Language of document : ECLI:EU:C:2002:461

URTEIL DES GERICHTSHOFES

25. Juli 2002(1)

„Einem Drittstaat angehörende Ehegatten von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten - Visumpflicht - Einreiserecht für Ehegatten ohne Ausweis oder Visum - Aufenthaltsrecht für illegal eingereiste Ehegatten - Aufenthaltsrecht für legal eingereiste Ehegatten, deren Visum zum Zeitpunkt der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist - Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG und 73/148/EWG sowie Verordnung (EG) Nr. 2317/95“

In der Rechtssache C-459/99

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Conseil d'État (Belgien) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie ASBL (MRAX)

gegen

Belgischer Staat

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 1 Absatz 2, 3 Absatz 3 und 9 Absatz 2 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850), der Artikel 3 und 4 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 13), der Artikel 3 und 6 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14) sowie der Verordnung (EG) Nr. 2317/95 des Rates vom 25. September 1995 zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen (ABl. L 234, S. 1),

erlässt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidentin N. Colneric und des Kammerpräsidenten S. von Bahr sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, M. Wathelet, R. Schintgen und J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter),

Generalanwältin: C. Stix-Hackl


Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

-    des Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie ASBL (MRAX), vertreten durch I. de Viron, avocat;

-    des belgischen Staates, vertreten durch E. Matterne und E. Derriks, avocats;

-    der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Längle als Bevollmächtigten;

-    der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch H. Michard, C. O'Reilly und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie ASBL (MRAX), des belgischen Staates und der Kommission in der Sitzung vom 29. Mai 2001,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. September 2001,

folgendes

Urteil

1.
    Der Conseil d'État hat mit Urteil vom 23. November 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Dezember 1999, gemäß Artikel 234 EG vier Vorabentscheidungsfragen vorgelegt nach der Auslegung der Artikel 1 Absatz 2, 3 Absatz 3 und 9 Absatz 2 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850), der Artikel 3 und 4 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 13), der Artikel 3 und 6 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14) sowie der Verordnung (EG) Nr. 2317/95 des Rates vom 25. September 1995 zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen (ABl. L 234, S. 1).

2.
    Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie ASBL (im Folgenden: MRAX) und dem belgischen Staat in Bezug auf einen Antrag auf Nichtigerklärung des Runderlasses des Innen- und des Justizministers vom 28. August 1997 über das Verfahren zur Bekanntmachung der Eheschließungsaufgebote und die Unterlagen, die für die Erteilung eines Visums zum Zweck der Eheschließung im Königreich oder für die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung aufgrund einer im Ausland geschlossenen Ehe vorzulegen sind (Moniteur belge vom 1. Oktober 1997, S. 25905, im Folgenden: Runderlass vom 28. August 1997).

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsregelung

3.
    Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) sieht vor:

„Jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ist ungeachtet seines Wohnorts berechtigt, eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften aufzunehmen und auszuüben.“

4.
    Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 lautet:

„(1)    Bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit Wohnung nehmen:

a)    sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird;

b)    seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt.

(2)    Die Mitgliedstaaten begünstigen den Zugang aller nicht in Absatz 1 genannten Familienangehörigen, denen der betreffende Arbeitnehmer Unterhalt gewährt oder mit denen er im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft lebt.

(3)    Voraussetzung für die Anwendung der Absätze 1 und 2 ist, dass der Arbeitnehmer für seine Familie über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht; diese Bestimmung darf nicht zu Diskriminierungen zwischen den inländischen Arbeitnehmern und den Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten führen.“

5.
    Nach Artikel 1 der Richtlinie 68/360 beseitigen die Mitgliedstaaten nach Maßgabe dieser Richtlinie die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen, auf die die Verordnung Nr. 1612/68 Anwendung findet.

6.
    Artikel 3 der Richtlinie 68/360 bestimmt:

„(1)    Die Mitgliedstaaten gestatten den in Artikel 1 genannten Personen bei Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses die Einreise in ihr Hoheitsgebiet.

(2)    Für die Einreise darf weder ein Sichtvermerk noch ein gleichartiger Nachweis verlangt werden; dies gilt jedoch nicht für die Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. Die Mitgliedstaaten gewähren den genannten Personen zur Erlangung der erforderlichen Sichtvermerke alle Erleichterungen.“

7.
    Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 68/360 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten den in Artikel 1 genannten Personen, die die in Artikel 4 Absatz 3 aufgeführten Unterlagen vorlegen, das Aufenthaltsrecht in ihrem Hoheitsgebiet gewähren.

8.
    Nach Artikel 4 Absatz 3 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie handelt es sich dabei im Fall der Familienangehörigen eines Arbeitnehmers um folgende Unterlagen:

„c)    den Ausweis, mit dem sie in [das] Hoheitsgebiet eingereist sind;

d)    eine von der zuständigen Behörde ihres Herkunftsstaats ausgestellte Bescheinigung, in der das Verwandtschaftsverhältnis bestätigt ist;

e)    in den Fällen des Artikels 10 Absätze 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 eine von der zuständigen Behörde des Herkunftsstaats ausgestellte Bescheinigung, in der bestätigt wird, dass ihnen der Arbeitnehmer Unterhalt gewährt oder dass sie in diesem Land bei dem Arbeitnehmer leben“.

9.
    Artikel 10 der Richtlinie 68/360 lautet:

„Die Mitgliedstaaten dürfen nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichen.“

10.
    Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 73/148 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten heben nach Maßgabe dieser Richtlinie die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen auf:

a)    für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen haben oder niederlassen wollen, um eine selbständige Tätigkeit auszuüben, oder die dort eine Dienstleistung erbringen wollen;

b)    für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich als Empfänger einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben wollen;

c)    ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit für den Ehegatten und die noch nicht 21 Jahre alten Kinder dieser Staatsangehörigen;

d)    ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit für Verwandte in aufsteigender und absteigender Linie dieser Staatsangehörigen und ihrer Ehegatten, denen diese Unterhalt gewähren.“

11.
    Artikel 3 der Richtlinie 73/148 wiederholt im Wesentlichen den Inhalt von Artikel 3 der Richtlinie 68/360.

12.
    Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 73/148 bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat gewährt den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet niederlassen, um dort eine selbständige Tätigkeit auszuüben, ein Recht auf unbefristeten Aufenthalt, wenn die Beschränkungen für die betreffende Tätigkeit auf Grund des Vertrages aufgehoben worden sind.

Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts wird eine Bescheinigung, die .Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften‘, erteilt. Diese Bescheinigung muss eine Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren vom Zeitpunkt der Ausstellung an haben; sie wird ohne weiteres verlängert.

...“

13.
    Artikel 6 der Richtlinie 73/148 sieht vor:

„Für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis und der Aufenthaltsberechtigung darf der Mitgliedstaat vom Antragsteller nur Folgendes verlangen:

a)    Vorlage des Ausweises, mit dem er in sein Hoheitsgebiet eingereist ist;

b)    Nachweis, dass er zu einer der in den Artikeln 1 und 4 genannten Personengruppen gehört.“

14.
    Artikel 8 der Richtlinie 73/148 wiederholt im Wesentlichen den Inhalt von Artikel 10 der Richtlinie 68/360.

15.
    Artikel 1 der Richtlinie 64/221 lautet:

„(1)    Diese Richtlinie gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft aufhalten oder sich dorthin begeben, um eine selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben oder um Dienstleistungen entgegenzunehmen.

