Language of document : ECLI:EU:C:2021:221

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE

vom 18. März 2021(1)

Rechtssache C8/20

L. R.

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinie 2013/32/EU – Antrag auf internationalen Schutz – Art. 33 Abs. 2 Buchst. d – Unzulässigkeit im Fall einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag – Bestandskräftige Entscheidung Norwegens – Art. 2 Buchst. q – Begriff ‚Folgeantrag‘ – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 19 Abs. 3 – Antrag auf internationalen Schutz, der nach vollzogener Abschiebung des Antragstellers in sein Herkunftsland gestellt wird“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betreffend einen Antrag auf internationalen Schutz bezieht sich auf die Auslegung des Unzulässigkeitsgrundes in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32(2). Dieser Grund betrifft „Folgeanträge“(3), bei denen keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines solchen Schutzes erfüllt, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

2.        Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem iranischen Staatsangehörigen, L. R. und der Bundesrepublik Deutschland über die Rechtmäßigkeit eines Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge – Außenstelle Boostedt (Deutschland) (im Folgenden: Amt), mit dem der Antrag des Betroffenen auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt worden ist. Dieser Bescheid beruhte auf der Tatsache, dass L. R. mehrere Jahre zuvor beim Königreich Norwegen einen Erstantrag gestellt hatte, der Gegenstand einer abschließenden negativen Entscheidung gewesen war.

3.        So wie sie formuliert ist, soll mit der Frage des vorlegenden Gerichts Klarheit über die Teilnahme des Königreichs Norwegen am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem herbeigeführt werden, um im Wesentlichen zu erfahren, ob eine abschließende negative Entscheidung dieses Drittstaats über einen Antrag auf internationalen Schutz als von einem „Mitgliedstaat“ erlassen gelten und es dem Amt ermöglichen kann, einen „Folgeantrag“ desselben Antragstellers im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären.

4.        Bevor ich auf diese Frage antworten kann, ist meiner Ansicht nach jedoch zu klären, ob die Tatsache, dass der Antragsteller zwischen Erst- und Zweitantrag in sein Herkunftsland zurückgekehrt ist, im Kontext der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung als solche einer Einstufung des Zweitantrags als „Folgeantrag“ entgegensteht.

5.        Am Ende meiner Ausführungen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Antrag wie ein Neuantrag behandelt werden muss, da das Königreich Norwegen L. R. nach Prüfung seines Erstantrags in sein Herkunftsland abgeschoben hat. Hilfsweise – für den Fall, dass der Gerichtshof diesem Vorschlag nicht folgt – werde ich darlegen, weshalb ich der Auffassung bin, dass der Umstand, dass die Entscheidung von einem anderen Mitgliedstaat oder – wie hier – vom Königreich Norwegen erlassen worden ist, einen Mitgliedstaat, in dem ein Antrag gestellt wird, nicht daran hindert, diesen Antrag als „Folgeantrag“ für unzulässig zu erklären.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen

6.        Das Übereinkommen zwischen der Europäischen [Union] und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in Island oder Norwegen gestellten Asylantrags (ABl. 2001, L 93, S. 40, im Folgenden: Übereinkommen zwischen der Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen) ist durch den Beschluss 2001/258/EG(4) im Namen der Europäischen Union genehmigt worden.

7.        In Art. 1 dieses Übereinkommens heißt es:

„(1)      Die Bestimmungen des Dubliner Übereinkommens, auf die in Teil 1 des Anhangs zu dem vorliegenden Übereinkommen verwiesen wird, sowie die Bestimmungen der in Teil 2 desselben Anhangs genannten Beschlüsse des mit Artikel 18 des Dubliner Übereinkommens eingesetzten Ausschusses werden von Island und Norwegen umgesetzt und im Rahmen ihrer gegenseitigen Beziehungen sowie ihrer Beziehungen zu den Mitgliedstaaten nach Maßgabe von Absatz 4 angewandt.

(2)      Die Mitgliedstaaten wenden die in Absatz 1 genannten Bestimmungen nach Maßgabe von Absatz 4 in ihren Beziehungen mit Island und Norwegen an.

(4)      Für die Zwecke der Absätze 1 und 2 schließen in den im Anhang genannten Bestimmungen Bezugnahmen auf die ‚Mitgliedstaaten‘ auch Island und Norwegen ein.

…“

8.        Weder die Richtlinie 2011/95(5) noch die Richtlinie 2013/32 werden im Anhang des erwähnten Übereinkommens genannt.

B.      Unionsrecht

1.      DublinIII-Verordnung

9.        Art. 18 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor:

„Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet:

d)      einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen.“

10.      Art. 19 Abs. 3 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Pflichten nach Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben c und d erlöschen, wenn der zuständige Mitgliedstaat nachweisen kann, dass der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d, um dessen/deren Wiederaufnahme er ersucht wurde, nach Rücknahme oder Ablehnung des Antrags das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines Rückführungsbeschlusses oder einer Abschiebungsanordnung verlassen hat.

Ein nach einer vollzogenen Abschiebung gestellter Antrag gilt als neuer Antrag, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auslöst.“

2.      Richtlinie 2013/32

11.      Der 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes soll dazu beitragen, die Sekundärmigration von Antragstellern zwischen Mitgliedstaaten, soweit sie auf rechtliche Unterschiede zurückzuführen ist, einzudämmen, und gleiche Bedingungen für die Anwendung der Richtlinie 2011/95… in den Mitgliedstaaten zu schaffen.“

12.      Der 36. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestimmt:

„Stellt der Antragsteller einen Folgeantrag, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen, so wäre es unverhältnismäßig, die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können.“

13.      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der genannten Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

q)      ‚Folgeantrag‘ einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 abgelehnt hat.“

14.      In Art. 33 („Unzulässige Anträge“) Abs. 2 derselben Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

d)      es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95… als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, …

…“

15.      Art. 40 („Folgeanträge“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, in demselben Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft dieser Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder die Elemente des Folgeantrags im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags oder der Prüfung der Entscheidung, gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, insoweit die zuständigen Behörden in diesem Rahmen alle Elemente, die den weiteren Angaben oder dem Folgeantrag zugrunde liegen, berücksichtigen können.

(2)      Für die Zwecke der gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz wird ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95… als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

(5)      Wird ein Folgeantrag nach diesem Artikel nicht weiter geprüft, so wird er gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d als unzulässig betrachtet.

(7)      Wenn eine Person, gegen die ein Überstellungsbeschluss gemäß der [Dublin‑III‑]Verordnung … zu vollstrecken ist, in dem überstellenden Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft der gemäß der genannten Verordnung zuständige Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder Folgeanträge im Einklang mit dieser Richtlinie.“

C.      Deutsches Recht

16.      § 29 („Unzulässige Anträge“) des Asylgesetzes in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: AsylG) hat folgenden Wortlaut:

„(1) Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn

5.      im Falle eines Folgeantrags nach § 71 oder eines Zweitantrags nach § 71a ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. …“

17.      § 71a („Zweitantrag“) AsylG sieht vor:

„(1) Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a), für den Rechtsvorschriften der Europäischen [Union] über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem [Amt]. …“

18.      Den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge erfordert § 51 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes im Fall eines Asylzweitantrags einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zum beantragten Recht zu verhelfen.

II.    Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

19.      Am 22. Dezember 2014 stellte L. R., ein iranischer Staatsangehöriger, beim Amt einen Antrag auf internationalen Schutz.

20.      Bei der Antragsprüfung stellte sich heraus, dass L. R. zuvor Asyl in Norwegen beantragt hatte. Die Bundesrepublik Deutschland ersuchte das Königreich Norwegen somit um Wiederaufnahme von L. R. entsprechend den für diesen Drittstaat geltenden Verpflichtungen aus der Dublin‑III-Verordnung.

