Language of document : ECLI:EU:T:2015:91

URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)

11. Februar 2015(*)

„Verbraucherschutz – Verordnung (EU) Nr. 15/2011 – Verfahren zum Nachweis lipophiler Toxine in Muscheln – Ersetzung des Maus-Bioassays durch Flüssigkeitschromatrographie-Tandemmassenspektrometrie (LC‑MS/MS) – Art. 168 AEUV – Verhältnismäßigkeit – Vertrauensschutz“

In der Rechtssache T‑204/11

Königreich Spanien, zunächst vertreten durch M. Muñoz Pérez, dann durch S. Martínez-Lage Sobredo und schließlich durch A. Rubio González, abogados del Estado,

Kläger,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch F. Jimeno Fernández und A. Marcoulli als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Verordnung (EU) Nr. 15/2011 der Kommission vom 10. Januar 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2074/2005 hinsichtlich anerkannter Testmethoden zum Nachweis mariner Biotoxine in lebenden Muscheln (ABl. L 6, S. 3),

erlässt

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek, der Richterin I. Labucka und des Richters V. Kreuschitz (Berichterstatter),

Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2014

folgendes

Urteil(1)

[nicht wiedergegeben]

 Rechtliche Würdigung

 Einleitende Erwägungen

[nicht wiedergegeben]

30      Außerdem ist bei der Würdigung der geltend gemachten Klagegründe zu bedenken, dass die Unionsorgane bei der Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit des Menschen über ein weites Ermessen verfügen. Darüber hinaus wurde bereits entschieden, dass sie auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen hinsichtlich der Definition der verfolgten Ziele und der Wahl des für ihr Vorgehen geeigneten Instrumentariums verfügen (vgl. Urteil vom 11. September 2002, Pfizer Animal Health/Rat, T‑13/99, Slg, EU:T:2002:209, Rn. 166 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Dieses weite Ermessen impliziert eine Beschränkung der Kontrolle durch den Unionsrichter. Dieses Ermessen führt nämlich dazu, dass sich die richterliche Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob die Organe bei der Ausübung ihrer Befugnisse einen offensichtlichen Fehler oder einen Ermessensmissbrauch begangen oder die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten haben (Urteile vom 9. September 2003, Monsanto Agricoltura Italia u. a., C‑236/01, Slg, EU:C:2003:431, Rn. 135, vom 15. Oktober 2009, Enviro Tech [Europe], C‑425/08, Slg, EU:C:2009:635, Rn. 47, und vom 9. September 2011, Frankreich/Kommission, T‑257/07, Slg, EU:T:2011:444, Rn. 85).

32      Im Rahmen der Prüfung durch den Unionsrichter, ob dem Rechtsakt eines Organs ein offensichtlicher Beurteilungsfehler anhaftet, kann ein die Nichtigerklärung des Aktes rechtfertigender offensichtlicher Irrtum eines Organs bei der Würdigung eines komplexen Sachverhalts nur festgestellt werden, wenn die vom Kläger vorgebrachten Beweise ausreichen, um die Sachverhaltswürdigung in dem Rechtsakt als nicht plausibel erscheinen zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 1996, AIUFFASS und AKT/Kommission, T‑380/94, Slg, EU:T:1996:195, Rn. 59, und vom 28. Februar 2012, Grazer Wechselseitige Versicherung/Kommission, T‑282/08, EU:T:2012:91, Rn. 158). Von dieser Plausibilitätsprüfung abgesehen darf das Gericht die Beurteilung eines komplexen Sachverhalts durch den Urheber der Entscheidung nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen (Urteile Enviro Tech [Europe], oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2009:635, Rn. 47, und vom 12. Februar 2008, BUPA u. a./Kommission, T‑289/03, Slg, EU:T:2008:29, Rn. 221).

33      Die Beschränkung der Prüfung durch den Unionsrichter berührt jedoch nicht dessen Pflicht, die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen und zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen (Urteile vom 22. November 2007, Spanien/Lenzing, C‑525/04 P, Slg, EU:C:2007:698, Rn. 57, und vom 6. November 2008, Niederlande/Kommission, C‑405/07 P, Slg, EU:C:2008:613, Rn. 55).

34      Zudem kommt in Fällen, in denen ein Organ über ein weites Ermessen verfügt, der Kontrolle der Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht, wesentliche Bedeutung zu. Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass zu diesen Garantien insbesondere die Pflicht des zuständigen Organs zur sorgfältigen und unparteiischen Prüfung sämtlicher relevanten Elemente des konkreten Falles sowie zur ausreichenden Begründung seiner Entscheidung zählt (Urteile vom 21. November 1991, Technische Universität München, C‑269/90, Slg, EU:C:1991:438, Rn. 14, vom 7. Mai 1992, Pesquerias De Bermeo und Naviera Laida/Kommission, C‑258/90 und C‑259/90, Slg, EU:C:1992:199, Rn. 26, Niederlande/Kommission, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2008:613, Rn. 56, und Frankreich/Kommission, oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2011:444, Rn. 88).

