Language of document : ECLI:EU:C:2010:319

Stellungnahme des Generalanwalts

J. MAZÁK

vom 7. Juni 20101(1)

Rechtssachen C‑188/10 und C‑189/10

Aziz Melki und Sélim Abdeli

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Frankreich])

„Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – Verpflichtung, vorab den Conseil constitutionnel anzurufen, wenn sich die vermutete Unvereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift mit der Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Unionsrechts ergibt – Keine Auswirkungen auf die Befugnis oder die Verpflichtung, gemäß Art. 267 AEUV den Gerichtshof anzurufen – Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht – Freizügigkeit – Keine Personenkontrollen an den Binnengrenzen – Art. 67 AEUV und 72 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 562/2006 – Art. 20 und 21“





I –    Einleitung

1.        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 67 AEUV und 267 AEUV. In der ersten Frage der Cour de cassation (Frankreich) geht es darum, ob die Loi organique n° 2009-1523, du 10 décembre 2009, relative à l’application de l’article 61‑1 de la Constitution (Verfassungsergänzendes Gesetz Nr. 2009-1523 vom 10. Dezember 2009 betreffend die Anwendung von Art. 61‑1 der Verfassung), mit der die „vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit“ gemäß Art. 61‑1 eingeführt wird, mit Art. 267 AEUV vereinbar ist. Dieses neue Instrument geht auf eine am 1. März 2010 in Kraft getretene Verfassungsreform zurück, mit der eine nachträgliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Bestimmungen eingeführt wird. Die Cour de cassation möchte wissen, ob Art. 267 AEUV den Art. 23‑2 und 23‑5 der Ordonnance n° 58‑1067, du 7 novembre 1958, portant loi organique sur le Conseil constitutionnel (Ordonnance Nr. 58-1067 vom 7. November 1958 betreffend das verfassungsergänzende Gesetz über den Conseil constitutionnel [Verfassungsrat]) in der durch das verfassungsergänzende Gesetz Nr. 2009‑1523 geänderten Fassung (im Folgenden: Ordonnance Nr. 58‑1067) entgegensteht, die den Gerichten vorschreiben, vorrangig über die Übermittlung der bei ihnen aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden, sofern sich die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit der französischen Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Unionsrechts ergibt.

2.        In der zweiten Vorlagefrage geht es darum, ob Art. 78‑2 Abs. 4 des französischen Code de procédure pénale (Strafprozessordnung), der insbesondere an der Landgrenze Frankreichs zu den Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990) in einem Gebiet bis zu einer Tiefe von 20 km die Kontrolle der Identität jeder Person durch die Polizeibehörden erlaubt, mit Art. 67 AEUV vereinbar ist, der vorsieht, dass an den Binnengrenzen keine Personenkontrollen erfolgen.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

3.        Art. 20 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1) lautet:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

4.        Art. 21 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) dieser Verordnung bestimmt:

„Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)      die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)      keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)      auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)      in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)      auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

b)      die Durchführung von Sicherheitskontrollen bei Personen in See- oder Flughäfen durch die zuständigen Behörden nach Maßgabe des nationalen Rechts, die Verantwortlichen der See- oder Flughäfen oder die Beförderungsunternehmer, sofern diese Kontrollen auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen;

c)      die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen;

d)      die Verpflichtung für Drittstaatsangehörige, ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gemäß Artikel 22 des Schengener Durchführungsübereinkommens zu melden.“

5.        Art. 37 („Mitteilung von Informationen durch die Mitgliedstaaten“) dieser Verordnung bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission bis zum 26. Oktober 2006 ihre nationalen Vorschriften zu Artikel 21 Buchstaben c und d … mit. …

Diese von den Mitgliedstaaten mitgeteilten Informationen werden im Amtsblatt der Europäischen Union, Reihe C, veröffentlicht.“

6.        Die Französische Republik hat gemäß Art. 37 der Verordnung Nr. 562/2006 folgenden Text über die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen gemäß Art. 21 Buchst. c der Verordnung mitgeteilt:

„Die französische Gesetzgebung stellt diese Verpflichtung in Artikel L.611‑1 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht (Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile, CESEDA) auf, welcher festlegt, dass Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit auch vor und nach einer Personenkontrolle in der Lage sein sollten, Urkunden oder Bescheinigungen, die sie zum Reisen oder zum Aufenthalt im französischen Hoheitsgebiet berechtigen, auf Verlangen von Beamten der Kriminalpolizei sowie – unter deren Aufsicht – auf Verlangen [der Hilfsbeamten] und [beigeordneten Hilfsbeamten der Kriminalpolizei] vorzulegen.“(2)

B –    Nationales Recht

7.        Art. 61‑1 der französischen Verfassung lautet:

„Wird in einem bei einem Gericht anhängigen Verfahren vorgebracht, eine gesetzliche Bestimmung verletze die durch die Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, kann der Conseil constitutionnel auf Vorlage durch den Conseil d’État [Staatsrat] oder die Cour de cassation, die innerhalb einer bestimmten Frist entscheiden, mit dieser Frage befasst werden.

Ein verfassungsergänzendes Gesetz regelt die Einzelheiten der Anwendung dieses Artikels.“

8.        Art. 62 der französischen Verfassung lautet:

„Eine auf der Grundlage von Art. 61 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung kann weder verkündet noch angewandt werden.

Eine auf der Grundlage von Art. 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Conseil constitutionnel oder einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Conseil constitutionnel bestimmt, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen die bereits eingetretenen Wirkungen der Bestimmung in Frage gestellt werden können.

Gegen die Entscheidungen des Conseil constitutionnel ist kein Rechtsmittel gegeben. Sie binden die Verfassungsorgane sowie alle Verwaltungsbehörden und Gerichte.“

9.        Art. 88‑1 der französischen Verfassung lautet:

„Die Republik wirkt an der Europäischen Union mit, die aus Staaten besteht, die sich frei entschieden haben, einige ihrer Zuständigkeiten nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, wie diese sich aus dem am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten Vertrag ergeben, gemeinsam wahrzunehmen.“

10.      Art. 1 des verfassungsergänzenden Gesetzes Nr. 2009‑1523 lautet:

„Nach Titel II Kapitel II der Ordonnance Nr. 58‑1067 vom 7. November 1958 betreffend das verfassungsergänzende Gesetz über den Conseil constitutionnel wird folgendes Kapitel IIa eingefügt:

Kapitel IIa

Vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit

Abschnitt 1

Vor den dem Conseil d’État und der Cour de cassation untergeordneten Gerichten anwendbare Bestimmungen

Artikel 23‑1. − Vor den dem Conseil d’État oder der Cour de cassation untergeordneten Gerichten ist der Einwand, eine gesetzliche Bestimmung verletze die durch die Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, in einem gesonderten und mit einer Begründung versehenen Schriftsatz zu erheben, andernfalls ist er unzulässig. Ein solcher Einwand kann erstmals im Berufungsverfahren erhoben werden. Er kann nicht von Amts wegen aufgeworfen werden. …

Artikel 23‑2. − Das Gericht befindet unverzüglich durch eine mit Gründen versehene Entscheidung über die Übermittlung der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil d’État oder die Cour de cassation. Diese Übermittlung erfolgt, wenn nachstehende Voraussetzungen vorliegen:

1.      Die gerügte Bestimmung ist auf den Rechtsstreit oder das Verfahren anwendbar oder bildet die Grundlage für die Strafverfolgung;

2.      die Bestimmung ist noch nicht in den Gründen und im Tenor einer Entscheidung des Conseil constitutionnel für verfassungsgemäß erklärt worden. Anderes gilt nur bei einer Veränderung der Umstände;

3.      die Frage entbehrt nicht der Ernsthaftigkeit.

Das Gericht hat, wenn vor ihm der Einwand erhoben wird, eine gesetzliche Bestimmung sei zum einen mit den durch die Verfassung garantierten Rechten und Freiheiten und zum anderen mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Frankreichs nicht vereinbar, auf jeden Fall vorrangig über die Übermittlung der Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil d’État oder die Cour de cassation zu befinden.

Die Entscheidung, die Frage zu übermitteln, wird dem Conseil d’État oder der Cour de cassation binnen acht Tagen, nachdem sie ergangen ist, zusammen mit den Schriftsätzen der Verfahrensbeteiligten zugeleitet. Sie ist nicht anfechtbar. Die Weigerung, die Frage zu übermitteln, ist nur im Rahmen eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung über den Rechtsstreit oder Teile davon anfechtbar.

Abschnitt 2

Vor dem Conseil d’État und der Cour de cassation anwendbare Bestimmungen

Artikel 23‑4. – Innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Eingang der in Art. 23-2 oder im letzten Absatz von Art. 23-1 vorgesehenen Übermittlung entscheidet der Conseil d’État oder die Cour de cassation über die Vorlage der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel. Diese Vorlage hat zu erfolgen, sofern die Voraussetzungen des Art. 23-2 Nrn. 1 und 2 vorliegen und die Frage neu oder ernsthaft ist.

Artikel 23‑5. − Der Einwand, eine gesetzliche Bestimmung verletze die durch die Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten kann, auch erstmals im Kassationsverfahren, in einem Verfahren vor dem Conseil d’État oder der Cour de cassation erhoben werden. Der Einwand ist in einem gesonderten und mit einer Begründung versehenen Schriftsatz zu erheben, andernfalls ist er unzulässig. Er kann nicht von Amts wegen aufgeworfen werden.