21.      Mit Schreiben vom 26. Februar 2015 lehnte es das Königreich Norwegen ab, diesem Ersuchen nachzukommen, und begründete das damit, dass seine Zuständigkeit gemäß Art. 19 Abs. 3 der genannten Verordnung erloschen sei. In seiner Antwort an das Amt stellte das Königreich Norwegen klar, dass L. R. am 1. Oktober 2008 bei der zuständigen norwegischen Behörde einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, dieser am 15. Juni 2009 abgelehnt worden sei und L. R. am 19. Juni 2013 an die iranischen Behörden übergeben worden sei.

22.      Während des Verfahrens der Prüfung durch das Amt gab L. R. an, dass er den Iran 18 Monate vor Einreichung seines Antrags in Deutschland verlassen habe und bis drei Monate vor seiner Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet im Irak gelebt habe.

23.      Mit Bescheid vom 13. März 2017 lehnte das Amt den Antrag von L. R. auf internationalen Schutz gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ab. Das Amt vertrat die Ansicht, dass es sich dabei um einen Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG handle und die in § 51 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes genannten Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen, da die von L. R. zur Stützung seines Antrags vorgetragenen Tatsachen insgesamt nicht glaubhaft erschienen.

24.      Gegen diesen Bescheid erhob L. R. Klage zum vorlegenden Gericht. Er begehrt in erster Linie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise subsidiären Schutz(6). Äußerst hilfsweise beantragt er die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach deutschem Recht.

25.      Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, für eine Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit müsse es wissen, ob ein Antrag auf internationalen Schutz als „Folgeantrag“ im Sinne der Richtlinie 2013/32 einzustufen sei, wenn das Verfahren, das zur Ablehnung eines früheren Antrags des Betroffenen durch bestandskräftige Entscheidung geführt habe, nicht in einem Mitgliedstaat der Union, sondern in Norwegen stattgefunden habe.

26.      Insoweit weist es erstens darauf hin, dass der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie genannte Unzulässigkeitsgrund sowohl bei Durchführung des Verfahrens in demselben Mitgliedstaat als auch bei Durchführung in einem anderen Mitgliedstaat Anwendung finden könne. Die Tatsache, dass der Antragsteller, nachdem er eine abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag in einem ersten Mitgliedstaat erhalten habe, in einem anderen Mitgliedstaat als diesem erneut um internationalen Schutz nachsuche, stehe einer Unzulässigerklärung seines Antrags als „Folgeantrag“ nicht entgegen.

27.      Zweitens erkennt das vorlegende Gericht an, dass der Begriff „Folgeantrag“, wie aus dem Wortlaut der erwähnten Vorschrift in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b, e und q der Richtlinie 2013/32 hervorgeht, voraussetzt, dass die „bestandskräftige Entscheidung“, mit der ein früherer Antrag desselben Antragstellers abgelehnt worden ist, von einem Mitgliedstaat und nicht von einem Drittstaat erlassen worden ist. Es neigt jedoch der Auffassung zu, dass diese Richtlinie im Kontext der Assoziierung des Königreichs Norwegen an das Gemeinsame Europäische Asylsystem, so wie es sich aus dem Übereinkommen zwischen der Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen ergeben soll, weiter auszulegen sei.

28.      Unter diesen Umständen hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht (Deutschland) mit Beschluss vom 30. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Januar 2020, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist eine nationale Regelung mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 vereinbar, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässiger Folgeantrag abgelehnt werden kann, wenn das erfolglose erste Asylverfahren nicht in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, sondern in Norwegen durchgeführt wurde?

29.      Die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Am 3. Dezember 2020 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, an der die Kommission und die deutsche Regierung teilgenommen haben.

III. Würdigung

30.      Wie ich in der Einleitung der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, liegt die Besonderheit der Ausgangsrechtssache meines Erachtens in der Tatsache begründet, dass L. R. nach Durchführung des ersten von ihm durchlaufenen Asylverfahrens aufgrund von Abschiebungsmaßnahmen das norwegische Hoheitsgebiet verlassen hat und in sein Herkunftsland zurückgekehrt ist, bevor er in Deutschland einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

31.      Entgegen dem von der deutschen Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung angeführten Vorbringen hat diese zwischen Erst- und Zweitantrag vollzogene Abschiebung von L. R. weitreichende Konsequenzen für die Auslegung des Begriffs „Folgeantrag“. Ich werde sie in Abschnitt A der vorliegenden Schlussanträge erläutern. Ich werde aufzeigen, dass Anträge von Drittstaatsangehörigen wie L. R., die, nachdem sie in ihr Herkunftsland abgeschoben worden sind, erneut um internationalen Schutz nachsuchen, unter der Geltung der Dublin‑III-Verordnung meiner Meinung nach nicht unter diesen Begriff fallen. Daher kann ein Antrag des Betroffenen in einer Rechtssache wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht einfach gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklärt werden.

32.      Hilfsweise (Abschnitt B) werde ich die Richtigkeit der Prämisse prüfen, von der das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausgeht, nämlich, dass diese Vorschrift der Einstufung eines Antrags auf internationalen Schutz als „Folgeantrag“ durch einen anderen Mitgliedstaat als dem, der die frühere abschließende negative Entscheidung erlassen hat, nicht entgegensteht, wenn sie nach nationalem Recht zulässig ist. Ich werde darlegen, dass der in der genannten Vorschrift vorgesehene Unzulässigkeitsgrund nicht nur Anwendung finden kann, wenn mehrere Anträge in demselben Mitgliedstaat gestellt werden, sondern auch in Fällen von Sekundärmigration, wenn der Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller einen Zweitantrag einreicht, zum zuständigen Mitgliedstaat wird.

33.      Zu guter Letzt werde ich einige Bemerkungen zur besonderen Situation des Königreichs Norwegen als Drittstaat machen, der weder der Richtlinie 2013/32 noch der Richtlinie 2011/95 beigetreten ist, für den aber die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung gelten (Abschnitt C).

A.      Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 in einem Fall, in dem der Antragsteller in sein Herkunftsland abgeschoben worden ist, bevor er erneut um internationalen Schutz nachsucht

34.      Einleitend erscheint es mir nützlich, klarzustellen, dass, auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage formal auf die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 beschränkt hat, dies den Gerichtshof nicht daran hindert, diesem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat(7).

35.      Im vorliegenden Fall zeigen die im Vorlagebeschluss gemachten Angaben meines Erachtens gerade, dass unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, auch andere Bestimmungen des Unionsrechts, nämlich die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung, auszulegen sind.

36.      Ich weise insoweit darauf hin, dass diese Verordnung, wie aus ihrem Art. 3 Abs. 1 Satz 2 hervorgeht, auf der Logik beruht, wonach es für jeden Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, nur einen einzigen zuständigen Mitgliedstaat gibt. Gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der genannten Verordnung ist der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, den Antragsteller wieder aufzunehmen, wenn dieser, nachdem sein Antrag abgelehnt worden ist, in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag stellt.

37.      Wie aus Nr. 21 der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, betrifft die Ausgangsrechtssache den sehr besonderen Fall, dass eine solche Wiederaufnahme nicht möglich ist, weil die Zuständigkeit des Staates, der den früheren Antrag von L. R. geprüft hat (hier das Königreich Norwegen), erloschen ist. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass dessen Pflichten gegenüber L. R. gemäß Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 1 derselben Verordnung geendet haben. Diese Vorschrift bezieht sich auf den Fall, dass der Antragsteller nach Rücknahme oder Ablehnung seines Antrags das Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaats auf der Grundlage eines Rückführungsbeschlusses oder einer Abschiebungsanordnung verlassen hat.

38.      In diesem Fall sieht Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung jedoch vor, dass ein nach einer vollzogenen Abschiebung gestellter Antrag des Antragstellers als neuer Antrag gilt, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auslöst.