(2)    Diese Bestimmungen gelten auch für den Ehegatten und die Familienmitglieder, welche die Bedingungen der auf Grund des Vertrages auf diesem Gebiet erlassenen Verordnungen und Richtlinien erfüllen.“

16.
    Artikel 2 der Richtlinie 64/221 sieht vor:

„(1)    Diese Richtlinie betrifft die Vorschriften für die Einreise, die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet, welche die Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen.

(2)    Diese Gründe dürfen nicht für wirtschaftliche Zwecke geltend gemacht werden.“

17.
    Artikel 3 der Richtlinie 64/221 bestimmt:

„(1)    Bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein.

(2)    Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

(3)    Wird der Personalausweis oder Reisepass, der die Einreise in das Aufnahmeland und die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ermöglicht hat, ungültig, so rechtfertigt dies keine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet.

(4)    Der Staat, der den Personalausweis oder Reisepass ausgestellt hat, lässt den Inhaber dieses Personalausweises oder Reisepasses ohne besondere Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.“

18.
    Artikel 8 der Richtlinie 64/221 lautet:

„Der Betroffene muss gegen die Entscheidung, durch welche die Einreise, die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verweigert wird, oder gegen die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet die Rechtsbehelfe einlegen können, die Inländern gegenüber Verwaltungsakten zustehen.“

19.
    Artikel 9 der Richtlinie 64/221 bestimmt:

„(1)    Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann.

Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.

(2)    Die Entscheidungen über die Verweigerung der ersten Aufenthaltserlaubnis sowie die Entscheidungen über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet vor Erteilung einer solchen Erlaubnis werden der Stelle, deren vorherige Stellungnahme in Absatz (1) vorgesehen ist, auf Antrag des Betroffenen zur Prüfung vorgelegt. Dieser ist dann berechtigt, persönlich seine Verteidigung wahrzunehmen, außer wenn Gründe der Sicherheit des Staates dem entgegenstehen.“

20.
    Die Verordnung Nr. 2317/95 wurde durch Urteil vom 10. Juni 1997 in der Rechtssache C-392/95 (Parlament/Rat, Slg. 1997, I-3213) für nichtig erklärt. Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass die Wirkungen der für nichtig erklärten Verordnung aufrechterhalten werden, bis der Rat der Europäischen Union eine neue Regelung in diesem Bereich erlassen hat.

21.
    Artikel 5 der Verordnung Nr. 2317/95 lautet:

„Im Sinne dieser Verordnung gilt als .Visum‘ eine von einem Mitgliedstaat ausgestellte Genehmigung oder eine von einem Mitgliedstaat getroffene Entscheidung, die erforderlich ist für die Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Hinblick auf

-    einen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat oder in mehreren Mitgliedstaaten, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet;

-    die Durchreise durch das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder mehrerer Mitgliedstaaten, mit Ausnahme des Transits durch die internationale Zone von Flughäfen und des Transfers zwischen Flughäfen ein und desselben Mitgliedstaats.“

22.
    Am 12. März 1999 erließ der Rat die Verordnung (EG) Nr. 574/1999 zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen (ABl. L 72, S. 2). Diese Verordnung wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 81, S. 1), ersetzt.

Nationale Regelung

23.
    Das Gesetz über den Zugang zum Hoheitsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung von Ausländern vom 15. Dezember 1980 (Moniteur belge vom 31. Dezember 1980) in der Fassung des Gesetzes vom 15. Juli 1996 (Moniteur belge vom 12. Oktober 1996, im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) sieht in Artikel 2 Absatz 1 vor:

„Die Erlaubnis zur Einreise in das Königreich erhält ein Ausländer, der im Besitz

...

2.    ... eines gültigen Reisepasses oder eines Passersatzes ist, versehen mit einem Visum oder einer das Visum ersetzenden Genehmigung, gültig für Belgien und erteilt von einem diplomatischen oder konsularischen Vertreter Belgiens oder eines Vertragsstaats einer für Belgien bindenden internationalen Übereinkunft über das Überschreiten der Außengrenzen.“

24.
    Nach Artikel 3 Absatz 1 Nummer 2 dieses Gesetzes können die „mit der Grenzkontrolle betrauten Behörden“ einen Ausländer zurückweisen, der „versucht, in das Königreich einzureisen, ohne die nach Artikel 2 erforderlichen Dokumente zu besitzen“.

25.
    Artikel 7 Absatz 1 Nummern 1 und 2 des Gesetzes ermächtigt den zuständigen Minister oder dessen Stellvertreter, anzuordnen, dass ein Ausländer, der weder die Genehmigung noch die Erlaubnis hat, sich länger als drei Monate im Königreich aufzuhalten oder dort niederzulassen, das Hoheitsgebiet bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verlassen hat,

„1.    wenn er sich weiter im Königreich aufhält, ohne die nach Artikel 2 erforderlichen Dokumente zu besitzen;

2.    wenn er sich über die gemäß Artikel 6 festgesetzte Frist hinaus im Königreich aufhält oder nicht nachweisen kann, dass diese Frist nicht überschritten ist“.

26.
    Artikel 40 §§ 2 bis 6 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:

„§ 2    Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzes gilt als EG-Ausländer jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften, der sich im Königreich aufhält oder dorthin begibt und der

1.    dort eine unselbständige oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt oder ausüben möchte,

2.    dort eine Dienstleistung in Anspruch nimmt oder in Anspruch nehmen möchte,

3.    dort über ein Bleiberecht verfügt oder verfügen möchte,

4.    dort über ein Aufenthaltsrecht verfügt oder verfügen möchte, nachdem er eine in der Gemeinschaft ausgeübte Berufstätigkeit beendet hat,

5.    dort als Hauptbeschäftigung eine Berufsaus- oder -weiterbildung in einer zugelassenen Bildungseinrichtung durchführt oder durchführen möchte

6.    oder zu keiner der unter 1. bis 5. aufgezählten Gruppen gehört.

§ 3    Vorbehaltlich entgegenstehender Bestimmungen des vorliegenden Gesetzes werden dem EG-Ausländer im Sinne von § 2 Nummern 1, 2 und 3 die nachstehenden Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gleichgestellt, sofern sie bei ihm wohnen oder wohnen werden:

1.     sein Ehegatte;

...

§ 4    Vorbehaltlich entgegenstehender Bestimmungen des vorliegenden Gesetzes werden dem EG-Ausländer im Sinne von § 2 Nummern 4 und 6 die nachstehenden Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gleichgestellt, sofern sie bei ihm wohnen oder wohnen werden:

1.     sein Ehegatte;

...

§ 5     Vorbehaltlich entgegenstehender Bestimmungen des vorliegenden Gesetzes werden dem EG-Ausländer im Sinne von § 2 Nummer 5 sein Ehegatte und seine Kinder oder die ihnen gegenüber unterhaltsberechtigten Kinder seines Ehegatten unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gleichgestellt, sofern sie bei ihm wohnen oder wohnen werden.

§ 6    Einem EG-Ausländer gleichgestellt werden auch der Ehegatte eines Belgiers, der bei diesem wohnt oder wohnen wird, sowie ihre Verwandten absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder ihnen gegenüber unterhaltsberechtigt sind, ihre unterhaltsberechtigten Verwandten aufsteigender Linie und der Ehegatte dieser Verwandten ab- oder aufsteigender Linie, die bei ihnen wohnen oder wohnen werden.“

27.
    Artikel 41 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 lautet:

„Das Recht auf Einreise in das Königreich wird dem EG-Ausländer bei Vorlage eines gültigen Personalausweises oder nationalen Reisepasses gewährt.

Der Ehegatte und seine in Artikel 40 genannten Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften besitzen, müssen über das nach Artikel 2 erforderliche Dokument verfügen.

