Language of document : ECLI:EU:T:2023:804

URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)

13. Dezember 2023(*)

„Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsverfahren – Eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster, das einen Stern darstellt – Älteres Geschmacksmuster, das nach Stellung des Antrags auf Nichtigerklärung vorgelegt wurde – Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung (EG) Nr. 2245/2002 – Ermessen der Beschwerdekammer – Art. 63 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör“

In der Rechtssache T‑10/23,

Light Tec Ltd mit Sitz in Tsuen Wan, Hongkong (China), vertreten durch Rechtsanwalt M.‑H. Hoffmann,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch E. Nicolás Gómez als Bevollmächtigte,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO und Streithelferin vor dem Gericht:

DecoTrend GmbH mit Sitz in Weiden in der Oberpfalz (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwalt C. Klawitter,

erlässt

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin M. J. Costeira, des Richters U. Öberg und der Richterin E. Tichy-Fisslberger (Berichterstatterin),

Kanzler: V. Di Bucci,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach der Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und des darauf gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts ergangenen Beschlusses, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer auf Art. 263 AEUV gestützten Klage beantragt die Klägerin, die Light Tec Ltd, die Aufhebung der Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 16. November 2022 (Sache R 2105/2021‑3) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Am 9. September 2020 stellte die Klägerin beim EUIPO einen Antrag auf Nichtigerklärung des auf eine Anmeldung durch die Streithelferin, die DecoTrend GmbH, vom 3. Juni 2017 hin eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters, das in folgenden Ansichten wiedergegeben ist:

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3        Das Geschmacksmuster, dessen Nichtigerklärung beantragt wurde, ist zur Verwendung für folgende Erzeugnisse der Klassen 26‑04 und 26‑05 des Abkommens von Locarno vom 8. Oktober 1968 zur Errichtung einer Internationalen Klassifikation für gewerbliche Muster und Modelle in geänderter Fassung bestimmt:

–        Klasse 26-04: „Elektrische Lichterketten“;

–        Klasse 26-05: „Lampenschirme“.

4        Auf dem Formular, mit dem der Antrag auf Nichtigerklärung eingereicht wurde, gab die Klägerin als Nichtigkeitsgrund „Artikel 25 (1) (b) GGV – 4 – Mangel an Neuheit und/oder Eigenart“ an, allerdings wurde der Antrag auf Nichtigerklärung, wie sich aus der ihm beigefügten Begründung ergibt, auf den Nichtigkeitsgrund nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 Buchst. b derselben Verordnung gestützt.

5        Aus der dem Antrag auf Nichtigerklärung beigefügten Begründung ergibt sich zudem, dass der Antrag auf das Fehlen der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters angesichts folgender älterer Geschmacksmuster (im Folgenden: Geschmacksmuster D 1 und D 2) gestützt wurde:

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6        Am 14. Oktober 2020 machte die Klägerin in einer ergänzenden Stellungnahme geltend, dass die Streithelferin die Form des „Annaberger Faltsterns“ angemeldet habe, die aus einem Stern mit 18 Zacken bestehe und auf das US-Patent Nr. 1.653.206 vom 19. März 1927 zurückgehe (im Folgenden: Geschmacksmuster D 3).

7        Am 7. September 2021 führte die Klägerin ein weiteres älteres Recht auf der Grundlage des schweizerischen Patents mit der Nummer 132 939 vom 16. Juli 1929 (im Folgenden: Geschmacksmuster D 4) an.

8        Am 12. November 2021 wies die Nichtigkeitsabteilung den Antrag auf Nichtigerklärung zurück. Im Wesentlichen entschied sie zum einen, dass der Antrag auf Berücksichtigung des Geschmacksmusters D 3 als Beweismittel „zulässig“ sei, ohne jedoch das Geschmacksmuster D 4 zu erwähnen. Zum anderen stellte die Nichtigkeitsabteilung fest, dass das angegriffene Geschmacksmuster gegenüber dem Geschmacksmuster D 1 Eigenart habe und dass dieses Ergebnis auch auf die Geschmacksmuster D 2 und D 3 zutreffe. In Bezug auf den Nichtigkeitsgrund gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 bezog sich die Nichtigkeitsabteilung auf den Seiten 7 und 15 ihrer Entscheidung auf „Artikel 5“ und „Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe b“ der Verordnung. In ihrem Gesamtfazit auf Seite 15 dieser Entscheidung bezog sie sich jedoch ausschließlich auf Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung.

9        Am 13. Dezember 2021 legte die Klägerin beim EUIPO Beschwerde gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung ein.

10      Die Beschwerdekammer wies die Beschwerde mit der angefochtenen Entscheidung zurück. Im Wesentlichen stellte sie zum einen fest, dass gemäß Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung (EG) Nr. 2245/2002 der Kommission vom 21. Oktober 2002 zur Durchführung der Verordnung Nr. 6/2002 (ABl. 2002, L 341, S. 28) nur die in der Begründung des am 9. September 2020 eingereichten Antrags auf Nichtigerklärung angeführten Geschmacksmuster als ältere Rechte anzusehen seien, und zum anderen, dass die Einschätzung der Nichtigkeitsabteilung, wonach das angegriffene Geschmacksmuster im Vergleich zu den älteren Geschmacksmustern D 1 und D 2 Eigenart aufweise und Neuheitscharakter besitze, zu bestätigen sei, da die Klägerin keine Gründe vorgetragen habe, wieso diese fehlerhaft sein sollte.

