Language of document : ECLI:EU:C:2012:744

Rechtssache C‑277/11

M. M.

gegen

Minister for Justice, Equality and Law Reform u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Irland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Gemeinsames europäisches Asylsystem – Richtlinie 2004/83/EG – Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus – Art. 4 Abs. 1 Satz 2 – Zusammenarbeit des Mitgliedstaats mit dem Antragsteller bei der Prüfung der für seinen Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte – Umfang – Ordnungsmäßigkeit des bei der Behandlung eines Antrags auf subsidiären Schutz nach Ablehnung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling befolgten nationalen Verfahrens – Beachtung der Grundrechte – Recht auf Anhörung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 22. November 2012

Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Status als Flüchtling oder subsidiärer Schutzstatus ‑ Richtlinie 2004/83 – Nationale Regelung, die zwei getrennte und aufeinanderfolgende Verfahren zur Prüfung des Antrags auf Asyl und des Antrags auf subsidiären Schutz vorsieht – Pflicht zur Sicherstellung des Rechts auf Anhörung im Rahmen beider Verfahren

(Richtlinie 2004/83 des Rates, Art. 4 Abs. 1)

Das Erfordernis der Zusammenarbeit eines Mitgliedstaats mit dem Asylbewerber im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2004/83 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes kann nicht dahin ausgelegt werden, dass die zuständige nationale Behörde, wenn ein Ausländer die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus beantragt, nachdem ihm die Anerkennung als Flüchtling verweigert worden ist, und sie beabsichtigt, auch diesen zweiten Antrag abzulehnen, verpflichtet wäre, den Betroffenen vor dem Erlass ihrer Entscheidung von der beabsichtigten Ablehnung seines Antrags zu unterrichten und ihm die Argumente mitzuteilen, auf die sie dessen Ablehnung stützen möchte, um es diesem Antragsteller zu ermöglichen, seinen Standpunkt dazu geltend zu machen.

Bei einem System, das dadurch gekennzeichnet ist, dass zwei getrennte und aufeinanderfolgende Verfahren zur Prüfung des Antrags auf Anerkennung als Flüchtling bzw. des Antrags auf subsidiären Schutz bestehen, obliegt es jedoch dem nationalen Gericht, im Rahmen beider Verfahren für die Wahrung der Grundrechte des Antragstellers und insbesondere des Rechts auf Anhörung in dem Sinne Sorge zu tragen, dass er in der Lage ist, vor dem Erlass einer Entscheidung, mit der der beantragte Schutz nicht gewährt wird, sachdienlich Stellung zu nehmen. Dass der Betroffene bereits bei der Prüfung seines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling ordnungsgemäß angehört worden ist, bedeutet in einem solchen System nicht, dass von dieser Formvorschrift im Rahmen des Verfahrens über den Antrag auf subsidiären Schutz abgesehen werden könnte.

Das Recht auf Anhörung in jedem Verfahren, das in den Art. 41, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, muss nämlich in allen Verfahren gelten, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen können, und ist auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsieht. Daher ist dieses Recht in vollem Umfang auf das Verfahren der Prüfung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes anzuwenden, das die zuständige nationale Behörde nach den im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems erlassenen Bestimmungen durchführt. Wenn sich ein Mitgliedstaat entschieden hat, zwei getrennte und aufeinanderfolgende Verfahren für die Prüfung des Asylantrags und des Antrags auf subsidiären Schutz einzurichten, ist es wichtig, dass der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör in Anbetracht seines grundlegenden Charakters im Rahmen beider Verfahren vollständig gewährleistet ist.

(vgl. Randnrn. 74, 82, 85, 86, 89, 91, 95 und Tenor)