Der Inhaber eines von den belgischen Behörden ausgestellten Dokuments, mit dem die Einreise in einen Mitgliedstaat der Gemeinschaften und der Aufenthalt in diesem Staat gestattet wurde, darf ohne Förmlichkeiten in das belgische Hoheitsgebiet einreisen, auch wenn seine Staatsangehörigkeit streitig ist oder dieses Dokument abgelaufen ist.“

28.
    Artikel 42 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 sieht vor:

„Das Aufenthaltsrecht wird den EG-Ausländern unter den Voraussetzungen und für die Dauer gewährt, die der König in Übereinstimmung mit den Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Gemeinschaften festlegt.

Dieses Aufenthaltsrecht wird durch eine Aufenthaltserlaubnis bescheinigt, die in den Fällen und nach den Modalitäten erteilt wird, die der König in Übereinstimmung mit den genannten Verordnungen und Richtlinien festlegt.

Die Entscheidung über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wird unverzüglich und spätestens sechs Monate nach Antragstellung getroffen.“

29.
    Artikel 43 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:

„Die Einreise und der Aufenthalt dürfen EG-Ausländern nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit mit folgenden Einschränkungen verweigert werden:

...

3.    Wird das Dokument, das die Einreise in das belgische Hoheitsgebiet und den Aufenthalt in diesem Gebiet ermöglicht hat, ungültig, so kann dies für sich allein die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet nicht rechtfertigen.

...“

30.
    Artikel 44 Absatz 1 Nummer 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 sieht vor:

„Der Antrag auf Überprüfung im Sinne von Artikel 64 kann gestellt werden bei

1.    jeder Nichterteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen EG-Ausländer, dem ein Aufenthaltsrecht gemäß Artikel 42 zusteht, und jeder Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet vor der Ausstellung einer solchen Erlaubnis ...“

31.
    In Artikel 64 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 heißt es:

„Außer den in den Artikeln 44 und 44bis genannten Entscheidungen können folgende Entscheidungen Gegenstand eines Antrags auf Überprüfung durch den Minister gemäß den nachstehenden Bestimmungen sein:

1.    die Entscheidung, mit der gemäß Artikel 11 die Anerkennung des Aufenthaltsrechts verweigert wird;

2.    die Zurückweisung;

3.    die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis;

...

7.    die Entscheidung, mit der dem Ausländer gemäß Artikel 22 aufgegeben wird, bestimmte Orte zu verlassen, sich von ihnen fern zu halten oder sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten;

8.    die Entscheidung, mit der einem Ausländer, der in Belgien studieren möchte, die Aufenthaltserlaubnis verweigert wird.“

32.
    Artikel 69 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 sieht vor:

„Gegen eine Entscheidung, mit der die Inanspruchnahme eines im vorliegenden Gesetz vorgesehenen Rechts verweigert wird, kann Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 14 der am 12. Januar 1973 harmonisierten Gesetze über den Conseil d'État erhoben werden.

Die Stellung eines Antrags auf Überprüfung steht der unmittelbaren Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung, deren Überprüfung beantragt wird, nicht entgegen.

In diesem Fall wird die Prüfung der Nichtigkeitsklage ausgesetzt, bis der Minister über die Zulässigkeit des Antrags entschieden hat.“

33.
    Der Runderlass vom 28. August 1997 lautet:

„Mit dem vorliegenden Runderlass sollen einige Probleme im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Bekanntmachung der Eheschließungsaufgebote ... geregelt werden, die in jüngster Zeit zu Kontroversen geführt haben. Ferner enthält er Erläuterungen zu den Unterlagen, die für die Erteilung eines Visums zum Zweck der Eheschließung im Königreich oder für die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung aufgrund einer im Ausland geschlossenen Ehe vorzulegen sind.

...

4.    Einreichung des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis nach der Eheschließung

...

In Bezug auf die Aufenthaltserlaubnis wird jedoch daran erinnert, dass die für die Einreise in das Königreich erforderlichen Dokumente zusammen mit dem im Rahmen von Artikel 10 Absatz 1 Nummern 1 oder 4 oder von Artikel 40 §§ 3 bis 6 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über den Zugang zum Hoheitsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung von Ausländern eingereichten Antrag auf Aufenthaltserlaubnis vorzulegen sind.

Dies bedeutet konkret, dass der Ausländer im Besitz eines gültigen nationalen Reisepasses oder Passersatzes sein muss, gegebenenfalls versehen mit einem Visum oder einer das Visum ersetzenden Genehmigung, gültig für Belgien und erteilt von einem diplomatischen oder konsularischen Vertreter Belgiens oder eines Vertragsstaats einer für Belgien bindenden internationalen Übereinkunft über das Überschreiten der Außengrenzen (Artikel 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980).

Legt der Ausländer diese Einreisedokumente nicht vor, so wird sein Antrag auf Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich für unzulässig erklärt.

...“

34.
    Der Runderlass des Innenministers vom 12. Oktober 1998 über den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis im Königreich, der nach einer Eheschließung auf der Grundlage der Artikel 10 oder 40 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über den Zugang zum Hoheitsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung von Ausländern gestellt wird (Moniteur belge vom 6. November 1998, S. 36360, im Folgenden: Runderlass vom 12. Oktober 1998), erging zur Erläuterung der Vorschrift in Punkt 4 des Runderlasses vom 28. August 1997. Die Punkte 1 und 2 des Runderlasses vom 12. Oktober 1998 lauten:

„1.    Es gilt weiterhin der Grundsatz, dass ein Antrag auf Genehmigung des Aufenthalts oder der Niederlassung im Königreich auf der Grundlage der Familienzusammenführung nicht berücksichtigt wird, wenn der Ausländer zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht im Besitz gültiger Einreisedokumente, d. h. eines gültigen nationalen Reisepasses oder Passersatzes, gegebenenfalls versehen mit einem gültigen Visum, ist.

2.    Abweichend von diesem Grundsatz wird jedoch der auf der Grundlage von Artikel 40 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 von einem mit einem belgischen Staatsangehörigen oder einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats des EWR verheirateteten (visumpflichtigen) Ausländer, der einen gültigen nationalen Reisepass oder Passersatz vorlegt, dessen Visum aber abgelaufen ist, gestellte Niederlassungsantrag berücksichtigt, sofern die Dokumente über sein Verwandtschafts- oder Schwägerschaftsverhältnis zu diesem belgischen Staatsangehörigen oder diesem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats des EWR zum Zeitpunkt der Stellung des Niederlassungsantrags vorgelegt werden.

...“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

35.
    Mit Klageschrift vom 28. November 1997 beantragte das MRAX beim Conseil d'État die Nichtigerklärung des Runderlasses vom 28. August 1997.

36.
    Zur Begründung seiner Klage machte es geltend, dieser Runderlass, insbesondere Punkt 4, sei mit den Richtlinien der Gemeinschaft über Reisen und Aufenthalt innerhalb der Gemeinschaft unvereinbar.

37.
    Da der Conseil d'État der Ansicht ist, dass zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts erforderlich sei, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.    Sind Artikel 3 der Richtlinie 68/360 vom 15. Oktober 1968, Artikel 3 der Richtlinie 73/148 vom 21. Mai 1973 und die Verordnung Nr. 2317/95 vom 25. September 1995 im Licht der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Nichtdiskriminierung und des Rechts auf Achtung des Familienlebens so auszulegen, dass die Mitgliedstaaten an der Grenze visumpflichtige ausländische Ehegatten von Bürgern der Gemeinschaft zurückweisen können, die versuchen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, ohne über einen Ausweis oder ein Visum zu verfügen?