39.      Ist daraus abzuleiten, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Antrag unter Berücksichtigung der gegenüber L. R. vollzogenen Abschiebung und entgegen dem von der deutschen Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung angeführten Vorbringen als „neuer Antrag“ gilt, ohne dass die Bundesrepublik Deutschland ihn als „Folgeantrag“ einstufen und gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklären kann?

40.      Ich glaube ja.

41.      In diesem Zusammenhang möchte ich klarstellen, dass ein Antrag, der nach Abschiebung des Antragstellers in sein Herkunftsland gestellt wird, weder unter Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung noch unter die darin erwähnten Bestimmungen über die „Wiederaufnahme“ durch den zuständigen Mitgliedstaat fällt. Daher ist nach meinem Dafürhalten rechtlich zwischen einem solchen Antrag und im Rahmen sekundärer Migrationsbewegungen (d. h. wenn sich der Antragsteller von einem Mitgliedstaat in einen anderen begibt, ohne das Unionsgebiet zu verlassen) gestellten Anträgen, die von diesen Bestimmungen erfasst werden und, wie ich im weiteren Verlauf der vorliegenden Schlussanträge erläutern werde, unter bestimmten Voraussetzungen als „Folgeanträge“ für unzulässig erklärt werden können, zu unterscheiden(8).

42.      Der Zweck der Dublin‑III-Verordnung und der Richtlinie 2013/32 scheint mir keine andere Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie als die von mir im Licht von Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 der genannten Verordnung vorgeschlagene zu erfordern.

43.      In diesem Zusammenhang möchte ich hervorheben, dass der Gesetzgeber mit dem Erlass der Dublin‑III-Verordnung u. a. die Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz beschleunigen wollte, indem Antragstellern die Sachprüfung ihres Antrags durch einen einzigen eindeutig bestimmten Mitgliedstaat garantiert wurde, wodurch sich forum shopping(9) und ein Stocken des Systems durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, mehrere Anträge desselben Antragstellers zu bearbeiten, verhindern lassen sollen(10).

44.      Solche Ziele gehen im Wesentlichen auch aus dem 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 hervor.

45.      Allerdings geht es in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wie ich in Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, nicht um Sekundärmigration aus einem Mitgliedstaat (oder aus einem Drittstaat, der an der Dublin‑III-Verordnung teilnimmt) in einen anderen, sondern um einen Drittstaatsangehörigen, der sein Herkunftsland zum zweiten Mal verlässt.

46.      Hinzu kommt, dass sich der Staatsangehörige in einer Situation befindet, die sich tatsächlich nicht wirklich von der eines Erstantragstellers unterscheidet(11). Genauer gesagt gab es zu dem Zeitpunkt, zu dem L. R. den Zweitantrag auf internationalen Schutz eingereicht hat, keinen für ihn zuständigen Mitgliedstaat mehr. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland gezwungen ist, diesen Zweitantrag einer umfassenden Prüfung zu unterziehen, beeinträchtigt somit keineswegs die Verwirklichung des Ziels der genannten Verordnung, Anträge zu bündeln, um zu verhindern, dass der Betroffene mehrere Anträge in anderen Mitgliedstaaten stellt, obwohl es für ihn bereits einen zuständigen Mitgliedstaat gibt.

47.      Aus dem Vorstehenden folgt, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 meines Erachtens dahin auszulegen ist, dass ein Antrag auf internationalen Schutz wie der von L. R. eingereichte unter den Umständen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtssache nicht als „Folgeantrag“ für unzulässig erklärt werden darf. Diese Lösung ist gemäß Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung geboten, aus dem sich ergibt, dass Anträge von Staatsangehörigen, die bereits ein Asylverfahren durchlaufen haben, an dessen Ende eine abschließende negative Entscheidung ergangen ist, und die inzwischen in ihr Herkunftsland abgeschoben worden sind, nicht unter den erwähnten Begriff fallen können(12).

48.      Im folgenden Abschnitt, den ich hilfsweise – für den Fall, dass der Gerichtshof entgegen meinem Vorschlag die Auffassung vertritt, dass diese Vorschrift für die Entscheidung der vorliegenden Rechtssache nicht relevant oder dahin auszulegen ist, dass sich die vor Antragstellung vollzogene Abschiebung von L. R. nicht auf die Einstufung des Antrags als „Folgeantrag“ auswirkt – erarbeiten werde, werde ich die Richtigkeit der Prämisse prüfen, von der das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausgeht, nämlich dass ein Mitgliedstaat, sofern es sein nationales Recht gestattet, an ihn gerichtete Anträge auf internationalen Schutz sowohl nachdem ein anderer Mitgliedstaat eine abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag des Antragstellers erlassen hat als „Folgeanträge“ für unzulässig erklären kann als auch dann, wenn er selbst eine solche Entscheidung erlassen hat.

B.      Hilfsweise: Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 in einem Fall, in dem der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat als dem, der die frühere abschließende negative Entscheidung erlassen hat, um internationalen Schutz nachsucht

49.      Ich weise darauf hin, dass Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 nach einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs abschließend die Situationen aufzählt, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können(13). Der abschließende Charakter der Aufzählung in dieser Vorschrift beruht sowohl auf deren Wortlaut(14) als auch auf ihrem Zweck, der, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, gerade darin besteht, die Pflicht des zuständigen Mitgliedstaats, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, dadurch zu lockern, dass die Fälle definiert werden, in denen ein solcher Antrag als unzulässig zu betrachten ist(15).

50.      Die erwähnte Vorschrift unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Fällen, in denen ein früherer Antrag auf internationalen Schutz durch eine bestandskräftige Entscheidung abgelehnt worden ist (Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32), und solchen, in denen bereits internationaler Schutz gewährt worden ist (Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie).

51.      Die letztgenannte Vorschrift verweist ausdrücklich auf die Situation, dass ein „anderer Mitgliedstaat“(16) einem Erstantrag der betreffenden Person stattgibt(17). Dagegen stellt weder Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 noch deren Art. 2 Buchst. q, der eine Definition des Begriffs „Folgeantrag“ enthält, klar, ob die abschließende Entscheidung über einen früheren Antrag der betreffenden Person, wenn sie negativ ist, durchweg von demselben Mitgliedstaat, an den der Folgeantrag gerichtet wird, getroffen worden sein muss oder ob sie im Gegenteil von einem anderen Mitgliedstaat erlassen worden sein kann(18).

52.      Wie ich in Nr. 48 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, geht das vorlegende Gericht von der Prämisse aus, dass der Begriff „Folgeantrag“ sowohl auf einen Antrag auf internationalen Schutz, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem gestellt wird, der die frühere abschließende negative Entscheidung erlassen hat, als auch auf einen an denselben Mitgliedstaat gerichteten Antrag angewandt werden kann.

53.      Die Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Regierung teilen diese Analyse. Die Kommission vertritt hingegen die Auffassung, der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Unzulässigkeitsgrund könne nur im letzteren Fall angewandt werden.

54.      Ich werde im Folgenden darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, dass, nachdem eine abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag ergangen ist, ein von demselben Antragsteller in einem beliebigen Mitgliedstaat gestellter Antrag als „Folgeantrag“ angesehen werden kann(19). Zuvor erscheint es mir nützlich, einige Hinweise zu dem in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Mechanismus der „Wiederaufnahme“ zu geben, um zu verdeutlichen, in welchem Kontext ein Mitgliedstaat, der nicht derjenige ist, der die frühere abschließende negative Entscheidung erlassen hat, gegebenenfalls veranlasst sein kann, sich zur Zulässigkeit eines solchen Antrags zu äußern.

1.      Hinweise zum „Wiederaufnahmemechanismus“ der DublinIII-Verordnung

55.      Wie ich bereits in Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, soll mit dem Mechanismus der „Wiederaufnahme“ im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung u. a. verhindert werden, dass ein Antrag auf internationalen Schutz von einem anderen Mitgliedstaat als dem geprüft wird, der die abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag des Staatsangehörigen erlassen hat(20).

