Language of document : ECLI:EU:C:2022:736

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 29. September 2022(1)

Rechtssache C640/20 P

PV

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Mobbing – Ärztliche Gutachten – Unbefugtes Fernbleiben – Dienstbezüge – Statut der Beamten der Europäischen Union – Art. 11a – Interessenkonflikt – Art. 21a und 23 – Nationales Strafrecht – Disziplinarverfahren – Entfernung aus dem Dienst – Rücknahme – Rechtsschutzinteresse – Neues Disziplinarverfahren – Erneute Entfernung aus dem Dienst“






I.      Einleitung

1.        Mit seinem Rechtsmittel beantragt PV die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 30. Januar 2020, PV/Kommission (T‑786/16 und T‑224/18, im Folgenden: angefochtenes Urteil, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:17), mit dem das Gericht seine Anträge auf Feststellung, dass er Opfer von Mobbing geworden ist, auf Aufhebung mehrerer Handlungen und auf Verurteilung der Europäischen Kommission zum Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens, den er als Beamter der Kommission erlitten zu haben behauptet, zurückgewiesen hat.

2.        Dieses Rechtsmittel, das zum Recht des europäischen öffentlichen Dienstes gehört, umfasst zehn Rechtsmittelgründe, mit denen im Wesentlichen die meisten wesentlichen Feststellungen beanstandet werden, die das Gericht im angefochtenen Urteil zu den Aufhebungsanträgen von PV getroffen hat. Auf Wunsch des Gerichtshofs werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die ersten beiden Rechtsmittelgründe und den achten Rechtsmittelgrund konzentrieren. Die Prüfung dieser Rechtsmittelgründe wird mich zur Prüfung einer Reihe neuer Rechtsfragen führen, nämlich der Anwendbarkeit des Strafrechts der Mitgliedstaaten auf Unionsbeamte, der Pflicht zur Unparteilichkeit im öffentlichen Dienst und der Möglichkeit, beim Gericht eine Klage auf Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung nach deren Rücknahme zu erheben.

II.    Rechtlicher Rahmen

3.        Art. 11a des Statuts der Beamten der Europäischen Union in der auf den Rechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Statut) bestimmt:

„(1)      Der Beamte darf sich bei der Ausübung seines Amtes vorbehaltlich der nachstehenden Vorschriften nicht mit Angelegenheiten befassen, an denen er mittelbar oder unmittelbar ein persönliches, insbesondere ein familiäres oder finanzielles Interesse hat, das seine Unabhängigkeit beeinträchtigen kann.

(2)      Ein Beamter, der sich gegebenenfalls bei der Ausübung seines Amtes mit einer Angelegenheit im Sinne von Absatz 1 zu befassen hat, muss unverzüglich die Anstellungsbehörde benachrichtigen. Die Anstellungsbehörde ergreift die erforderlichen Maßnahmen und kann insbesondere den Beamten von seinen Aufgaben im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit befreien.

(3)      Der Beamte darf an Unternehmen, die der Kontrolle seines Organs unterliegen oder mit diesem in Verbindung stehen, weder unmittelbar noch mittelbar eine Beteiligung beibehalten oder erwerben, die aufgrund ihrer Art oder ihres Umfangs seine Unabhängigkeit bei der Ausübung seines Amtes gefährden könnte.“

4.        Art. 12a des Statuts sieht vor:

„(1)      Der Beamte enthält sich jeder Form von Mobbing oder sexueller Belästigung.

(2)      Einem Beamten, der das Opfer von Mobbing oder sexueller Belästigung gewesen ist, entstehen von Seiten des Organs keine Nachteile. Einem Beamten, der über Mobbing oder sexuelle Belästigung ausgesagt hat, entstehen von Seiten des Organs keine Nachteile, sofern er in gutem Glauben gehandelt hat.

(3)      Als ‚Mobbing‘ wird ungebührliches Verhalten bezeichnet, das über einen längeren Zeitraum, wiederholt oder systematisch in Verhaltensweisen, mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, Handlungen oder Gesten zum Ausdruck kommt, die vorsätzlich begangen werden und die Persönlichkeit, die Würde oder die physische oder psychische Integrität einer Person angreifen.

…“

5.        Art. 19 Abs. 1 des Statuts lautet:

„Der Beamte darf die ihm bei seiner dienstlichen Tätigkeit bekannt gewordenen Tatsachen nicht ohne Zustimmung seiner Anstellungsbehörde vor Gericht vorbringen oder über sie aussagen. Die Zustimmung darf nur versagt werden, wenn die Interessen der Union es erfordern und die Versagung für den Beamten keine strafrechtlichen Folgen haben kann. Diese Verpflichtung besteht für den Beamten auch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst.“

6.        Art. 21a des Statuts hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Hält ein Beamter eine ihm erteilte Anordnung für fehlerhaft oder ist er der Meinung, dass ihre Ausführung schwerwiegende Nachteile zur Folge haben kann, so hat er seinem Vorgesetzten seine Auffassung mitzuteilen. Teilt der Beamte seine Auffassung schriftlich mit, so antwortet der Vorgesetzte ebenfalls schriftlich. Bestätigt der unmittelbare Vorgesetzte seine Anordnung und hält der Beamte diese Bestätigung nicht für eine geeignete Antwort auf seine Bedenken, so benachrichtigt er vorbehaltlich des Absatzes 2 schriftlich den nächsthöheren Vorgesetzten. Bestätigt dieser die Anordnung schriftlich, so muss der Beamte sie ausführen, sofern sie nicht offenkundig rechtswidrig ist oder gegen die Sicherheitsvorschriften verstößt.

(2)      Ist der unmittelbare Vorgesetzte der Auffassung, dass die Anordnung unverzüglich auszuführen ist, so muss der Beamte sie ausführen, sofern sie nicht offenkundig rechtswidrig ist oder gegen die Sicherheitsvorschriften verstößt. Der Beamte kann verlangen, dass eine solche Anordnung schriftlich erteilt wird.

(3)      Wenn ein Beamter seine Vorgesetzten über Anordnungen informiert, die er für fehlerhaft hält oder von denen er annimmt, dass sie erhebliche Schwierigkeiten zur Folge haben können, so dürfen ihm hierdurch keine Nachteile entstehen.“

7.        Art. 23 Abs. 1 des Statuts bestimmt:

„Die den Beamten zustehenden Vorrechte und Befreiungen sind ausschließlich im Interesse der Union gewährt. Soweit in dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen nichts anderes bestimmt ist, sind die Beamten weder von der Erfüllung ihrer persönlichen Verpflichtungen noch von der Beachtung der geltenden Gesetze und polizeilichen Vorschriften befreit.“

8.        Art. 24 des Statuts lautet:

„Die Union leistet ihren Beamten Beistand, insbesondere beim Vorgehen gegen die Urheber von Drohungen, Beleidigungen, übler Nachrede, Verleumdungen und Anschlägen auf die Person oder das Vermögen, die auf Grund ihrer Dienststellung oder ihres Amtes gegen sie oder ihre Familienangehörigen gerichtet werden.

Sie ersetzt solidarisch den erlittenen Schaden, soweit ihn der Beamte weder vorsätzlich noch grobfahrlässig herbeigeführt hat und soweit er keinen Schadenersatz von dem Urheber erlangen konnte.“

9.        Art. 59 Abs. 1 und 3 des Statuts sieht vor:

„(1)      Weist ein Beamter nach, dass er wegen Erkrankung oder infolge eines Unfalls seinen Dienst nicht ausüben kann, so erhält er Krankheitsurlaub.