2.    Sind Artikel 4 der Richtlinie 68/360 und Artikel 6 der Richtlinie 73/148 in Verbindung mit den Artikeln 3 der erwähnten Richtlinien und den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, der Nichtdiskriminierung und des Rechts auf Achtung des Familienlebens so auszulegen, dass die Mitgliedstaaten dem illegal in ihr Hoheitsgebiet eingereisten Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers die Aufenthaltserlaubnis versagen und ihm gegenüber eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ergreifen können?

3.    Bedeuten die Artikel 3 und 4 Absatz 3 der Richtlinie 68/360, Artikel 3 der Richtlinie 73/148 und Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 64/221 vom 25. Februar 1964, dass die Mitgliedstaaten dem legal in das Inland eingereisten ausländischen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers, dessen Visum zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, diese Erlaubnis weder versagen noch ihn ausweisen dürfen?

4.    Sind die Artikel 1 und 9 Absatz 2 der Richtlinie 64/221 so auszulegen, dass die ausländischen Ehegatten von Gemeinschaftsbürgern, die keinen Ausweis oder kein Visum besitzen oder deren Ausweis oder Visum abgelaufen ist, die Möglichkeit haben, sich an die zuständige Stelle im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 zu wenden, wenn sie eine erste Aufenthaltserlaubnis beantragen oder vor deren Erteilung ausgewiesen werden?

Vorbemerkung

38.
    Der belgische Staat macht geltend, der nationale Gesetzgeber habe die Ehegatten belgischer Staatsangehöriger den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gleichgestellt, damit sie nicht schlechter behandelt würden als die Ehegatten oder Familienmitglieder eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats. Der Gerichtshof sei jedoch nicht für den Fall eines einem Drittstaat angehörenden Ehegatten eines belgischen Staatsangehörigen zuständig.

39.
    Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Gemeinschaftsregelung über die Freizügigkeit der Erwerbstätigen, den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassungsfreiheit nicht auf Situationen anwendbar ist, die keinerlei Anknüpfungspunkt zu irgendeiner der vom Gemeinschaftsrecht erfassten Situationen aufweisen. Folglich kann diese Regelung nicht auf die Situation von Personen angewandt werden, die von diesen Freiheiten nie Gebrauch gemacht haben (vgl. u. a. Urteile vom 16. Dezember 1992 in der Rechtssache C-206/91, Koua Poirrez, Slg. 1992, I-6685, Randnrn. 10 bis 12, und vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-60/00, Carpenter, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 28).

40.
    Im Licht dieser Erwägungen sind die Vorlagefragen zu beantworten, mit denen der Gerichtshof gebeten wird, sich zur Tragweite mehrerer Bestimmungen der Richtlinien 64/221, 68/360 und 73/148 sowie der Verordnung Nr. 2317/95 in Bezug auf die Staatsangehörigen von Drittstaaten, die mit Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet sind, zu äußern.

Zur ersten Frage

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

41.
    Das MRAX macht geltend, wenn ein Staatsangehöriger eines Drittstaats, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet sei, an der Grenze eines Mitgliedstaats zurückgewiesen werde, weil er nicht über ein von diesem Staat erteiltes Visum verfüge, so verstoße dies gegen Artikel 3 der Richtlinie 68/360, Artikel 3 der Richtlinie 73/148, die Verordnung Nr. 2317/95 und Artikel 8 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

42.
    Im Übrigen sollte bei den Staatsangehörigen von Drittstaaten, die mit Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten verheiratet seien, die Prüfung der Voraussetzungen für die Erteilung des Visums in Belgien und nicht in ihrem Herkunftsland vorgenommen werden.

43.
    Der belgische Staat trägt zum Erfordernis eines Ausweises vor, die Mitgliedstaaten hätten zu prüfen, ob sich die Staatsangehörigen von Drittstaaten, die in ihr Hoheitsgebiet einreisen wollten oder schon eingereist seien und ein Aufenthaltsrecht geltend machten, auf das Gemeinschaftsrecht berufen könnten. Die Pflicht, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einen gültigen Reisepass vorzulegen, sei gerechtfertigt, weil der Staatsangehörige eines Drittstaats seine Identität und seine familiären Beziehungen zu einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats nachweisen müsse.

44.
    Zum Erfordernis eines Visums führt er aus, die Pflicht zur Beantragung eines Visums vor der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gebe den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, zu prüfen, ob der Staatsangehörige eines Drittstaats, der als Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats in ihr Hoheitsgebiet einreisen wolle, die erforderlichen Voraussetzungen erfülle und ob er nicht zu den Personengruppen gehöre, denen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gemäß der Richtlinie 64/221 die Einreise verweigert werden könne. Artikel 3 der Richtlinie 68/360 und Artikel 3 der Richtlinie 73/148, die den Mitgliedstaaten gestatteten, von den Staatsangehörigen eines Drittstaats, die Familienmitglieder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats seien, ein Visum zu verlangen, seien deshalb dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten bei Fehlen eines Visums berechtigt seien, diese Personen an ihren Grenzen zurückzuweisen. Eine gegenteilige Auslegung würde diesen Bestimmungen jede praktische Wirksamkeit nehmen.

45.
    Viele Faktoren, die den Staatsangehörigen eines Drittstaats beträfen, könnten nur von den belgischen Vertretungen im Herkunftsland dieser Person geklärt werden. Daher sei es angebracht, das Visum im Drittstaat und nicht an der belgischen Grenze zu erteilen.

46.
    Die österreichische Regierung vertritt die Auffassung, die Visumpflicht der Staatsangehörigen von Drittstaaten, die mit Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten verheiratet seien, stelle keine Diskriminierung dar, da sowohl das belgische Recht als auch das Gemeinschaftsrecht eine solche Pflicht vorsähen.

47.
    Würde man dagegen den Staatsangehörigen von Drittstaaten, die der Visumpflicht nicht nachgekommen seien, die Einreise in das belgische Hoheitsgebiet gestatten, so würde der Gleichheitsgrundsatz zum Nachteil derjenigen Staatsangehörigen von Drittstaaten verletzt, die dieser Pflicht nachgekommen seien. Im Licht der Grundsätze der Freizügigkeit und der Verhältnismäßigkeit könne jedoch ein Mitgliedstaat in besonderen Fällen Ausnahmen von der allgemeinen Visumpflicht zulassen, wie dies u. a. in Artikel 4 der Verordnung Nr. 574/1999 vorgesehen sei.

48.
    Die Kommission weist auf die besondere Situation des Staatsangehörigen eines Drittstaats, der Familienmitglied eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats ist, im Verhältnis zu den übrigen Staatsangehörigen von Drittstaaten hin, die an der Außengrenze der Gemeinschaft ankämen. Er sei nämlich nach dem Gemeinschaftsrecht berechtigt, sich mit dem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats in der Gemeinschaft niederzulassen.

49.
    Die Einreise in einen Mitgliedstaat könne dem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verweigert werden, wenn er nicht in der Lage sei, seine Staatsangehörigkeit zu belegen. Die gleichen Erwägungen müssten daher für den Staatsangehörigen eines Drittstaats gelten, der nicht in der Lage sei, seine Zugehörigkeit zur Familie eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats nachzuweisen.

50.
    Könne der Staatsangehörige eines Drittstaats dagegen diese familiäre Beziehung und damit die ihm durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nachweisen, so dürfe das Fehlen eines Visums diese Rechte nicht beeinträchtigen und könne keinesfalls eine Zurückweisung an der Grenze rechtfertigen. Eine solche Maßnahme würde nämlich die Negation dieser Rechte darstellen und erschiene daher unverhältnismäßig.