56.      Genauer gesagt kann, wenn eine Person unter diese Vorschrift fällt, der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wird (den ich aus Gründen der Klarheit als Mitgliedstaat B bezeichnen werde), den Mitgliedstaat, der die abschließende negative Entscheidung erlassen hat (d. h. den zuständigen Mitgliedstaat oder Mitgliedstaat A), um Wiederaufnahme des Betroffenen ersuchen(21).

57.      Nach Stattgabe des Gesuchs durch Mitgliedstaat A setzt Mitgliedstaat B die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis, sie zu überstellen und ihren Antrag auf internationalen Schutz gegebenenfalls nicht zu prüfen(22). Er erlässt mit anderen Worten eine Überstellungs- und Nichtprüfungsentscheidung.

58.      Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung insoweit klar zwischen Überstellungs- und Nichtprüfungsentscheidungen einerseits und Unzulässigkeitsentscheidungen nach der Richtlinie 2013/32 andererseits unterschieden. Er hat insbesondere ausgeführt, dass diese Richtlinie, wie sich aus dem Wortlaut ihres Art. 33 Abs. 1, insbesondere aus der Wendung „[z]usätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III‑]Verordnung … ein Antrag nicht geprüft wird“, sowie aus dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel der Verfahrensökonomie ergibt, es in den in ihrem Art. 33 Abs. 2 genannten Situationen den Mitgliedstaaten gestattet, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, ohne dass sie vorrangig auf die von der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren zurückgreifen müssen oder dürfen(23).

59.      Folglich kann ein Antrag auf internationalen Schutz nicht Gegenstand einer Überstellungs- und Nichtprüfungsentscheidung sein und gleichzeitig für unzulässig erklärt werden.

60.      Diese Schlussfolgerung wird durch Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 2013/32 untermauert, der vorsieht, dass Folgeanträge einer Person, gegen die ein Überstellungsbeschluss zu vollstrecken ist, vom zuständigen Mitgliedstaat (d. h. von Mitgliedstaat A) geprüft werden, so dass es für einen anderen Mitgliedstaat als diesen (d. h. für Mitgliedstaat B) nicht in Frage kommt, sich zu seiner bzw. ihrer etwaigen Unzulässigkeit zu äußern(24).

61.      In diesem Zusammenhang trägt die Kommission vor, ein Antrag, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem gestellt wird, der eine abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag des Antragstellers erlassen hat, müsse gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung vorrangig dem Mechanismus der „Wiederaufnahme“ unterworfen werden. Nur im Fall eines Erlöschens der Zuständigkeit von Mitgliedstaat A könne sich, wenn eine Wiederaufnahme gemäß Art. 19 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung nicht möglich sei, bei Beteiligung mehrerer Mitgliedstaaten gegebenenfalls die Frage der Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 auf einen solchen Antrag stellen.

62.      Erstens ist, wie ich im vorherigen Abschnitt der vorliegenden Schlussanträge dargelegt habe, ein Antrag, der vom Antragsteller gestellt wird, nachdem er in sein Herkunftsland abgeschoben worden ist, meines Erachtens als „neuer Antrag“ anzusehen, wenn eine Wiederaufnahme gemäß Art. 19 Abs. 3 dieser Verordnung nicht möglich ist.

63.      Zweitens scheint mir klar zu sein, dass die Frage der Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 in Wirklichkeit in einem größeren als dem von der Kommission betrachteten Kontext zu sehen ist, da der Unionsgesetzgeber die Durchführungsmodalitäten für den Mechanismus der „Wiederaufnahme“ klar umschrieben hat.

64.      Insoweit geht zum einen aus dem vom Unionsgesetzgeber in Art. 23 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verwendeten Ausdruck „kann ersuchen“ hervor, dass die Durchführung des auf der Grundlage dieser Vorschrift eingeleiteten „Wiederaufnahmeverfahrens“ im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt(25). Anstatt eine Überstellungs- und Nichtprüfungsentscheidung zu erlassen, kann Mitgliedstaat B daher ohne Weiteres davon ausgehen, dass er der Mitgliedstaat ist, der für die Prüfung eines Antrags eines Drittstaatsangehörigen zuständig ist, dem gegenüber Mitgliedstaat A bereits eine abschließende negative Entscheidung erlassen hat(26).

65.      Zum anderen ist er für diese Prüfung jedenfalls zuständig, wenn er nicht innerhalb von zwei Monaten nach einem Treffer in der Eurodac-Datenbank ein Wiederaufnahmegesuch bei Mitgliedstaat A stellt(27). Das Gleiche gilt, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Stattgabe des Gesuchs um Wiederaufnahme durch Mitgliedstaat A durchgeführt wird(28).

66.      Auch wenn der Mechanismus der „Wiederaufnahme“ in dem Fall, dass ein Folgeantrag bei Mitgliedstaat B gestellt wird, nachdem Mitgliedstaat A eine abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag des Antragstellers erlassen hat, das von der Dublin‑III-Verordnung bevorzugte Ergebnis darstellt, ist es für Mitgliedstaat B folglich weder zwingend vorgeschrieben noch überhaupt immer möglich, auf ihn zurückzugreifen(29). Die vorstehend beschriebenen Konsequenzen ergeben sich aus den Entscheidungen des Unionsgesetzgebers, der in bestimmten Fällen, die von Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung erfasst werden, eine Zuständigkeitsübertragung zwischen Mitgliedstaat A und Mitgliedstaat B vorgesehen hat.

67.      In diesem Kontext, der über den von der Kommission betrachteten hinausgeht, ist die Frage zu beantworten, ob sich, wenn ein Antragsteller nach einer abschließenden negativen Entscheidung eines Mitgliedstaats A einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat B stellt, dieser auf den in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Unzulässigkeitsgrund stützen und in seinem nationalen Recht vorsehen kann, dass ein solcher Antrag als „Folgeantrag“ unzulässig ist, wie die Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Regierung es vorschlagen.

68.      Aus den im folgenden Unterabschnitt dargelegten Gründen bin ich der Ansicht, dass diese Frage zu bejahen ist, sofern Mitgliedstaat B nach den in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten einheitlichen Kriterien (d. h., weil er sich dazu entschließt oder weil die Fristen für die Stellung des Wiederaufnahmegesuchs oder die Überstellung nicht eingehalten werden(30)) anstelle von Mitgliedstaat A zum zuständigen Mitgliedstaat wird.

2.      Möglichkeit für Mitgliedstaat B, den Antrag als „Folgeantrag“ für unzulässig zu erklären

69.      In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof mehrfach darauf hingewiesen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, der dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zugrunde liegt, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht(31). Insbesondere hat er ausdrücklich anerkannt, dass dieser Grundsatz in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 zum Ausdruck kommt(32).

70.      Die Kommission macht geltend, mangels einer ausdrücklichen Absicht des Gesetzgebers lasse sich allein aus dieser Vorschrift nicht ableiten, dass auch Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 in einem grenzüberschreitenden Kontext innerhalb der Union Anwendung finde. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 sei eine Ausnahme davon, dass das Unionsrecht zwischen den Mitgliedstaaten eine gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Asylsachen derzeit nicht vorsehe.

71.      Die Stellungnahme der Kommission liegt u. a. in der Tatsache begründet, dass der 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 deren Art. 33 Abs. 2 Buchst. d mit dem Grundsatz der Rechtskraft verknüpft(33). Da innerhalb der Mitgliedstaaten nur nationale Entscheidungen Rechtskraft erlangen könnten, könne sich diese Vorschrift nur auf Fälle beziehen, in denen die abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag des Antragstellers aus demselben Mitgliedstaat stamme, in dem der Folgeantrag gestellt werde.