Der Beamte hat sein Organ unverzüglich von seiner Dienstunfähigkeit zu unterrichten und dabei seine aktuelle Adresse mitzuteilen. Vom vierten Tag seines Fernbleibens vom Dienst an hat er ein ärztliches Attest vorzulegen. Das ärztliche Attest ist spätestens am fünften Tag der Abwesenheit abzusenden, wobei das Datum des Poststempels maßgebend ist. Andernfalls wird von einem unbefugten Fernbleiben vom Dienst ausgegangen, es sei denn, die Nichtversendung des ärztlichen Attests ist auf Gründe zurückzuführen, die dem Beamten nicht angelastet werden können.

Der Beamte, der sich in Krankheitsurlaub befindet, kann jederzeit einer ärztlichen Kontrolle unterzogen werden, die von dem Organ eingerichtet wird. Kann aus Gründen, die dem Beamten anzulasten sind, eine solche ärztliche Kontrolle nicht stattfinden, so gilt sein Fernbleiben vom Dienst ab dem für diese Kontrolle angesetzten Tag als unbefugt.

Wird durch die ärztliche Kontrolle festgestellt, dass der Beamte seinen Dienst ausüben kann, so gilt sein Fernbleiben ab dem Tag der Kontrolle als unbefugt.

Ist der Beamte der Auffassung, dass die Ergebnisse der von der Anstellungsbehörde veranlassten ärztlichen Kontrolle aus medizinischen Gründen nicht gerechtfertigt sind, kann er oder ein in seinem Namen handelnder Arzt binnen zwei Arbeitstagen bei dem Organ beantragen, die Angelegenheit einem unabhängigen Arzt zur Stellungnahme vorzulegen.

Das Organ leitet den Antrag unverzüglich an einen anderen Arzt weiter, der vom Arzt des Beamten und vom Vertrauensarzt des Organs im gegenseitigen Einvernehmen bestimmt wird. Sofern binnen fünf Tagen keine Einigung erzielt wird, wählt das Organ einen unabhängigen Arzt aus einer Liste aus, die zu diesem Zweck alljährlich von der Anstellungsbehörde und der Personalvertretung im gegenseitigen Einvernehmen erstellt wird. Der Beamte kann innerhalb von zwei Arbeitstagen Einspruch gegen die Wahl des Organs erheben[,] und das Organ wählt daraufhin eine andere Person aus dieser Liste aus; diese Wahl ist endgültig.

Die vom unabhängigen Arzt nach Anhörung des Arztes des Beamten und des Vertrauensarztes des Organs abgegebene Stellungnahme ist bindend. Wird in der Stellungnahme des unabhängigen Arztes das Ergebnis der vom Organ veranlassten Kontrolle bestätigt, so gilt das Fernbleiben vom Dienst ab dem Tag der Kontrolle als unbefugt. Wird in der Stellungnahme des unabhängigen Arztes das Ergebnis der Kontrolle nicht bestätigt, gilt das Fernbleiben für sämtliche Zwecke als gerechtfertigt.

(3)      Unbeschadet der Anwendung der Bestimmungen über Disziplinarverfahren wird ein unbefugtes Fernbleiben im Sinne der Absätze 1 und 2 gegebenenfalls auf den Jahresurlaub des Beamten angerechnet. Sind die Urlaubsansprüche des Beamten verbraucht, so erfolgt für den betreffenden Zeitraum ein Gehaltsabzug.“

10.      Art. 60 Abs. 1 des Statuts lautet:

„Der Beamte darf dem Dienst außer bei Krankheit oder Unfall nicht ohne vorherige Zustimmung seines Vorgesetzten fernbleiben. Unbeschadet der etwaigen disziplinarrechtlichen Folgen wird jedes unbefugte Fernbleiben vom Dienst, das ordnungsgemäß festgestellt worden ist, auf den Jahresurlaub des Beamten angerechnet. Ist der Jahresurlaub des Beamten verbraucht, so verwirkt er für die entsprechende Zeit den Anspruch auf seine Dienstbezüge.“

11.      Art. 6 Abs. 5 des Anhangs IX des Statuts sieht vor:

„Innerhalb von fünf Tagen nach Bildung des Disziplinarrates kann der betreffende Beamte ein Mitglied des Disziplinarrates ablehnen. Auch das Organ kann ein Mitglied des Disziplinarrates ablehnen.

Innerhalb der gleichen Frist können die Mitglieder des Disziplinarrates berechtigte Selbstablehnungsgründe geltend machen; bei einem Interessenkonflikt lehnen sie ihre Bestellung ab.

…“

III. Vorgeschichte des Rechtsstreits, Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

A.      Vorgeschichte des Rechtsstreits

12.      Die Vorgeschichte des Rechtsstreits ist in den Rn. 1 bis 33 des angefochtenen Urteils dargestellt. Sie lässt sich für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens wie folgt zusammenfassen.

13.      PV, der seit dem 16. Juli 2007 Beamter der Kommission war, war bis zum 30. September 2009 der Generaldirektion (GD) Beschäftigung, Soziales und Integration der Kommission zugewiesen.

14.      Da PV sich als Opfer von Mobbing sah, stellte er am 5. August 2009 einen Antrag auf Beistand gemäß Art. 24 und Art. 90 Abs. 1 des Statuts. Dieses Verfahren wurde nach der Versetzung von PV zur GD Haushalt der Kommission am 1. Oktober 2009 und nach einer Untersuchung des Untersuchungs- und Disziplinaramts der Kommission, das zu dem Ergebnis kam, dass die nach Art. 12a Abs. 3 des Statuts für die Einstufung eines bestimmten Verhaltens als Mobbing erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien, am 9. Juni 2010 abgeschlossen.

15.      Am 1. April 2013 wurde PV dem Referat „Haushalt und Finanzverwaltung“ der GD Dolmetschen der Kommission zugewiesen.

16.      Am 12. November 2013 legte der Leiter dieses Referats gegen PV eine Disziplinarbeschwerde wegen Verhaltensproblemen, Nichtanwendung der geltenden Verfahren und Leistungsmängeln ein.

17.      Ab dem 8. Mai 2014 erschien PV, da er sich als Opfer von Mobbing sah, nicht mehr zur Arbeit und schickte von seinem behandelnden Arzt ausgestellte ärztliche Atteste.

18.      Am 27. Juni und 10. Oktober 2014 gaben die Vertrauensärzte der Kommission ärztliche Gutachten ab, in denen sie darauf hinwiesen, dass PV zur Wiederaufnahme der Arbeit in der Lage sei. In der Folge wurde PV zu ärztlichen Kontrolluntersuchungen geladen, und er kam diesen Ladungen nicht nach.

19.      Am 23. Dezember 2014 stellte PV einen zweiten Antrag auf Beistand gemäß Art. 24 des Statuts. Mit Entscheidung vom 12. März 2015 entschied die Anstellungsbehörde, dass es keine Anhaltspunkte für ein Mobbing gegen PV gebe, und kam zu dem Ergebnis, dass die Anwendung von Sofortmaßnahmen zur Abberufung von PV daher nicht gerechtfertigt sei.

20.      Da die Abwesenheiten von PV nach Ansicht der Kommission nicht gerechtfertigt waren, erließ sie mehrere Entscheidungen über Abzüge vom Gehalt von PV.

21.      Am 10. Juli 2015 leitete die Kommission das Disziplinarverfahren CMS 13/087 gegen PV wegen wiederholter Gehorsamsverweigerung in Ausübung seines Amtes, unangemessenen Verhaltens und unbefugten Fernbleibens ein.

22.      Mit Entscheidungen vom 31. Mai und 5. Juli 2016 stellte die Anstellungsbehörde fest, dass das Fernbleiben von PV für die Zeiträume vom 5. Februar bis zum 31. März 2016 und vom 4. April bis 31. Mai 2016 unbefugt gewesen sei.

23.      Mit Entscheidung vom 11. Juli 2016 setzte das Amt für die Feststellung und Abwicklung individueller Ansprüche (PMO) die Zahlung des Gehalts des Rechtsmittelführers mit Wirkung vom 1. Juli 2016 aus.