Der Conseil d’État oder die Cour de cassation hat, wenn vor ihnen der Einwand erhoben wird, eine gesetzliche Bestimmung sei zum einen mit den durch die Verfassung garantierten Rechten und Freiheiten und zum anderen mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Frankreichs nicht vereinbar, auf jeden Fall vorrangig über die Vorlage der Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden.

Der Conseil d’État oder die Cour de cassation verfügt über eine Frist von drei Monaten ab Erhebung des Einwands, um zu entscheiden. Der Conseil constitutionnel wird mit der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit befasst, sofern die Voraussetzungen des Art. 23-2 Nrn. 1 und 2 vorliegen und die Frage neu oder ernsthaft ist.

Ist der Conseil constitutionnel angerufen worden, setzt der Conseil d’État oder die Cour de cassation das Verfahren bis zu seiner Entscheidung aus. …“

11.      Art. L611‑1 des Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetzbuch über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht, im Folgenden: CESEDA) lautet:

„Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit müssen auch vor und nach einer Identitätskontrolle in der Lage sein, Urkunden oder Bescheinigungen, die sie zum Reisen oder zum Aufenthalt im französischen Hoheitsgebiet berechtigen, auf Verlangen von Beamten der Kriminalpolizei sowie unter deren Aufsicht auf Verlangen der in den Art. 20 und 21-1 der Strafprozessordnung genannten Hilfsbeamten und beigeordneten Hilfsbeamten der Kriminalpolizei vorzulegen.

Im Rahmen einer Identitätskontrolle gemäß den Art. 78‑1, 78‑2 und 78‑2‑1 des Code de procédure pénale kann von Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit ebenfalls verlangt werden, die in Abs. 1 genannten Urkunden und Bescheinigungen vorzulegen.“

12.      Art. 78‑1 des Code de procédure pénale lautet:

„Die Anwendung der Bestimmungen dieses Kapitels unterliegt der Kontrolle durch die in den Art. 12 und 13 genannten Justizbehörden.

Jede Person, die sich im nationalen Hoheitsgebiet aufhält, ist verpflichtet, ihre Identität unter den in den folgenden Artikeln festgelegten Voraussetzungen von den in den folgenden Artikeln genannten Polizeibehörden kontrollieren zu lassen.“

13.      Art. 78‑2 Abs. 1 bis 3 des französischen Code de procédure pénale lautet:

„„Die Beamten der Kriminalpolizei sowie unter ihrer Aufsicht die Hilfsbeamten und beigeordneten Hilfsbeamten der Kriminalpolizei, die in den Art. 20 und 21-1 genannt sind, können jede Person auffordern, auf beliebige Weise ihre Identität zu belegen, wenn ein oder mehrere plausible Gründe für den Verdacht bestehen, dass der Betreffende

–        eine Straftat begangen hat oder versucht hat, eine Straftat zu begehen, oder,

–        ein Verbrechen oder Vergehen vorbereitet oder,

–        sachdienliche Angaben im Rahmen von Ermittlungen wegen eines Verbrechens oder Vergehens machen kann oder dass

–        gegen ihn eine von einer Justizbehörde angeordnete Fahndung läuft.

Auf schriftliche Aufforderung des Oberstaatsanwalts zum Zweck der Untersuchung und Verfolgung der von ihm angegebenen Straftaten kann die Identität jeder Person nach denselben Modalitäten auch an den Orten und in dem Zeitraum kontrolliert werden, die dieser Staatsanwalt festlegt. Die Tatsache, dass bei einer Identitätskontrolle andere Straftaten als die in der Aufforderung des Oberstaatsanwalts genannten festgestellt werden, bildet keinen Grund für die Nichtigkeit der Zwischenverfahren.

Die Identität jeder Person kann unabhängig von deren Verhalten ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung, insbesondere der Sicherheit von Personen oder Gütern, zu verhindern.“

14.      Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale lautet:

„In einem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Staaten, die dem am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen beigetreten sind, und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie sowie in den öffentlich zugänglichen Bereichen der Häfen, Flughäfen und Eisenbahn- oder Busbahnhöfe, die für den internationalen Verkehr geöffnet und durch Erlass bestimmt sind, kann die Identität jeder Person ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen. Findet die Kontrolle in einem Zug statt, der eine internationale Streckenverbindung bedient, kann sie auf dem Streckenabschnitt zwischen der Grenze und dem ersten Haltepunkt, der mehr als 20 km von der Grenze entfernt ist, durchgeführt werden. Auf Eisenbahnstrecken, die eine internationale Verbindung herstellen und besondere Anschlussmerkmale aufweisen, kann die Kontrolle jedoch auch zwischen diesem Haltepunkt und einem Haltepunkt durchgeführt werden, der hiervon bis zu 50 km entfernt liegt. Diese Strecken und diese Haltepunkte werden durch Ministerialerlass bestimmt. Außerdem kann bei einem Autobahnabschnitt, der in dem in Satz 1 dieses Absatzes genannten Gebiet beginnt, dann, wenn die erste Autobahnzahlstelle jenseits der 20-km-Linie liegt, die Kontrolle bis zu dieser ersten Zahlstelle auf den Parkplätzen sowie am Ort dieser Zahlstelle und auf den daran angrenzenden Parkplätzen erfolgen. Die Zahlstellen im Sinne dieser Vorschrift werden durch Erlass bestimmt. Die Tatsache, dass bei einer Identitätskontrolle eine andere Straftat als die Nichteinhaltung der oben genannten Verpflichtungen festgestellt wird, bildet keinen Grund für die Nichtigkeit der Zwischenverfahren.“

III – Sachverhalt

15.      Herr Melki und Herr Abdeli, die beide die algerische Staatsangehörigkeit besitzen und sich illegal in Frankreich aufhalten, wurden gemäß Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale in dem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu Belgien und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie einer Polizeikontrolle unterzogen. Am 23. März 2010 stellte ihnen der Präfekt des Departement Nord der Französischen Republik jeweils eine Abschiebungsverfügung und eine Anordnung der Inhaftierung in nicht der Strafvollzugsverwaltung unterstellten Räumen zu.

16.      Herr Melki und Herr Abdeli reichten beim Juge des libertés et de la détention (für die Anordnung der Untersuchungshaft zuständiger Richter), bei dem der Präfekt einen Antrag auf Verlängerung der Haft gestellt hatte, jeweils einen Schriftsatz ein, in dem eine vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit aufgeworfen wurde. Sie machten beide geltend, dass durch Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale die durch die französische Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten verletzt würden. Mit zwei Beschlüssen vom 25. März 2010 ordnete der Juge des libertés et de la détention die Übermittlung folgender Frage an die Cour de cassation an:

„Werden durch Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale die durch die Verfassung der Französischen Republik garantierten Rechte und Freiheiten verletzt?“

17.      Der Juge des libertés et de la détention ordnete ferner die Verlängerung der Haft von Herrn Melki und Herrn Abdeli um 15 Tage an.

18.      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts stützen Herr Melki und Herr Abdeli ihre Auffassung, dass Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale mit der französischen Verfassung unvereinbar sei, auf deren Art. 88‑1. Die Verpflichtungen aus dem Vertrag von Lissabon, darunter die Verpflichtung in Bezug auf die Freizügigkeit, genössen nach Art. 88‑1 der französischen Verfassung Verfassungsrang, und Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale, wonach Kontrollen an den Grenzen Frankreichs zu den Mitgliedstaaten zulässig seien, verstoße gegen den Grundsatz der Freizügigkeit, der in Art. 67 AEUV aufgestellt sei, wonach die Union sicherstelle, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert würden.

IV – Vorabentscheidungsersuchen

19.      In seinen Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht erstens aus, dass sich aus Art. 23‑2 der Ordonnance Nr. 58‑1067 ergebe, dass die Tatgerichte nicht über die Vereinbarkeit einer gesetzlichen Bestimmung mit völkerrechtlichen Übereinkünften(3) entscheiden könnten, bevor sie die Frage der Verfassungsmäßigkeit übermittelt hätten. Außerdem seien die Entscheidungen des Conseil constitutionnel nach Art. 62 der französischen Verfassung nicht anfechtbar und bänden die Verfassungsorgane sowie alle Verwaltungsbehörden und Gerichte. Mithin werde den Tatgerichten durch das verfassungsergänzende Gesetz Nr. 2009‑1523 die Möglichkeit genommen, vor Übermittlung der Frage der Verfassungsmäßigkeit dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Wenn der Conseil constitutionnel die angegriffene gesetzliche Bestimmung für mit dem Unionsrecht vereinbar erkläre, könnten die Tatgerichte dem Gerichtshof auch nach dieser Entscheidung keine Frage zur Vorabentscheidung vorlegen. Nach Art. 23‑5 der Ordonnance Nr. 58‑1067 könnte auch die Cour de cassation in einem solchen Fall ungeachtet der zwingenden Bestimmungen des Art. 267 AEUV nicht mehr den Gerichtshof anrufen und auch nicht mehr über die Vereinbarkeit der Vorschrift mit dem Unionsrecht entscheiden.

20.      Zweitens erscheint der Cour de cassation die Vereinbarkeit von Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale mit Art. 67 AEUV fraglich. Die sich aus dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit ergebende Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit, die im Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 in enthalten sei, komme in Art. 67 AEUV nicht mehr vor.