72.      Ich teile ohne Weiteres die Beurteilung der Kommission, wonach, wenn ein Antragsteller in ein und demselben Mitgliedstaat mehrere Anträge stelle, die genannte Vorschrift es gemäß dem Grundsatz der Rechtskraft(34) gestatte, einen „Folgeantrag“, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage zutage getreten oder vorgebracht worden seien, ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme internationalen Schutzes erfüllt seien, für unzulässig zu erklären.

73.      Dagegen teile ich nicht ihre Auffassung, wonach die Bestandskraft einer negativen Entscheidung über einen früheren Antrag nur innerhalb des Mitgliedstaats der Verwaltungsbehörde, die sie erlassen habe, und nicht auch von anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden könne. Weder aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs noch aus der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Dublin‑III-Verordnung und der Richtlinie 2013/32 geht nämlich hervor, dass dies der Fall sein sollte.

74.      Insoweit stelle ich zunächst fest, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie, worauf der Gerichtshof in seinem Urteil Ibrahim(35) hingewiesen hat, ermöglichen soll, einen neuen Antrag auch in den Situationen als unzulässig abzulehnen, in denen dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat nur subsidiärer Schutz gewährt worden ist, und nicht nur dann, wenn er den Flüchtlingsstatus erhalten hat. Da die Gewährung subsidiären Schutzes notwendigerweise zur Ablehnung des Antrags führt, soweit mit ihm die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt wird, ist aus meiner Sicht mit der deutschen Regierung davon auszugehen, dass der Gerichtshof den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Wesentlichen bereits auf teilweise negative Entscheidungen der Mitgliedstaaten ausgedehnt hat(36).

75.      Sodann scheint mir die Tatsache, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 dahin ausgelegt wird, dass er es Mitgliedstaat B gemäß dem genannten Grundsatz und vorbehaltlich der Zulässigkeit nach nationalem Recht gestattet, einen Antrag auf internationalen Schutz als „Folgeantrag“ für unzulässig zu erklären, wenn er zu dem für seine Prüfung zuständigen Mitgliedstaat wird, mit der in Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie gegebenen Definition des Begriffs „Folgeantrag“, der weit genug ist, um sich der vorstehenden Auslegung anzuschließen, vereinbar zu sein.

76.      Schließlich knüpft diese Lösung an die Ziele der erwähnten Richtlinie und der Dublin‑III-Verordnung an.

77.      Erstens ermöglicht sie es, dem Bedürfnis Rechnung zu tragen, sekundäre Migrationsbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten, denen diese Verordnung und die Richtlinie gerade vorbeugen sollen, wirksam zu verhindern(37).

78.      Hierzu weise ich darauf hin, dass der zuständige Mitgliedstaat, wenn ein Folgeantrag nicht gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 als unzulässig abgelehnt wird(38), festlegen kann, ihn einem beschleunigten Prüfungsverfahren zu unterwerfen(39). Nach Abschluss dieses Verfahrens kann er den Antrag gegebenenfalls als „offensichtlich unbegründet“ ansehen(40). Er hat darüber hinaus die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme vom Recht des Antragstellers auf Verbleib im Hoheitsgebiet zu machen(41).

79.      Was geschähe also, falls, wenn der Antragsteller einen Folgeantrag stellt, nur der Mitgliedstaat, der die frühere abschließende negative Entscheidung erlassen hat (d. h. Mitgliedstaat A), die vorerwähnten Vorschriften anwenden könnte, während jeder andere Mitgliedstaat als dieser gezwungen wäre, eine vollständige neue Prüfung des Antrags vorzunehmen, ohne ihn wie einen „Folgeantrag“ behandeln zu können? Ergebnis wäre sicherlich, wie die deutsche Regierung dargelegt hat, dass Staatsangehörige, nachdem ihnen gegenüber in Mitgliedstaat A eine abschließende negative Entscheidung ergangen ist, versucht wären, vermehrt ähnliche Anträge in anderen Mitgliedstaaten zu stellen, um eine vollständige neue Prüfung ihrer Situation zu erreichen, was sekundäre Migrationsbewegungen mit sich brächte, die den Zielen sowohl der Dublin‑III-Verordnung als auch der Richtlinie 2013/32 zuwiderliefen.

80.      Diesbezüglich stelle ich fest, dass sich der Gerichtshof im Urteil Minister for Justice and Equality (Antrag auf internationalen Schutz in Irland)(42) unlängst auf ebendiese Ziele der Dublin‑III-Verordnung gestützt hat, um es einem Mitgliedstaat, für den die Verordnung gilt, der aber nicht durch die Richtlinie 2013/32 gebunden ist, zu ermöglichen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zu betrachten, wenn dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat der subsidiäre Schutzstatus gewährt worden ist.

81.      Zweitens würde sich eine Verpflichtung zur Durchführung einer vollständigen neuen Prüfung von Folgeanträgen, die in anderen Mitgliedstaaten als dem gestellt werden, der einen früheren Antrag des Antragstellers geprüft hat, erheblich auf die Dauer der Verfahren auswirken, obwohl die Richtlinie 2013/32 als wesentlichen Grundsatz anerkennt, dass es im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Antragsteller liegt, dass über die Anträge unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung so rasch wie möglich entschieden wird(43).

82.      Im Zusammenhang mit den vorstehend beschriebenen Zielen werden Folgeanträge für die Zwecke der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 zu treffenden Entscheidung über ihre Zulässigkeit gemäß Art. 40 Abs. 2 dieser Richtlinie zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

83.      Die Tatsache, dass Mitgliedstaat B, der die abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag desselben Antragstellers nicht erlassen hat, diese erste Prüfung durchführt, wirft insoweit per se keine besonderen Schwierigkeiten in Bezug auf den effektiven Zugang des Antragstellers zu einer angemessenen Prüfung seiner Situation auf.

84.      Wie die deutsche Regierung hervorgehoben hat, ist ein solches Unterfangen aufgrund des im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung und insbesondere durch deren Art. 34 festgelegten Informationsaustauschs für jeden Mitgliedstaat nämlich ohne Weiteres machbar. Diese Vorschrift ermöglicht die Einholung aller sachdienlichen, relevanten und nicht über das erforderliche Maß hinausgehenden Daten für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz (u. a. zu Datum und Ort jeder früheren Antragstellung, zum Stand des Verfahrens sowie zu Tenor und Datum der getroffenen Entscheidung)(44).

85.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 einer nationalen Vorschrift, die es Mitgliedstaat B gestattet, einen Antrag auf internationalen Schutz als „Folgeantrag“ für unzulässig zu erklären, wenn ein anderer Mitgliedstaat die abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag desselben Antragstellers erlassen hat, nicht entgegensteht. Eine solche Vorschrift muss jedoch klar erkennen lassen, dass Mitgliedstaat B einen solchen Antrag nur unter der Voraussetzung für unzulässig erklären kann, dass er, wie ich in Nr. 68 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, nach den in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten einheitlichen Kriterien zum zuständigen Mitgliedstaat geworden ist(45).

86.      Praktische Folge des von mir befürworteten Ansatzes ist schlicht und ergreifend, dass es diesem Mitgliedstaat, wenn er zum zuständigen Mitgliedstaat wird, gestattet ist, sich auf die frühere abschließende negative Entscheidung des anderen Mitgliedstaats zu stützen und die gleichen Vorschriften anzuwenden, die dieser andere Mitgliedstaat anwenden könnte, wenn der Antrag bei ihm gestellt worden wäre(46).

3.      Zwischenergebnis

87.      Nach alledem ist es einem Mitgliedstaat im Kontext einer kombinierten Anwendung der Dublin‑III-Verordnung und der Richtlinie 2013/32 gemäß dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens möglich, in sein nationales Recht eine Vorschrift aufzunehmen, die es gestattet, einen Antrag auf internationalen Schutz als „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie für unzulässig zu erklären, wenn er nicht selbst die abschließende Entscheidung über die Ablehnung eines früheren Antrags desselben Antragstellers erlassen hat, aber zu dem für die Antragsprüfung zuständigen Mitgliedstaat geworden ist.