 Anträge der Parteien

11      Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung vollständig aufzuheben;

–        das angegriffene Geschmacksmuster für nichtig zu erklären;

–        dem EUIPO und der Streithelferin die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens vor der Nichtigkeitsabteilung und der Beschwerdekammer aufzuerlegen.

12      Das EUIPO beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        die Klägerin für den Fall der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

13      Die Streithelferin beantragt,

–        die Klage in vollem Umfang abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

14      Die Klägerin macht im Wesentlichen vier Klagegründe geltend, erstens einen Verstoß gegen Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, zweitens einen Verstoß gegen Art. 63 Abs. 2 dieser Verordnung, drittens eine Verletzung der Begründungspflicht, wie sie in Art. 62 Satz 1 derselben Verordnung und in Art. 41 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehen ist, und viertens einen Verstoß gegen Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sowie eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 62 Satz 2 dieser Verordnung.

 Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002

15      Die Klägerin macht geltend, dass die Beschwerdekammer das Geschmacksmuster D 3 hätte berücksichtigen müssen.

16      Zum einen ist sie im Wesentlichen der Auffassung, Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002 lasse sich nicht entnehmen, dass sämtliche Entgegenhaltungen zwingend mit dem Nichtigkeitsantrag eingereicht werden müssten und dass auf keinen Fall zu einem späteren Zeitpunkt weitere Entgegenhaltungen nachgereicht werde könnten. Diese Vorschrift betreffe die Wirksamkeit des Nichtigkeitsantrags, der die Angabe oder Wiedergabe zumindest eines älteren Geschmacksmusters enthalten müsse, um geprüft werden zu können. Es werde nicht verlangt, dass sämtliche Entgegenhaltungen mit dem Nichtigkeitsantrag eingereicht würden.

17      Zum anderen macht die Klägerin geltend, dass die Einreichung des Geschmacksmusters D 3 nicht als verspätet angesehen werden könne, da keine von der Nichtigkeitsabteilung gesetzte Frist versäumt worden sei und die Nichtigkeitsabteilung auf jeden Fall zu Recht festgestellt habe, dass dieses Geschmacksmuster Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens sei. Zudem scheide eine Verspätung der Einreichung des Geschmacksmusters D 3 aus, da es der Klägerin zum Zeitpunkt der Einreichung des Nichtigkeitsantrags nicht vorgelegen habe. Sie habe dieses Geschmacksmuster erst nach intensiven Recherchen aufgrund des von der Streithelferin ausgeübten erhöhten Drucks vorlegen können. Schließlich macht die Klägerin geltend, dass die Nichtigkeitsabteilung durch die Zulassung des Geschmacksmusters D 3 keinerlei Verzögerung des Verfahrens verursacht habe, da die Streithelferin bis dahin noch keine Erklärungen als Antwort auf den Nichtigkeitsantrag abgegeben habe und ihr zuvor eine gesonderte Stellungnahmefrist für dieses Geschmacksmuster eingeräumt worden sei. Sie fügt hinzu, dass die Zulassung des Geschmacksmusters D 3 aus Gründen der Verfahrensökonomie gerechtfertigt sei.

18      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

19      Vorliegend hat die Beschwerdekammer in den Rn. 21 und 22 der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen festgestellt, dass der Antrag auf Erklärung der Nichtigkeit gemäß Art. [28] Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002 die Angabe und die Wiedergabe der älteren Geschmacksmuster, die schädlich für die Neuheit oder Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters sein könnten, sowie Unterlagen, die die Existenz dieser älteren Geschmacksmuster belegten, enthalten müsse. Nach Antragstellung sei es nicht mehr möglich, weitere ältere Geschmacksmuster, die schädlich für die Neuheit oder Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters sein könnten, in das Verfahren einzubringen. In Anbetracht dieser Umstände hat die Beschwerdekammer in den Rn. 24 und 25 der angefochtenen Entscheidung gefolgert, dass die ordnungsgemäß angeführten älteren Geschmacksmuster die Geschmacksmuster D 1 und D 2 seien. Dagegen könnten die Geschmacksmuster D 3 und D 4, die im Laufe des Verfahrens vor der Nichtigkeitsabteilung vorgetragen worden seien, nicht berücksichtigt werden, da dies den Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens erweitern würde.

20      Einleitend ist festzustellen, dass das oben in den Rn. 15 bis 17 wiedergegebene Vorbringen der Klägerin zwei unterschiedliche Fragen betrifft. Das oben in Rn. 16 angeführte Vorbringen betrifft die Frage, ob sich der Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren in Schriftsätzen auf andere Entgegenhaltungen als die im Antrag auf Nichtigerklärung als solchem enthaltenen stützen kann. Dagegen bezieht sich das oben in Rn. 17 wiedergegebene Vorbringen auf die Problematik der Zulässigkeit bestimmter Beweismittel unter dem Gesichtspunkt der Verspätung im Sinne von Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002.

21      Soweit das Vorbringen der Klägerin die Frage betrifft, ob das Geschmacksmuster D 3 als Beweismittel verspätet vorgebracht wurde, wird es im Rahmen des zweiten Klagegrundes geprüft werden (vgl. unten Rn. 40 ff.).