24.      Mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 26. Juli 2016, die auf die Schlussfolgerungen des Disziplinarverfahrens CMS 13/087 hin erging, wurde PV mit Wirkung vom 1. August 2016 aus dem Dienst entfernt (im Folgenden: Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 26. Juli 2016). PV legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, die mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 2. Februar 2017 zurückgewiesen wurde.

25.      Mit Schreiben vom 31. Juli 2016 teilte der Generaldirektor der GD Dolmetschen PV seine Absicht mit, das Fernbleiben von PV vom 2. Juni bis zum 31. Juli 2016 als unbefugt anzusehen und die entsprechenden Abzüge von seinem Gehalt vorzunehmen. Die von PV gegen dieses Schreiben eingelegte Beschwerde wurde mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 17. Januar 2017 zurückgewiesen.

26.      Mit Vorabinformationsschreiben vom 21. September 2016 teilte das PMO PV mit, dass er der Kommission einen Betrag von 42 704,74 Euro schulde, was seinem unbefugten Fernbleiben entspreche. Die von PV gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde wurde mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 17. Januar 2017 zurückgewiesen.

27.      Am 24. Juli 2017 nahm die Anstellungsbehörde ihre Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 26. Juli 2016 zurück, und PV wurde mit Schreiben des Generaldirektors der GD Humanressourcen und Sicherheit darüber informiert, dass er am 16. September 2017 im Referat „IT‑ und Konferenzsysteme“ der GD Dolmetschen wiederverwendet werde. Die Beschwerde von PV gegen die Entscheidung über die Rücknahme seiner Entfernung aus dem Dienst wurde von der Anstellungsbehörde mit Entscheidung vom 15. Januar 2018 zurückgewiesen.

28.      Mit Schreiben vom 12. September 2017 rechnete der Direktor des PMO die PV für den Zeitraum, in dem er aus dem Dienst entfernt worden war, geschuldeten Beträge und seine Verbindlichkeiten gegenüber der Kommission auf, was zu einer Zahlung von 9 550 Euro an PV führte. Die von PV gegen dieses Schreiben über die Verrechnung eingelegte Beschwerde wurde mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 9. März 2018 zurückgewiesen.

29.      Am 20. September 2017 wurde PV mitgeteilt, dass sein Fernbleiben seit dem 16. September 2017 als unbefugt angesehen werde.

30.      Am 6. Oktober 2017 leitete die Kommission das Disziplinarverfahren CMS 17/025 wegen derselben Rügen ein, die Gegenstand des Disziplinarverfahrens CMS 13/087 waren. Die von PV gegen die Einleitung des neuen Disziplinarverfahrens eingelegte Beschwerde wurde mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 2. Mai 2018 zurückgewiesen.

31.      Am 13. Oktober 2017 erließ die Kommission einen Beschluss über die Herabsetzung der Bezüge von PV auf null ab dem 1. Oktober 2017.

32.      Mit E‑Mail vom 15. November 2017 wurde PV zur Teilnahme am Beurteilungsverfahren FP 2016 aufgefordert. Die von PV gegen diese Aufforderung eingelegte Beschwerde wurde mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 16. März 2018 zurückgewiesen.

33.      Mit E‑Mail vom 22. Februar 2018 wurde PV zur Teilnahme am Beurteilungsverfahren FP 2017 aufgefordert. Die von PV gegen diese Aufforderung eingelegte Beschwerde wurde mit Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 1. Juni 2018 zurückgewiesen.

34.      Mit Beschluss vom 21. Oktober 2019 entfernte die Kommission PV im Anschluss an die Schlussfolgerungen des Disziplinarverfahrens CMS 17/025 aus dem Dienst. Diese Entfernung aus dem Dienst trat am 1. November 2019 in Kraft.

B.      Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

35.      Mit Klageschrift, die am 17. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob PV, nachdem ihm vom Präsidenten des Gerichts Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, beim Gericht Klage auf Aufhebung mehrerer Handlungen und auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung von 889 000 Euro und 132 828,67 Euro als Entschädigung für den geltend gemachten immateriellen und materiellen Schaden.

36.      Zur Stützung dieser Klage machte PV fünf Klagegründe geltend, mit denen er erstens einen Verstoß gegen Art. 12a des Statuts, zweitens einen Verstoß gegen die Art. 11a, 21a und 23 des Statuts sowie die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Ordnungsmäßigkeit der Verwaltungsakte, drittens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Fürsorge- und der Beistandspflicht nach Art. 24 des Statuts und viertens einen Verstoß gegen die Art. 59 und 60 des Statuts rügte.

37.      Mit Klageschrift, die am 11. April 2018 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob PV beim Gericht Klage auf Feststellung, dass er Opfer von Mobbing gewesen sei, auf Aufhebung anderer Handlungen und auf Verurteilung der Kommission, ihm 98 000 Euro und 23 190,44 Euro als Entschädigung für den geltend gemachten immateriellen und materiellen Schaden zu zahlen.

38.      Zur Stützung dieser Klage machte PV sieben Klagegründe geltend, mit denen er erstens einen Verstoß gegen Art. 12a des Statuts, zweitens einen Verstoß gegen die Art. 21a und 23 des Statuts sowie die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Ordnungsmäßigkeit von Verwaltungsakten, drittens einen Verstoß gegen Art. 11a des Statuts und Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), viertens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Fürsorgepflicht und fünftens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Einrede der Nichterfüllung und den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit rügte.

39.      Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die Klagen von PV insgesamt abgewiesen.

40.      Das Gericht hat erstens die Anträge von PV auf Feststellung, dass er Opfer von Mobbing gewesen sei, sowie die Anträge auf Aufhebung u. a. der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 26. Juli 2016 und der in der Rechtssache T‑786/16 hilfsweise angefochtenen Entscheidungen, darunter Entscheidungen über die einbehaltenen Bezüge, die Entscheidungen über die Ablehnung von Beistandsanträgen und ärztlicher Gutachten über unbefugtes Fernbleiben, für unzulässig erklärt.

41.      Zweitens hat das Gericht die Aufhebungsanträge in den beiden Klagen als unbegründet zurückgewiesen.

42.      Es war vor allem der Ansicht, dass die von PV behaupteten Mobbinghandlungen rechtlich nicht hinreichend nachgewiesen worden seien.

43.      Drittens hat das Gericht das Vorbringen von PV zu einem Verstoß gegen die Art. 11a, 21a und 23 des Statuts sowie gegen die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Ordnungsmäßigkeit der Verwaltungsakte, gegen den Grundsatz der Fürsorgepflicht sowie der Beistandspflicht nach Art. 24 des Statuts, gegen die Art. 59 und 60 des Statuts und gegen die Grundsätze der Einrede der Nichterfüllung und der Gesetzmäßigkeit zurückgewiesen.

44.      Viertens hat das Gericht die Schadensersatzanträge von PV mit der Begründung zurückgewiesen, dass sie sich im Wesentlichen auf die angebliche Rechtswidrigkeit der mit den Klagen auf Aufhebung angefochtenen Entscheidungen stützten, deren Rechtswidrigkeit nicht nachgewiesen worden sei.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

A.      Verfahren vor dem Gerichtshof

45.      Der Gerichtshof hat nach Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung beschlossen, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen.

B.      Anträge der Parteien

46.      Das Rechtsmittel ist am 23. November 2020 von PV eingelegt und am 30. November 2020 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden. PV beantragt,

–        das angefochtene Urteil aufzuheben;

–        den Rechtsstreit zu entscheiden;

–        der Kommission die Kosten der Verfahren beider Instanzen aufzuerlegen.

47.      Die Kommission hat am 22. April 2021 eine Rechtsmittelbeantwortung eingereicht, die am 23. April 2021 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden ist und in der sie beantragt,

–        das Rechtsmittel zurückzuweisen und

–        PV die Kosten aufzuerlegen.