21.      Deshalb hat die Cour de cassation dem Gerichtshof mit zwei Ersuchen vom 16. April 2010 folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Steht Art. 267 des am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Rechtsvorschriften wie den Art. 23‑2 Abs. 2 und Art. 23‑5 Abs. 2 der Ordonnance Nr. 58‑1067 entgegen, soweit diese den Gerichten vorschreiben, vorrangig über die Übermittlung der bei ihnen aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden, sofern sich die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit der Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht ergibt?

2.      Steht Art. 67 des am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einer Rechtsvorschrift wie Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale entgegen, in dem es heißt: „In einem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Staaten, die dem am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen beigetreten sind, und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie sowie in den öffentlich zugänglichen Bereichen der Häfen, Flughäfen und Eisenbahn- oder Busbahnhöfe, die für den internationalen Verkehr geöffnet und durch Erlass bestimmt sind, kann die Identität jeder Person ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigen zu überprüfen. Findet die Kontrolle in einem Zug statt, der eine internationale Streckenverbindung bedient, kann sie auf dem Streckenabschnitt zwischen der Grenze und dem ersten Haltepunkt, der mehr als 20 km von der Grenze entfernt ist, durchgeführt werden. Auf Eisenbahnstrecken, die eine internationale Verbindung herstellen und besondere Anschlussmerkmale aufweisen, kann die Kontrolle jedoch auch zwischen diesem Haltepunkt und einem Haltepunkt durchgeführt werden, der hiervon bis zu 50 km entfernt liegt. Diese Strecken und diese Haltepunkte werden durch Ministerialerlass bestimmt. Außerdem kann bei einem Autobahnabschnitt, der in dem in Satz 1 dieses Absatzes genannten Gebiet beginnt, dann, wenn die erste Autobahnzahlstelle jenseits der 20-km-Linie liegt, die Kontrolle bis zu dieser ersten Zahlstelle auf den Parkplätzen sowie am Ort dieser Zahlstelle und auf den daran angrenzenden Parkplätzen erfolgen. Die Zahlstellen im Sinne dieser Vorschrift werden durch Erlass bestimmt“?

22.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. April 2010 sind die Rechtssachen C‑188/10 und C‑189/10 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

23.      In ihren Vorabentscheidungsersuchen hat die Cour de cassation beantragt, im Eilverfahren zu entscheiden.

24.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. Mai 2010 sind die vorliegenden Rechtssachen dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs und Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs unterworfen worden.

25.      Herr Melki und Herr Abdeli, die französische, die belgische, die tschechische, die deutsche, die griechische, die niederländische, die polnische und die slowakische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der slowakischen Regierung haben alle Beteiligten in der Sitzung vom 2. Juni 2010 mündliche Ausführungen gemacht.

V –    Zur zweiten Vorlagefrage

26.      Mir erscheint es sinnvoll, als Erstes die zweite Vorlagefrage zu prüfen, da sich die Antwort auf die erste Vorlagefrage meines Erachtens aus der einschlägigen ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten lässt, während die zweite Vorlagefrage eine gewisse Neuheit aufweist.

A –    Zur Zulässigkeit der zweiten Vorlagefrage

27.      Die französische Regierung hält die zweite Vorlagefrage für unzulässig. Das Ausgangsverfahren, in dem der Juge des libertés et de la détention über die Vereinbarkeit von Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale mit dem Unionsrecht entschieden habe, sei beendet(4). Anhängig sei somit nur noch das Verfahren, das dadurch eingeleitet worden sei, dass der Cour de cassation eine vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit übermittelt worden sei, damit dieses Gericht über eine etwaige Vorlage der Frage an den Conseil constitutionnel befinde. Der Conseil constitutionnel habe mit seiner Entscheidung Nr. 2010‑605 DC vom 12. Mai 2010 aber seine Rechtsprechung bekräftigt, wonach die Kontrolle der Beachtung des internationalen Rechts oder des Unionsrechts nicht zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gehöre und damit nicht in seine Zuständigkeit falle. Auf die Frage, ob Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale mit Art. 67 AEUV vereinbar sei, komme es deshalb im Rahmen des einzigen noch anhängigen Verfahrens, nämlich des Verfahrens vor der Cour de cassation, überhaupt nicht an. Die Antwort, die der Gerichtshof auf die zweite Vorlagefrage der Cour de cassation erteilen würde, wäre somit überflüssig. Also sei diese Vorlagefrage unzulässig.

28.      Hierzu ist festzustellen, dass der Einwand der französischen Regierung, dass die zweite Vorlagefrage unzulässig sei, auf ihrer Auslegung des nationalen Rechts beruht, nach der die Kontrolle der Beachtung des Unionsrechts nicht zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gehört(5) und somit nicht in die Zuständigkeit des Conseil constitutionnel fällt. Hierbei stützt sich die französische Regierung insbesondere auf die Entscheidung Nr. 2010‑605 DC vom 12. Mai 2010.

29.      Da in den Vorabentscheidungsersuchen auf die Art. 23‑2 und 23‑5 der Ordonnance Nr. 58‑1067 verwiesen wird, die nicht nur Einwände vorsehen, mit denen geltend gemacht wird, eine gesetzliche Bestimmung sei mit den durch die französische Verfassung garantierten Rechten und Freiheiten unvereinbar, sondern auch Einwände, mit denen geltend gemacht wird, eine gesetzliche Bestimmung sei mit den internationalen Verpflichtungen der Französischen Republik und folglich mit dem Unionsrecht unvereinbar, ist aus den Akten des Gerichtshofs meines Erachtens nicht klar ersichtlich, dass die zweite Vorlagefrage für das bei der Cour de cassation anhängige Verfahren bezüglich der Zulässigkeit der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit völlig ohne Bedeutung wäre. Die Entscheidung Nr. 2010‑605 DC vom 12. Mai 2010 ist offenbar ein Mittel zur Auslegung der Art. 23‑2 und 23‑5 der Ordonnance Nr. 58‑1067, ohne dass mit ihr aber der Wortlaut dieser Bestimmungen geändert worden wäre.

30.      Meines Erachtens ist die zweite Vorlagefrage daher zulässig.

B –    Inhaltliche Würdigung

31.      Nach Auffassung von Herrn Melki und Herrn Abdeli macht die Verordnung Nr. 562/2006 keinen Unterschied zwischen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und Staatsangehörigen von Drittstaaten, denen das Recht zustehe, in das Hoheitsgebiet der Union einzureisen. In den Art. 67 AEUV und 77 AEUV seien weder Abschwächungen noch Ausnahmen für die Ausübung dieser Freiheit vorgesehen; diese Bestimmungen schlössen Personenkontrollen an den Binnengrenzen schlicht und einfach aus, ohne dass sie durch irgendeinen Umstand dann doch wieder ermöglicht würden. Durch Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale werde diese Freiheit insoweit beeinträchtigt, als die Kontrollen nur erfolgten „um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen“. Auf der Grundlage dieser Bestimmung könnten systematische Identitätskontrollen in den Grenzgebieten Frankreichs, also an Binnengrenzen der Union, entstehen. Im Übrigen werde Art. 78‑2 des Code de procédure pénale von den französischen Gerichten in diesem Sinne angewandt. Die in den Art. 23 bis 25 der Verordnung Nr. 562/2006 klar bestimmten Ausnahmefälle, in denen Kontrollen an den Binnengrenzen durchgeführt werden könnten, unterschieden sich von denjenigen, die in der französischen Regelung vorgesehen seien.

32.      Die französische Regierung macht geltend, die in Rede stehenden Bestimmungen seien zum einen wegen der beachtlichen Ströme von Personen, die die Grenze überschritten, gerechtfertigt. Um insbesondere eine wirksame Bekämpfung der illegalen Einwanderung zu gewährleisten, müssten die Behörden der nationalen Polizei in dem fraglichen Gebiet den Besitz der gesetzlich vorgeschriebenen Dokumente überprüfen dürfen. Nach Art. L611‑1 CESEDA müssten Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft nämlich in der Lage sein, Urkunden oder Bescheinigungen, die sie zum Reisen oder zum Aufenthalt im französischen Hoheitsgebiet berechtigen, vorzulegen. Zum anderen seien die in Rede stehenden Bestimmungen durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, eine spezifische Art von Kriminalität in den Grenzübergangsbereichen und grenznahen Gebieten, zu bekämpfen. Die gemäß Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Grenze durchgeführten Polizeikontrollen unterschieden sich klar von den Grenzkontrollen. Erstens solle mit ihnen die Identität einer Person festgestellt werden, um die Begehung von Straftaten oder Störungen der öffentlichen Ordnung zu verhindern oder Straftäter zu ergreifen. Zweitens beruhten sie auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen, die den besonderen Nutzen der Kontrollen in diesem Gebiet bewiesen hätten. Drittens seien sie in einer Weise konzipiert und würden in einer Weise durchgeführt, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheide. Die Kontrollen wiesen nämlich keines der Merkmale von Grenzkontrollen auf, die, wie sich aus Art. 7 der Verordnung Nr. 562/2006 ergebe, stationär, dauernd und systematisch sein müssten.