22      Im Hinblick auf die Frage, inwiefern Entgegenhaltungen von der Beschwerdekammer berücksichtigt werden können, die in anderen Schriftsätzen als dem Antrag auf Nichtigerklärung als solchem angeführt wurden, sind folgende Gesichtspunkte festzuhalten.

23      Vorliegend wurden die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 in der dem Antrag auf Nichtigerklärung vom 9. September 2020 beigefügten Begründung angeführt. Das Geschmacksmuster D 3 wurde hingegen am 14. Oktober 2020 in Form einer den Antrag der Klägerin auf Nichtigerklärung ergänzenden Stellungnahme eingereicht (vgl. oben Rn. 5 bis 6).

24      Erstens ist die Prüfung des EUIPO nach Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 bei einem Antrag auf Nichtigerklärung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt. Es ist Sache des Antragstellers, sicherzustellen, dass alle geltend gemachten älteren Geschmacksmuster klar identifiziert und wiedergegeben werden, weil das Nichtigkeitsverfahren zu den Inter-partes-Verfahren gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2019, Aroma Essence/EUIPO – Refan Bulgaria [Körperpflegeschwamm], T‑532/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:609, Rn. 30).

25      Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 bestimmt, dass der Antrag auf Nichtigerklärung schriftlich einzureichen und zu begründen ist. Nach Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und vi der Verordnung Nr. 2245/2002 muss ein solcher Antrag die Angabe der Nichtigkeitsgründe, auf die sich der Antrag stützt, sowie die zur Begründung vorgebrachten Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen enthalten. Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002 verlangt, dass der Antrag auf Nichtigerklärung, wenn er u. a. auf das Fehlen von Neuheit oder Eigenart des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters gestützt wird, die Angabe und die Wiedergabe der älteren Geschmacksmuster, die schädlich für die Neuheit oder Eigenart des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters sein könnten, sowie Unterlagen, die die Existenz dieser älteren Muster belegen, enthalten muss.

26      Damit ist es zum einen Sache des Antragstellers im Nichtigkeitsverfahren, dem EUIPO die erforderlichen Angaben und insbesondere eine genaue und vollständige Bezeichnung und Wiedergabe des Geschmacksmusters, dessen zeitlicher Vorrang behauptet wird, vorzulegen, um darzutun, dass das angegriffene Geschmacksmuster nicht rechtsgültig eingetragen werden kann. Zum anderen ist es nicht Sache des EUIPO, sondern des Antragstellers im Nichtigkeitsverfahren, die Beweise dafür vorzulegen, dass dieser Grund tatsächlich vorliegt (vgl. Urteil vom 17. September 2019, Körperpflegeschwamm, T‑532/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:609, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich aus Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002, dass der Antrag auf Nichtigerklärung den Streitgegenstand definiert, der sich einerseits aus dem angegriffenen Geschmacksmuster und andererseits aus den geltend gemachten älteren Geschmacksmustern ergibt. Daher ist es nach Antragstellung grundsätzlich nicht mehr möglich, weitere ältere Geschmacksmuster, die schädlich für die Neuheit oder Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters sein könnten, in das Verfahren einzubringen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 15. Dezember 2021, Legero Schuhfabrik/EUIPO – Rieker Schuh [Schuh], T‑682/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:907, Rn. 31).

28      Der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens und die Wahrung des berechtigten Interesses des Inhabers des angegriffenen Geschmacksmusters, sich nicht einem Rechtsstreit mit stetig wandelndem Gegenstand ausgesetzt zu sehen, stehen nämlich dem entgegen, dass ein Antragsteller im Laufe des Nichtigkeitsverfahrens nach Belieben weitere ältere Geschmacksmuster einbringen kann (Beschluss vom 15. Dezember 2021, Schuh, T‑682/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:907, Rn. 32).

29      Unter diesem Blickwinkel – und wie sich oben aus Rn. 23 ergibt – sind nur die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 als von der Klägerin zur Stützung ihres Nichtigkeitsantrags geltend gemacht anzusehen. Denn nur diese älteren Geschmacksmuster sind im Antrag auf Nichtigerklärung als ältere Geschmacksmuster aufgeführt, die schädlich für die Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters sein könnten.

30      Folglich ist die Beschwerdekammer zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass für die Prüfung des Antrags auf Nichtigerklärung nur die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 berücksichtigt werden konnten.

31      Zweitens trifft es zwar zu, dass die mit Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002 verfolgte Logik darin besteht, für die Einreichung von Beweisen zu den wesentlichen Elementen des Antrags auf Nichtigerklärung, die, wie sich auch oben aus Rn. 27 ergibt, den rechtlichen Rahmen des Antrags festlegen und abstecken, eine Frist vorzuschreiben, deren Einhaltung eine unverzichtbare Verfahrensvoraussetzung darstellt. Somit hat das EUIPO in einem Verfahren auf Nichtigerklärung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters nur die im Antrag auf Nichtigerklärung aufgeführten älteren Geschmacksmuster zu prüfen, nicht aber andere Geschmacksmuster, die nachträglich als ältere Geschmacksmuster geltend gemacht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2022, Group Nivelles/EUIPO – Easy Sanitary Solutions [Duschabfluss], T‑327/20, EU:T:2022:263, Rn. 54 und 55).

