Language of document : ECLI:EU:T:2023:842

URTEIL DES GERICHTS (Fünfte erweiterte Kammer)

20. Dezember 2023(*)

„Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Deutsche Strom- und Gasmärkte – Beschluss, mit dem der Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Nichtigkeitsklage – Fehlendes Rechtsschutzinteresse – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T‑63/21,

Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwalt C. Schalast sowie Rechtsanwältinnen H. Löschan und Y. Salamati,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch G. Meessen und C. Zois als Bevollmächtigte im Beistand der Rechtsanwälte F. Haus, L. Rundel und F. Schmidt,

Beklagte,

unterstützt durch

E.ON SE mit Sitz in Essen (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte C. Grave, C. Barth und D.‑J. dos Santos Goncalves,

und durch

RWE AG mit Sitz in Essen, vertreten durch Rechtsanwalt U. Scholz, Rechtsanwältin J. Ziebarth und Rechtsanwalt J. Siegmund,

Streithelferinnen,

erlässt

DAS GERICHT (Fünfte erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. van der Woude, der Richter J. Svenningsen, C. Mac Eochaidh und J. Martín y Pérez de Nanclares (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Stancu,

Kanzler: S. Jund, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 19. April 2023

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH, die Nichtigerklärung des Beschlusses C(2019) 6530 final der Kommission vom 17. September 2019 zur Feststellung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen (Sache M.8870 – E.ON/Innogy) (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

 In Rede stehende Unternehmen

2        Die E.ON SE ist eine Gesellschaft deutschen Rechts, die zum Zeitpunkt der Anmeldung des geplanten Zusammenschlusses auf den verschiedenen Stufen der Energieversorgungskette tätig war, insbesondere in den Bereichen Erzeugung, Übertragung und Verteilung, Groß- und Einzelhandel sowie in energiebezogenen Bereichen (wie Verbrauchsmessung, Elektromobilität). E.ON ist in mehreren europäischen Staaten tätig, darunter die Tschechische Republik, Dänemark, Deutschland, Italien, Ungarn, Polen, Rumänien, die Slowakei, Schweden und das Vereinigte Königreich.

3        Die innogy SE (im Folgenden: Innogy, zusammen mit E.ON: am Zusammenschluss Beteiligte), eine Tochtergesellschaft der RWE AG, an der diese mehrheitlich beteiligt ist, ist eine Gesellschaft deutschen Rechts, die auf den verschiedenen Stufen der Energieversorgungskette, der Erzeugung und Verteilung, dem Einzelhandel und in energiebezogenen Bereichen wie Verbrauchsmessung oder Elektromobilität tätig ist. Innogy ist in mehreren europäischen Staaten tätig, darunter Belgien, die Tschechische Republik, Deutschland, Spanien, Frankreich, Kroatien, Italien, Ungarn, die Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien, die Slowakei und das Vereinigte Königreich.

4        Die Klägerin ist eine deutsche kommunale Holding mit Beteiligungen an Energieversorgungsunternehmen, insbesondere der Mainova AG und [vertraulich] (1).

 Kontext des Zusammenschlusses

5        Der im vorliegenden Fall in Rede stehende Zusammenschluss fügt sich ein in den Rahmen eines komplexen Austauschs von Vermögenswerten zwischen RWE und E.ON, der von den beiden beteiligten Unternehmen am 11. und 12. März 2018 angekündigt wurde. So möchte RWE mit der ersten Transaktion die alleinige oder gemeinsame Kontrolle über bestimmte Erzeugungsanlagen von E.ON erwerben. Die zweite Transaktion – der vorliegend in Rede stehende Zusammenschluss – besteht darin, dass E.ON die alleinige Kontrolle über die Sparten Verteilung und Vertrieb sowie bestimmte Erzeugungsanlagen der von RWE kontrollierten Innogy erwirbt. Die dritte Transaktion sieht vor, dass RWE eine Beteiligung in Höhe von 16,67 % an E.ON erwirbt.

6        Die Klägerin übersandte am 22. Juni 2018 ein Schreiben an die Europäische Kommission, in dem sie dieser mitteilte, dass sie am den ersten und den zweiten Zusammenschluss betreffenden Verfahren beteiligt werden und daher die entsprechenden Unterlagen erhalten möchte. Sie nutzte diese Gelegenheit außerdem, um die Kommission über ihre Bedenken bezüglich der Auswirkungen dieser beiden Zusammenschlüsse zu informieren.

7        Am 28. September 2018 fand eine Besprechung zwischen der Klägerin und der Kommission statt.

8        Im Anschluss an diese Besprechung ersuchte die Kommission die Klägerin um eine ergänzende Stellungnahme.

9        Der erste Zusammenschluss wurde am 22. Januar 2019 bei der Kommission angemeldet. Im Hinblick auf diese erste Transaktion erließ die Kommission den Beschluss C(2019) 1711 final vom 26. Februar 2019 zur Feststellung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen (Sache M.8871 – RWE/E.ON Assets).