V.      Rechtliche Würdigung

A.      Vorbemerkungen

48.      Wie ich in der Einleitung ausgeführt habe, werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die ersten beiden Rechtsmittelgründe und den achten Rechtsmittelgrund konzentrieren. Die zu prüfenden Rechtsfragen betreffen im Wesentlichen die Anwendbarkeit des Strafrechts der Mitgliedstaaten auf Unionsbeamte, die Pflicht zur Unparteilichkeit im öffentlichen Dienst und die Möglichkeit, beim Gericht eine Klage auf Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung nach deren Rücknahme zu erheben. Die Prüfung dieser Rechtsfragen im Licht des besonderen Kontexts der vorliegenden Rechtssache erscheint für die Entscheidung des Rechtsstreits unerlässlich.

49.      Angesichts der Komplexität des Sachverhalts der vorliegenden Rechtssache erscheint es zweckmäßig, vorab auf die Vorschriften des Rechtsmittelverfahrens hinzuweisen. Nach Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Rechtsmittel auf Rechtsfragen beschränkt. Wie in ständiger Rechtsprechung bestätigt, ist allein das Gericht für die Feststellung der Tatsachen und für ihre Würdigung zuständig. Dagegen ist der Gerichtshof weder für die Feststellung der Tatsachen zuständig noch grundsätzlich befugt, die Beweise zu prüfen, auf die das Gericht diese Feststellung gestützt hat. Die Würdigung der Beweise durch das Gericht ist daher keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt(2).

50.      Hat das Gericht die Tatsachen festgestellt oder gewürdigt, so ist der Gerichtshof jedoch gemäß Art. 256 AEUV zur Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen und der Rechtsfolgen, die das Gericht aus ihnen gezogen hat, befugt. Ausnahmsweise kann der Gerichtshof die Tatsachenwürdigung des Gerichts überprüfen, wenn ein Rechtsmittelführer eine Verfälschung von Beweisen durch das Gericht behauptet(3). In diesem Fall muss der Rechtsmittelführer genau angeben, welche Beweise verfälscht worden sein sollen, und die Beurteilungsfehler darlegen, die seines Erachtens zu dieser Verfälschung geführt haben. Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, liegt eine Verfälschung vor, wenn ohne Erhebung neuer Beweise die Würdigung der vorliegenden Beweise offensichtlich unzutreffend erscheint(4).

51.      Diese Vorbemerkungen weisen im vorliegenden Zusammenhang eine ganz besondere Bedeutung auf, da PV die Würdigung verschiedener Tatsachen und Schlussfolgerungen des Gerichts in Frage stellt. Zu denken ist hier insbesondere an das behauptete Mobbing, das PV im Rahmen seines Dienstes durch andere Beamte erlitten haben soll, ohne dass es ihm jedoch im ersten Rechtszug gelungen wäre, dies zu beweisen. Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht in seinem Urteil rechtsfehlerfrei festgestellt hat, dass die von PV vorgelegten Informationen nicht den Schluss auf das Vorliegen eines solchen Mobbings zuließen(5). Außerdem hat das Gericht zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Reihe der Maßnahmen, die der Kommission vorgeworfen und von PV als Mobbing angesehen werden, wie das Ruhen der Bezüge wegen unbefugten Fernbleibens und die Beurteilung der Befähigung, Leistung und Führung im Dienst jedes Beamten, ausdrücklich im Statut vorgesehen ist(6). Es liegt auf der Hand, dass die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen mangels gegenteiliger Anhaltspunkte nicht ernsthaft in Frage gestellt werden kann.

52.      Folglich wendet sich PV zwar gegen die Begründung des angefochtenen Urteils, doch kann das Rechtsmittelverfahren nicht zweckentfremdet werden, um den Gerichtshof zu verpflichten, die Tatsachen selbst neu zu bewerten. In Anbetracht der in den vorstehenden Randnummern beschriebenen klaren Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten ist es vielmehr zwingend erforderlich, die Prüfung des Rechtsmittels auf eine strikte Prüfung der dem Gerichtshof vorgelegten Rechtsfragen zu beschränken.

B.      Zum ersten Rechtsmittelgrund

1.      Vorbringen der Parteien

53.      Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund beanstandet PV die vom Gericht in den Rn. 184 und 185 des angefochtenen Urteils vorgenommene Würdigung des Vorbringens im ersten Rechtszug zu einem Verstoß gegen die Art. 21a und 23 des Statuts.

54.      Erstens habe das Gericht Art. 2 EUV sowie Art. 67 Abs. 3 und Art. 270 AEUV verkannt, indem es in Rn. 185 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass das Arbeitsverhältnis zwischen einem Beamten und seinem Organ ausschließlich dem Statut unterliege, obwohl andere Rechtsquellen relevant seien, insbesondere das Strafrecht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der betreffende Bedienstete arbeite. Somit stelle jede von einem Bediensteten begangene Straftat einen Verstoß gegen Art. 23 des Statuts dar. Mobbing, Falschbeurkundungen im Amt, falsche ärztliche Gutachten und Korruption stellten jedoch Verstöße gegen das belgische Strafgesetzbuch dar.

55.      Zweitens habe das Gericht die Tatsachen durch Unterlassung verfälscht, indem es mehrere entscheidende Gesichtspunkte nicht berücksichtigt habe. PV führt zunächst die Beschlüsse des belgischen Untersuchungsrichters an, mit denen eine Anhörung einiger am Erlass bestimmter angefochtener Handlungen beteiligter Beamter der Kommission nach der „Salduz III“-Regelung angeordnet worden sei. Diese Beschlüsse zeigten, dass diese Personen als Verdächtige der zur Last gelegten Handlungen angesehen würden. Sodann verweist er auf die Beschlagnahme der Disziplinarakte CMS 17/025 durch den Untersuchungsrichter als Beweisstücke für die Straftat der „Falschbeurkundung im Amt“, die am 19. September 2018 stattgefunden habe.

56.      Drittens habe das Gericht einen Rechtsfehler begangen, indem es in Rn. 184 des angefochtenen Urteils die Auffassung vertreten habe, dass nur eine Verurteilung das Mobbing oder die Falschbeurkundung nachweisen könne, und indem es eine Berücksichtigung der im Rahmen der belgischen Ermittlungen in Bezug auf diese Tatsachen ergangenen Beschlüsse verweigert habe.

57.      Die Kommission trägt erstens vor, die Rüge von PV, das Gericht habe in Rn. 185 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen, beruhe auf einem falschen Verständnis dieses Urteils. Das Gericht habe in dieser Randnummer lediglich darauf hingewiesen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen einem Beamten und seinem Organ dem Statut unterliege und dass das Gericht nur das Recht des öffentlichen Dienstes und nicht irgendein nationales Recht anwende.

58.      Zweitens habe das Gericht, ohne eine Tatsachenverfälschung zu begehen, festgestellt, dass die belgischen Gerichte nicht über die von PV behaupteten Tatsachen entschieden hätten. Die Ladung bestimmter Beamter der Kommission zu einer Anhörung unter der „Salduz III“-Regelung stelle in keiner Weise eine Anerkennung ihrer Schuld dar. Außerdem habe das Gericht die Tatsachen nicht verfälscht, indem es aus der angeblichen Beschlagnahme der Disziplinarakte CMS 17/025 durch einen belgischen Untersuchungsrichter auf Initiative von PV, die keineswegs den Schluss zulasse, dass eine „Falschbeurkundung im Amt“ nachgewiesen sei, keine Konsequenzen gezogen habe.

59.      Drittens sei das Gericht zu Recht davon ausgegangen, dass Strafanzeigen während der Untersuchung nicht den Nachweis des Vorliegens eines Mobbings oder einer Falschbeurkundung erlaubten.