32      Stellt das EUIPO jedoch fest, dass der Antrag auf Nichtigerklärung Art. 52 der Verordnung Nr. 6/2002, Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2245/2002 oder anderen Vorschriften dieser beiden Verordnungen nicht entspricht, so teilt es dies dem Antragsteller gemäß Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2245/2002 mit und fordert ihn auf, die Mängel innerhalb einer von ihm festgesetzten Frist zu beheben. Aus dieser Bestimmung ergibt sich somit, dass das EUIPO den Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren auffordert, die Mängel innerhalb einer von ihm gesetzten Frist zu beheben, wenn der Antrag unzulässig ist.

33      Im vorliegenden Fall hat das EUIPO jedoch keine Mängelbehebung nach Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2245/2002 verlangt, da die Klägerin ältere Geschmacksmuster benannt hatte, auf die sie ihren Antrag auf Nichtigerklärung stützte, nämlich die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2.

34      Unter diesen Umständen hat die Beschwerdekammer in den Rn. 24 und 25 der angefochtenen Entscheidung zu Recht im Wesentlichen festgestellt, dass nur die mit dem Antrag auf Nichtigerklärung geltend gemachten Geschmacksmuster im Nichtigkeitsverfahren berücksichtigt werden konnten und dass eine Berücksichtigung des Geschmacksmusters D 3 den Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens unter Verstoß gegen die oben in Rn. 25 genannten Bestimmungen erweitert hätte.

35      Daraus folgt, dass die Beschwerdekammer durch den Ausschluss des nach Stellung des Antrags auf Nichtigerklärung vorgelegten Geschmacksmusters D 3 nicht gegen Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 verstoßen hat. Der erste Klagegrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002

36      Mit ihrem zweiten Klagegrund macht die Klägerin geltend, dass die Beschwerdekammer, auch wenn die Einreichung der Geschmacksmuster D 3 und D 4 als verspätet anzusehen sei, gegen Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 verstoßen habe, da sie ihr Ermessen im Sinne von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung (EU) 2018/625 der Kommission vom 5. März 2018 zur Ergänzung der Verordnung (EU) 2017/1001 und zur Aufhebung der Delegierten Verordnung (EU) 2017/1430 (ABl. 2018, L 104, S. 1) nicht ausgeübt habe, obwohl die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt gewesen seien. Laut der Klägerin muss die Beschwerdekammer ihr Ermessen ausüben, um darüber zu befinden, ob die vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zu berücksichtigen sind oder nicht. Sie wirft der Beschwerdekammer vor, nicht geprüft zu haben, ob die Entgegenhaltung von Relevanz war und ob sie aus berechtigtem Grund verspätet vorgelegt wurde. Sie macht geltend, dass ein direkter Zusammenhang mit bereits eingereichten Beweismitteln existieren könne, da die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 die Form des „Annaberger Faltsterns“ darstellten, die auch dem Geschmacksmuster D 3 zugrunde liege.

37      Weiter trägt die Klägerin vor, dass die „Nachreichung [des Geschmacksmusters D 3] innerhalb von fünf Wochen nicht zu einer nennenswerten Verzögerung [geführt habe]“. Damit weist sie im Wesentlichen darauf hin, dass die Nichtigkeitsabteilung auf Antrag der Parteien die Sache wegen Verhandlungen über eine gütliche Einigung ausgesetzt habe und dass die Beteiligten somit bewusst einer Verzögerung der Sache zugestimmt hätten.

38      Schließlich trägt die Klägerin vor, dass auch das Geschmacksmuster D 4 zulässig sei, da es während des Zeitraums der Aussetzung kurz nach seiner Entdeckung vorgelegt worden sei, ein Bezug zu den anderen Entgegenhaltungen bestehe und die Streithelferin zu diesem Geschmacksmuster tatsächlich habe Stellung nehmen können.

39      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

40      Vorliegend hat die Beschwerdekammer in Rn. 23 der angefochtenen Entscheidung festgestellt, dass Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 es ihr erlaube, Beweismittel zu berücksichtigen, die im direkten Zusammenhang mit bereits eingereichten Beweismitteln stünden. Diese Bestimmung erlaube es jedoch nicht, den Gegenstand des Verfahrens zu erweitern, indem es der Antragstellerin gestattet werde, ihren Nichtigkeitsantrag auf weitere ältere Geschmacksmuster zu stützen, da ein solches Vorgehen das Nichtigkeitsverfahren verlängern und seinen Gegenstand modifizieren würde.

41      Zunächst ist daran zu erinnern, dass das Geschmacksmuster D 3 im Verfahren vor der Beschwerdekammer nicht als Entgegenhaltung berücksichtigt werden konnte. Aus denselben Gründen war das Geschmacksmuster D 4 nicht Teil des Gegenstands des Verfahrens vor der Beschwerdekammer.

42      In Anbetracht des Vorbringens der Klägerin zur verspäteten Vorlage dieser Geschmacksmuster (vgl. oben Rn. 17 und 20) ist im Rahmen ihres zweiten Klagegrundes jedoch zu prüfen, ob diese als Beweismittel angesehen werden können, die auf der Grundlage von Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 hätten berücksichtigt werden müssen.

43      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das EUIPO gemäß Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen braucht.