10      Der dritte Zusammenschluss wurde beim Bundeskartellamt (Deutschland) angemeldet, das ihn mit Bescheid vom 26. Februar 2019 genehmigte (Sache B8‑28/19).

 Verwaltungsverfahren

11      Am 31. Januar 2019 ging bei der Kommission die Anmeldung eines beabsichtigten Zusammenschlusses nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1) ein, mit dem E.ON im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung die alleinige Kontrolle über die Sparten Verteilung und Kundenlösungen sowie bestimmte Stromerzeugungsanlagen der von RWE kontrollierten Innogy erwerben wollte.

12      Im Rahmen ihrer Prüfung dieses Zusammenschlusses führte die Kommission eine erste Marktbefragung unter den Wettbewerbern der am Zusammenschluss Beteiligten durch und übermittelte daher bestimmten Unternehmen, darunter der Klägerin, am 1. Februar 2019 einen Fragebogen, den diese am 13. Februar 2019 beantwortete.

13      Am 7. Februar 2019 erkannte die Anhörungsbeauftragte der Klägerin die Stellung als betroffene Dritte zu.

14      Am 8. Februar 2019 veröffentlichte die Kommission gemäß Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 die vorherige Anmeldung dieses Zusammenschlusses (Sache M.8870 – E.ON/Innogy) im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2019, C 50, S. 13, im Folgenden: Zusammenschluss M.8870).

15      Mit Beschluss vom 7. März 2019 stellte die Kommission fest, dass der Zusammenschluss M.8870 Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt und dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl. 1994, L 1, S. 3) gebe. Sie beschloss daher, das Verfahren der eingehenden Prüfung gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 139/2004 einzuleiten.

16      Am 18. März 2019 veröffentlichte die Kommission die Einleitung des Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 139/2004 im Amtsblatt (ABl. 2019, C 102, S. 2).

17      Am 15. April 2019 übermittelte die Klägerin eine ergänzende Stellungnahme an die Kommission.

18      Bei einer Zusammenkunft zur Bestandsaufnahme am 27. Mai 2019 informierte die Kommission die am Zusammenschluss Beteiligten über die vorläufigen Ergebnisse der Marktuntersuchung und über den Umfang ihrer vorläufigen Bedenken.

19      Um die von der Kommission bei der Zusammenkunft zur Bestandsaufnahme vom 27. Mai 2019 festgestellten wettbewerbsrechtlichen Bedenken auszuräumen, legte E.ON am 20. Juni 2019 gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 ein Angebot für Verpflichtungszusagen vor.

20      Am 7. Juni 2019 übermittelte die Klägerin eine ergänzende Stellungnahme an die Kommission.

21      Die Kommission führte eine zweite Marktbefragung durch, die sich auf die von E.ON angebotenen Verpflichtungszusagen bezog, und übermittelte daher einigen Unternehmen, darunter der Klägerin, am 21. Juni 2019 zwei Fragebögen, von denen einer die auf dem Markt für Heizstrom angebotenen Verpflichtungen und der andere diejenigen auf dem Markt für Elektromobilität betraf. Die Klägerin beantwortete diese Fragebögen am 28. Juni 2019.

22      E.ON legte am 3. Juli 2019 ihre endgültigen Verpflichtungszusagen vor.

 Angefochtener Beschluss

23      Da die Kommission der Ansicht war, dass die von E.ON vorgelegten Zusagen ausreichten, um die ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt auszuräumen, übersandte sie E.ON keine Mitteilung der Beschwerdepunkte und erließ den angefochtenen Beschluss. Mit diesem Beschluss, von dem eine Zusammenfassung im Amtsblatt veröffentlicht wurde (ABl. 2020, C 379, S. 16), erklärte die Kommission den Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt und dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vereinbar.

 Anträge der Parteien

24      Die Klägerin beantragt im Wesentlichen,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

25      Die Kommission, unterstützt durch RWE und E.ON, beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

26      Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf vier Klagegründe, nämlich erstens auf die fehlerhafte Aufspaltung der Analyse des oben in Rn. 5 dargelegten komplexen Austauschs von Vermögenswerten zwischen RWE und E.ON, zweitens auf offensichtliche Beurteilungsfehler, drittens auf einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht und viertens auf einen Missbrauch von Befugnissen.

27      Da die Zulässigkeitsvoraussetzungen, insbesondere das Rechtsschutzinteresse, zu den unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen gehören (vgl. Beschluss vom 10. März 2005, Gruppo ormeggiatori del porto di Venezia u. a./Kommission, T‑228/00, T‑229/00, T‑242/00, T‑243/00, T‑245/00 bis T‑248/00, T‑250/00, T‑252/00, T‑256/00 bis T‑259/00, T‑265/00, T‑267/00, T‑268/00, T‑271/00, T‑274/00 bis T‑276/00, T‑281/00, T‑287/00 und T‑296/00, EU:T:2005:90, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung), hat das Gericht von Amts wegen zu prüfen, ob die Klägerin ein Interesse an der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses hat.