2.      Würdigung

60.      Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund macht PV geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es in Rn. 185 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass das Arbeitsverhältnis zwischen einem Beamten und seinem Organ „ausschließlich“ dem Statut unterliege. Die Begründung des Gerichts in dieser Randnummer bestehe darin, auf der Grundlage von Art. 270 AEUV jegliche Relevanz des nationalen Rechts und insbesondere des Strafrechts für die Prüfung der Frage auszuschließen, ob die Anstellungsbehörde durch den Erlass der im ersten Rechtszug angefochtenen Entscheidungen gegen die Art. 21 und 23 des Statuts verstoßen habe. Das Gericht habe jedoch die „anderen Rechtsquellen“, die das Arbeitsverhältnis regelten, und insbesondere die strafrechtlichen Vorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich der Ort der dienstlichen Verwendung des Beamten befinde, verkannt.

61.      Insoweit ist daran zu erinnern, dass PV vor dem Gericht geltend gemacht hatte, dass die fraglichen Entscheidungen rechtswidrig seien, weil sie auf Handlungen gestützt seien, die Straftaten darstellten, die von Beamten und Bediensteten der Kommission in Belgien begangen worden seien. PV hatte geltend gemacht, dass ein Beamter oder Bediensteter der Union nach Art. 21a Abs. 2 des Statuts die Begehung rechtswidriger Handlungen verweigern müsse und dass er nach Art. 23 des Statuts verpflichtet sei, die polizeilichen Vorschriften des Staates zu beachten, in dem er arbeite. Aus diesem Grund ist PV der Ansicht, dass die Anstellungsbehörde die Entscheidungen hätte berücksichtigen müssen, die die belgischen Justizbehörden aufgrund der von ihm gegen zahlreiche Personen erstatteten Anzeigen getroffen habe, wobei er den Verfahren als Nebenkläger beigetreten sei.

a)      Die Vorschriften des Rechts des öffentlichen Dienstes in der Unionsrechtsordnung

62.      Zunächst ist festzustellen, dass, wie PV in seinen Erklärungen ausführt, die für den öffentlichen Dienst geltenden Rechtsvorschriften auf allen Ebenen der Hierarchie der Normen der Unionsrechtsordnung, d. h. im Primärrecht, in den allgemeinen Grundsätzen und im abgeleiteten Recht, enthalten sind. In diesem Zusammenhang darf der wertvolle Beitrag zu den für die Beamten und sonstigen Bediensteten geltenden Vorschriften durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts sicher nicht außer Acht gelassen werden. Deren Urteile sind nach Art. 266 AEUV für die Organe bindend. Vor diesem Hintergrund kommt dem kodifizierten Recht sowie seinem Zusammenwirken mit den nationalen Rechtsordnungen für die Prüfung des ersten Rechtsmittelgrundes eine vorrangige Bedeutung zu.

1)      Primärrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze

63.      Das Primärrecht besteht in erster Linie aus den Gründungsverträgen und deren Protokollen sowie aus der Charta. Für die Beamten gelten bei der Ausübung ihres Amtes zahlreiche in den Verträgen verankerte tragende Grundsätze. Es handelt sich z. B. um die in den Art. 2 und 3 EUV genannten Werte und Ziele der Union. Außerdem stützen sich die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union nach Art. 298 Abs. 1 AEUV zur Ausübung ihrer Aufgaben auf eine offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung. Dagegen erfordern andere Bestimmungen des Primärrechts den Erlass von Rechtsakten des abgeleiteten Rechts durch die Organe, um konkretisiert werden zu können. Dies ist bei Art. 336 AEUV der Fall, der bestimmt, dass das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen nach Anhörung der anderen betroffenen Organe das Statut der Beamten und die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Union erlassen.

64.      Nach Art. 270 AEUV ist der Gerichtshof der Europäischen Union für alle Streitsachen zwischen der Union und deren Bediensteten innerhalb der Grenzen und nach Maßgabe der Bedingungen zuständig, die im Statut und in den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Union festgelegt sind. Art. 340 AEUV sieht vor, dass die Union verpflichtet ist, den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zu ersetzen, und dass die persönliche Haftung der Bediensteten gegenüber der Union sich nach den Vorschriften ihres Statuts oder der für sie geltenden Beschäftigungsbedingungen bestimmt. Insbesondere verpflichtet Art. 339 AEUV die Beamten der Union, Auskünfte, die ihrem Wesen nach unter das Berufsgeheimnis fallen, nicht preiszugeben; dies gilt insbesondere für Auskünfte über Unternehmen sowie deren Geschäftsbeziehungen oder Kostenelemente.

65.      Nach Art. 51 EUV sind die Protokolle und die Verträge rechtlich gleichrangig und sind daher Bestandteil des Primärrechts. Unter diesen Bestimmungen bezieht sich das Protokoll Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Union (im Folgenden: Protokoll Nr. 7) in mehreren seiner Bestimmungen unmittelbar auf die Beamten und sonstigen Bediensteten und widmet ihnen sein Kapitel V. Dieses Protokoll enthält wesentliche Bestimmungen für den öffentlichen Dienst, insbesondere im Bereich der Steuerbefreiung und der Befreiung von der Gerichtsbarkeit, auf die ich später in meiner Würdigung zurückkommen werde(7).

66.      Die Charta, die nach Art. 6 Abs. 1 EUV den Verträgen rechtlich gleichrangig ist, gilt für sämtliche Rechtsakte des abgeleiteten Unionsrechts, zu denen u. a. das Statut gehört. Die Beamten genießen die durch die Charta geschützten Rechte und müssen ihrerseits die Grundrechte der Bürger bei der Ausübung ihrer Amtstätigkeit beachten. Insoweit kommt Art. 41 der Charta, in dem das Recht auf eine gute Verwaltung verankert ist, besondere Bedeutung zu(8).

67.      Im Zuge der europäischen Integration hat der Gerichtshof zahlreiche allgemeine Grundsätze des Unionsrechts entwickelt. Im Bereich des öffentlichen Dienstes beziehen sich diese Grundsätze im Wesentlichen auf die durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet wurde (im Folgenden: EMRK), geschützten Grundrechte. Nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Bevor die Charta Bindungswirkung erlangte, stellte die EMRK eine wesentliche Quelle für den Schutz der Bürger, einschließlich der Beamten, dar.

68.      Auch wenn die Charta heute eine größere Rolle spielt, nimmt doch der Unionsrichter, soweit erforderlich, weiterhin auf die EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug, um die in der Charta enthaltenen Bestimmungen auszulegen oder den durch sie gewährleisteten Schutz sogar zu ergänzen. Die EMRK hat ihre Bedeutung für die Entwicklung des Unionsrechts nicht verloren, da Art. 52 Abs. 3 der Charta bestimmt, dass, soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, sie die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird; das steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

2)      Sekundärrecht

69.      Das Statut legt detailliert die Regelung fest, die für die Beamten gilt, die innerhalb der Organe der Union arbeiten, u. a. in Bezug auf die Einstellung und die Laufbahn, die Arbeitsbedingungen, die Rechte und Pflichten, die Besoldung und die Disziplinarordnung(9). Das Statut hat die Rechtsform einer Verordnung, was bedeutet, dass sie in allen ihren Teilen verbindlich ist und sowohl für die Organe und Einrichtungen der Union als auch für die Mitgliedstaaten gilt. Wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung hervorgehoben hat, „folgt [daraus], dass das Statut abgesehen von den Wirkungen, die es innerhalb der Unionsverwaltung entfaltet, auch die Mitgliedstaaten verpflichtet, soweit ihre Mitwirkung zu seiner Durchführung erforderlich ist“(10), was bedeutet, dass, wenn eine Bestimmung des Statuts Durchführungsmaßnahmen auf nationaler Ebene erfordert, „die Mitgliedstaaten … verpflichtet [sind], alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen“(11).