33.      Die deutsche Regierung vertritt die Auffassung, (nichtsystematische) Polizeikontrollen im Grenzgebiet seien unter Beachtung der Voraussetzungen des Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 nach wie vor möglich. Die griechische Regierung ist der Ansicht, die in Art. 78‑2 des Code de procédure pénale vorgesehenen Maßnahmen dienten nicht der Kontrolle der Grenzen und führten nicht zu einer Verweigerung der Einreise. Mit diesen Maßnahmen solle nur überprüft werden, ob die kontrollierte Person die gesetzlich vorgeschriebenen Erlaubnisse und Dokumente besitze und entsprechend ihrer gesetzlichen Verpflichtung vorlegen könne, um ihre Identität nachzuweisen. Diese Kontrollen fänden nicht systematisch statt, sondern lägen im Ermessen der betreffenden Stellen, die sie durchführen „könn[t]en“, aber nicht müssten. Diese Maßnahmen beträfen deshalb Kontrollen, die in einer Weise konzipiert seien und durchgeführt würden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheide. Außerdem seien diese Polizeimaßnahmen durch mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt und zielten gerade auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität ab.

34.      Nach Auffassung der slowakischen Regierung haben die Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit das Recht, in ihrem Hoheitsgebiet z. B. zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität oder des Terrorismus Polizeikontrollen durchzuführen, sofern diese keine Kontrollen an den Binnengrenzen zum Ziel haben. Die Befugnis, an den Binnengrenzen des Mitgliedstaats Identitätskontrollen durchzuführen und so die Beachtung der Verpflichtung zum Mitführen oder Besitz eines Visums oder eines Aufenthaltstitels zu gewährleisten, sei auch mit Art. 21 Buchst. c der Verordnung Nr. 562/2006 vereinbar.

35.      Nach Auffassung der niederländischen Regierung unterscheiden sich die französischen Kontrollen im Grenzgebiet sowohl hinsichtlich ihres Zwecks als auch ihres Inhalts von Grenzkontrollen. Mit den Grenzkontrollen solle geklärt werden, ob die Personen, mit ihren Fortbewegungsmitteln und Sachen in das Gebiet der zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaaten einreisen oder aus diesem ausreisen dürften. Maßstab für diese Kontrollen seien die für die Einreise in einen zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaat oder die Bedingungen für die Ausreise aus einem solchen Mitgliedstaat. Diese Kontrollen umfassten in jedem Fall die Überprüfung des Besitzes eines gültigen Reisedokuments. Im Fall der Einreise in das Hoheitsgebiet könnten außerdem der Zweck des Aufenthalts und die Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts kontrolliert werden. Geprüft werden könne ebenfalls, ob die Einreise einer Person oder das Verbringen eines Transportmittels oder einer Sache in das Hoheitsgebiet eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und die Sicherheit darstellen könne. Es handele sich dabei um völlig andere Kontrollen als die französischen Kontrollen im Grenzgebiet. Mit letztgenannten Kontrollen solle die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen, insbesondere von Ausweispapieren und Aufenthaltstiteln, überprüft werden. Die Kontrolle des Besitzes dieser Dokumente unterscheide sich inhaltlich sowohl hinsichtlich ihres Wesens als auch hinsichtlich ihres Zwecks von den Grenzkontrollen. Zudem unterschieden sich die französischen Kontrollen im Grenzgebiet auch hinsichtlich der Art und Weise ihrer Durchführung von den Grenzkontrollen, wie sie die niederländische Regierung verstehe. Die Grenzkontrollen würden systematisch und dauernd durchgeführt und beträfen jede Person, die die Grenze überschreite. Die belgische Regierung vertritt die Auffassung, Art. 67 AEUV sei im Licht des Schengener Übereinkommens vom 19. Juni 1990 auszulegen, das Bestandteil des Unionsrechts sei und nach dem es den nationalen Behörden nicht verboten sei, Identitätskontrollen durchzuführen. Mithin stehe das Unionsrecht einer Regelung wie der des Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale nicht entgegen.

36.      Nach Auffassung der tschechischen Regierung ist es den Polizeibehörden eines Mitgliedstaats nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 562/2006 verboten, Identitätskontrollen im Grenzgebiet (innerhalb des Schengen-Raums) generell strenger durchzuführen als im restlichen nationalen Hoheitsgebiet, ganz gleich, ob ein solches Verhalten auf Rechtsvorschriften, auf internen Richtlinien oder schlicht auf der Praxis der zuständigen Stellen beruhe. Die Einführung von besonderen polizeilichen Befugnissen oder Verfahren für ohne einen konkreten, beachtlichen Grund generell auf ein bestimmtes Grenzgebiet bezogene Kontrollen stelle naturgemäß eine Maßnahme der Kontrolle an den Binnengrenzen dar. Diese Schlussfolgerung ändere aber nichts daran, dass der Mitgliedstaat die Möglichkeit habe, in seinem Hoheitsgebiet Polizeikontrollen auf der Grundlage einer allgemeinen, d. h. nicht auf die Binnengrenzen und deren Überschreiten bezogenen Regelung durchzuführen. Die Kommission vertritt unter dem Vorbehalt der Feststellungen des nationalen Gerichts die Auffassung, dass die einzige Personengruppe, die durch Identitätskontrollen in der Nähe der Grenze leichter entdeckt werden könne, aus gerade denjenigen Personen bestehe, die soeben die Grenze illegal überschritten hätten. Somit stellten die Bestimmungen des Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale keine bloße Prüfung der Beachtung der Verpflichtung zum Besitz von Ausweispapieren dar. Sie seien vielmehr als versteckte Grenzkontrollen einzustufen, die nach Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 von vornherein verboten seien(6).

37.      In den Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht ausdrücklich auf Art. 67 Abs. 2 AEUV verwiesen, der u. a. vorsieht, dass die Union sicher stellt, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Meines Erachtens geht die Cour de cassation in ihrer zweiten Vorlagefrage daher davon aus, dass die Bestimmungen des Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale Personenkontrollen an den Binnengrenzen darstellen könnten.

38.      Da die vorliegende Frage meines Erachtens nur das Überschreiten der Binnengrenzen durch Personen betrifft, werde ich weder auf die für die Kontrollen an den Außengrenzen geltenden Vorschriften noch auf die zahlreichen Maßnahmen eingehen, die in der Union getroffen worden sind, um zu kompensieren, dass entsprechend dem Willen der Mitgliedstaaten keine Personenkontrollen an den Binnengrenzen erfolgen(7).

39.      Mit der Verordnung Nr. 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen wurden Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass Personen beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und Regeln für die Grenzkontrollen, denen Personen beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union unterzogen werden, eingeführt(8). Nach ihrem 20. Erwägungsgrund steht die Verordnung Nr. 562/2006 im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt sind.

40.      Nach Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 dürfen die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Indem er sicherstellt, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, verbietet Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 grundsätzlich solche Kontrollen(9). Nach Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 562/2006 sind „Grenzübertrittskontrollen“ die „Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen“.

41.      Folglich betreffen die Grenzübertrittskontrollen das Recht, in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen oder aus diesem Gebiet auszureisen(10).

42.      Nach Art. 21 der Verordnung werden bestimmte Rechte der Mitgliedstaaten durch die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht berührt. Meines Erachtens sind aber die Formulierungen, die verwendet werden, um diese Rechte zu bezeichnen, eng auszulegen, da sie Ausnahmen vom allgemeinen Grundsatz der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen darstellen. Wenn die Mitgliedstaaten von diesen Rechten Gebrauch machen, haben sie den Grundsatz von Treu und Glauben sowie Sinn und Zweck des allgemeinen Grundsatzes zu beachten.

43.      Deshalb dürfen diese in Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 abschließend aufgezählten Rechte meines Erachtens nicht die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen beeinträchtigen. Das geht auch klar aus Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 hervor, wonach die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen u. a. nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt – übrigens auch in Grenzgebieten –, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat. In dieser Bestimmung sind vier Umstände genannt, bei deren Vorliegen die Ausübung der polizeilichen Befugnisse nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden kann, nämlich, erstens, wenn die polizeilichen Maßnahmen keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, zweitens, wenn sie auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen, drittens, wenn sie in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, und viertens, wenn sie auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.

44.      Aus dem Wortlaut von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 geht nicht eindeutig hervor, ob diese vier Umstände kumulativ vorliegen müssen. Im Übrigen gibt es meines Erachtens Überschneidungen zwischen diesen Umständen, insbesondere zwischen dem dritten und dem vierten. Meiner Auffassung nach sind diese vier Umstände nur beispielhaft genannt(11); entscheidend ist die Frage, ob die polizeilichen Maßnahmen die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben, was auf den jeweiligen Einzelfall bezogen zu prüfen ist

45.      Diese Umstände stellen somit Gesichtspunkte oder Indizien dar, die hilfreich sein können, um festzustellen, ob die Ausübung der polizeilichen Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; das Vorliegen eines oder mehrerer Umstände ist insoweit aber nicht unbedingt ausschlaggebend. Folglich ergibt sich aus Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006, dass von der Ausübung der polizeilichen Befugnisse Maßnahmen ausgenommen sind, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben, auch wenn im konkreten Fall einer oder mehrere der in Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 genannten Umstände vorliegen(12).

46.      Nach Art. 21 Buchst. c der Verordnung Nr. 562/2006 berührt die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen(13). Allerdings kann durch etwaige Kontrollen der Beachtung der Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen meines Erachtens unter gewissen Umständen der allgemeinen Grundsatz der Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen verletzt werden, insbesondere wenn diese Kontrollen systematisch oder auf willkürliche oder unnötig lästige Weise vorgenommen werden(14).