28      Nach gefestigter Rechtsprechung setzt die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person voraus, dass diese ein Rechtsschutzinteresse nachweist. Sie muss insbesondere ein persönliches Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung darlegen. Es muss sich dabei um ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse handeln, wofür auf den Tag der Klageerhebung abzustellen ist (vgl. Beschluss vom 27. März 2012, European Goldfields/Kommission, T‑261/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:157, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Folglich ist zu prüfen, ob die Klägerin im vorliegenden Fall ein bestehendes und gegenwärtiges persönliches Interesse daran nachgewiesen hat, gegen den angefochtenen Beschluss vorzugehen.

30      Im Hinblick auf die oben in Rn. 28 angeführte Rechtsprechung hat das Gericht die Parteien im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme ersucht, schriftlich zur Prozessvoraussetzung Stellung zu nehmen, die es von Amts wegen zu prüfen beabsichtigte. Die Parteien haben fristgerecht geantwortet.

31      Sowohl aus der Klageschrift als auch aus der Antwort der Klägerin auf die prozessleitende Maßnahme geht hervor, dass die Hauptbefürchtung der Klägerin darin besteht, dass ihre Beteiligung an [vertraulich].

32      Somit ist festzustellen, dass sich das Vorbringen der Klägerin, mit dem dargetan werden soll, dass der angefochtene Beschluss ihre Wirtschaftstätigkeit ernsthaft beeinträchtigen werde, im Wesentlichen auf ihre Beteiligung an [vertraulich] stützt. Hierzu erläutert sie, dass ihr Interesse an der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses darin bestehe, dass [vertraulich] könne.

33      Wie E.ON und die Kommission im Übrigen zu Recht ausführen, kann indessen eine Person, wenn sie kein Rechtsschutzinteresse geltend machen kann, das sich von dem eines Unternehmens unterscheidet, das von einer Handlung der Europäischen Union betroffen ist und an dessen Kapital sie beteiligt ist, ihre Interessen gegenüber dieser Handlung nur durch Ausübung ihrer Rechte als Teilhaberin dieses Unternehmens, das seinerseits ein Klagerecht hat, verteidigen (vgl. Beschluss vom 27. März 2012, European Goldfields/Kommission, T‑261/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:157, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Der von der Klägerin in ihrer Antwort auf die prozessleitende Maßnahme des Gerichts angeführte Umstand, dass ihr gegen [vertraulich] keine Rechtsschutzmöglichkeit zugestanden habe, kann nicht als Argument für die Feststellung herangezogen werden, dass ein vom Rechtsschutzinteresse von [vertraulich] zu unterscheidendes Rechtsschutzinteresse bestehe.

35      Zum einen ist nämlich festzustellen, dass es sich um eine allgemein gehaltene Behauptung handelt und dass die Klägerin weder nachweist noch vorbringt, innerhalb von [vertraulich] ein Verfahren angestoßen zu haben, um zu versuchen, [vertraulich] zur Erhebung einer Klage gegen den angefochtenen Beschluss zu bewegen. Folglich kann die Klägerin nicht mit Erfolg geltend machen, dass ihr keine andere Rechtsschutzmöglichkeit zugestanden habe.

36      Zum anderen stellt dieses Vorbringen nicht den Umstand in Frage, dass es sich bei dem Rechtsschutzinteresse der Klägerin jedenfalls weiterhin um ein Interesse handelt, das mit der Tätigkeit von [vertraulich] zusammenhängt.

37      Außerdem ist festzustellen, dass die Klägerin ihr Vorbringen hauptsächlich darauf stützt, dass RWE ihre Zusagen betreffend [vertraulich] nicht eingehalten habe. [vertraulich] Die Klägerin kann sich aber nicht auf angebliche Vertragsverletzungen durch RWE gegenüber einem Unternehmen berufen, das überdies nicht am Zusammenschluss M.8870 beteiligt ist, um ihr Interesse an der Nichtigerklärung eines Beschlusses der Kommission darzutun. Folglich ist auch insoweit ein klägerisches Interesse an der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses nicht nachgewiesen.

38      Unter diesen Umständen hat die Klägerin kein bestehendes und gegenwärtiges persönliches Interesse, gegen den angefochtenen Beschluss vorzugehen, nachgewiesen.

39      Die Klage ist demnach als unzulässig abzuweisen.

 Kosten

40      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr entsprechend den Anträgen der Kommission, von E.ON und RWE ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission, von E.ON und RWE aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Fünfte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2.      Die Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission, der E.ON SE und der RWE AG.

Van der Woude

Svenningsen

Mac Eochaidh

Martín y Pérez de Nanclares

 

Stancu

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Dezember 2023.

Der Kanzler

 

Der Präsident

V. Di Bucci

 

M. van der Woude


*      Verfahrenssprache: Deutsch.


1      Nicht wiedergegebene vertrauliche Daten.