70.      Die Rechtsvorschriften, die auf das Verhältnis zwischen dem Beamten und seinem Organ anwendbar sind, richten sich nach den Bestimmungen des Statuts, die durch Verordnung erlassen werden, was bedeutet, dass sie gegebenenfalls vom Parlament und vom Rat geändert werden können. Es handelt sich somit um ein öffentlich-rechtliches Arbeitsverhältnis, dessen Führung durch das betreffende Organ einen Fall der unmittelbaren Verwaltung darstellt, was bedeutet, dass alle Entscheidungen, die den Beamten betreffen können, von dem Organ einseitig nach den im Statut oder in allgemeinen Durchführungsbestimmungen festgelegten Regeln und Verfahren getroffen werden und Verwaltungsmaßnahmen darstellen. Die Regelung des Statuts gilt in vollem Umfang für den Unionsbeamten, d. h. für jede Person, die unter den im Statut vorgesehenen Bedingungen in einer Dauerplanstelle eines Unionsorgans durch eine schriftliche Maßnahme der Anstellungsbehörde ernannt worden ist.

71.      Zwar ist das Statut der zentrale Text des abgeleiteten Rechts des öffentlichen Dienstes der Union(12), jedoch gibt es auch andere Rechtsakte, die die verschiedenen Bestimmungen des Statuts umsetzen und die u. a. die steuerliche Regelung, die Sprachenregelung, den Schutz personenbezogener Daten, die Modalitäten der Ausstellung eines Ausweises und die Einstellungen bei den Erweiterungen regeln. Dieser Bereich ist durch eine Uneinheitlichkeit von Normen gekennzeichnet, mit denen die Bestimmungen des Statuts umgesetzt oder ausgelegt werden. Im Allgemeinen ist zwischen den im Statut ausdrücklich vorgesehenen Rechtsakten und den Rechtsakten sui generis zu unterscheiden. Dies vorausgeschickt, würde eine abschließende Aufzählung dieser Rechtsakte den Rahmen dieser Schlussanträge überschreiten und ginge über meine Zielsetzung hinaus. In diesem Stadium der Prüfung ist jedoch festzuhalten, dass ungeachtet der Uneinheitlichkeit der Rechtsnormen der Grundsatz der Einheitlichkeit des Statuts verlangt, dass die Durchführungsvorschriften in allen Organen die gleichen sind, und dass Auslegungen, die sich zu sehr unterscheiden, vermieden werden. Dieses Erfordernis entspricht dem Interesse daran, die Einheitlichkeit des europäischen öffentlichen Dienstes zu gewährleisten, die in Art. 9 Abs. 3 des Vertrags von Amsterdam als Grundsatz verankert ist(13) und die in den Art. 1 und 1a des Statuts zum Ausdruck kommt.

b)      Die Auswirkungen des nationalen Rechts auf den europäischen öffentlichen Dienst

1)      Unabhängigkeit der Union im Bereich der Verwaltung des öffentlichen Dienstes

72.      Aus den soeben dargelegten Punkten geht hervor, dass die Rechtsordnung der Union über eigene Regeln für das Verhältnis zwischen dem Beamten und seinem Organ verfügt, die größtenteils im Statut kodifiziert wurden. Aus diesem Grund verweisen mehrere Bestimmungen, auch des Primärrechts(14), darauf, wie gerade Art. 270 AEUV, den das Gericht im angefochtenen Urteil angeführt hat, um auf die ausschließliche Zuständigkeit der Unionsgerichte für Streitsachen im Bereich des öffentlichen Dienstes hinzuweisen(15).

73.      Aufgrund ihrer organisatorischen Autonomie ist die Unionsverwaltung weitgehend unabhängig von den nationalen Rechtsordnungen, was nicht ausschließt, dass bestimmte Normen möglicherweise von den Organen der Union selbst oder von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden, um das ordnungsgemäße Funktionieren der Union als supranationale Organisation zu gewährleisten. Dieser Aspekt reicht jedoch für sich allein nicht für die Annahme aus, dass das nationale Recht das Funktionieren der Unionsverwaltung in gewisser Weise bestimme. Diese Annahme wäre falsch, da die Gründer der Union offensichtlich beabsichtigt haben, einen „unabhängigen“ europäischen öffentlichen Dienst im Sinne von Art. 298 Abs. 1 AEUV zu schaffen, was sich im Übrigen in der Rechtsnatur seiner Regeln und im institutionellen Aufbau dieser supranationalen Organisation widerspiegelt(16).

74.      Unter diesem Blickwinkel ist die Feststellung des Gerichts in Rn. 185 des angefochtenen Urteils, dass „das Arbeitsverhältnis zwischen einem Beamten und seinem Organ ausschließlich dem Statut unterliegt“, rechtlich nicht unzutreffend. Zum einen kann man sich fragen, ob es angesichts der Vielzahl der Quellen des Rechts des öffentlichen Dienstes rechtlich hinreichend präzise ist, das Adverb „ausschließlich“ in diesem Zusammenhang zu verwenden. Zum anderen erscheint eine solche Feststellung im Hinblick auf den bereits erwähnten Grundsatz der Einheitlichkeit des Statuts, wonach alle Beamten aller Unionsorgane einem einheitlichen Statut und damit denselben Vorschriften unterliegen, durchaus gerechtfertigt. Erstens steht außer Frage, dass das Statut das Kernelement eines Rechtskorpus darstellt, der aus verschiedenen Rechtsvorschriften zusammengesetzt ist. Zweitens unterliegen offensichtlich alle Beamten der Kommission, zu denen PV gehörte, den Vorschriften des Statuts. Folglich bin ich der Ansicht, dass Rn. 185 des angefochtenen Urteils dahin zu verstehen ist, dass das Gericht das Ziel hatte, darauf hinzuweisen, dass Vorschriften des Statuts auf die Beamten der Kommission Anwendung finden sollen, was in rechtlicher Hinsicht unbestreitbar ist.

75.      PV wirft dem Gericht vor, einen Rechtsfehler begangen zu haben, indem es die Relevanz des nationalen Strafrechts verkannt habe. Nach Ansicht von PV hätten die im ersten Rechtszug angefochtenen Entscheidungen nicht erlassen werden dürfen, da sie nicht mit dem belgischen Strafrecht vereinbar seien. Es ist jedoch festzustellen, dass sich das Gericht ausschließlich auf das „Arbeitsverhältnis zwischen dem Beamten und seinem Organ“ bezog, das tatsächlich dem Statut unterliegt. Die vorliegende Rechtssache betrifft nämlich einen Rechtsstreit, der ausschließlich zum öffentlichen Dienst der Union gehört und die berufliche Tätigkeit von PV bei der Kommission zum Gegenstand hat.

76.      Daher ist nicht zu prüfen, ob das belgische Strafrecht im vorliegenden Fall Anwendung finden könnte. Die Unionsgerichte sind für die Auslegung des belgischen Strafrechts nicht zuständig. Eine Klage, mit der um Auslegung des nationalen Rechts ersucht wird, wäre offensichtlich unzulässig. Meines Erachtens wollte das Gericht genau das mit dem Verweis auf Art. 270 AEUV zum Ausdruck bringen. Im Übrigen sind die nationalen Gerichte auch nicht befugt, sich zur Auslegung der Vorschriften des Statuts zu äußern, was die Unabhängigkeit der Union bei der Verwaltung des öffentlichen Dienstes hervorhebt.

