Language of document : ECLI:EU:T:2010:461

URTEIL DES GERICHTS (Rechtsmittelkammer)

10. November 2010

Rechtssache T‑260/09 P

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt
(Marken, Muster und Modelle) (HABM)

gegen

Manuel Simões Dos Santos

„Rechtsmittel – Anschlussrechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Beförderung – Beförderungsverfahren 2003 – Annullierung und Neuberechnung des Verdienstpunkteguthabens – Durchführung eines Urteils des Gerichts – Rechtskraft – Rechtsgrundlage – Keine Rückwirkung – Berechtigtes Vertrauen – Materieller Schaden – Verlust einer Beförderungschance – Immaterieller Schaden“

Gegenstand: Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Erste Kammer) vom 5. Mai 2009, Simões Dos Santos/HABM (F‑27/08, Slg. ÖD 2009, I‑A‑1‑113 und II‑A‑1‑613), wegen Aufhebung dieses Urteils. Anschlussrechtsmittel von Herrn Simões Dos Santos

Entscheidung: Die Nrn. 2 bis 5 des Tenors des Urteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Erste Kammer) vom 5. Mai 2009, Simões Dos Santos/HABM (F‑27/08), werden aufgehoben. Im Übrigen werden das Rechtsmittel und das Anschlussrechtsmittel zurückgewiesen. Die Rechtssache wird an das Gericht für den öffentlichen Dienst zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Leitsätze

1.      Beamte – Beförderung – Erlass eines neuen Beförderungssystems – Entzug der nach dem bisherigen System erworbenen Verdienstpunkte – Verletzung der Grundsätze der Nichtrückwirkung, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit

(Beamtenstatut, Art. 45)

2.      Beamte – Beförderung – Erlass eines neuen Beförderungssystems – Entziehung der unter dem alten System erworbenen Verdienstpunkte – Erforderlichkeit einer ausdrücklichen, genauen und eindeutigen Rechtsgrundlage

(Beamtenstatut, Art. 45, 90 und 91)

3.      Beamte – Beförderung – Erlass eines neuen Beförderungssystems – Entziehung der unter dem alten System erworbenen Verdienstpunkte – Beamter mit einem hohen Verdienstpunktesaldo infolge seines hohen Dienstalters

(Beamtenstatut, Art. 45)

4.      Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Wirkungen – Verpflichtung, Durchführungsmaßnahmen zu erlassen

(Art. 233 Abs. 1 EG)

5.      Beamte – Klage – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung – Verurteilung des beklagten Organs zur Zahlung einer Entschädigung für einen durch einen Amtsfehler verursachten Schaden

(Beamtenstatut, Art. 91 Abs. 1)

6.      Beamte – Klage – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung –Tragweite – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens

(Beamtenstatut, Art. 91 Abs. 1)

7.      Beamte – Klage – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung – Ersatz des im Verlust einer Chance bestehenden immateriellen Schadens – Bemessung – Kriterien

(Beamtenstatut, Art. 91 Abs. 1)

1.      Die Grundsätze der Nichtrückwirkung, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dürfen nicht so weit ausgedehnt werden, dass die Anwendung einer neuen Vorschrift auf die künftigen Auswirkungen von Sachverhalten, die unter der Geltung der alten Regelung entstanden sind, schlechthin ausgeschlossen ist. Dagegen sind die Vorschriften des materiellen Rechts so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist. Diese Grundsätze verbieten ebenso, den Beginn der zeitlichen Geltung eines Rechtsakts der Union auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen, außer in Ausnahmefällen, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist. Wenn zudem den Rechtsbehelfen, mit denen vor dem Unionsrichter gerügt werden kann, dass der angefochtene Rechtsakt die Grundsätze der Nichtrückwirkung, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verletzt, nicht jede praktische Wirksamkeit genommen werden soll, darf sich das die Rückwirkung eines Rechtsakt mit allgemeiner Wirkung rechtfertigende Ziel weder in der Rückwirkung dieses Akts als solcher erschöpfen, die nur eine Folge des Rechtsakts sein darf, noch lediglich in der Absicht des Autors des späteren Rechtsakts bestehen, ein Versäumnis im ursprünglichen Rechtsakt rückwirkend zu beheben.