47.      Aus den Vorabentscheidungsersuchen ist ersichtlich, dass die Polizeikontrolle, der Herr Melki und Herr Abdeli gemäß Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale unterzogen wurden, in dem Gebiet zwischen der Landgrenze Frankreichs zu Belgien und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie erfolgt ist. Die fraglichen Kontrollen sind offenbar – dies steht unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das nationale Gericht – nicht an einer Grenzübergangsstelle oder einem anderen Ort an der Grenze erfolgt. Meines Erachtens müssen Grenzübertrittskontrollen, wie auch die Kommission geltend gemacht hat, zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 trotz einer gewissen Mehrdeutigkeit des Wortlauts von Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung(15) nicht unbedingt in einem Gebiet erfolgen, das mit einer Grenze zusammenfällt, um als Kontrollen von Personen an den Binnengrenzen angesehen werden zu können. Um festzustellen, ob Kontrollen nicht gegen Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 verstoßen, sind insbesondere ihr Ziel und/oder ihre Modalitäten und/oder ihre Wirkungen zu untersuchen, und zwar unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls(16).

48.      Der Grundsatz, dass an den Binnengrenzen keine Personenkontrollen erfolgen, würde nämlich beeinträchtigt, wenn die Mitgliedstaaten abseits der Grenzen in ihrem Hoheitsgebiet versteckte Grenzkontrollen durchführen könnten.

49.      Um die Tragweite von Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale festzustellen, ist diese Bestimmung – unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das nationale Gericht – insbesondere mit den übrigen Bestimmungen des Art. 78‑2 zu vergleichen, der die Voraussetzungen regelt, unter denen die französischen Polizeibehörden Identitätskontrollen durchführen dürfen.

50.      Nach Art. 78‑2 Abs. 1 des Code de procédure pénale können die französischen Polizeibehörden eine Person auffordern, ihre Identität zu belegen, wenn ein oder mehrere plausible Gründe für den Verdacht bestehen, dass sie eine Straftat begangen hat oder versucht hat, eine Straftat zu begehen, dass sie ein Verbrechen oder ein Vergehen vorbereitet, dass sie sachdienliche Angaben im Rahmen von Ermittlungen wegen eines Verbrechens oder Vergehens machen kann oder dass gegen sie eine von einer Justizbehörde angeordnete Fahndung läuft. Nach Art. 78‑2 Abs. 2 des Code de procédure pénale kann die Identität jeder Person nach denselben Modalitäten auf schriftliche Anordnung des Oberstaatsanwalts zum Zweck der Untersuchung und Verfolgung der von ihm angegebenen Straftaten kontrolliert werden. Nach Art. 78‑2 Abs. 3 des Code de procédure pénale kann die Identität jeder Person nach den in Abs. 1 dieses Artikels festgelegten Modalitäten ebenfalls kontrolliert werden, um eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung zu verhindern(17).

51.      Die Tragweite von Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale unterscheidet sich offenbar deutlich von den übrigen oben genannten Bestimmungen dieses Artikels. Zum einen gilt Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale für einen ganz bestimmten, im Vorhinein gesetzlich festgelegten Bereich des französischen Hoheitsgebiets; zum anderen kann die Identität jeder Person nach den festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen. Mithin findet diese Bestimmung ohne jegliche Einschränkung auf jede Person Anwendung, die sich in dem betreffenden Bereich befindet(18).

52.      Durch Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale wird somit zweifellos eine Sonderregelung für die Identitätskontrollen in Grenzgebieten eingeführt, die strenger ist als die Regelung für das restliche französische Hoheitsgebiet.

53.      Die französische Regierung hat vor dem Gerichtshof erläutert, dass mit den Kontrollen gemäß Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale die Identität einer Person festgestellt werden solle, um die Begehung von Straftaten oder Störungen der öffentlichen Ordnung zu verhindern oder um Straftäter zu ergreifen. Diese Stellungnahme findet meines Erachtens aber keine Stütze in den dem Gerichtshof vorliegenden Dokumenten. Die drei ersten Absätze des Art. 78‑2 des Code de procédure pénale betreffen – dies steht unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – speziell Identitätskontrollen zu diesen Zwecken(19). Hingegen wird bei den Kontrollen gemäß Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale ausschließlich auf den Ort abgestellt, an dem sich die betreffende Person befindet, also insbesondere auf das Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Grenze.

54.      Wegen ihres örtlichen Anwendungsbereichs, des Umstands, dass ihnen jede Person in dem genannten Gebiet unterzogen werden kann, und des Fehlens einer überzeugenden Erläuterung des mit ihnen verfolgten Ziels stellen die fraglichen Identitätskontrollen meines Erachtens Kontrollen im Zusammenhang mit dem Überschreiten der Grenze dar, die nicht durch die Befugnisse der Mitgliedstaaten gemäß Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 gedeckt sind. Somit handelt es sich bei ihnen um versteckte Grenzübertrittskontrollen, die nach Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 verboten sind und nicht unter die begrenzten Ausnahmen gemäß Art. 21 dieser Verordnung fallen.

55.      Meines Erachtens stehen daher Art. 67 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 einer Rechtsvorschrift wie Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale entgegen, in dem es heißt: „In einem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Staaten, die dem am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen beigetreten sind, und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie sowie in den öffentlich zugänglichen Bereichen der Häfen, Flughäfen und Eisenbahn- oder Busbahnhöfe, die für den internationalen Verkehr geöffnet und durch Erlass bestimmt sind, kann die Identität jeder Person ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen. Findet die Kontrolle in einem Zug statt, der eine internationale Streckenverbindung bedient, kann sie auf dem Streckenabschnitt zwischen der Grenze und dem ersten Haltepunkt, der mehr als 20 km von der Grenze entfernt ist, durchgeführt werden. Auf Eisenbahnstrecken, die eine internationale Verbindung herstellen und besondere Anschlussmerkmale aufweisen, kann die Kontrolle jedoch auch zwischen diesem Haltepunkt und einem Haltepunkt durchgeführt werden, der hiervon bis zu 50 km entfernt liegt. Diese Strecken und diese Haltepunkte werden durch Ministerialerlass bestimmt. Außerdem kann bei einem Autobahnabschnitt, der in dem in Satz 1 dieses Absatzes genannten Gebiet beginnt, dann, wenn die erste Autobahnzahlstelle jenseits der 20-km-Linie liegt, die Kontrolle bis zu dieser ersten Zahlstelle auf den Parkplätzen sowie am Ort dieser Zahlstelle und auf den daran angrenzenden Parkplätzen erfolgen. Die Zahlstellen im Sinne dieser Vorschrift werden durch Erlass bestimmt.“

VI – Zur ersten Vorlagefrage

56.      Mit ihrer ersten, die Auslegung von Art. 267 AEUV betreffenden Vorlagefrage möchte die Cour de cassation wissen, ob diese Bestimmung einer aus einem verfassungsergänzenden Gesetz über die Anwendung von Art. 61‑1 der französischen Verfassung resultierenden nationalen Regelung entgegensteht, soweit diese den Gerichten vorschreibt, vorrangig über die Übermittlung der bei ihnen aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden, sofern sich die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit der Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht ergibt. Die Cour de cassation sieht sich insbesondere vor die Frage gestellt, ob durch die Verfahrensregeln erstens des Art. 23‑2 der Ordonnance Nr. 58‑1067 – wonach das Gericht, wenn vor ihm der Einwand erhoben wird, eine gesetzliche Bestimmung sei zum einen mit den durch die Verfassung garantierten Rechten und Freiheiten und zum anderen mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Frankreichs nicht vereinbar, auf jeden Fall vorrangig über die Übermittlung der Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil d’État oder die Cour de cassation zu befinden hat, die ihrerseits über die Vorlage der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel entscheiden müssen – und zweitens des Art. 23‑5 der Ordonnance – wonach der Conseil d’État oder die Cour de cassation, wenn vor ihnen ein solcher Einwand erhoben wird, auf jeden Fall vorrangig über die Vorlage der Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden hat – das in Art. 267 AEUV garantierte Recht der französischen Gerichte, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, verletzt wird. Meines Erachtens ist im Rahmen der ersten Vorlagefrage auch der von der Cour de cassation in ihren Vorabentscheidungsersuchen angeführte Art. 62 der französischen Verfassung zu prüfen, nach dem gegen die Entscheidungen des Conseil constitutionnel kein Rechtsmittel gegeben ist.

57.      Meiner Auffassung nach möchte die Cour de cassation mit ihrer ersten Vorlagefrage insbesondere wissen, ob das Recht eines nationalen Gerichts, dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, durch nationales Recht eingeschränkt werden kann.

A –    Zur Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage

58.      Die französische Regierung hält die erste Vorlagefrage für unzulässig. Diese Frage beruhe auf einer offensichtlich unrichtigen Auslegung des nationalen Rechts, so dass sie rein hypothetischen Charakter habe. Die Kommission stellt zwar die Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage nicht in Abrede, äußert aber Zweifel im Hinblick auf das nationale Recht, wie es in den Vorlageentscheidungen dargestellt sei. Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts sei insbesondere nicht klar ersichtlich, in welchem Umfang der französische Conseil constitutionnel die Verfassungsmäßigkeit prüfe.

59.      Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof nicht befugt, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist. Der Gerichtshof hat nämlich im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen ihm und den nationalen Gerichten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen(20).

