. 2006, I‑2369, Randnr. 34), vom 14. Oktober 2010, van Delft u. a. (C‑345/09, Slg. 2010, I‑9879), und meine Schlussanträge in der letztgenannten Rechtssache (Nr. 72).


24 – Art. 44 Abs. 3 der Verordnung Nr. 987/2009, wonach Abs. 2 dieses Artikels keine Anwendung findet, wenn für die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit anwendbar sind oder anwendbar werden, ist im Ausgangsverfahren nicht einschlägig.


25 –      Gemäß Art. 93 der Verordnung Nr. 987/2009.


26 –      Nach dieser Vorschrift unterliegt „eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gemäß einer der Vorschriften in den vorhergehenden Buchstaben oder einer der Ausnahmen bzw. Sonderregelungen der Artikel 14 bis 17 auf sie anwendbar würden, … den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, nach Maßgabe allein dieser Rechtsvorschriften“.


27 –      Durch die Verordnung Nr. 2195/91 des Rates vom 25. Juni 1991 zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 und zur Änderung der Verordnung Nr. 574/72 (ABl. L 206, S. 2).


28 –      Vgl. Nr. 49 der Schlussanträge in der Rechtssache Kauer.


29 –      Vgl. Urteil vom 7. Juli 2005, van Pommeren-Bourgondiën (C‑227/03, Slg. 2005, I‑6101, Randnrn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


30 –      Das Urteil Kauer verweist insoweit auf das Urteil Ten Holder (Randnr. 14) sowie das Urteil vom 10. März 1992, Twomey (C‑215/90, Slg. 1992, I‑1823, Randnr. 10).


31 – Weshalb die DRN – dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge – davon ausgegangen ist, dass hinsichtlich der Krankenversicherung eine Verbindung zum Königreich Belgien und nicht zur Bundesrepublik Deutschland bestanden habe.


32 – Die Wahl des anwendbaren Rechts ist ausgeschlossen, da die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen bilden (für die Verordnung Nr. 1408/71 vgl. Urteil vom 4. Oktober 1991, De Paep, C‑196/90, Slg. 1991, I‑4815, Randnr. 18). Daraus folgt auch, dass die Mitgliedstaaten nicht bestimmen können, inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften oder die eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sind (Urteil vom 23. September 1982, Kuijpers, 276/81, Slg. 1982, 3027, Randnr. 14).


33 –      Siehe z. B. Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004.


34 – Art. 44 des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (KOM[2006] 16 endg.).


35 – Dem zehnten Erwägungsgrund dieser Verordnung zufolge ist ein „zuständiger Träger“ anzunehmen, wenn „die für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften … anwendbar [sind] oder ihm … die Gewährung bestimmter Leistungen [obliegt]“.


36 –      Vgl. den elften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004


37 – Die Schaffung dieses Art. 5 hat zur Folge, dass es, wenn die Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar ist, nicht mehr nötig ist, sich auf das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit zu berufen, wie es oft in der Rechtsprechung im Bereich der sozialen Sicherheit geschehen ist. Vgl. Dern, S., in: Schreiber u. a., VO (EG) Nr. 883/2004, Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, C. H. Beck, München, 2012, S. 69.


38 – Vgl. u. a. die Urteile, die in den Nrn. 41 ff. der Schlussanträge in der Rechtssache Öztürk (Urteil vom 28. April 2004, C‑373/02, Slg. 2004, I‑3605) zitiert werden, in denen Generalanwalt Ruiz‑Jarabo Colomer festgestellt hatte, dass die Rechtsprechung „zu der Feststellung gelangt [ist], dass der Gleichheitssatz für die Zubilligung des Anspruchs auf bestimmte Leistungen der sozialen Sicherheit oder sonstige Vergünstigungen für Wanderarbeitnehmer verlangt, dass jeder Mitgliedstaat bestimmte Tatsachen berücksichtigt, die in den anderen Mitgliedstaaten eingetreten sind, um diese denjenigen gleichzustellen, die im Inland eingetreten sind“.