Dass das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) die unter der Geltung des alten Systems für die Beurteilung und Beförderung der Beamten vergebenen Verdienstpunkte nicht vollständig und unverändert berücksichtigt, ist zwar eine legitime Entscheidung des HABM im Rahmen seines Ermessens hinsichtlich der Durchführung und der Änderung des Systems für die Beurteilung und Beförderung der Beamten; das HABM kann sich aber nicht auf das mit der Reform dieses Systems verfolgte Ziel stützen, dessen Schwächen zu beseitigen, die sich daraus ergeben, dass zu viele Verdienstpunkte aufgrund eines besonders hohen Dienstalters anstatt aufgrund der aktuellen Verdienste des betreffenden Beamten vergeben wurden, wenn es nicht erläutert, aus welchen Gründen es anstelle der rückwirkenden Löschung der aus dem bisherigen System hervorgegangenen Verdienstpunktesalden nicht möglich war, diese Verdienstpunkte mit sofortiger Wirkung in Verdienstpunkte nach dem neuen Beurteilungs- und Beförderungssystem umzuwandeln, ohne dadurch die genannten Ziele zu beeinträchtigen. In einem solchen Fall stellt das Ziel der Beseitigung der Schwächen des bisherigen Beurteilungs- und Beförderungssystems für sich genommen kein ausreichendes Ziel dar, das geeignet wäre, die rückwirkende Anwendung einer Entscheidung über die Entziehung erworbener Verdienstpunkte zu rechtfertigen.

Eine solche Entscheidung stellt außerdem eine Verletzung des berechtigten Vertrauens des betreffenden Beamten dar, wenn dieser aufgrund eines Urteils, mit dem die Entscheidung über die Entziehung der Punkte wegen fehlender Rechtsgrundlage aufgehoben wird, damit rechnen durfte, dass sein unter der Geltung des alten Systems erworbener Verdienstpunktsaldo nicht rückwirkend entzogen wird, was die Möglichkeit einer Änderung dieses Saldos mit sofortiger Wirkung für die Zukunft nicht ausschließt.

(vgl. Randnrn. 48, 52, 54, 60, 62 und 63)

Verweisung auf:

Gerichtshof, 25. Januar 1979, Weingut Decker, 99/78, Slg. 1979, 101, Randnr. 8; Gerichtshof, 11. Juli 1991, Crispoltoni, C‑368/89, Slg. 1991, I‑3695, Randnr. 17; Gerichtshof, 11. Dezember 2008, Kommission/Freistaat Sachsen, C‑334/07 P, Slg. 2008, I‑9465, Randnrn. 43 und 44; Gerichtshof, 19. März 2009, Mitsui & Co. Deutschland, C‑256/07, Slg. 2009, I‑1951, Randnr. 2 und die dort angeführte Rechtsprechung

Gericht, 14. Februar 2007, Simões Dos Santos/HABM, T‑435/04, Slg. ÖD 2007, I‑A‑2-61 und II‑A‑2-427, Randnr. 100; Gericht, 7. Oktober 2009, Vischim/Kommission, T‑380/06, Slg. 2009, II‑3911, Randnr. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung

2.      Eine von einem Organ oder einer Agentur erlassene interne Regelung zur Einführung eines neuen Systems für die Beurteilung und Beförderung der Beamten, die die Entziehung der unter dem bisherigen Beurteilungs- und Beförderungssystem erworbenen Verdienstpunkte vorsieht, muss eine spezifische Bestimmung enthalten, die als Rechtsgrundlage für die Erreichung des Ziels der Reform dieses Systems dient, d. h. eine ausdrückliche und hinreichend klare und genaue Bestimmung, die auf die Löschung der von den Beamten des betreffenden Organs oder der betreffenden Agentur unter der Geltung des bisherigen Systems gesammelten Verdienstpunkte abzielt.

Das Fehlen einer solchen Rechtsgrundlage stellt einen Rechtsverstoß dar, der nicht durch einen späteren, mit Rückwirkung versehenen Rechtsakt geheilt werden kann.