60.      Wie aus den Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, liegt diesen die Annahme zugrunde, dass das französische Recht, insbesondere die Art. 23‑2 und 23‑5 der Ordonnance Nr. 58‑1067 und Art. 62 der französischen Verfassung, das Recht der nationalen Gerichte einschließlich des vorlegenden Gerichts einschränken, gemäß Art. 267 AEUV den Gerichtshof anzurufen und über die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit dem Unionsrecht zu befinden. Da es in den Ausgangsverfahren hauptsächlich um die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geht,(21) ist meines Erachtens nicht ersichtlich, dass die erste Vorlagefrage für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten offensichtlich unerheblich wäre.

61.      Demnach ist die erste Vorlagefrage zulässig.

B –    Inhaltliche Würdigung

62.      Vorab ist festzustellen, dass sich der Gerichtshof bereits mit Rechtsstreitigkeiten zu befassen hatte, in denen die Befugnis eines nationalen Gerichts, dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV(22) Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, durch Vorschriften des nationalen Rechts eingeschränkt war. In den einschlägigen Urteilen hat der Gerichtshof stets in dem Sinne entschieden, dass die nationalen Gerichte im weitestmöglichen Umfang befugt sind, dem Gerichtshof Fragen nach der Gültigkeit und nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen. Ich werde daher als Antwort auf die erste Vorlagefrage die gefestigte und einheitliche einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs darlegen. Der Umstand, dass mit dem in Rede stehenden verfassungsergänzenden Gesetz offenbar dem Einzelnen ein zusätzlicher verfahrensrechtlicher Schutz nach dem nationalen Recht eingeräumt werden soll, ist meines Erachtens für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage ohne Belang.

63.      Nach Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV und Art. 267 AEUV entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung auf Ersuchen der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit von Handlungen der Organe(23).

64.      Mit der dem Gerichtshof durch Art. 267 AEUV übertragenen Befugnis soll in erster Linie sichergestellt werden, dass das Unionsrecht von den nationalen Gerichten einheitlich angewandt wird. Dieses Ziel wird von dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten in einem Geist der Zusammenarbeit(24) und auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens sowie eines Dialogs zwischen den Gerichten verfolgt. Das durch Art. 19 EUV und Art. 267 AEUV eingeführte Vorabentscheidungsverfahren ist ein Verfahrensinstrument, das unerlässlich ist, um eine einheitliche Anwendung und die Beachtung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte der 27 Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

65.      Aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV selbst geht klar hervor, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs sehr umfassend ist und dass dieser, im Geist der Zusammenarbeit handelnd, grundsätzlich nicht geneigt sein wird, von den nationalen Gerichten vorgelegte Fragen nach der Auslegung der Verträge oder nach der Gültigkeit und der Auslegung der Handlungen der Organe der Union als unzulässig zurückzuweisen.

66.      Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zur Auslegung des Unionsrechts. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(25). Außerdem ergibt sich aus Art. 267 AEUV, dass die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt(26). Es ist allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der bei ihm anhängigen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen(27). Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof somit grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden(28).

67.      Die nationalen Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, sind nach Art. 267 Abs. 2 AEUV bei der Beurteilung, ob es gegebenenfalls erforderlich ist, dem Gerichtshof ein Ersuchen um Auslegung im Wege der Vorabentscheidung vorzulegen, frei, wenn sich in einem bei ihnen schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, während die nationalen Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit einem Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet sind, wenn sich in einem bei ihnen schwebenden Verfahren eine solche Frage stellt(29).

68.      In diesem Zusammenhang lässt sich dem Urteil Cilfit u. a.(30) eindeutig entnehmen, dass ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Vorlagepflicht nachkommen muss, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, es hat festgestellt, dass die aufgeworfene Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt(31).

69.      Im Urteil Rheinmühlen-Düsseldorf(32) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die nationalen Gerichte ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die sie im konkreten Fall entscheiden müssen(33). Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass das Recht des nationalen Gerichts, den Gerichtshof anzurufen, grundsätzlich nicht durch eine innerstaatliche Rechtsnorm aufgehoben werden kann, die das Gericht an die rechtliche Beurteilung des übergeordneten Gerichts bindet(34). Hierzu hat der Gerichtshof in seinem Urteil ERG u. a.(35) festgestellt, dass es einem Gericht, das nicht in letzter Instanz entscheidet, freistehen muss, dem Gerichtshof die Fragen vorzulegen, bei denen es Zweifel hat, insbesondere dann, wenn es der Ansicht ist, dass es aufgrund der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts zu einem unionsrechtswidrigen Urteil gelangen könnte.

70.      Im Urteil Kücükdeveci (36) hat der Gerichtshof jüngst den fakultativen Charakter von Art. 267 Abs. 2 AEUV hervorgehoben, und meines Erachtens auch das Ermessen, über das die Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Bestimmung verfügen. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, stellte sich die Frage, ob ein nationales Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts ersuchen musste, bevor es eine nationale Vorschrift, die es für mit diesem Recht unvereinbar hielt, unangewandt lassen konnte, wenn das vorlegende Gericht die nationale Bestimmung nach dem nationalen Recht nur unangewandt lassen durfte, sofern diese Bestimmung zuvor vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden war. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass es dem nationalen Gericht obliegt, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewandt lässt, unabhängig davon, ob es von seiner Befugnis Gebrauch macht, in den Fällen des Art. 267 Abs. 2 AEUV den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen(37).

71.      Im Übrigen hat der Gerichtshof im Urteil Mecanarte(38) festgestellt, dass die praktische Wirksamkeit des mit Art. 267 AEUV geschaffenen Systems voraussetzt, dass die innerstaatlichen Gerichte im weitestmöglichen Umfang zur Anrufung des Gerichtshofs befugt sind. In diesem Urteil, das in einer Rechtssache ergangen ist, die meines Erachtens mit der vorliegenden Rechtssache durchaus vergleichbar ist, hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass ein nationales Gericht, bei dem ein das Unionsrecht betreffender Rechtsstreit anhängig ist und das die Verfassungswidrigkeit einer innerstaatlichen Vorschrift feststellt, auch dann, wenn gegen diese Feststellung ein Rechtsbehelf zum Verfassungsgericht zwingend vorgeschrieben ist, gemäß Art. 267 AEUV befugt bzw. verpflichtet ist, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen(39). Zur Frage, ob das nationale Gericht von einer Vorlage zur Vorabentscheidung absehen kann, wenn die innerstaatliche Rechtsordnung die Mittel bereitstellt, um den Mängeln einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift abzuhelfen, hat der Gerichtshof ferner festgestellt, dass sich die Beurteilungsbefugnis des nationalen Gerichts gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV auch auf die Frage erstreckt, in welchem Abschnitt des Verfahrens dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen ist. Dass ein Verstoß gegen das Unionsrecht im Rahmen des nationalen Rechts behoben werden kann, berührt mithin in keiner Weise das dem nationalen Gericht gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV zustehende Ermessen.

72.      Meines Erachtens geht somit aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs klar hervor, dass die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts vereitelt würde, wenn die allen nationalen Gerichten gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumte selbständige Befugnis, dem Gerichtshof in den bei ihnen anhängigen Verfahren Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen, durch ein zwingend vorgeschriebenes Rechtsmittel zu einem Verfassungsgericht beschränkt oder übertragen werden könnte.

73.      Außerdem müsste, wenn das Ermessen, das den nationalen Gerichten bei der Entscheidung darüber zusteht, ob sie dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung vorlegen, durch das nationale Recht eingeschränkt oder übertragen wird, meines Erachtens der das Rückgrat des Unionsrechts bildende Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts greifen. Auf diesen Grundsatz ist erst jüngst in den Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, erneut hingewiesen worden(40).

74.      Nach ständiger Rechtsprechung ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten, für deren volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste(41).

75.      Meines Erachtens ist Art. 267 AEUV Bestandteil der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in denen er gegenüber den innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit diese mit ihm unvereinbar sind, Vorrang hat. Jedes Gericht kann und muss Art. 267 AEUV in vollem Umfang anwenden und dabei im Fall eines Konflikts zwischen dieser Bestimmung und einer innerstaatlichen Vorschrift Letztere in einem bei ihm anhängigen Verfahren erforderlichenfalls aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lassen.

76.      Abgesehen davon, dass das nationale Gericht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV in dem bei ihm anhängigen Verfahren über ein Ermessen hinsichtlich der Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens beim Gerichtshof verfügt und dieses Ermessen durch nationale Maßnahmen nicht eingeschränkt oder übertragen werden darf, bindet ein im Vorabentscheidungsverfahren ergangenes Urteil des Gerichtshofs dieses Gericht bei seiner Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits(42). In dem oben genannten Urteil Simmenthal hat der Gerichtshof festgestellt, dass die praktische Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens geschmälert würde, wenn es dem nationalen Gericht verwehrt wäre, das Unionsrecht nach Maßgabe der Entscheidung oder der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar anzuwenden. Meines Erachtens ist deshalb im Fall eines Konflikts zwischen einer auf ein Vorabentscheidungsersuchen hin ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs und einer Entscheidung eines nationalen Gerichts einschließlich eines Verfassungsgerichts das nationale Gericht aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, die Entscheidung des Gerichtshofs anzuwenden und die entgegenstehende Entscheidung des nationalen Gerichts unangewandt zu lassen(43).

77.      Unter Zugrundelegung der vom nationalen Gericht vorgenommenen Darstellung des nationalen Rechts, insbesondere der Regelung über die vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit, steht Art. 267 AEUV Rechtsvorschriften wie den Art. 23‑2 Abs. 2 und 23‑5 Abs. 2 der Ordonnance Nr. 58 1067 meines Erachtens insoweit entgegen, als diese den Gerichten vorschreiben, vorrangig über die Übermittlung der bei ihnen aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden, sofern sich die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit der französischen Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Unionsrechts ergibt.