44      Aus dem Wortlaut von Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 folgt, dass die Beteiligten als allgemeine Regel und vorbehaltlich einer gegenteiligen Vorschrift Tatsachen und Beweismittel auch dann noch vorbringen können, wenn die für dieses Vorbringen nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 6/2002 geltenden Fristen abgelaufen sind, und dass es dem EUIPO keineswegs untersagt ist, solche verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen. Mit der Klarstellung, dass das EUIPO in einem solchen Fall die fraglichen Beweismittel nicht zu berücksichtigen „braucht“, räumt die genannte Bestimmung dem EUIPO nämlich ein weites Ermessen ein, um unter entsprechender Begründung seiner Entscheidung darüber zu befinden, ob die Beweismittel zu berücksichtigen sind oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2017, Gamet/EUIPO – „Metal-Bud II“ Robert Gubała [Türgriff], T‑306/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:466, Rn. 15 und 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Was die Ausübung des Ermessens des EUIPO bezüglich der etwaigen Berücksichtigung verspätet vorgelegter Beweismittel angeht, kann eine solche Berücksichtigung durch das EUIPO, wenn es im Rahmen eines Nichtigkeitsverfahrens zu entscheiden hat, insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn es zu der Auffassung gelangt, dass zum einen die verspätet vorgebrachten Gesichtspunkte auf den ersten Blick von wirklicher Relevanz für die Bescheidung des bei ihm gestellten Antrags auf Nichtigerklärung sein können und dass zum anderen das Verfahrensstadium, in dem das verspätete Vorbringen erfolgt, und die Umstände, die es begleiten, der Berücksichtigung nicht entgegenstehen. Daraus folgt, dass es Sache des Gerichts ist, zu beurteilen, ob die Beschwerdekammer das ihr eingeräumte weite Ermessen tatsächlich ausgeübt hat, um unter Angabe von Gründen und unter gebührender Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu entscheiden, ob die erstmals bei ihr eingereichten Beweismittel bei der Entscheidung, die sie zu erlassen hatte, zu berücksichtigen waren oder nicht. Darüber hinaus hat das Gericht zu prüfen, ob die Beschwerdekammer das ihr durch Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 eingeräumte Ermessen in angemessener Weise ausgeübt hat (vgl. Urteil vom 5. Juli 2017, Türgriff, T‑306/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:466, Rn. 17 und 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v und vi der Verordnung Nr. 2245/2002 eine wesentliche Unterscheidung zwischen den in Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v dieser Verordnung verlangten Beweisen in Bezug auf „die Angabe und die Wiedergabe der älteren Geschmacksmuster“ und den anderen in Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. vi dieser Verordnung genannten „Tatsachen [und] Beweismittel[n]“ trifft, z. B. den Tatsachen und Beweisen, die die Offenbarung eines älteren Geschmacksmusters betreffen (Art. 7 der Verordnung Nr. 6/2002), oder den Beweisen, die die Funktion des angegriffenen Geschmacksmusters betreffen (Art. 8 der Verordnung Nr. 6/2002) (Urteil vom 27. April 2022, Duschabfluss, T‑327/20, EU:T:2022:263, Rn. 58).

47      Daraus folgt, dass sich das dem EUIPO in Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 eingeräumte Ermessen, „Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, … zu berücksichtigen“, nur auf die in Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. vi der Verordnung Nr. 2245/2002 genannten Tatsachen und Beweismittel beziehen kann, nicht aber auf die in Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v dieser Verordnung vorgeschriebene „Angabe und Wiedergabe der älteren Geschmacksmuster“. Insbesondere ist Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht auf die Identifizierung des älteren Geschmacksmusters anwendbar (Urteil vom 27. April 2022, Duschabfluss, T‑327/20, EU:T:2022:263, Rn. 59).

48      So erlaubt Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 zwar die Berücksichtigung zusätzlicher Beweise wie z. B. einer genaueren Darstellung oder eines Nachweises der Veröffentlichung eines bereits im Antrag auf Nichtigerklärung geltend gemachten Geschmacksmusters, doch erlaubt er es demgegenüber nicht, den Streitgegenstand durch die Vorlage gänzlich neuer Beweise zu erweitern, indem dem Antragsteller gestattet würde, den Antrag auf Nichtigerklärung auf weitere ältere Geschmacksmuster zu stützen, da ein solches Vorgehen nicht nur den Gegenstand des Rechtsstreits ändern, sondern auch dessen Dauer verlängern würde (Beschluss vom 15. Dezember 2021, Schuh, T‑682/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:907, Rn. 34).

49      Im vorliegenden Fall erkennt die Klägerin jedoch selbst an, dass sich die Geschmacksmuster D 3 und D 4 von den Geschmacksmustern D 1 und D 2 unterscheiden. Insbesondere weisen, ebenfalls nach Ansicht der Klägerin, die Geschmacksmuster D 3 und D 4 keine Einkerbungen und Vorsprünge auf. Daraus folgt, dass die Geschmacksmuster D 3 und D 4 in keinem direkten Zusammenhang mit den ursprünglich im Antrag auf Nichtigerklärung geltend gemachten Geschmacksmustern D 1 und D 2 stehen. Es handelt sich somit keineswegs um Wiedergaben ein und desselben älteren Geschmacksmusters im Sinne der Rechtsprechung des Gerichts (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 22. Juni 2010, Shenzhen Taiden/HABM – Bosch Security Systems [Fernmeldegeräte], T‑153/08, EU:T:2010:248, Rn. 25).