2)      Das Verhältnis zwischen Straf- und Disziplinarverfahren

77.      Ungeachtet dieser Erwägungen trifft es zu, dass die Beamten der Union nach Art. 23 Abs. 1 des Statuts zur „Beachtung der geltenden Gesetze und polizeilichen Vorschriften“ verpflichtet sind, was selbstverständlich das Strafrecht einschließt. Ein Verstoß gegen die genannten Gesetze und Vorschriften des Sitzstaats des Organs kann gemäß Art. 17 des Protokolls Nr. 7 die Aufhebung der Immunität eines Beamten verlangen, um gegebenenfalls strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn zu ermöglichen. Wie der Gerichtshof im Urteil Kommission/RQ(17) ausgeführt hat, „ändert eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Beamten … die Rechtsstellung des Beamten allein durch die Aufhebung des Schutzes, der ihm durch die in Art. 11 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Befreiung von der Gerichtsbarkeit gewährt wird, und zwar dadurch, dass sie seinen Status als dem allgemeinen Recht der Mitgliedstaaten unterworfene Person wiederherstellt und ihn, ohne dass eine Durchführungsvorschrift erforderlich wäre, Maßnahmen, insbesondere solchen des Freiheitsentzugs und der Strafverfolgung, aussetzt, die das allgemeine Recht vorsieht“(18).

78.      Dies vorausgeschickt, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Verhalten von PV als Beamter, um das es in der vorliegenden Rechtssache geht, nicht Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen seitens der belgischen Justizbehörden war. Vielmehr wirft PV seinen Kollegen vor, gegen belgisches Strafrecht verstoßen zu haben. Im Übrigen weist das Gericht selbst in Rn. 187 des angefochtenen Urteils auf diesen Umstand hin. Folglich ist nicht klar ersichtlich, welche Auswirkungen die angebliche Anwendbarkeit des belgischen Strafrechts auf Dritte auf seinen eigenen Status eines Beamten haben könnte.

79.      Abgesehen von diesen Zweifeln an der Relevanz des nationalen Strafrechts im vorliegenden Rechtsstreit ist darauf hinzuweisen, dass dieses aufgrund seines besonderen Zwecks im Allgemeinen nur eine mittelbare Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis zwischen dem Beamten und seinem Organ hat. Denn das Strafverfahren bezieht sich auf die Einhaltung der Vorschriften, die der Aufrechterhaltung der Ordnung dienen und die erlassen wurden, um das ordnungsgemäße Funktionieren einer ganzen Gesellschaft zu gewährleisten(19). Dagegen zielt es nicht darauf ab, das Arbeitsverhältnis eines Beamten innerhalb eines Organs der Union zu regeln.

80.      Ein Verstoß gegen das Strafrecht kann sich jedoch unter bestimmten Umständen auf das Arbeitsverhältnis auswirken und zu einer Disziplinarstrafe führen, insbesondere wenn die Straftat von dem Beamten in Ausübung seines Amtes begangen wird und die Interessen der Union beeinträchtigt. Da nämlich das Ziel des Disziplinarverfahrens darin besteht, die Einhaltung der Vorschriften sicherzustellen, die das ordnungsgemäße Funktionieren des Organs gewährleisten(20), kann sich die Einleitung eines solchen Verfahrens aufgrund der Umstände des Einzelfalls als gerechtfertigt erweisen.

81.      Insoweit ist jedoch festzustellen, dass, auch wenn ein Verhalten sowohl gegen eine Straf- als auch gegen eine Disziplinarvorschrift verstoßen kann, das Statut die daraus zu ziehenden Konsequenzen bestimmt. Die Disziplinarstrafe ist nämlich im Hinblick auf die Disziplinarordnung und nicht auf die strafrechtliche Sanktion zu beurteilen. Folglich kann die Disziplinarbehörde bei ihrer Wahl der angemessenen Disziplinarstrafe nicht verpflichtet sein, vorbehaltlos strafrechtliche Sanktionen zu berücksichtigen, die in einem Strafverfahren gegen dieselbe Person verhängt wurden(21). Dies ergibt sich aus den unterschiedlichen Zwecken von Straf- und Disziplinarverfahren, aber auch aus der Unabhängigkeit der Union bei der Verwaltung des öffentlichen Dienstes.

82.      Aus den oben dargelegten Gründen ist in diesem Stadium der Prüfung festzuhalten, dass das nationale Strafrecht entgegen dem, was PV in seinen schriftlichen Erklärungen anzudeuten scheint, nicht das Funktionieren des europäischen öffentlichen Dienstes bestimmt.

3)      Unschuldsvermutung im Rahmen des Strafverfahrens

83.      Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die Frage der Anwendbarkeit des belgischen Strafrechts auf andere Beamte, von denen PV behauptet, sie hätten Straftaten begangen, für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits unerheblich erscheint, wie ich im Folgenden erläutern werde. Erstens steht fest, dass das Gericht keine Fälle festgestellt hat, die als Mobbing angesehen werden könnten, und nichts lässt den Schluss zu, dass das Gericht bei seiner Beweiswürdigung den Sachverhalt verfälscht hätte(22). Zweitens deutet auch nichts darauf hin, dass die behaupteten Straftaten tatsächlich begangen worden wären, denn die belgischen Gerichte haben nicht endgültig über diese Vorwürfe entschieden.

84.      Alles, was PV als Beweis vorlegen kann, sind Beschlüsse über Anhörungen, die die belgischen Gerichte gegenüber bestimmten Beamten erlassen haben. Eine solche gerichtliche Maßnahme stellt jedoch kein „Beweismittel“ im rechtlichen Sinne dar, da die Unschuldsvermutung ohne eine Verurteilung fortbesteht. Die Unschuldsvermutung ist in Art. 48 der Charta verankert, der Art. 6 Abs. 2 und 3 der EMRK entspricht(23). Auf der Ebene des abgeleiteten Unionsrechts ist die Unschuldsvermutung in der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren(24) verankert, zu deren Umsetzung die Mitgliedstaaten einschließlich des Königreichs Belgien verpflichtet sind.

85.      Der Status als „Verdächtiger“, der den Kollegen von PV nach belgischem Strafprozessrecht zuerkannt wurde, trägt dieser Unschuldsvermutung Rechnung. Insbesondere verleiht der Status eines „Verdächtigen“ Personen, die von einer Untersuchung betroffen sind, im Allgemeinen gewisse Verteidigungsrechte gegenüber den Justizbehörden, wie das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand und das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs(25). Aus diesem Grund haben die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam, dass im Rahmen eines Strafverfahrens in Bezug auf den Status der betroffenen Person klar unterschieden wird. Dieser Status verändert sich je nach dem Grad des konkreten Verdachts gegenüber der Person, die eine Straftat begangen haben soll(26).

86.      Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das Recht des öffentlichen Dienstes der Unschuldsvermutung Rechnung trägt, da Anhang IX Art. 25 des Statuts ausdrücklich vorsieht, dass, wenn gegen den Beamten wegen desselben Sachverhalts, der zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens geführt hat, ein Strafverfahren eingeleitet worden ist, seine Rechtsstellung erst dann endgültig geregelt wird, wenn das Urteil des zuständigen Gerichts rechtskräftig geworden ist. Diese Regel erklärt sich auch dadurch, dass die Strafgerichte über weiter gehende Untersuchungsbefugnisse verfügen als die Anstellungsbehörde innerhalb der Verwaltung. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Unschuldsvermutung als Garantie für ein faires Verfahren sowohl im Bereich des Strafrechts als auch im Bereich des Disziplinarrechts zu berücksichtigen ist.

87.      Was die Umstände des vorliegenden Falles angeht, deutet alles darauf hin, dass sich die strafrechtlichen Ermittlungen noch in einem vorbereitenden Stadium des Verfahrens befinden, so dass nicht ersichtlich ist, ob der Verdacht belegt ist. Die von den belgischen Gerichten in diesem Stadium getroffenen Maßnahmen, auf die PV Bezug nimmt, dienen nur der Beschaffung der erforderlichen Beweise. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das „Salduz-Gesetz“, auf das PV in seinen Erklärungen hinweist, jeder Person, die von den Justizbehörden in welcher Eigenschaft auch immer vernommen wird, gemäß den Grundsätzen eines fairen Verfahrens Rechte und Garantien einräumt(27). Daraus folgt, dass aus der Anwendung der Bestimmungen dieses Gesetzes keine Schlussfolgerungen über die angebliche Schuld der von den belgischen Justizbehörden angehörten Beamten gezogen werden können, solange das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Außerdem ist hervorzuheben, dass es entgegen dem, was PV in seinen Erklärungen nahezulegen scheint, er sich diese Beweise nicht „schaffen“ kann, indem er bloß Beschwerden gegen die betroffenen Beamten einreicht, sondern die Justizbehörden müssen vielmehr die Tatsachen beurteilen und feststellen, ob die ermittelten Tatsachen stichhaltige Beweise darstellen.