VII – Ergebnis

78.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die von der Cour de cassation gestellten Vorlagefragen wie folgt zu antworten:

1.         Art. 67 AEUV und die Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) stehen einer Rechtsvorschrift wie Art. 78‑2 Abs. 4 des Code de procédure pénale entgegen, in dem es heißt: „In einem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Staaten, die dem am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen beigetreten sind, und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie sowie in den öffentlich zugänglichen Bereichen der Häfen, Flughäfen und Eisenbahn- oder Busbahnhöfe, die für den internationalen Verkehr geöffnet und durch Erlass bestimmt sind, kann die Identität jeder Person ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen. Findet die Kontrolle in einem Zug statt, der eine internationale Streckenverbindung bedient, kann sie auf dem Streckenabschnitt zwischen der Grenze und dem ersten Haltepunkt, der mehr als 20 km von der Grenze entfernt ist, durchgeführt werden. Auf Eisenbahnstrecken, die eine internationale Verbindung herstellen und besondere Anschlussmerkmale aufweisen, kann die Kontrolle jedoch auch zwischen diesem Haltepunkt und einem Haltepunkt durchgeführt werden, der hiervon bis zu 50 km entfernt liegt. Diese Strecken und diese Haltepunkte werden durch Ministerialerlass bestimmt. Außerdem kann bei einem Autobahnabschnitt, der in dem in Satz 1 dieses Absatzes genannten Gebiet beginnt, dann, wenn die erste Autobahnzahlstelle jenseits der 20-km-Linie liegt, die Kontrolle bis zu dieser ersten Zahlstelle auf den Parkplätzen sowie am Ort dieser Zahlstelle und auf den daran angrenzenden Parkplätzen erfolgen. Die Zahlstellen im Sinne dieser Vorschrift werden durch Erlass bestimmt.“

2.         Unter Zugrundelegung der vom nationalen Gericht vorgenommenen Darstellung des nationalen Rechts, insbesondere der Regelung über die vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit, steht Art. 267 AEUV Rechtsvorschriften wie den Art. 23‑2 Abs. 2 und Art. 23‑5 Abs. 2 der Ordonnance n° 58 1067, du 7 novembre 1958, portant loi organique sur le Conseil constitutionnel in der durch das französische verfassungsergänzende Gesetz Nr. 2009-1523 geänderten Fassung insoweit entgegen,. als diese den Gerichten vorschreiben, vorrangig über die Übermittlung der bei ihnen aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden, sofern sich die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit der französischen Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Unionsrechts ergibt.


1 –       Originalsprache: Französisch.


2 –      Mitteilungen nach Artikel 37 der Verordnung Nr. 562/2006 – Die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen nach Artikel 21 Buchstabe c vorzusehen (2008/C 18/03) (ABl. 2008, C 18, S. 15).


3 –       [Betrifft nicht die deutsche Übersetzung].


4 –       Nach Angaben der französischen Regierung hat das für die Durchführung der Abschiebung erforderliche Verfahren der Anerkennung der Betroffenen durch die algerischen Behörden nicht vor Ablauf der zweiwöchigen Dauer der Verwaltungshaft durchgeführt werden können. Deshalb habe der Präfekt der Region Nord-Pas-de-Calais, gleichzeitig Präfekt des Departement Nord, am 9. April 2010 die Freilassung von Herrn Melki und Herrn Abdeli angeordnet. Seitdem unterlägen Herr Melki und Herr Abdeli somit keinen freiheitsentziehenden Maßnahmen mehr und entfalteten auch die beiden Beschlüsse des Juge des libertés et de la détention, die von Herrn Melki und Herrn Abdeli nicht angefochten worden seien, keinerlei Wirkung mehr und seien rechtskräftig.


5 –       Nach Auffassung der französischen Regierung ist es Aufgabe der ordentlichen Gerichte, die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit einer internationalen Übereinkunft zu prüfen.


6 –       Die polnische Regierung hat zu der zweiten Vorlagefrage nicht Stellung genommen.


7 –       Vgl. in diesem Sinne u. a.Beschluss 2008/616/JI des Rates vom 23. Juni 2008 zur Durchführung des Beschlusses 2008/615/JI zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität (ABl. L 210, S. 12), Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. L 349, S. 1), Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. L 386, S. 89), Beschluss des Rates vom 6. April 2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamts (Europol) (ABl. L 121, S. 37) und Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. L 381, S. 4).


8 –       Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 22. Oktober 2009, Zurita García und Choque Cabrera (C‑261/08 undC‑348/08, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 43), festgestellt, dass Art. 62 Nrn. 1 und 2 Buchst. a EG [vgl. jetzt Art. 77 Abs. 2 Buchst. e AEUV] die Rechtsgrundlage für Beschlüsse des Rates über Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass Personen beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und über Maßnahmen bezüglich des Überschreitens der Außengrenzen der Mitgliedstaaten darstellt und als solche weder bezweckt, Drittstaatsangehörigen Rechte zu verleihen oder den Mitgliedstaaten Pflichten aufzuerlegen, noch eine solche Wirkung hat.


9 –       Im Fall einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit können die Mitgliedstaaten ausnahmsweise unter bestimmten strengen Voraussetzungenvorübergehend an ihren Binnengrenzen wieder Grenzkontrollen einführen. Die Tragweite und die Dauer der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen dürfen nicht über das Maß hinausgehen, das erforderlich ist, um gegen diese Bedrohung vorzugehen. Vgl. Art. 23 bis 31 der Verordnung Nr. 562/2006.


10 –       Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 562/2006 „[liegen] Grenzkontrollen … nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben. Grenzkontrollen sollten zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen“.


11 –       Meines Erachtens ergibt sich aus dem Ausdruck „insbesondere“, dass die Liste in Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 beispielhaft und nicht abschließend ist.


12 –       So stellt, was den dritten und vierten dieser Umstände angeht, die tatsächliche Intensität der Kontrollen nur ein Indiz dar. Es ist nämlich durchaus denkbar, dass versteckte Grenzkontrollen weniger intensiv durchgeführt werden als die nach dem Unionsrecht erlaubten.


13 –       Vgl. entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, Slg. 2005, I‑1215, Randnr. 34). In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass „es das Gemeinschaftsrecht einem Mitgliedstaat nicht [verbietet], zu kontrollieren, ob die Verpflichtung zur Vorlage eines Ausweispapiers eingehalten wird; der Mitgliedstaat muss dann jedoch seinen eigenen Staatsangehörigen hinsichtlich ihres Personalausweises dieselbe Verpflichtung auferlegen“.


14 –       Vgl. entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 27. April 1989, Kommission/Belgien (321/87, Slg. 1989, 997, Randnr. 15).


15 –       Vgl. auch Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 562/2006, in dem „Grenzkontrollen“ als „die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke dieser Verordnung unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen“, definiert werden.


16 –       Vgl. in diesem Sinne auch Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006.


17 –       Die anderen Bestimmungen des Art. 78‑2, nämlich Abs. 5 und 6, des französischen Strafprozessordnung, die Guadeloupe, Guayana, Mayotte, Saint-Martin und Saint-Barthélemy betreffen, sind meines Erachtens im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da die französischen überseeischen Departements und Gebietskörperschaften vom Schengen-Freizügigkeitsraum ausgenommen sind.


18 –       Die französische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen ferner Art. L611‑1 CESEDA angeführt. Hierzu ist festzustellen, dass diese Bestimmung im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist, da aus den Vorabentscheidungsersuchen klar ersichtlich ist, dass Herr Melki und Herr Abdeli Kontrollen gemäß Art. 78‑2 Abs. 4 der französischen Strafprozessordnung unterzogen worden sind. Offenbar jedenfalls – dies steht unter dem Vorbehalt einer Überprüfung durch das nationale Gericht – werden Kontrollen von Aufenthaltstiteln gemäß Art. L611‑1 CESEDA im gesamten französischen Hoheitsgebiet durchgeführt und müssen strengen Anforderungen im Hinblick auf die Eigenschaft des Betroffenen als Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit genügen. Da nach Art. L611‑1 CESEDA von Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit aber auch im Rahmen einer Identitätskontrolle gemäß den Art. 78‑1, 78‑2 und 78‑2‑1 der französischen Strafprozessordnung verlangt werden kann, Urkunden oder Bescheinigungenvorzulegen, die sie zum Reisen oder zum Aufenthalt im französischen Hoheitsgebiet berechtigen, könnte offenbar – auch diese steht unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das nationale Gericht – in der Praxis von Art. L611‑1 wegen seines Zusammenhangs mit Art. 78‑2 Abs. 4 der französischen Strafprozessordnung in dem betreffenden geografischen Bereich in größerem Umfang Gebrauch gemacht werden. Art. 78‑2‑1 der französischen Strafprozessordnung, wonach die Polizeibehörden auf Anordnung des Oberstaatsanwalts befugt sind, Geschäftsräume zu betreten, ist im vorliegenden Fall nicht einschlägig. In jedem Fall wird diese Bestimmung offenbar im gesamten französischen Hoheitsgebiet angewandt.


19 –       Das bedeutet nicht, dass durch Identitätskontrollen gemäß Art. 78‑2 Abs. 4 des französischen Code de procédure pénale nichtim Einzelfall Straftaten aufgedeckt oder verhindert werden könnten, doch offenbar – dies steht unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das nationale Gericht – enthält die Strafprozessordnung andere Bestimmungen, die speziell darauf zugeschnitten sind.