 Zur Verletzung von Art. 168 AEUV

 Einleitung

[nicht wiedergegeben]

41      Angesichts dieser wissenschaftlichen Beurteilungen durch das Panel der [Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)] ist die biologische Methode als ungeeignet zum Nachweis bekannter lipophiler Toxine anzusehen. Insbesondere bei OA-Toxinen kann diese Methode zu falschen negativen Ergebnissen führen (siehe oben, Rn. 38). Die Beibehaltung der biologischen Methode zum Nachweis lipophiler Toxine schafft somit ein Risiko für die öffentliche Gesundheit. Die Kommission als zuständige Stelle für den Erlass von Maßnahmen zur Erhaltung eines hohen Schutzniveaus für die öffentliche Gesundheit war daher verpflichtet, unverzüglich Maßnahmen zu diesem Zweck zu ergreifen.

[nicht wiedergegeben]

 Zur Verfügbarkeit des für die Anwendung der LC‑MS/MS-Methode notwendigen zertifizierten Materials

[nicht wiedergegeben]

121    Daraus folgt, dass das Königreich Spanien auf der Grundlage der Ergebnisse der Validierungstests nicht in rechtlich hinreichender Weise belegt hat, dass die LC‑MS/MS-Methode mangelnde Zuverlässigkeit aufweist und somit eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit schafft. Ebenso wenig hat es belegt, dass durch die Wahl der LC‑MS/MS-Methode als Referenzmethode eine größere Gefahr entsteht als durch die Beibehaltung der biologischen Methode als Referenzmethode.

[nicht wiedergegeben]

123    Nach der Rechtsprechung ist die Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Aktes zu beurteilen (Urteile vom 7. Februar 1979, Frankreich/Kommission, 15/76 und 16/76, Slg, EU:C:1979:29, Rn. 7 und 8, und vom 12. Dezember 1996, Altmann u. a./Kommission, T‑177/94 und T‑377/94, Slg, EU:T:1996:193, Rn. 119). Folglich können Umstände, die nach dem Erlass des Unionsrechtsakts eingetreten sind, bei der Beurteilung seiner Rechtmäßigkeit nicht berücksichtigt werden (Urteil vom 27. September 2006, Roquette Frères/Kommission, T‑322/01, Slg, EU:T:2006:267, Rn. 325).

[nicht wiedergegeben]

129    Schließlich hat das Königreich Spanien die Zuverlässigkeit der LC‑MS/MS-Methode nicht mit der der biologischen Methode verglichen. Mit dem Artikel von Villar weist es nicht nach, dass die LC‑MS/MS-Methode weniger zuverlässig ist als die biologische Methode.

130    Zum Artikel von Otero ist festzustellen, dass die darin enthaltenen Bewertungen von anderen Autoren in anschließend in der Zeitschrift Analytical Chemistry veröffentlichten Kommentaren heftig kritisiert wurden. Diese Autoren kritisierten insbesondere die wissenschaftliche Qualität der von Otero und den übrigen Autoren des betreffenden Artikels vorgenommenen Bewertungen. Sie führten insbesondere aus:

„[D]ie in diesem Dokument beschriebenen Experimente und Beobachtungen rechtfertigen es nicht, die Stichhaltigkeit oder Zuverlässigkeit der [LC‑]MS/MS-Methode als Referenzmethode zum Schutz der Verbraucher in Frage zu stellen … Daraus schließen wir, dass die Autoren sich auf die falsche Methode bezogen haben, so dass die gesamte Veröffentlichung hinsichtlich der ‚Bedenken‘ und ‚vorgeschlagenen Referenzmethoden‘ irrelevant ist. Leider bedeutet dies auch, dass die Veröffentlichung auf einer falschen Prämisse beruht … Dieses Dokument offenbart ein mangelndes Verständnis der wesentlichen Faktoren zur erfolgreichen Verwendung der LC‑MS[/MS]-Methode im Allgemeinen sowie einige spezielle fachliche Probleme bei den Arbeiten zu den drei Toxinen. Wir weisen Probleme bei der Durchführung und den Berichten über die Experimente nach sowie eine eventuelle Kreuzkontamination durch den Injektor und einen Mangel an Qualitätssicherung und ‑kontrolle. Infolgedessen sind die spezifischen Feststellungen, die aus ihren Daten gezogen werden, als unergiebig anzusehen.“

131    Die damit vorgebrachten Einwände ziehen die wissenschaftliche Qualität der von Otero und den übrigen Autoren des fraglichen Artikels durchgeführten Studie in Zweifel. Doch wie bereits im Zusammenhang mit der Beachtung des Vorsorgeprinzips entschieden wurde, muss die wissenschaftliche Bewertung auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten erfolgen, die auf den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, Transparenz und Unabhängigkeit beruhen. Diese Anforderungen stellen nämlich eine wichtige Verfahrensgarantie dar, um die wissenschaftliche Objektivität der Maßnahmen zu sichern und zu verhindern, dass willkürliche Maßnahmen getroffen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Pfizer Animal Health/Rat, oben in Rn. 30 angeführt, EU:T:2002:209, Rn. 172).