51.
    Für eine Person, die eine familiäre Beziehung zu einem Wanderarbeitnehmer der Gemeinschaft nachweise, habe das Visum nur formalen Charakter und sei von dem Mitgliedstaat, über den diese Person in die Gemeinschaft einreise, sozusagen automatisch zu erteilen. Das Recht des Betroffenen auf Einreise in die Gemeinschaft beruhe keineswegs auf dem Visum, sondern ergebe sich nach dem Gemeinschaftsrecht allein aus der familiären Beziehung.

52.
    Die Erteilung der Visa durch die Konsulate eines Mitgliedstaats in den Herkunftsländern der Staatsangehörigen von Drittstaaten sei nur eine organisatorische Maßnahme, die die Ausübung der sich aus der Gemeinschaftsrechtsordnung ergebenden Rechte nicht behindern könne.

Antwort des Gerichtshofes

53.
    Zunächst ist daran zu erinnern, dass, wie insbesondere aus den Verordnungen und Richtlinien des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Selbständigen innerhalb der Gemeinschaft hervorgeht, der Gemeinschaftsgesetzgeber anerkannt hat, welche Bedeutung der Gewährleistung des Schutzes des Familienlebens der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten für die Beseitigung der Hindernisse bei der Ausübung der vom Vertrag garantierten Grundfreiheiten zukommt (Urteil Carpenter, Randnr. 38).

54.
    So dehnen Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68, Artikel 1 der Richtlinie 68/360 und Artikel 1 der Richtlinie 73/148 mit den gleichen Worten die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Einreise und des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auf die Ehegatten der unter diese Bestimmungen fallenden Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten aus (Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 48/75, Royer, Slg. 1976, 497, Randnr. 13).

55.
    Außerdem gestatten die Mitgliedstaaten nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 68/360 und Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 73/148, die den gleichen Wortlaut haben, ihren Staatsangehörigen und deren Familienmitgliedern, die unter diese Richtlinien fallen, bei einfacher Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses die Einreise in ihr Hoheitsgebiet.

56.
    Nach Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 68/360 und Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 73/148 können die Mitgliedstaaten jedoch, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats innerhalb der Gemeinschaft zur Ausübung der ihm durch den Vertrag und diese Richtlinien verliehenen Rechte zu- oder abwandert, für seine Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, einen Einreisesichtvermerk verlangen oder ein gleichwertiges Erfordernis aufstellen. Die Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen, wurde in der Verordnung Nr. 2317/95 festgelegt, die durch die Verordnung Nr. 574/1999 ersetzt wurde, an deren Stelle dann die Verordnung Nr. 539/2001 getreten ist.

57.
    Da in der Gemeinschaftsregelung nicht die Maßnahmen im Einzelnen aufgeführt sind, die ein Mitgliedstaat für den Fall treffen kann, dass ein Staatsangehöriger eines Drittstaats, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, in das Gebiet der Gemeinschaft einreisen möchte, ohne im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses oder gegebenenfalls eines Visums zu sein, erscheint die Zurückweisung an der Grenze nicht ausgeschlossen (in diesem Sinne zu Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 68/360 und Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 73/148 u. a. Urteil vom 30. Mai 1991 in der Rechtssache C-68/89, Kommission/Niederlande, Slg. 1991, I-2637, Randnr. 11).

58.
    Zum einen kann der Betroffene nämlich grundsätzlich ohne gültigen Personalausweis oder Reisepass, die es ihrem Inhaber ermöglichen sollen, Beweis für seine Identität und seine Staatsangehörigkeit zu erbringen (in diesem Sinne u. a. Urteil vom 5. März 1991 in der Rechtssache C-376/89, Giagounidis, Slg. 1991, I-1069, Randnrn. 14 und 15), seine Identität und damit seine Familienzugehörigkeit nicht ordnungsgemäß nachweisen.

59.
    Zum anderen ergibt sich zwar, wie die Kommission zutreffend ausführt, das Recht des mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats auf Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht allein aus der familiären Beziehung; doch kann die Ausübung dieses Rechts schon nach dem Wortlaut von Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 68/360 und Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 73/148 vom Besitz eines Visums abhängig gemacht werden. Artikel 5 der Verordnung Nr. 2317/95 definiert im Übrigen ein Visum als eine von einem Mitgliedstaat ausgestellte Genehmigung oder eine von einem Mitgliedstaat getroffene Entscheidung, die „für die Einreise“ in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats erforderlich ist.

60.
    In Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 68/360 und Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 73/148 heißt es allerdings, dass die „Mitgliedstaaten ... den genannten Personen zur Erlangung der erforderlichen Sichtvermerke alle Erleichterungen [gewähren]“. Dies bedeutet, dass das Visum unverzüglich und nach Möglichkeit an den Einreisestellen in das nationale Hoheitsgebiet zu erteilen ist, soll nicht die volle Wirksamkeit der genannten Bestimmungen der Richtlinien 68/360 und 73/148 beeinträchtigt werden.

61.
    In Anbetracht der Bedeutung, die der Gemeinschaftsgesetzgeber dem Schutz des Familienlebens beigemessen hat (vgl. Randnr. 53 des vorliegenden Urteils), ist die Zurückweisung jedenfalls dann unverhältnismäßig und damit untersagt, wenn der Staatsangehörige eines Drittstaats, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, seine Identität und die Ehe nachweisen kann und wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Artikel 10 der Richtlinie 68/360 und Artikel 8 der Richtlinie 73/148 darstellt.

62.
    Auf die erste Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass Artikel 3 der Richtlinie 68/360, Artikel 3 der Richtlinie 73/148 und die Verordnung Nr. 2317/95 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat einen mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats, der versucht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen, ohne über einen gültigen Personalausweis oder Reisepass oder gegebenenfalls ein Visum zu verfügen, nicht an der Grenze zurückweisen darf, wenn der Betroffene seine Identität und die Ehe nachweisen kann und wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Artikel 10 der Richtlinie 68/360 und Artikel 8 der Richtlinie 73/148 darstellt.

Zur zweiten Frage

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

63.
    Das MRAX stellt fest, dass der Staatsangehörige eines Drittstaats, der während eines illegalen Aufenthalts in Belgien geheiratet habe, zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis zwangsläufig in sein Herkunftsland zurückkehren müsse, um sich ein Visum zu beschaffen. Der belgische Staat sei allerdings gelegentlich bereit, durch eine Ermessensentscheidung den Aufenthalt der Ehegatten von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu legalisieren.

64.
    Die Verwaltungspraxis des belgischen Staates biete den Ehegatten von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten somit keinerlei Rechtssicherheit und könne als diskriminierend empfunden werden.

65.
    Der Gerichtshof habe sich nie zu der Sanktion geäußert, die gegen einen Staatsangehörigen eines Drittstaats zu verhängen sei, der illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist sei; er habe jedoch entschieden, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der nicht im Besitz des für den Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats erforderlichen Dokuments (Reisepass) sei, nicht ausgewiesen werden dürfe, aber zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt werden könne (vgl. Urteil vom 14. Juli 1977 in der Rechtssache 8/77, Sagulo u. a., Slg. 1977, 1495). Das MRAX frage sich, ob die Maßnahmen, die gegenüber einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats ergriffen werden könnten, nicht auch auf den Fall des Ehegatten eines solchen Staatsangehörigen übertragen werden müssten und ob Verstöße bei der Einreise und beim Aufenthalt in das und im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nicht mit einer Ordnungs- oder Geldstrafe geahndet werden könnten, was den Grundsätzen der Freizügigkeit und des Rechts auf Achtung des Privatlebens besser gerecht würde.