Das Fehlen einer solchen Rechtsgrundlage ist nämlich nicht lediglich ein bloßer Formfehler, der durch einen auslegenden Rechtsakt rückwirkend geheilt werden kann, sondern ein schwerer und irreversibler Rechtsverstoß, durch den die Grundsätze der Rechtmäßigkeit und der Rechtssicherheit verletzt werden. Andernfalls wäre zudem die praktische Wirksamkeit von Rechtsbehelfen, die darauf abzielen, dass ein Rechtsakt für nichtig erklärt oder dessen Rechtswidrigkeit festgestellt wird, weil ihm die Rechtsgrundlage fehlt, nicht mehr gewährleistet, da das betreffende Organ oder die betreffende Agentur die Wirkungen der Nichtigerklärung dieses Rechtsakts oder der Feststellung seiner Rechtswidrigkeit rückwirkend beseitigen und somit für die Vergangenheit eine Rechtslage schaffen könnte, als ob der schwere und irreversible Rechtsverstoß niemals begangen worden wäre, wodurch dem Organ oder der Agentur ermöglicht würde, den Gegenstand eines Rechtsstreits, der zur Nichtigerklärung oder zur Feststellung der Rechtswidrigkeit geführt hat, nachträglich zu ändern. Dies gilt erst recht, wenn die Rechtmäßigkeit der allgemeinen Regelung, die als Rechtsgrundlage des für nichtig erklärten Rechtsakts angesehen wird, als solche im Rahmen einer Klage gegen diesen Rechtsakt und infolgedessen durch eine Entscheidung des Gerichts nicht in Frage gestellt wird.

Zudem würde selbst unter der Annahme, dass das Fehlen einer Rechtsgrundlage lediglich einen Formfehler darstellt, ein auf einen solchen Formfehler gestütztes Nichtigkeitsurteil die Feststellung der Rechtswidrigkeit ab dem Inkrafttreten des für nichtig erklärten Aktes einschließen – unbeschadet der Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel, einen solchen Akt in gerade jenem Stadium zu ersetzen, in dem die Rechtswidrigkeit aufgetreten ist, und der eventuellen Gültigkeit später erlassener Vorbereitungsakte. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich jedoch nicht, dass der später erlassene Akt, der den wegen eines Formfehlers erlassenen Akt ersetzen soll, geeignet ist, diesen Fehler rückwirkend zu heilen.

(vgl. Randnrn. 56, 57, 59, 71 und 72)

Verweisung auf:

Gerichtshof, 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg. 2002, I‑8375, Randnrn. 72 bis 75; Gerichtshof, 29. November 2007, Italien/Kommission, C‑417/06 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 51 bis 53

Gericht, Simões Dos Santos/HABM, Randnrn. 139 bis 146

3.      Im Rahmen einer internen Regelung eines Organs oder einer Agentur zur Einführung eines neuen Systems für die Beurteilung und Beförderung der Beamten kann eine rückwirkende Entscheidung über die Entziehung der unter dem bisherigen System erworbenen Verdienstpunkte gegenüber einem Beamten, der als einziger aufgrund seines hohen Dienstalters über einen besonders hohen Verdienstpunktesaldo verfügte und als einziger – wiederholt – auf den Erhalt dieses Saldos geklagt hatte, nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz gerechtfertigt werden.

Unter diesen Umständen kann das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) nicht geltend machen, dass sich ein solcher Beamten in einer ähnlichen oder identischen Situation befinde wie die anderen Beamten dieses Amts, was zu Ungleichbehandlungen zu Lasten der Letztgenannten führen könne.

(vgl. Randnr. 61)

4.      Das Organ, das den für nichtig erklärten Akt erlassen hat, kommt einem Nichtigkeitsurteil nur dann nach und führt dieses Urteil nur dann voll durch, wenn es nicht nur den Urteilstenor beachtet, sondern auch die Urteilsgründe, die den Tenor in dem Sinne tragen, dass sie zur Bestimmung seiner genauen Bedeutung unerlässlich sind. Diese Gründe benennen zum einen die konkrete Bestimmung, die als rechtswidrig angesehen wird, und lassen zum anderen die konkreten Gründe der im Tenor festgestellten Rechtswidrigkeit erkennen, die das betreffende Organ bei der Ersetzung des für nichtig erklärten Aktes zu beachten hat.

Ferner verpflichtet Art. 233 EG das betreffende Organ, anstelle der für nichtig erklärten Handlung keine Handlung zu setzen, die eben die Fehler aufweist, die im Nichtigkeitsurteil festgestellt wurden. Diese Grundsätze gelten erst recht nach Eintritt der Rechtskraft des Nichtigkeitsurteils.