20 –       Vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien (C‑244/06, Slg. 2008, I‑505, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21 –       Siehe Oben, Nr. 18.


22 –       Früher 234 EG, davor Art. 177 EWG.


23 –       Da es im vorliegenden Fall nicht um die Gültigkeit einer Handlung der Organe der Union geht, werde ich mich in dieser Stellungnahme auf die Frage der Auslegung des Unionsrechts gemäß Art. 267 AEUV konzentrieren.


24 –       Vgl. entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 5. März 2009, Kattner Stahlbau (C‑350/07, Slg. 2009, I‑1513, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25 –       Vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofs vom 22. Dezember 2008, Régie Networks (C‑333/07, Slg. 2008, I‑10807, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


26 –       Vgl. Beschlüsse des Gerichtshofs vom 18. Juni 1980, Borker (138/80, Slg. 1980, 1975, Randnr. 4), und vom 5. März 1986, Greis Unterweger (318/85, Slg. 1986, 955, Randnr. 4), sowie Urteile des Gerichtshofs vom 19. Oktober 1995, Job Centre (C‑111/94, Slg. 1995, I‑3361, Randnr. 9), und vom 14. Juni 2001, Salzmann (C‑178/99, Slg. 2001, I‑4421, Randnr. 14).


27 –       Urteil des Gerichtshofs vom 28. April 1983, Les Fils d’Henri Ramel (170/82, Slg. 1983, 1319, Randnr. 8).


28 –       Vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 13. März 2001, PreussenElektra (C‑379/98, Slg. 2001, I‑2099, Randnr. 38), und vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 25).


29 –       Vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofs vom 15. September 2005, Intermodal Transports (C‑495/03, Slg. 2005, I‑8151, Randnrn. 31 und 33).


30 –       Urteil des Gerichtshofs vom 6. Oktober 1982 (283/81, Slg. 1982, 3415, Randnr. 21).


31 –       Allerdings lässt sich dem Urteil Cilfit u. a. auch entnehmen, dass die einem nationalen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, eingeräumte Möglichkeit, nicht jede in einem bei ihm schwebenden Verfahren aufgeworfene Frage der Auslegung des Unionsrechts dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen, u. a. auf der Grundlage der verschiedenen Sprachfassungen der betreffenden Bestimmungen des Unionsrechts zu beurteilen ist. Da es derzeit in der Union 23 offizielle Arbeitssprachen gibt und jede Sprachfassung verbindlich ist, erscheint es recht unwahrscheinlich, dass ein nationales Gericht von dieser (äußerst stark eingeschränkten) Möglichkeit tatsächlich Gebrauch machen könnte.


32 –       Urteil vom 16. Januar 1974 (166/73, Slg. 1974, 33, Randnr. 3).


33 –       Vgl. auch Urteil des Gerichtshofs vom 16. Dezember 2008, Cartesio (C‑210/06, Slg. 2008, I‑9641, Randnr. 88).


34 –       Der Gerichtshof hat in seinem Urteil Rheinmühlen-Düsseldorf ebenfalls festgestellt, dass etwas Anderes gelten müsste, wenn die von einem Gericht gestellten Fragen mit Fragen identisch wären, die das letztinstanzliche Gericht vorgelegt hat. Im Urteil vom 12. Februar 1974, Rheinmühlen-Düsseldorf (146/73, Slg. 1974, 139, Randnr. 3), hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 267AEUV im Hinblick auf ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht ausschließt, dass gegen die Entscheidungen, mit denen ein solches Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht, die normalen Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben sind (vgl. auch Urteil Cartesio, Randnr. 89). Mithin stellt sich die Frage, ob und inwieweit nationale Rechtsmittel das Recht eines nationalen Gerichts einschränken können, gemäß Art. 267 AEUV den Gerichtshof anzurufen. In seinem Urteil vom 12. Februar 1974, Rheinmühlen-Düsseldorf, hat der Gerichtshof festgestellt, dass er, auch wenn nationale Rechtsmittel gegeben sind, an die Vorlageentscheidung gebunden ist, die ihre Wirkungen entfaltenmuss, solange sie nicht aufgehoben worden ist (vgl. auch Urteil Cartesio, Randnrn. 92 bis 97). Aus der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass das Bestehen von Rechtsmitteln des nationalen Rechts grundsätzlich anerkannt wird, dass aber, wenn bei einem nationalen Gericht ein Rechtsstreit anhängig ist, das nationale Recht die selbständige Befugnis dieses Gerichts, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, nicht einschränken kann. In einem solchen Fall ist der Gerichtshof an die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen worden ist, gebunden ist, die ihre Wirkungen entfalten muss, solange sie nicht von dem Gericht, das sie erlassen hat, aufgehoben oder geändert worden ist, denn nur dieses Gericht kann eine solche Aufhebung oder Änderung beschließen.Vgl. zu einem Fall, in dem der Gerichtshof seine Zuständigkeit verneint hat, da der Rechtsstreit beim vorlegenden Gericht nicht mehr anhängig war, Beschluss vom 24. März 2009, Nationale Loterij (C‑525/06, Slg. 2009, I‑2197, Randnrn. 8 bis 11). In dieser Rechtssache hatte das vorlegende Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen nicht zurückgenommen.


35 –       Urteil vom 9. März 2010 (C‑379/08 undC‑380/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 26).


36 –       Urteil vom 19. Januar 2010 (C‑555/07, Slg. 2010, I‑0000).


37 –       In Randnr. 55 dieses Urteils hat der Gerichtshof festgestellt, dass „[d]er fakultative Charakter dieser Anrufung des Gerichtshofs … unabhängig davon [ist], unter welchen Bedingungen das nationale Gericht nach innerstaatlichem Recht eine nationale Bestimmung, die es für verfassungswidrig hält, unangewendet lassen kann“.


38 –        Urteil vom 27. Juni 1991 (C‑348/89, Slg. 1991, I‑3277, Randnr. 44).


39 –       Vgl. Randnrn. 45 bis 49 dieses Urteils. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, wirft das Tribunal Fiscal Aduaneiro do Porto (Portugal) zunächst die Frage auf, ob es bei Feststellung der Verfassungswidrigkeit der betreffenden innerstaatlichen Vorschriften zu einer Vorlageentscheidung befugt sei, da gegen die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer innerstaatlichen Rechtsnorm gemäß Art. 280 Abs. 3 der Verfassung der Portugiesischen Republik ein Rechtsbehelf zum portugiesischen Verfassungsgericht gegeben und daher möglicherweise nur dieser befugt sei, in solchen Fällen eine Vorlage zur Vorabentscheidung zu beschließen; fraglich sei weiter, ob die Vorlage zur Vorabentscheidung nicht überflüssig sei, soweit den Mängeln einer einzelstaatlichen Vorschrift innerhalb der staatlichen Rechtsordnung abgeholfen werden könne. Vgl. auch Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1997, Palmisani (C‑261/95, Slg. 1997, I‑4025, Randnrn. 16 bis 21).


40 –       Die 17. Erklärung („Erklärung zum Vorrang“) lautet:


         „Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.


         Darüber hinaus hat die Konferenz beschlossen, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorrang in der Fassung des Dokuments 11197/07 (JUR 260) dieser Schlussakte beigefügt wird:


         ‚Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007


         Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964 (1) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs.


         (1) ‚Aus (…) folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.‘‘“


41 –       Vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 24), vom 4. Juni 1992, Debus (C‑13/91 und C‑113/91, Slg. 1992, I‑3617, Randnr. 32), vom 18. Juli 2007, Lucchini (C‑119/05, Slg. 2007, I‑6199, Randnr. 61), und vom 27. Oktober 2009, ČEZ (C‑115/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 138). Vgl. auch Urteil des Gerichtshofs vom 19. November 2009, Filipiak (C‑314/08, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 84), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass der Umstand, dass ein Verfassungsgericht (in diesem Fall das Trybunał Konstytucyjny, das polnische Verfassungsgericht) den Zeitpunkt, zu dem die streitigen Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren, verschoben hat, das vorlegende Gericht nicht daranhindert, diese Vorschriften in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewandt zu lassen, wenn es sie als unionsrechtswidrig ansieht.


42 –       Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile des Gerichtshofs vom 3. Februar 1977, Benedetti (52/76, Slg. 1977, 163, Randnr. 26), und vom 14. Dezember 2000, Fazenda Pública (C‑446/98. Slg. 2000, I‑11435, Randnr. 49), sowie Beschluss des Gerichtshofs vom 5. März 1986, Wünsche (69/85, Slg. 1986, 947, Randnr. 13). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Österreichischer Gewerkschaftsbund (C‑195/98, Urteil vom 30. November 2000, Slg. 2000, I‑10497, Nr. 64). In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International (C‑42/07, Urteil vom 8. September 2009, Slg. 2009, I‑0000, Nrn. 204 und 205) hat Generalanwalt Bot ausgeführt, dass die einheitliche Auslegung des Unionsrechts nur gewährleistet werden könne, wenn die Urteile des Gerichtshofs für die nationalen Gerichte bindend seien. Die Bindungswirkung sei auch die logische Folge dessen, dass die nationalen Gerichte verpflichtet seien, die wirksame Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten.


43 –       Vgl. entsprechend Urteil Filipiak.