132    Angesichts dieser Einwände und der Tatsache, dass die LC‑MS/MS-Methode durch eine Studie validiert wurde, die von Laboren der Mitgliedstaaten unter Koordination des [Referenzlaboratoriums der Europäischen Union für marine Biotoxine, im Folgenden: LRUEBM] für die 13 fraglichen Substanzen auf der Grundlage der zum Zeitpunkt ihrer Erstellung verfügbaren Referenzmaterialien durchgeführt wurde, belegt das Königreich Spanien nicht in rechtlich hinreichender Weise, dass die Wahl der LC‑MS/MS-Methode als Referenzmethode mit einem Risiko für die menschliche Gesundheit verbunden ist.

 Ergebnis

133    Aus den vorstehenden Gründen ist zum einen festzustellen, dass das Königreich Spanien zu Unrecht davon ausgeht, dass die Entscheidung, die biologische Methode als Referenzmethode durch die LC‑MS/MS-Methode zu ersetzen, vorschnell getroffen wurde, und zum anderen, dass nicht in rechtlich hinreichender Weise belegt wurde, dass diese Entscheidung mit einem Risiko für die öffentliche Gesundheit verbunden ist und gegen Art. 168 AEUV verstößt. Der erste Klagegrund des Königreichs Spanien ist daher zurückzuweisen, soweit er sich auf eine Verletzung von Art. 168 AEUV stützt.

 Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

[nicht wiedergegeben]

 Zur fehlenden Unverhältnismäßigkeit der Nachteile

[nicht wiedergegeben]

141    Der Schutz der öffentlichen Gesundheit hat Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen, so dass er negative wirtschaftliche Auswirkungen, auch wenn sie beträchtlich sind, für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Juli 1996, Vereinigtes Königreich/Kommission, C‑180/96 R, Slg, EU:C:1996:308, Rn. 93, und Urteil vom 28. Juni 2005, Industrias Químicas del Vallés/Kommission, T‑158/03, Slg, EU:T:2005:253, Rn. 134).

142    Im vorliegenden Fall steht fest, dass mit der LC‑MS/MS-Methode bekannte lipophile Toxine zuverlässiger nachgewiesen werden können als mit der biologischen Methode. Im Unterschied zur LC‑MS/MS-Methode, die von mehreren Laboren unter der Kontrolle des LRUEBM validiert wurde, wurde nämlich die biologische Methode als ungeeignet zum Nachweis bekannter lipophiler Toxine angesehen und kann möglicherweise bei OA-Toxinen zu falschen negativen Ergebnissen führen (siehe oben, Rn. 40).

143    In Anbetracht dessen können, auch wenn das Vorbringen des Königreichs Spanien zutrifft, dass die Kosten pro Probe bei der LC‑MS/MS-Methode mindestens 60 % höher seien als bei der biologischen Methode, diese Mehrkosten nicht als außer Verhältnis zum angestrebten Ziel, nämlich dem Schutz der Gesundheit der Verbraucher von Muscheln, stehend angesehen werden.

144    Darüber hinaus kann nicht davon ausgegangen werden, dass die zusätzlichen Kosten, die durch die LC‑MS/MS-Methode im Vergleich zur biologischen Methode entstehen sollen, präzise bestimmt wurden. Wie oben in Rn. 73 ausgeführt, hat das Königreich Spanien die zur Berechnung dieser zusätzlichen Kosten angewandte Methodik nämlich nicht mit hinreichender Genauigkeit dargelegt.

145    Außerdem hat das Königreich Spanien nicht belegt, dass es bei der Berechnung der zusätzlichen Kosten der LC‑MS/MS-Methode auch die Kostenreduktion berücksichtigt hat, die diese Methode für die Unternehmer in diesem Sektor aufgrund ihrer höheren Zuverlässigkeit hinsichtlich der bekannten Toxine mit sich bringen kann. Bei einer solchen Berechnung muss nämlich, wie die Kommission hervorhebt, auch die Schließung von Erzeugungsgebieten aufgrund einer höheren Zahl falscher positiver Ergebnisse bei einer mit der biologischen Methode durchgeführten Kontrolle berücksichtigt werden. Desgleichen verringert eine größere Zuverlässigkeit der LC‑MS/MS-Methode die Zahl falscher negativer Ergebnisse, die ebenfalls Kosten für die Erzeuger von lebenden Muscheln darstellen. Das Königreich Spanien erkennt dies an, wenn es darauf hinweist, dass Gesundheitsprobleme in Verbindung mit einem Produkt aus Galizien solche Produkte allgemein in Misskredit bringen könnten.

146    Nach alledem macht das Königreich Spanien zu Unrecht geltend, dass die Kosten der LC‑MS/MS-Methode außer Verhältnis zu dem mit der Wahl dieser Methode als Referenzmethode verfolgten Ziel des Gesundheitsschutzes stünden.

147    Daher sind die auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gestützten Klagegründe des Königreichs Spanien zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.

Prek

Labucka

Kreuschitz

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. Februar 2015.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Spanisch.


1 – Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.