Der Zweck der Nichtigkeitsklage und die praktische Wirksamkeit von Art. 233 Abs. 1 EG würden stark gefährdet oder sogar vereitelt, wenn das Organ, das den für nichtig erklärten Akt erlassen hat, anstatt die sich aus dem Urteil des Gerichts ergebenden Maßnahmen zu ergreifen und die begangene Rechtswidrigkeit zu beseitigen, rückwirkend die Rechtsgrundlage dieses Aktes ändern dürfte, um ein Ergebnis zu erzielen, das dem vom Unionsgericht geahndeten entspricht.

(vgl. Randnrn. 70 und 72)

Verweisung auf:

Gerichtshof, 26. April 1988, Asteris u. a./Kommission, 97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, Slg. 1988, 2181, Randnr. 27; Gerichtshof, 14. September 1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., C‑310/97 P, Slg. 1999, I‑5363, Randnrn. 54 und 56; Gerichtshof, 13. Juli 2000, Gómez de Enterría y Sanchez/Parlament, C‑8/99 P, Slg. 2000, I‑6031, Randnr. 20; Italien/Kommission, Randnr. 50

5.      Das Unionsgericht verfügt nach Art. 91 Abs. 1 Satz 2 des Statuts bei Streitsachen vermögensrechtlicher Art über eine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung, in deren Rahmen es gegebenenfalls auch die beklagte Partei von Amts wegen zur Zahlung einer Entschädigung für den durch ihren Amtsfehler entstandenen Schaden verurteilen und unter Berücksichtigung aller Umstände der Rechtssache den Schaden nach billigem Ermessen schätzen kann. Aus dieser Befugnis erwächst dem Unionsrichter nämlich die Aufgabe, die bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreitigkeiten umfassend zu entscheiden, und er kann selbst dann, wenn kein entsprechender ordnungsgemäßer Antrag gestellt worden ist, nicht nur aufheben, sondern das beklagte Organ oder die beklagte Agentur gegebenenfalls auch von Amts wegen zur Zahlung einer Entschädigung für den Schaden verurteilen, der durch den Amtsfehler des Organs oder der Agentur entstanden ist.

In Anbetracht dieser Grundsätze kann dem Gericht für den öffentlichen Dienst nicht vorgeworfen werden, im Rahmen der Nichtigkeitsklage eines Beamten gegen eine Entscheidung des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) ultra petita entschieden zu haben, als es dem Kläger, auch wenn dieser keinen entsprechenden ausdrücklichen Antrag gestellt hatte, eine Entschädigung für den ihm durch den Amtsfehler des Amtes entstandenen Schaden zugesprochen hat.

(vgl. Randnrn. 83 bis 85)

Verweisung auf:

Gerichtshof, 17. Dezember 2009, Überprüfung M/EMEA, C‑197/09 RX‑II, Slg. 2009, I‑12033, Randnr. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung; Gerichtshof, 20. Mai 2010, Gogos/Kommission, C‑583/08 P, Slg. 2010, I‑4469, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung

Gericht, 8. September 2009, ETF/Landgren, T‑404/06 P, Slg. 2009, II‑2841, Randnr. 232 und die dort angeführte Rechtsprechung

6.      Die in Streitsachen vermögensrechtlicher Art zwischen den Organen und ihren Bediensteten bestehende Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung kann nicht so verstanden werden, dass dieser befugt wäre, in einer solchen Streitsache die mit dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens in Zusammenhang stehenden Verfahrensregeln unbeachtet zu lassen. Dieser Grundsatz, dessen Beachtung der Unionsrichter zu gewährleisten und den er selbst zu beachten hat, ist Bestandteil der Verteidigungsrechte und gilt für jedes Verfahren, das zu einer Entscheidung eines Organs oder einer Agentur führen kann, durch die Interessen einer Person spürbar beeinträchtigt werden.

Er umfasst im Allgemeinen das Recht der Verfahrensbeteiligten, zu den Tatsachen und Schriftstücken Stellung nehmen zu können, auf die eine gerichtliche Entscheidung gestützt wird, und die dem Gericht vorgelegten Beweise und Erklärungen sowie die rechtlichen Gesichtspunkte zu erörtern, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigt hat und auf die es seine Entscheidung gründen möchte. Für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren kommt es nämlich darauf an, dass die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind, kontradiktorisch erörtern können. Folglich kann der Unionsrichter seine Entscheidung nicht auf einen von Amts wegen geprüften Rechtsgrund – sei er auch zwingendes Recht – stützen, ohne die Parteien zuvor aufgefordert zu haben, sich dazu zu äußern.