66.
    Der belgische Staat macht geltend, Artikel 4 der Richtlinie 68/360 und Artikel 6 der Richtlinie 73/148 seien dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatteten, dem mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats, der illegal in ihr Hoheitsgebiet eingereist sei, eine Aufenthaltserlaubnis zu verweigern und ihm gegenüber eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu ergreifen. Eine andere Auslegung würde den Bestimmungen des Artikels 3 der Richtlinie 68/360 und des Artikels 3 der Richtlinie 73/148 ihren Sinn nehmen und sie jeder praktischen Wirksamkeit berauben.

67.
    In einem Fall wie dem in der zweiten Vorlagefrage erwähnten könne eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet in Anbetracht der widerstreitenden Interessen, nämlich der Erfordernisse der öffentlichen Ordnung einerseits und derjenigen der Achtung des Privat- und Familienlebens andererseits, nicht als unverhältnismäßig angesehen werden. Die Beeinträchtigung des Familienlebens sei äußerst begrenzt, wenn der Staatsangehörige des Drittstaats zurückgewiesen oder zum Verlassen des Hoheitsgebiets aufgefordert werde, denn die Trennung der Ehegatten sei nur von kurzer Dauer, wenn die betreffende Person nachweisen könne, dass sie Anspruch auf Anwendung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts habe, da es in diesem Fall möglich sein dürfte, ihr unverzüglich ein Visum zu erteilen.

68.
    Die österreichische Regierung trägt vor, wenn das Primär- und das Sekundärrecht selbst für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten vorsähen, dass ihr Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beendet werden könne, falls die Voraussetzungen für eine Verlängerung des Aufenthalts nicht oder nicht mehr gegeben seien, müsse ein Mitgliedstaat erst recht einen Staatsangehörigen eines Drittstaats, der Familienmitglied eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats sei, ausweisen können (vgl. Artikel 10 der Richtlinie 68/360 und Artikel 8 der Richtlinie 73/148).

69.
    Die Kommission führt aus, wenn der Staatsangehörige eines Drittstaats, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet sei, zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 68/360 den Beweis für diese familiäre Beziehung erbringe, dürfe ihm eine Aufenthaltserlaubnis nicht allein deshalb verweigert werden, weil er illegal in den betreffenden Mitgliedstaat eingereist sei.

70.
    Insoweit habe der Gerichtshof im Urteil Royer für Recht erkannt, dass die bloße Tatsache, dass der Staatsangehörige eines Mitgliedstaats die für Einreise, Ortswechsel und Aufenthalt von Ausländern geltenden Formalitäten nicht erfüllt habe, als solche kein die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdendes Verhalten darstellen und daher für sich allein weder eine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet noch eine mit diesem Ziel angeordnete vorläufige Freiheitsentziehung rechtfertigen könne. Einer analogen Anwendung dieser Rechtsprechung auf den Staatsangehörigen eines Drittstaats, der aufgrund seiner familiären Beziehung zu einem Wanderarbeitnehmer der Gemeinschaft unter das Gemeinschaftsrecht falle, stehe nichts entgegen.

71.
    Nach der Richtlinie 64/221 könne die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis oder die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet nur auf Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gestützt werden, wobei ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend sei. Die illegale Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats könne aber nicht systematisch eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung darstellen, die das Aufenthaltsrecht selbst in Frage stelle.

72.
    Die Kommission fügt hinzu, dass der Gerichtshof im Urteil vom 7. Juli 1976 in der Rechtssache 118/75 (Watson und Belmann, Slg. 1976, 1185) seinen Standpunkt zu den Sanktionen deutlich gemacht habe, die die Mitgliedstaaten im Fall des Verstoßes gegen bestimmte in der Gemeinschaftsregelung vorgesehene Formalitäten verhängen könnten. Nach dieser Rechtsprechung könnten die Mitgliedstaaten im Fall einer illegalen Einreise in ihr Hoheitsgebiet verhältnismäßige Sanktionen wie eine Geldbuße verhängen (Urteil Sagulo u. a., Randnr. 6). Die Anwendung solcher Sanktionen dürfe sich jedoch nicht auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis auswirken.

Antwort des Gerichtshofes

73.
    Die zweite Frage ist dahin zu verstehen, dass sie den Fall eines illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereisten Staatsangehörigen eines Drittstaats betrifft, der seine Identität und die Tatsache, dass er mit einem unter die Bestimmungen der Richtlinien 68/360 und 73/148 fallenden Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, nachweisen kann.

74.
    Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats ist, wie der Gerichtshof mehrfach ausgeführt hat (vgl. u. a. Urteil vom 5. Februar 1991 in der Rechtssache C-363/89, Roux, Slg. 1991, I-273, Randnr. 12), nicht als rechtsbegründende Handlung zu betrachten, sondern als Handlung eines Mitgliedstaats, die dazu dient, die individuelle Situation eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts festzustellen. Das Gleiche muss für den mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats gelten, dessen Aufenthaltsrecht sich unmittelbar aus Artikel 4 der Richtlinie 68/360 und Artikel 4 der Richtlinie 73/148 ergibt, unabhängig davon, ob die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats eine Aufenthaltserlaubnis erteilt.

75.
    Die praktischen Modalitäten für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sind in Bezug auf Arbeitnehmer und deren Familienangehörige in der Richtlinie 68/360 und in Bezug auf Selbständige und deren Familienangehörige in der Richtlinie 73/148 geregelt.

76.
    Insoweit ergibt sich aus Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 68/360 und Artikel 6 der Richtlinie 73/148, dass die Mitgliedstaaten die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis von der Vorlage des Ausweises abhängig machen können, mit dem der Betroffene in ihr Hoheitsgebiet eingereist ist (vgl. Urteil Roux, Randnrn. 14 und 15).

77.
    Im Übrigen hindert das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran, die Verletzung nationaler Vorschriften zur Überwachung von Ausländern mit allen geeigneten Sanktionen zu belegen, die zur Gewährleistung der Wirksamkeit dieser Vorschriften erforderlich sein können (Urteil Royer, Randnr. 42), sofern diese Sanktionen verhältnismäßig sind (vgl. u. a. Urteil vom 3. Juli 1980 in der Rechtssache 157/79, Pieck, Slg. 1980, 2171, Randnr. 19).

78.
    Dagegen würden eine Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis und erst recht eine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet, die ausschließlich darauf gestützt wären, dass der Betroffene gesetzliche Formalitäten in Bezug auf die Ausländerüberwachung nicht erfüllt hat, den Kern des unmittelbar durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Aufenthaltsrechts antasten und stünden offensichtlich außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung (vgl. analog dazu u. a. Urteil Royer, Randnr. 40).

79.
    Artikel 10 der Richtlinie 68/360 und Artikel 8 der Richtlinie 73/148 schließen es zwar nicht aus, dass ein Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit von diesen Richtlinien abweicht, während nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein darf. Die Tatsache, dass die für Einreise, Ortswechsel und Aufenthalt von Ausländern geltenden gesetzlichen Formalitäten nicht erfüllt sind, kann jedoch als solche nicht zur Anwendung der in Artikel 3 der Richtlinie 64/221 erwähnten Maßnahmen führen (Urteil Royer, Randnrn. 47 und 48).