50      Vor diesem Hintergrund kommt die Vorlage der Geschmacksmuster D 3 und D 4 nach Einreichung des Antrags auf Nichtigerklärung der Vorlage eines völlig neuen Beweismittels gleich – im Gegensatz zu einem in direktem Zusammenhang mit bereits vorgelegten Beweismitteln stehenden Beweismittel im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002.

51      Daher hat die Beschwerdekammer in Rn. 23 der angefochtenen Entscheidung zu Recht im Wesentlichen ausgeführt, dass Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 es dem Antragsteller im Nichtigkeitsverfahren nicht erlaubt, den Gegenstand des Verfahrens zu erweitern, indem er seinen Antrag auf neue Geschmacksmuster, im vorliegenden Fall nämlich die Geschmacksmuster D 3 und D 4, stützt.

52      Das weitere Vorbringen der Klägerin vermag diese Schlussfolgerung nicht in Frage zu stellen.

53      Das Vorbringen der Klägerin, ihr hätten die Geschmacksmuster D 3 und D 4 erst nach intensiven Recherchen aufgrund des von der Streithelferin ausgeübten erhöhten Drucks vorgelegen, ist als unbegründet zurückzuweisen, da es der Klägerin als Antragstellerin im Nichtigkeitsverfahren oblag, die Geschmacksmuster, deren zeitlicher Vorrang als Hindernis für die Eigenart des angegriffenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters behauptet wird, genau und vollständig zu bezeichnen und wiederzugeben.

54      Da außerdem zum einen der Streitgegenstand durch den Antrag auf Nichtigerklärung definiert wird und zum anderen das Geschmacksmuster D 3 nicht als mit den bereits eingereichten Beweismitteln in direktem Zusammenhang stehend angesehen werden kann, geht das Vorbringen der Klägerin, die Berücksichtigung des Geschmacksmusters D 3 sei aus Gründen der Verfahrensökonomie gerechtfertigt und führe nicht zu einer nennenswerten Verzögerung, ins Leere.

55      Unter diesen Umständen ist entgegen dem Vorbringen der Klägerin festzustellen, dass die Beschwerdekammer nicht gegen Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 verstoßen hat. Der zweite Klagegrund ist somit als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum dritten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht im Sinne von Art. 62 Satz 1 der Verordnung Nr. 6/2002 und Art. 41 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte

56      Die Klägerin beruft sich im Wesentlichen auf eine Verletzung der Begründungspflicht durch die Beschwerdekammer. Sie macht geltend, die Begründung der angefochtenen Entscheidung enthalte nur unzureichende Angaben zu drei Fragen: weswegen die Beschwerdekammer die Geschmacksmuster D 3 und D 4 nicht zugelassen habe, weswegen sie festgestellt habe, dass diese Geschmacksmuster nicht in direktem Zusammenhang mit den zuvor eingereichten Beweismitteln stünden, und ob sie Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 angewandt habe. Die Klägerin ist daher der Ansicht, es sei ihr nicht möglich, die Gründe, aus denen die Beschwerdekammer die nachträglich vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel nicht zugelassen habe, zu erkennen, um ihre Rechte zu verteidigen.

57      Im Übrigen müsse die unzureichende Begründung der angefochtenen Entscheidung zu deren Aufhebung führen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Prüfung der Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 durch die Beschwerdekammer dazu führen könnte, dass sie die nachgereichten Tatsachen oder Beweismittel zulasse. Es sei sehr wahrscheinlich, dass die angefochtene Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn die Beschwerdekammer die nachgereichten Tatsachen oder Beweismittel zugelassen hätte, da bei einem Vergleich des angegriffenen Geschmacksmusters mit den Geschmacksmustern D 3 und D 4 die Übereinstimmung im Gesamteindruck festgestellt worden wäre.

58      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

59      Nach Art. 62 Satz 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sind die Entscheidungen des EUIPO mit Gründen zu versehen. Diese Begründungspflicht hat den gleichen Umfang wie die Begründungspflicht gemäß Art. 296 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte, wonach die Überlegungen des Urhebers des Rechtsakts klar und eindeutig zum Ausdruck kommen müssen. Sie dient dem doppelten Ziel, zum einen die Beteiligten über die Gründe für die erlassene Maßnahme zu unterrichten, damit sie ihre Rechte verteidigen können, und es zum anderen dem Unionsrichter zu ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2017, Antrax It/EUIPO – Vasco Group [Thermosiphons für Heizkörper], T‑828/14 und T‑829/14, EU:T:2017:87, Rn. 82).

60      Die Frage, ob die Begründung einer Entscheidung diesen Erfordernissen genügt, ist nicht nur im Hinblick auf ihren Wortlaut zu beurteilen, sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln (Urteil vom 9. Februar 2017, Mast-Jägermeister/EUIPO [Becher], T‑16/16, EU:T:2017:68, Rn. 58).