Wenn daher das Gericht für den öffentlichen Dienst das Vorliegen und den Umfang des immateriellen Schadens, der einem Beamten des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) entstanden ist, sowie dessen Entschädigungsfähigkeit bewertet, ohne zuvor dem HABM Gelegenheit gegeben zu haben, seinen Standpunkt hierzu in geeigneter Weise zu Gehör bringen, verstößt es gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und verletzt die Verteidigungsrechte des HABM.

(vgl. Randnrn. 86, 87, 91 und 92)

Verweisung auf:

Gerichtshof, 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, Slg. 2009, I‑11245, Randnrn. 50 bis 57; Überprüfung M/EMEA, Randnrn. 40 bis 42 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Randnr. 58

Gericht, 12. Mai 2010, Bui Van/Kommission, T‑491/08 P, Randnr. 88

7.       Die Anstellungsbehörde verfügt über ein weites Ermessen in Bezug auf die Auswahl der zu befördernden Beamten. Selbst wenn daher feststeht, dass die Anstellungsbehörde während des Beförderungsverfahrens Rechtsverstöße zum Nachteil des Betroffenen begangen hat, können diese allein, wenn nicht das weite Ermessen der Anstellungsbehörde in Abrede gestellt werden soll, nicht genügen, um darauf zu schließen, dass der Betroffene bei Nichtvorliegen dieser Rechtsverstöße tatsächlich befördert worden wäre und der behauptete materielle Schaden daher bestimmt und gegenwärtig sei. Das Statut verleiht nämlich keinen Anspruch auf eine Beförderung, auch nicht den Beamten, die alle Voraussetzungen für eine Beförderung erfüllen. Folglich kann das Gericht, ohne die Beurteilung der Anstellungsbehörde durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen, die Beförderungsmöglichkeiten des Betroffenen nicht hinreichend genau bestimmen, um feststellen zu können, dass der Betroffene insoweit einen finanziellen Schaden erlitten hat. Mangels eines Beförderungsanspruchs kann daher der von einem Kläger geltend gemachte materielle Schaden nicht im Verlust der zusätzlichen Vergütung bestehen, die der Kläger im Fall seiner Beförderung erhalten hätte.

Wie jedoch von der Rechtsprechung anerkannt worden ist, kann sich ein tatsächlicher und sicherer – und damit entschädigungsfähiger – materieller Schaden auch aus dem Verlust einer Chance, wie einer Beförderungschance, ergeben. Da eine Reihe hinreichend genauer und plausibler Anhaltspunkte, die durch detaillierte Berechnungen gestützt werden, zum Beleg dafür vorliegen, dass der klagende Beamte unbeschadet des weiten Ermessens der Anstellungsbehörde eine konkrete und ernsthafte Chance gehabt hätte, befördert zu werden, wenn ein aus dem alten Beurteilungs- und Beförderungssystem hervorgegangener Verdienstpunktesaldo in ein Verdienstpunkteguthaben nach einem neuen System umgewandelt worden wäre, kann das Gericht für den öffentlichen Gericht nicht rechtmäßig feststellen, dass sogar die ernsthafte Chance auf eine Beförderung keinen materiellen Schaden in Gestalt eines Einkommensverlusts darstellt. Ein solcher Verlust ist im Gegenteil ein einschlägiger Gesichtspunkt für die Bewertung des Umfangs der Entschädigung, die als Ausgleich für einen Schaden zuzusprechen ist, der im Verlust einer Chance besteht.

(vgl. Randnrn. 102 bis 106)

Verweisung auf:

Gerichtshof, 21. Februar 2008, Kommission/Girardot, C‑348/06 P, Slg. 2008, I‑833, Randnrn. 54 ff. und 67

Gericht, 15. September 2005, Casini/Kommission, T‑132/03, Slg. ÖD 2005, I‑A‑253 und II‑1169, Randnr. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung; Gericht, 31. Januar 2007, C/Kommission, T‑166/04, Slg. ÖD 2007, I‑A‑2‑9 und II‑A‑2‑49, Randnrn. 65 und 66