88.      Wie ich im vorherigen Abschnitt der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, verfügt der genannte Mitgliedstaat hingegen nicht über diese Möglichkeit, wenn der Antragsteller zwischen dem Erlass der früheren abschließenden Ablehnungsentscheidung und seinem neuen Antrag tatsächlich abgeschoben worden ist.

C.      Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 in einem Fall, in dem das erste Asylverfahren in Norwegen stattgefunden hat

89.      Ich weise darauf hin, dass das Königreich Norwegen u. a. durch das Schengener Abkommen an die Asyl- und Einwanderungspolitik der Union gebunden ist(47). Dieser Staat ist auch dem Dublin-System und Eurodac angeschlossen(48), da die Dublin‑III-Verordnung gemäß dem Übereinkommen zwischen der Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen in das norwegische Recht übernommen worden ist(49).

90.      Der Beitritt des Königreichs Norwegen zu dieser Verordnung ist vollständig, ohne besondere Regelungen oder Ausnahmen.

91.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die genannte Verordnung in einem Kontext entworfen wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, darunter die Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967(50) – nämlich der Grundsatz der Nichtzurückweisung – sowie aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(51), und dass diese Staaten einander folglich Vertrauen entgegenbringen dürfen, was die Wahrung dieser Grundrechte betrifft; im Übrigen sind all diese Staaten Vertragsparteien sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967 als auch der EMRK(52).

92.      Daraus ergibt sich, dass die Teilnahme des Königreichs Norwegen am Dublin-System, wie die deutsche Regierung hervorgehoben hat, auf der Vermutung beruht, dass die Behandlung von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, durch diesen Drittstaat sämtlichen Anforderungen entspricht, denen die Mitgliedstaaten gemäß den genannten Rechtsinstrumenten unterliegen.

93.      Allerdings ist auch festzustellen, dass das Königreich Norwegen weder der Richtlinie 2013/32 noch der Richtlinie 2011/95 beigetreten ist, welche im Rahmen des Konzepts des „internationalen Schutzes“ zwei unterschiedliche Schutzregelungen, nämlich den Flüchtlingsstatus einerseits und den subsidiären Schutzstatus andererseits, vorsieht.

94.      In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass der subsidiäre Schutz, wie sich aus den Erwägungsgründen 6 und 33 der Richtlinie 2011/95 ergibt, den in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Schutz für Flüchtlinge ergänzen soll(53), auf dessen uneingeschränkte und allumfassende Anwendung das Gemeinsame Europäische Asylsystem im Übrigen abzielt(54).

95.      Zudem sieht Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 vor, dass die Asylbehörde bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuerst feststellt, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt; ist dies nicht der Fall, wird festgestellt, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat.

96.      Lehnt ein Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz ab, setzt das daher voraus, dass er nicht nur geprüft hat, ob der Betroffene als Flüchtling anerkannt werden konnte, sondern auch, ob er Anspruch auf den subsidiären Schutzstatus hatte.

97.      Zu einer solchen Prüfung sind die zuständigen Behörden des Königreichs Norwegen zwar nicht gemäß der genannten Richtlinie verpflichtet. Allerdings sieht das norwegische Recht(55) vor, dass nicht nur den durch die Genfer Flüchtlingskonvention definierten Personen, sondern auch solchen, die „tatsächlich Gefahr laufen, bei der Rückkehr in ihr Herkunftsland der Todesstrafe, Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden“, d. h. solchen, die innerhalb der Union Anspruch auf subsidiären Schutz haben, der Status eines „Flüchtlings“ zuerkannt werden kann.

98.      Außerdem prüft die zuständige norwegische Behörde(56), bevor sie einen Antrag auf internationalen Schutz endgültig ablehnt, nach meinem Verständnis des im Königreich Norwegen vorgesehenen Verfahrens nicht nur, ob die betreffende Person unter die Genfer Flüchtlingskonvention fällt, sondern auch, ob sie sich in einer dieser tatsächlichen Gefahrensituationen befindet(57).

99.      In dem beschriebenen Kontext bin ich – wenn unterstellt wird, dass die Prüfung, der ein Antrag auf internationalen Schutz in diesem Drittstaat unterworfen wird, der betreffenden Person ein Schutzniveau garantiert, das mindestens gleich hoch ist wie das Schutzniveau, zu dem die Mitgliedstaaten gemäß der in der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Doppelregelung verpflichtet sind, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat – der Ansicht, dass die bloße Tatsache, dass die abschließende negative Entscheidung über einen früheren Antrag des Antragstellers von dem erwähnten Drittstaat getroffen worden ist, einen Mitgliedstaat wie die Bundesrepublik Deutschland nicht daran hindern kann, einen „Folgeantrag“ desselben Antragstellers gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären.

100. Dieses Ergebnis kann durch das Vorbringen der Kommission, wonach eine solche Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Wortlaut der Vorschrift ausdrücklich auf die Richtlinie 2011/95 verweise, unmöglich sei, woraus sich ergebe, dass nur auf der Grundlage der letztgenannten Richtlinie erlassene abschließende Entscheidungen, d. h. solche der Mitgliedstaaten, für die Anwendung der besagten Vorschrift relevant seien, nicht in Frage gestellt werden.

101. Denn auch die Dublin‑III-Verordnung verweist in ihrem Art. 2 Buchst. d, der eine Definition des Begriffs „Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“ enthält, auf die Richtlinie 2011/95, ohne dass dies einer Gleichstellung des Königreichs Norwegen mit einem „Mitgliedstaat“ für die Zwecke der Verordnung in irgendeiner Weise entgegensteht.

102. Zu guter Letzt stelle ich fest, dass mit der Frage, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof gestellt hat, lediglich geklärt werden soll, ob ein Mitgliedstaat einen Antrag unter solchen Umständen gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklären kann, ohne dass darin auf die Frage eingegangen wird, ob im umgekehrten Fall Folgeanträgen, die in Norwegen gestellt werden, nachdem ein Mitgliedstaat eine abschließende negative Entscheidung erlassen hat, die gleiche Behandlung zuteilwerden könnte.

IV.    Ergebnis

103. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts (Deutschland) wie folgt zu antworten:

Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist dahin auszulegen, dass ein Antrag auf internationalen Schutz nicht als „Folgeantrag“ für unzulässig erklärt werden kann, wenn der Antragsteller vor Antragstellung in sein Herkunftsland abgeschoben worden ist.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60). Diese Richtlinie hängt mit der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung), zusammen.


3      Der Begriff „Folgeantrag“ ist in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 definiert. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich auf die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie in Verbindung mit der erstgenannten Bestimmung.


4      Beschluss des Rates vom 15. März 2001(ABl. 2001, L 93, S. 38).


5      Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).


6      Zur Definition des Begriffs „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ vgl. Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95.


7      Vgl. Urteil vom 9. Juli 2020, Santen (C‑673/18, EU:C:2020:531, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Wie ich im folgenden Abschnitt der vorliegenden Schlussanträge erläutern werde, soll den Mitgliedstaaten mit der Möglichkeit, Anträge, die im Rahmen sekundärer Migrationsbewegungen gestellt werden, als „Folgeanträge“ einzustufen, meines Erachtens gerade ermöglicht werden, zu verhindern, dass, wenn sie anstelle eines anderen Mitgliedstaats zum zuständigen Mitgliedstaat werden, weil sie sich dazu entschließen oder weil die Wiederaufnahme nicht möglich ist, die Antragsprüfung Bedingungen unterworfen ist, die für den Antragsteller günstiger sind, als wenn derselbe Mitgliedstaat beide Anträge nacheinander prüft. Im Rahmen eines Antrags, der nach vollzogener Abschiebung des Antragstellers gestellt wird, stellt sich diese Frage schlicht und ergreifend nicht, weil Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zur Folge hat, dass ein solcher Antrag selbst dann als „neuer Antrag“ gilt, wenn er in demselben Mitgliedstaat gestellt wird, der den früheren Antrag geprüft hat.