80.
    Auf die zweite Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass Artikel 4 der Richtlinie 68/360 und Artikel 6 der Richtlinie 73/148 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, dem Staatsangehörigen eines Drittstaats, der seine Identität und die Tatsache, dass er mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, nachweisen kann, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verweigern und ihm gegenüber eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu ergreifen, nur weil er illegal in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist ist.

Zur dritten Frage

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

81.
    Das MRAX macht geltend, Artikel 4 der Richtlinie 68/360 verlange nicht, dass der Ausweis, mit dem die Familienangehörigen des Arbeitnehmers der Gemeinschaft legal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist seien, immer noch gültig sei, wenn sie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragten. Punkt 4 des Runderlasses vom 28. August 1997, wonach der Antrag des Ehegatten eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats auf Aufenthaltserlaubnis unzulässig sei, wenn er nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Ausweises gestellt werde, verstoße daher gegen das Gemeinschaftsrecht.

82.
    Der belgische Staat trägt vor, nach Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 64/221 rechtfertige die Tatsache, dass der Personalausweis oder Reisepass, der die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ermöglicht habe, ungültig werde, keine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet. Im Umkehrschluss sei der Mitgliedstaat, wenn der Ausweis vor der Stellung des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis ungültig werde, berechtigt, diesen Antrag abzulehnen und den mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats aus dem Hoheitsgebiet zu entfernen. Der Ausweis im Sinne von Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 68/360, mit dem der Ehegatte in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist sei, könne daher nur der mit einem noch gültigen Visum versehene Reisepass sein.

83.
    Die österreichische Regierung ist der Auffassung, dass der Ablauf des Visums im Mitgliedstaat die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertige.

84.
    Nach Ansicht der Kommission ist die dritte Vorlagefrage zu bejahen. Wenn der Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats diese familiäre Beziehung nachweise, seien die Richtlinien 68/360 und 73/148 anwendbar, und die Mitgliedstaaten müssten ihm eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, wie sich aus dem Urteil Royer ergebe. Folglich rechtfertige der Ablauf des Visums nach der Einreise in das Hoheitsgebiet grundsätzlich nicht eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis. Das Fehlen dieses formalen Elements könne die Gültigkeit des Reisepasses zum Zweck der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht in Frage stellen. Dies werde durch Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 64/221 bestätigt, der den Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers belege, dem Gegenstand des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis Vorrang vor seinen rein formalen Aspekten einzuräumen.

85.
    Überdies könne der Umstand, dass vor Ablauf des Visums kein Antrag auf Aufenthaltserlaubnis gestellt worden sei, nicht für sich allein ein persönliches Verhalten darstellen, das geeignet sei, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu bedrohen, und das als solches die Versagung der Aufenthaltserlaubnis oder gar eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet rechtfertige.

Antwort des Gerichtshofes

86.
    Verbleibt ein Staatsangehöriger eines Drittstaats nach Ablauf seines Visums im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, so stellt dies einen Verstoß gegen die Vorschriften dieses Staates über den Aufenthalt von Ausländern dar.

87.
    Nach Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 64/221, auf den im Verfahren vor dem Gerichtshof Bezug genommen worden ist, rechtfertigt es keine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet, wenn der Personalausweis oder Reisepass, der dem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats oder seinen Familienangehörigen die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat und die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ermöglicht hat, ungültig wird.

88.
    Die dritte Vorlagefrage betrifft jedoch den Fall des visumpflichtigen Ehegatten eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der legal eingereist ist, aber vor Ablauf seines Visums keine Aufenthaltserlaubnis beantragt hat.

89.
    Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 68/360 und Artikel 6 der Richtlinie 73/148 gestatten es zwar den Mitgliedstaaten, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Vorlage des Ausweises zu knüpfen, mit dem der Betroffene in ihr Hoheitsgebiet eingereist ist; sie sehen aber nicht vor, dass dieser Ausweis noch gültig sein muss. Im Fall eines visumpflichtigen Staatsangehörigen eines Drittstaats kann die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis somit nicht von der Voraussetzung abhängig gemacht werden, dass sein Visum noch gültig ist. Dies gilt umso mehr, als - wie der Gerichtshof in den Randnummern 22 und 23 des Urteils Giagounidis entschieden hat - die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, das Aufenthaltsrecht in ihrem Hoheitsgebiet den in Artikel 1 der Richtlinie 68/360 genannten Arbeitnehmern zuzuerkennen, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass vorlegen können, unabhängig davon, mit welchem Ausweis sie in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist sind.

90.
    Folglich darf ein Mitgliedstaat die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß den Richtlinien 68/360 und 73/148 nicht von der Vorlage eines gültigen Visums abhängig machen. Zudem würde, wie sich aus Randnummer 78 des vorliegenden Urteils ergibt, eine allein mit dem Ablauf des Visums begründete Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet eine Sanktion darstellen, die offensichtlich außer Verhältnis zur Schwere des Verstoßes gegen die nationalen Vorschriften über die Ausländerüberwachung stünde.

91.
    Auf die dritte Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass die Artikel 3 und 4 Absatz 3 der Richtlinie 68/360, die Artikel 3 und 6 der Richtlinie 73/148 und Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 64/221 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat einem mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats, der legal in sein Hoheitsgebiet eingereist ist, weder die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verweigern noch ihm gegenüber eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ergreifen darf, nur weil sein Visum vor Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist.

Zur vierten Frage

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

92.
    Das MRAX macht geltend, die Artikel 8 und 9 der Richtlinie 64/221 seien durch die Artikel 44 und 64 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 in belgisches Recht umgesetzt worden. Nach der gegenwärtigen Verwaltungspraxis des belgischen Staates könnten jedoch die mit Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten verheirateten Staatsangehörigen von Drittstaaten, die über kein Visum verfügten oder deren Visum abgelaufen sei, keinen Antrag auf Überprüfung nach den Artikeln 44 und 64 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 stellen, wenn ihnen gegenüber eine Entscheidung über die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet getroffen werde. Sie könnten nur Klage auf Aussetzung und Nichtigerklärung dieser Entscheidungen beim Conseil d'État erheben, der lediglich die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung, nicht aber deren Zweckmäßigkeit angesichts des Sachverhalts und der Umstände des konkreten Falles prüfen könne. Die belgische Verwaltungspraxis entspreche daher nicht den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts.

93.
    Der belgische Staat ist der Auffassung, die Artikel 8 und 9 der Richtlinie 64/221, nach denen der Staatsangehörige eines Drittstaats die Möglichkeit haben müsse, die zuständige Stelle des Mitgliedstaats im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 anzurufen, wenn er die Erteilung einer ersten Aufenthaltserlaubnis beantrage oder vor deren Erteilung aus dem Hoheitsgebiet entfernt werden solle, seien nicht anwendbar, wenn der Betroffene nicht legal in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist sei.

94.
    Nach Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 64/221 sei deren Anwendungsbereich auf Familienmitglieder des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats beschränkt, die die Bedingungen der auf diesem Gebiet erlassenen Verordnungen und Richtlinien erfüllten. Der Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der nicht über einen Ausweis oder ein Visum verfüge oder dessen Visum abgelaufen sei, erfülle aber nicht die Bedingungen der Artikel 3 und 4 der Richtlinie 68/360 und der Verordnung Nr. 2317/95.

95.
    Die österreichische Regierung trägt vor, eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet könne außer im Fall absoluter Dringlichkeit nicht gegenüber einer durch das Gemeinschaftsrecht geschützten Person vollzogen werden, bevor diese nicht die ihr durch die Artikel 8 und 9 der Richtlinie 64/221 garantierten Rechtsbehelfsverfahren habe ausschöpfen können (Urteile Royer und vom 22. Mai 1980 in der Rechtssache 131/79, Santillo, Slg. 1980, 1585).