61      Außerdem ist die in der Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung enthaltene ausführlichere Begründung hinsichtlich einer Behauptung zu berücksichtigen. In Anbetracht der in Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 zum Ausdruck kommenden funktionalen Kontinuität zwischen Nichtigkeitsabteilungen und Beschwerdekammern gehören nämlich die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung und ihre Begründung zu dem Kontext, in dem die angefochtene Entscheidung erlassen wurde und der der Klägerin bekannt ist und es dem Unionsrichter ermöglicht, seine Rechtmäßigkeitskontrolle in vollem Umfang auszuüben (Urteil vom 9. September 2015, Dairek Attoumi/HABM – Diesel [DIESEL], T‑278/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:606, Rn. 71).

62      Bei der Verpflichtung, Entscheidungen zu begründen, handelt es sich um ein wesentliches Formerfordernis, das von der Frage der sachlichen Richtigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Die Begründung einer Entscheidung soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen diese Entscheidung beruht. Weisen die Gründe Fehler auf, so beeinträchtigen diese die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung, nicht aber deren Begründung, die, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält, zureichend sein kann (Urteil vom 13. Mai 2015, Group Nivelles/HABM – Easy Sanitary Solutions [Duschablaufrinne], T‑15/13, EU:T:2015:281, Rn. 99).

63      Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdekammer in den Rn. 21 bis 25 der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen festgestellt, dass der Gegenstand des Verfahrens vor der Beschwerdekammer nur durch die im Antrag auf Nichtigerklärung geltend gemachten Entgegenhaltungen definiert werde, und daher darauf verwiesen, dass sich der Antrag auf Nichtigerklärung nur auf die Entgegenhaltungen der älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 stütze. Zudem könnten die Geschmacksmuster D 3 und D 4 nicht als Beweismittel angesehen werden, die im direkten Zusammenhang mit bereits eingereichten Beweismitteln stünden, da sie den Streitgegenstand erweitert hätten.

64      In Anbetracht dieser Ausführungen und entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer hinreichend klar und eindeutig die Erwägungen dargelegt hat, aufgrund deren sie zum einen angenommen hat, dass die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 diejenigen älteren Geschmacksmuster seien, die schädlich für die Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters sein könnten und auf die sich der Antrag auf Nichtigerklärung stütze, so dass sie den Streitgegenstand im Sinne von Art. 28 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 2245/2002 definierten. Zum anderen hat die Beschwerdekammer auch ihre Schlussfolgerung hinreichend begründet, dass die Geschmacksmuster D 3 und D 4 nicht als Beweismittel angesehen werden könnten, die in direktem Zusammenhang mit bereits eingereichten Beweismitteln stünden und die Anwendung von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 erforderten, da die Vorlage der Geschmacksmuster D 3 und D 4 den Streitgegenstand erweitert hätte.

65      Im Übrigen ist angesichts des Inhalts des ersten und des zweiten Klagegrundes festzustellen, dass die Klägerin die Erwägungen der Beschwerdekammer sehr wohl erfasst hat. Sie war in der Lage, die Gründe zu verstehen, aus denen die Beschwerdekammer zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Geschmacksmuster D 3 und D 4 nicht berücksichtigt werden konnten.

66      Der dritte Klagegrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 und Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 62 Satz 2 der Verordnung Nr. 6/2002 in Bezug auf die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 sowie die Geschmacksmuster D 3 und D 4

67      Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, dass die Beschwerdekammer ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe, da sie keine neue Prüfung des Antrags auf Nichtigerklärung im Sinne von Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 in Bezug auf die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 vorgenommen habe. Die Klägerin habe eine vollständige neue Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begehrt und dabei ihr Vorbringen aus dem Nichtigkeitsverfahren aufrechterhalten, wobei die Beschwerdekammer bei Zweifeln von ihr eine Klarstellung hätte verlangen müssen, ob sie ihre Auffassung aufrechterhalten wolle. Das angegriffene Geschmacksmuster sei gegenüber den älteren Geschmacksmustern D 1 und D 2 weder neu noch eigenartig, und die Beschwerdekammer hätte die Geschmacksmuster D 3 und D 4 berücksichtigen müssen. Im Übrigen dürften die älteren Geschmacksmuster D 1, D 2 und D 3 nicht als Einheit und nicht als unterschiedslos angesehen werden. Außerdem habe die Beschwerdekammer den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, da sie ihr bei der Zurückweisung der Beschwerde keine Gelegenheit gegeben habe, zu der in der angefochtenen Entscheidung angeführten neuen Begründung Stellung zu nehmen.

68      Das EUIPO und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

69      Erstens ergibt sich aus Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, dass die Beschwerdekammer durch die Wirkung der bei ihr anhängig gemachten Beschwerde damit betraut wird, eine vollständige neue Prüfung der Begründetheit des Antrags auf Nichtigerklärung sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht vorzunehmen. Im Übrigen ist eine Beschwerdekammer berechtigt, sich die Begründung einer Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung zu eigen zu machen, die somit integraler Bestandteil der Begründung ihrer Entscheidung ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juli 2008, Reber/HABM – Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli [Mozart], T‑304/06, EU:T:2008:268, Rn. 50, und vom 24. September 2008, HUP Uslugi Polska/HABM – Manpower [I.T.@MANPOWER], T‑248/05, nicht veröffentlicht, EU:T:2008:396, Rn. 49).