9      Der Ausdruck forum shopping bezeichnet im Wesentlichen sekundäre Migrationsbewegungen der um internationalen Schutz nachsuchenden Personen, die auf die bestehenden Unterschiede zwischen den Rechtsrahmen der Mitgliedstaaten zurückzuführen sind.


10      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Gemäß Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung löst ein nach der vollzogenen Abschiebung des Antragstellers gestellter Antrag nämlich ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats aus.


12      Vorsorglich stelle ich fest, dass die Kommission in Art. 3 Abs. 5 des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (COM[2016] 270 final) (im Folgenden: Vorschlag für eine Reform der Dublin‑III-Verordnung, verfügbar unter folgender Internetadresse: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2016:0270:FIN), vorschlägt, Art. 19 dieser Verordnung vollständig zu streichen und eine Vorschrift einzufügen, die vorsieht, dass der zuständige Mitgliedstaat für die Prüfung sämtlicher Anträge des betreffenden Antragstellers, einschließlich aller Folgeanträge, zuständig bleibt, unabhängig davon, ob der Antragsteller die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten verlassen hat oder abgeschoben wurde (was nach meiner Einschätzung zur Folge hätte, dass das Königreich Norwegen in einer Rechtssache wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verpflichtet wäre, L. R. wieder aufzunehmen). Die vorstehenden Vorschläge hat der Unionsgesetzgeber bisher jedoch nicht aufgegriffen.


13      Vgl. Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. insbesondere die Wendung „nur dann“, die der Aufzählung der in der genannten Vorschrift vorgesehenen Unzulässigkeitsgründe vorausgeht.


15      Vgl. Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Hervorhebung nur hier.


17      Zur Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 vgl. u. a. Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219). In diesem Urteil geht es um die Frage, was geschieht, wenn die Betroffenen ihr Herkunftsland verlassen haben und ihnen (in Bulgarien bzw. Polen) subsidiärer Schutz gewährt worden ist, bevor sie in Deutschland Anträge auf internationalen Schutz stellen.


18      Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, der von den Parteien der vorliegenden Rechtssache ebenfalls angeführt wird, ist zwar expliziter als Art. 2 Buchst. q und Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie (da er sich auf Fälle bezieht, in denen in demselben Mitgliedstaat, in dem der Staatsangehörige zuvor einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ein Folgeantrag gestellt wird oder weitere Angaben vorgebracht werden). Dennoch schließt diese Vorschrift nach meiner Einschätzung nicht aus, dass auch ein anderer Mitgliedstaat als der, der die frühere abschließende negative Entscheidung erlassen hat, einen Antrag desselben Betroffenen als „Folgeantrag“ für unzulässig erklären kann. Die besagte Vorschrift enthält im Übrigen keine Bezugnahme auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der erwähnten Richtlinie, während Art. 40 Abs. 2 bis 5 derselben Richtlinie explizit darauf verweist.


19      Vorsorglich sei hinzugefügt, dass die von mir vorgeschlagene Auslegung in die Richtung der Präzisierung weist, die von der Kommission im Rahmen ihrer Vorschläge für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems angeregt worden ist (vgl. insoweit Art. 42 Abs. 1 des Vorschlags für eine Verordnung des Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährleistung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32, COM[2016] 467 final [verfügbar unter folgender Internetadresse: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX:52016PC0467]).


20      Für Anträge, die gestellt werden, nachdem ein anderer Mitgliedstaat einem früheren Antrag des Betroffenen stattgegeben oder teilweise stattgegeben hat (d. h. solche, die von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 erfasst werden), hat der Unionsgesetzgeber im Gegensatz dazu die Auffassung vertreten, dass die Ablehnung durch eine Unzulässigkeitsentscheidung und nicht durch eine Anwendung des Grundes für eine Nichtprüfung in Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung sicherzustellen sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2020, Minister for Justice and Equality (Antrag auf internationalen Schutz in Irland, C‑616/19, EU:C:2020:1010, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Gemäß Art. 23 der Dublin‑III-Verordnung.


22      Vgl. Art. 26 der Dublin‑III-Verordnung.


23      Vgl. Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 77 und 80).


24      Hinzu kommt, dass der Wortlaut dieser Vorschrift aus meiner Sicht eine Auslegung des Begriffs „Folgeantrag“ untermauert, die im Einklang mit der Prämisse steht, von der das vorlegende Gericht ausgeht. Die genannte Vorschrift verwendet den Ausdruck „Folgeantrag“ nämlich zur Bezeichnung von Anträgen, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Mitgliedstaat gestellt werden.


25      Vgl. auch Urteil vom 5. Juli 2018, X (C‑213/17, EU:C:2018:538, Rn. 33), in dem der Gerichtshof darauf hinweist, dass die Behörden des Mitgliedstaats, bei dem ein neuer Antrag gestellt wird, die Möglichkeit haben, nach Art. 23 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ein Gesuch um Wiederaufnahme der betreffenden Person zu stellen.


26      Vgl. Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, der vorsieht, dass „jeder Mitgliedstaat beschließen [kann], einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen … Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.“


27      Diese Verpflichtung geht aus Art. 23 Abs. 2 und 3 der Dublin‑III-Verordnung hervor. Vgl. auch Urteil vom 5. Juli 2018, X (C‑213/17, EU:C:2018:538, Rn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


28      Vgl. Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung. Bei Inhaftierung oder Flucht des Antragstellers kann diese Frist höchstens auf ein Jahr bzw. höchstens auf 18 Monate verlängert werden.


29      Die deutsche Regierung hat nach meinem Dafürhalten eines der Probleme, die der Dublin‑III-Verordnung inhärent sind, gut zusammengefasst, als sie während der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass es gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung theoretisch durchaus eine Wiederaufnahmeverpflichtung gebe, die Überstellung in der Praxis aber selten durchgeführt werde. Vorsorglich weise ich darauf hin, dass die Bundesrepublik Deutschland den Angaben dieser Regierung zufolge im Jahr 2019 rund 50 000 (darunter 9 000 Folgeanträge betreffende) Wiederaufnahmegesuche gestellt hat. Nur ca. 17 % dieser Gesuche sollen zu einer Überstellung der betreffenden Person geführt haben. Ich möchte hinzufügen, dass im Jahr 2014, wie die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Reform der Dublin‑III-Verordnung (S. 11) bemerkt hat, in der Union nur rund ein Viertel aller von dem für die Wiederaufnahme oder Aufnahme zuständigen Mitgliedstaat stattgegebenen Gesuche tatsächlich zu einer Überstellung der betreffenden Person geführt hat (vgl. Fn. 12 der vorliegenden Schlussanträge für die vollständige Fundstelle dieses Dokuments).


30      Vgl. Nrn. 64 und 65 der vorliegenden Schlussanträge.


31      Vgl. Urteil vom 10. Dezember 2020, Minister for Justice and Equality (Antrag auf internationalen Schutz in Irland) (C‑616/19, EU:C:2020:1010, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32      Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 85) (vgl. – für nähere Einzelheiten über die Rechtssachen, die zu diesem Urteil geführt haben – Fn. 17 der vorliegenden Schlussanträge).


33      Wie aus Nr. 12 der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, sieht dieser Erwägungsgrund vor: „Stellt der Antragsteller einen Folgeantrag, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen, … sollten die Mitgliedstaaten einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können.“ (Hervorhebung nur hier)


34      Ich weise insoweit darauf hin, dass sich der Grundsatz der Rechtskraft zwar auf gerichtliche Entscheidungen bezieht, der Gerichtshof darüber hinaus aber klargestellt hat, dass das Unionsrecht auf dem Gebiet der Asylpolitik auch nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist (vgl. Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 186).


35      Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 58).