96.
    Wenn jedoch die belgische Rechtsordnung die Einreise und den Aufenthalt der Staatsangehörigen von Drittstaaten, die Familienmitglieder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats seien, von der Vorlage eines gültigen Reisepasses oder Personalausweises sowie von einem Visum abhängig mache, so sei es legitim, dem illegal in das belgische Hoheitsgebiet eingereisten Familienmitglied nicht das Recht zuzuerkennen, sich an die zuständige Stelle im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 zu wenden.

97.
    Dagegen müsse nach Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 64/221 das Familienmitglied das in Artikel 9 dieser Richtlinie vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren in Anspruch nehmen können, wenn es zwar legal in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist sei, der Personalausweis oder Reisepass, der die Einreise und die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ermöglicht habe, aber abgelaufen sei. In einem solchen Fall sei die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet nämlich nicht gerechtfertigt.

98.
    Die Kommission trägt vor, Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 64/221 finde auf Staatsangehörige von Drittstaaten Anwendung, die Familienmitglieder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats seien, auch wenn sie nicht über ein Visum verfügten oder dieses abgelaufen sei. Sei die familiäre Beziehung erwiesen, so stehe außer Zweifel, dass ihnen die in Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Rechtsbehelfe zustünden.

99.
    Falls indessen kein Personalausweis oder Reisepass vorhanden sei, müsse die gleiche Antwort wie auf die erste Frage gegeben werden. Denn der Status als Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats müsse erwiesen sein, damit der Schutz des Gemeinschaftsrechts eingreife.

Antwort des Gerichtshofes

100.
    Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie 64/221 soll denjenigen Personen eine verfahrensrechtliche Mindestgarantie verschaffen, denen in einem der drei in Absatz 1 dieses Artikels genannten Fälle eine erste Aufenthaltserlaubnis verweigert wurde oder denen gegenüber vor der Erteilung einer solchen Erlaubnis eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet getroffen wurde. Falls die Rechtsbehelfe gegen die Verwaltungsakte nur die Rechtmäßigkeit der Entscheidung betreffen, soll die Beteiligung der zuständigen Stelle es ermöglichen, eine Überprüfung der Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte, die die beabsichtigte Maßnahme rechtfertigen, herbeizuführen, bevor die Entscheidung endgültig erlassen wird (in diesem Sinne Urteil vom 17. Juni 1997 in den Rechtssachen C-65/95 und C-111/95, Shingara und Radiom, Slg. 1997, I-3343, Randnrn. 34 und 37).

101.
    Die Bestimmungen des Artikels 9 der Richtlinie 64/221, die diejenigen über das Rechtsbehelfssystem in Artikel 8 der Richtlinie ergänzen und die die Unzulänglichkeiten dieser Rechtsbehelfe ausgleichen sollen (vgl. u. a. Urteil vom 5. März 1980 in der Rechtssache 98/79, Pecastaing, Slg. 1980, 691, Randnrn. 15 und 20), sind hinsichtlich ihres persönlichen Anwendungsbereichs weit auszulegen. Denn im Bereich des Gemeinschaftsrechts stellt das Erfordernis einer gerichtlichen Kontrolle jeder Entscheidung einer nationalen Behörde einen allgemeinen Grundsatz dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und der in den Artikeln 6 und 13 EMRK verankert ist (Urteile vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86, Heylens u. a., Slg. 1987, 4097, Randnr. 14, vom 3. Dezember 1992 in der Rechtssache C-97/91, Oleificio Borelli/Kommission, Slg. 1992, I-6313, Randnr. 14, und vom 11. Januar 2001 in der Rechtssache C-226/99, Siples, Slg. 2001, I-277, Randnr. 17).

102.
    Entgegen der vom belgischen Staat vertretenen Auffassung genießt daher jeder ausländische Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der geltend macht, dass er die erforderlichen Eigenschaften besitzt, um unter den durch die Richtlinie 64/221 gewährten Schutz zu fallen, die in Artikel 9 dieser Richtlinie vorgesehenen verfahrensrechtlichen Mindestgarantien, auch wenn er nicht über einen Ausweis verfügt oder, obwohl er der Visumpflicht unterliegt, ohne Visum in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist oder nach Ablauf seines Visums dort verblieben ist.

103.
    Würde im Übrigen das Recht auf Inanspruchnahme der genannten Verfahrensgarantien ausgeschlossen, falls kein Ausweis oder Visum vorliegt oder eines dieser Dokumente abgelaufen ist, so würden diese Garantien ihre praktische Wirksamkeit im Wesentlichen verlieren.

104.
    Auf die vierte Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass die Artikel 1 Absatz 2 und 9 Absatz 2 der Richtlinie 64/221 dahin auszulegen sind, dass ein ausländischer Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats berechtigt ist, der zuständigen Stelle im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 eine Entscheidung über die Verweigerung einer ersten Aufenthaltserlaubnis oder eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet vor Erteilung einer solchen Erlaubnis zur Prüfung vorzulegen, auch wenn er nicht über einen Ausweis verfügt oder, obwohl er der Visumpflicht unterliegt, ohne Visum in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist oder nach Ablauf seines Visums dort verblieben ist.

Kosten

105.
    Die Auslagen der österreichischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Conseil d'État mit Urteil vom 23. November 1999 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1.    Artikel 3 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, Artikel 3 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs sowie die Verordnung (EG) Nr. 2317/95 des Rates vom 25. September 1995 zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen, sind im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat einen mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats, der versucht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen, ohne über einen gültigen Personalausweis oder Reisepass oder gegebenenfalls ein Visum zu verfügen, nicht an der Grenze zurückweisen darf, wenn der Betroffene seine Identität und die Ehe nachweisen kann und wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Artikel 10 der Richtlinie 68/360 und Artikel 8 der Richtlinie 73/148 darstellt.

2.    Artikel 4 der Richtlinie 68/360 und Artikel 6 der Richtlinie 73/148 sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, dem Staatsangehörigen eines Drittstaats, der seine Identität und die Tatsache, dass er mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, nachweisen kann, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verweigern und ihm gegenüber eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu ergreifen, nur weil er illegal in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist ist.

3.    Die Artikel 3 und 4 Absatz 3 der Richtlinie 68/360, die Artikel 3 und 6 der Richtlinie 73/148 und Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, sind dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat einem mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats, der legal in sein Hoheitsgebiet eingereist ist, weder die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verweigern noch ihm gegenüber eine Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ergreifen darf, nur weil sein Visum vor Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist.

4.    Die Artikel 1 Absatz 2 und 9 Absatz 2 der Richtlinie 64/221 sind dahin auszulegen, dass ein ausländischer Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats berechtigt ist, der zuständigen Stelle im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 eine Entscheidung über die Verweigerung einer ersten Aufenthaltserlaubnis oder eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet vor Erteilung einer solchen Erlaubnis zur Prüfung vorzulegen, auch wenn er nicht über einen Ausweis verfügt oder, obwohl er der Visumpflicht unterliegt, ohne Visum in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist oder nach Ablauf seines Visums dort verblieben ist.

Rodríguez Iglesias
Colneric
von Bahr

Gulmann

Edward
Puissochet

Wathelet

Schintgen
Cunha Rodrigues

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. Juli 2002.

Der Kanzler

Der Präsident

R. Grass

G. C. Rodríguez Iglesias


1: Verfahrenssprache: Französisch.