70      Tatsächlich hat die Beschwerdekammer in den Rn. 21 bis 28 der angefochtenen Entscheidung die Begründetheit des Antrags auf Nichtigerklärung geprüft, indem sie die ordnungsgemäß geltend gemachten älteren Geschmacksmuster identifiziert und die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung hinsichtlich der Beurteilung der Eigenart oder Neuheit des angegriffenen Geschmacksmusters gegenüber den älteren Geschmacksmustern D 1 und D 2 bestätigt hat.

71      Folglich ist das Vorbringen der Klägerin, die Beschwerdekammer habe den Antrag auf Nichtigerklärung mit einer neuen Begründung zurückgewiesen, unbegründet.

72      Zweitens dürfen nach Art. 62 Satz 2 der Verordnung Nr. 6/2002 die Entscheidungen des EUIPO nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Diese Bestimmung gewährleistet im Rahmen des Unionsgeschmacksmusterrechts den allgemeinen Grundsatz des Schutzes der Verteidigungsrechte. Nach diesem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts müssen die Adressaten behördlicher Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar berühren, Gelegenheit erhalten, ihren Standpunkt gebührend darzulegen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör erstreckt sich so auf alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, die die Grundlage der Entscheidungsfindung bilden, nicht aber auf den endgültigen Standpunkt, den die Verwaltung einnehmen will (Urteil vom 9. Februar 2017, Becher, T‑16/16, EU:T:2017:68, Rn. 57), und auch nicht auf allgemein bekannte Tatsachen, auf die sie sich stützt, um zu diesem Standpunkt zu gelangen (vgl. Urteil vom 29. April 2020, Bergslagernas Järnvaru/EUIPO – Scheppach Fabrikation von Holzbearbeitungsmaschinen [Holzspaltwerkzeuge], T‑73/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:157, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73      Nach ständiger Rechtsprechung werden die Verteidigungsrechte durch eine Verfahrensunregelmäßigkeit nur dann verletzt, wenn diese sich konkret auf die Verteidigungsmöglichkeit des Betroffenen ausgewirkt hat. Somit kann bei einer Nichtbeachtung der geltenden Regeln, die dem Schutz der Verteidigungsrechte dienen, das Verwaltungsverfahren nur dann mit einem Fehler behaftet sein, wenn nachgewiesen ist, dass dieses Verfahren andernfalls zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. Urteil vom 9. September 2015, DIESEL, T‑278/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:606, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74      Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdekammer in den Rn. 26 bis 28 der angefochtenen Entscheidung festgestellt, dass die Klägerin keine Gründe vorgetragen habe, die die Beurteilung der Nichtigkeitsabteilung in Frage stellen würden, wonach das angegriffene Geschmacksmuster im Vergleich zu den älteren Geschmacksmustern D 1 und D 2 Eigenart aufweise und Neuheit besitze. Im Übrigen hat sie sich nicht zu der Frage geäußert, ob die Klägerin im Verfahren vor der Nichtigkeitsabteilung darauf verzichtet hatte, die älteren Geschmacksmuster D 1 und D 2 geltend zu machen.

75      Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin reichlich Gelegenheit hatte, ihren Standpunkt während des gesamten Verfahrens durch Einreichung von Stellungnahmen sachdienlich vorzutragen. Aus den Akten des EUIPO geht hervor, dass sämtliche tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, auf die die in Rede stehenden Entscheidungen gestützt waren, zwischen den Parteien ausreichend erörtert wurden und dass sich die Klägerin zu all diesen Gesichtspunkten sachdienlich äußern konnte.

76      Zum anderen sind die Geschmacksmuster D 3 und D 4, wie sich oben aus den Rn. 41 bis 55 ergibt, keine Beweismittel, die in direktem Zusammenhang mit bereits eingereichten Beweismitteln stehen. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin hat die Nichtberücksichtigung der fraglichen Beweismittel durch die Beschwerdekammer ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, da sie vor der Beschwerdekammer hierzu Stellung nehmen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2021, Sanford/EUIPO – Avery Zweckform [Etiketten], T‑443/20, EU:T:2021:767, Rn. 23).

77      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der vierte Klagegrund zurückzuweisen ist.

78      Nach alledem ist, da keiner der von der Klägerin zur Stützung ihrer Anträge geltend gemachten Klagegründe durchgreift, die Klage insgesamt abzuweisen, ohne dass erstens über die Zulässigkeit des Vorbringens der Klägerin zur fehlenden Neuheit des angegriffenen Geschmacksmusters und zweitens über die Zulässigkeit ihres zweiten Antrags, der auf die Nichtigerklärung des angegriffenen Geschmacksmusters abzielt, zu entscheiden wäre, da dieser voraussetzt, dass dem Aufhebungsantrag stattgegeben wird.

 Kosten

79      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

80      Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Streithelferin deren Kosten aufzuerlegen. Da das EUIPO hingegen beantragt hat, die Klägerin nur im Fall der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zur Tragung der Kosten zu verurteilen, ist mangels Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden, dass das EUIPO seine eigenen Kosten trägt.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Light Tec Ltd trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der DecoTrend GmbH.

3.      Das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) trägt seine eigenen Kosten.

Costeira

Öberg

Tichy-Fisslberger

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Dezember 2023.

Der Kanzler

 

Der Präsident

V. Di Bucci

 

S. Papasavvas


*      Verfahrenssprache: Deutsch.