36      Ich stelle im Übrigen fest, dass sich die Mitgliedstaaten, worauf Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache X (C‑213/17, EU:C:2018:434, Nr. 107) hingewiesen hat, bereits darin einig sind, die von anderen Mitgliedstaaten erlassenen Asylentscheidungen anzuerkennen, sofern diese negativ sind.


37      Vgl. Nrn. 43 und 44 der vorliegenden Schlussanträge.


38      Weil es sich um einen Antrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.


39      Vgl. Art. 31 Abs. 8 Buchst. f der Richtlinie 2013/32.


40      Vgl. Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32.


41      Vgl. Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32. Da Rückführungsentscheidungen Gegenstand einer gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten sind (vgl. Richtlinie 2001/40/EG des Rates vom 28. Mai 2001 über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen [ABl. 2001, L 149, S. 34]), scheint mir diese Vorschrift nicht nur in Situationen innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten angewandt werden zu können, sondern auch in grenzüberschreitenden Situationen innerhalb der Union. Aus meiner Sicht stützt die genannte Vorschrift somit die Auffassung, wonach der Begriff „Folgeantrag“ weit auszulegen sei und nicht allein auf Anträge beschränkt sein könne, die in demselben Mitgliedstaat gestellt werden, der bereits eine abschließende negative Entscheidung erlassen hat.


42      Vgl. Urteil vom 10. Dezember 2020 (C‑616/19, EU:C:2020:1010, Rn. 51 und 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Ich verweise auch auf meine Schlussanträge in jener Rechtssache (C‑616/19, EU:C:2020:648, Nr. 62), in denen ich darauf hingewiesen habe, dass im Zusammenhang mit dem Erlass der Dublin‑III-Verordnung eines der wichtigsten und konstant verfolgten Ziele des Gesetzgebers in der Eindämmung der Sekundärmigration von Drittstaatsangehörigen bestand.


43      Vgl. 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie. Zudem geht aus dem 25. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervor, dass jeder Asylbewerber effektiven Zugang zu den Verfahren und die Gelegenheit erhalten muss, mit den zuständigen Behörden zu kooperieren und effektiv mit ihnen zu kommunizieren, um ihnen den ihn betreffenden Sachverhalt darlegen zu können; ferner müssen ausreichende Verfahrensgarantien bestehen, damit er sein Verfahren über sämtliche Instanzen betreiben kann.


44      Aus den gleichen Gründen vertrete ich die Auffassung, dass die Tatsache, dass Mitgliedstaat B mithin gemäß Art. 42 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 über die Möglichkeit verfügt, die erste Prüfung allein auf der Grundlage schriftlicher Angaben ohne persönliche Anhörung (d. h. ohne dem Antragsteller ein persönliches Gespräch zu gewähren) durchzuführen, wie es Mitgliedstaat A tun könnte, wenn er für diese Prüfung zuständig wäre, per se kein Problem darstellt. Ich weise insoweit ferner darauf hin, dass die erste Prüfung – unabhängig davon, ob sie von Mitgliedstaat A oder Mitgliedstaat B durchgeführt wird – jedenfalls die in Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Garantien beachten muss.


45      Um jeden Zweifel auszuschließen, sei hervorgehoben, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32, wie aus dem vorherigen Unterabschnitt der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, einer anderen Logik folgt, als sie dem Mechanismus der „Wiederaufnahme“ zugrunde liegt, welcher umgekehrt voraussetzt, dass Mitgliedstaat A weiterhin der zuständige Mitgliedstaat ist.


46      Vorsorglich möchte ich klarstellen, dass der Mitgliedstaat, wenn er dies wünscht, selbstverständlich eine vollständige Prüfung des Antrags durchführen kann, sofern sein nationales Recht das vorsieht. Ich weise insoweit darauf hin, dass die Mitgliedstaaten, wie sich aus Art. 5 der Richtlinie 2013/32 ergibt, über eine allgemeine Befugnis verfügen, günstigere Bestimmungen einzuführen oder beizubehalten, und bei Folgeanträgen gemäß Art. 40 Abs. 3 Satz 2 dieser Richtlinie zusätzliche Gründe festlegen können, aus denen ein solcher Antrag zu prüfen ist.


47      Gemäß Art. 6 Abs. 1 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft durch den Vertrag von Amsterdam als Anhang beigefügten Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union ist am 18. Mai 1999 ein Übereinkommen zwischen dem Rat der Europäischen Union sowie der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Assoziierung der beiden letztgenannten Staaten bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (ABl. 1999, L 176, S. 36) geschlossen worden. Vgl. auch Beschluss 2000/777/EG des Rates vom 1. Dezember 2000 über die Inkraftsetzung des Schengen-Besitzstands in Dänemark, Finnland und Schweden sowie in Island und Norwegen (ABl. 2000, L 309, S. 24).


48      Bezüglich des Beitritts des Königreichs Norwegen zu Eurodac verweise ich auf Art. 1 Abs. 5 des Übereinkommens zwischen der Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen, dessen einschlägige Bestimmungen ich in Abschnitt I.A der vorliegenden Schlussanträge angeführt habe.


49      Lov av 17. desember 2013 nr. 132. om endringer i utlendingsloven (gjennomføring av Dublin III-forordningen) (Gesetz zur Änderung des Einwanderungsgesetzes [Umsetzung der Dublin‑III-Verordnung] vom 17. Dezember 2013), in Kraft getreten am 1. Januar 2014.


50      Übereinkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, unterzeichnet in Genf am 28. Juli 1951 (Vertragsserie der Vereinten Nationen, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], in Kraft getreten am 22. April 1954). Es ist durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Protokoll von 1967), das selbst am 4. Oktober 1967 in Kraft getreten ist, ergänzt worden (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).


51      Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950 (im Folgenden: EMRK).


52      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2019, M. A. u. a. (C‑661/17, EU:C:2019:53, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Erwägungsgründe 32 und 39 der Dublin‑III-Verordnung.


53      Vgl. Urteil vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


54      Gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.


55      Vgl. im Einzelnen Art. 28 Abs. 1 Buchst. a und b des Lov av 15. Mai 2008 nr. 35 om utlendingers adgang til riket og deres opphold her (Gesetz über den Zugang von Ausländern zum Königreich Norwegen und ihren Aufenthalt vom 15. Mai 2008).


56      Die zuständige Behörde ist das Utlendingsdirektoratet (Direktion für Ausländerangelegenheiten) des Königreichs Norwegen.


57      Wie aus Nr. 97 der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, sieht das norwegische Recht vor, dass sowohl den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Personen als auch solchen, die „tatsächlich Gefahr laufen, bei der Rückkehr in ihr Herkunftsland der Todesstrafe, Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden“, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Das setzt meines Erachtens voraus, dass die zuständige Behörde bei jedem in Norwegen gestellten Antrag auf internationalen Schutz prüft, ob die betreffende Person in eine dieser Kategorien fällt (vgl. insoweit auch Nrn. 3.2 und 3.3 des praktischen Leitfadens der Direktion für Ausländerangelegenheiten, verfügbar unter folgender Adresse: https://www.udiregelverk.no/en/documents/udi-guidelines/udi-2010-071/udi-2010-071v1/). Zudem ist im Prop 90 L „Endringer i utlendingsloven mv. (innstramninger II)“ (Gesetzentwurf mit der Überschrift „Änderungen des Ausländergesetzes [Verschärfung II]“ [2015-2016], Art. 6.1) zwecks Anpassung des norwegischen Rechts an das Unionsrecht vorgeschlagen worden, eine neue Bestimmung einzuführen, mit der Personen, die sich „tatsächlich“ in „Gefahr“ befinden, subsidiärer Schutz gewährt anstatt der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Aus diesem Vorschlag, den der norwegische Gesetzgeber nicht aufgegriffen hat, geht hervor, dass das von Norwegen gewährte Schutzniveau zum gegenwärtigen Zeitpunkt höher ist als das Schutzniveau gemäß der in der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Doppelregelung.