88.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Justizbehörden im Allgemeinen verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass die Ermittlungen auf die Wahrheitsfindung abzielen und der Be- und Entlastung dienen, d. h., dass sie gleichzeitig die Beweise für die Unschuld und für die Schuld des Beschuldigten suchen müssen(28). Die Justizbehörden werden daher nur dann ein Verfahren einleiten, wenn am Ende der Untersuchung ausreichende Beweise vorliegen(29). Das Vorbringen von PV, mit dem die Schuld der betroffenen Beamten allein deshalb unterstellt wird, weil diese Gegenstand von Ermittlungen sind, scheint mir daher auf einer Verkennung der Grundsätze des Strafverfahrens zu beruhen.

c)      Schlussbemerkungen

89.      Aus den oben dargelegten Gründen, die insbesondere mit der Unabhängigkeit der Union bei der Verwaltung des öffentlichen Dienstes und mit der fehlenden Relevanz des nationalen Strafrechts unter den Umständen des vorliegenden Falls zusammenhängen, bin ich der Ansicht, dass das Vorbringen von PV zurückzuweisen ist, wonach die im ersten Rechtszug angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig seien, weil sie auf Handlungen gestützt seien, die Straftaten von Beamten der Kommission im belgischen Hoheitsgebiet darstellten, und die Anstellungsbehörde nach belgischem Strafrecht verpflichtet gewesen sei, sie nicht zu erlassen.

90.      Die Feststellung des Gerichts in Rn. 185 des angefochtenen Urteils, dass „das Arbeitsverhältnis zwischen einem Beamten und seinem Organ ausschließlich dem Statut unterliegt“, lässt keinen Rechtsfehler erkennen, da sie dahin zu verstehen ist, dass sie das Vorbringen von PV zurückweist, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass das nationale Strafrecht dem Recht des öffentlichen Dienstes der Union vorgehe oder dass das nationale Strafrecht zumindest eine „Quelle“ des Rechts des öffentlichen Dienstes der Union darstelle. Da dieses Vorbringen auf einer Verkennung des Unionsrechts beruht, ist es zurückzuweisen.

3.      Zwischenergebnis

91.      Nach alledem schlage ich vor, den ersten Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.

C.      Zum zweiten Rechtsmittelgrund

1.      Vorbringen der Parteien

92.      Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund beanstandet PV die Beurteilung des Gerichts in den Rn. 184 und 192 des angefochtenen Urteils.

93.      Erstens macht PV geltend, die Feststellung des Gerichts in Rn. 184 des angefochtenen Urteils, dass keine der Tatsachen, die PV als Mobbing oder mittelbare Falschbeurkundung eingestuft habe, als solche qualifiziert worden oder Gegenstand einer strafrechtlichen Verurteilung durch ein nationales belgisches Gericht gewesen sei, erkläre sich durch eine „Sabotage“ der strafrechtlichen Ermittlungen durch die Kommission. Die Kommission habe die funktionale Immunität missbraucht, indem sie unter Verstoß gegen den in Art. 4 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit systematisch die Zustimmung zur Vernehmung der Verdächtigen verweigert habe, obwohl keine hoheitliche Handlung in Rede stehe.

94.      Zweitens habe das Gericht in Rn. 192 des angefochtenen Urteils die Akten verfälscht, indem es seine Zurückweisung der von PV erhobenen Rüge eines Verstoßes gegen Art. 11a des Statuts auf die Feststellung gestützt habe, dass eine bloße Beschwerde des Beamten gegen die Personen, die mit Entscheidungen ihm gegenüber betraut seien, für sich allein keinen Interessenkonflikt zwischen ihnen hervorrufen könne, obwohl die von PV gegen zwei der drei Mitglieder der Anstellungsbehörde eingelegten Beschwerden strafrechtlich verfolgt worden seien. Dieser Umstand hätte das Gericht veranlassen müssen, das Vorliegen eines Interessenkonflikts bei diesen Mitgliedern der Anstellungsbehörde im Rahmen der Disziplinarverfahren CMS 13/087 und CMS 17/025 sowie der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 21. Oktober 2019 nach Abschluss dieses Disziplinarverfahrens festzustellen. Daher hätte das Gericht einen Verstoß gegen Art. 41 der Charta, Art. 11a des Statuts und Anhang IX Art. 6 Abs. 5 des Statuts feststellen müssen.

95.      Nach Ansicht der Kommission handelt es sich bei der Rüge der fehlenden loyalen Zusammenarbeit mit den belgischen Justizbehörden wegen ihrer systematischen Verweigerung der Zustimmung zur Vernehmung von Verdächtigen durch einen Untersuchungsrichter um eine neue Rüge, so dass dem Gericht nicht vorgeworfen werden könne, sich hierzu nicht geäußert zu haben. Hilfsweise vertritt die Kommission die Auffassung, dass sie berechtigt gewesen sei, die auf Art. 19 des Statuts gestützten Anträge der belgischen Justizbehörden abzulehnen.

96.      Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 11a des Statuts trägt die Kommission vor, PV beanstande nicht die Rechtsprechung, auf die sich das Gericht gestützt habe, sondern stütze sich auf tatsächliche Erwägungen, die diese Rüge unzulässig machten und jedenfalls nicht erlaubten, die Schlussfolgerung, zu der das Gericht in Rn. 192 des angefochtenen Urteils gelangt sei, in Frage zu stellen. Außerdem richte sich diese Rüge gegen zwei Verfahren, die das Gericht ausdrücklich von seiner Kontrolle ausgenommen habe, wobei das erste Verfahren zu einer später zurückgenommenen Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst geführt habe und das zweite Verfahren Gegenstand eines gesonderten Rechtsstreits sei.

2.      Würdigung

97.      Die Prüfung des zweiten Rechtsmittelgrundes konzentriert sich auf die Erwägungen des Gerichts in Rn. 192 des angefochtenen Urteils, mit denen es das Vorbringen von PV zurückgewiesen hat, dass zwei der drei Mitglieder der Anstellungsbehörde, die die im ersten Rechtszug angefochtenen Entscheidungen erlassen hätten, einen Interessenkonflikt gehabt hätten, da sie alle beide in die Strafverfahren wegen Mobbings oder Falschbeurkundung im Amt in Belgien verwickelt gewesen seien. PV macht einen Verstoß gegen den durch Art. 41 Abs. 1 der Charta garantierten Grundsatz der Unparteilichkeit sowie gegen Art. 11a des Statuts geltend. Außerdem sei die Feststellung des Gerichts, dass der Umstand, dass die fraglichen Personen in die angeführten Verfahren verwickelt seien, nicht ausreiche, um ihre Unparteilichkeit in Frage zu stellen, als Verfälschung der Tatsachen durch Verzerrung anzusehen, da das Gericht davon ausgegangen sei, dass die fraglichen Verfahren ihren Ursprung in Beschwerden des Rechtsmittelführers hatten, die eingelegt worden seien, um sich dem Disziplinarverfahren zu entziehen.

a)      Der Begriff der „Unparteilichkeit“ im Recht des öffentlichen Dienstes

98.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 41 Abs. 1 der Charta jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch behandelt werden. Die Anforderung der Unparteilichkeit zielt darauf ab, die Gleichbehandlung zu gewährleisten, auf der die Union beruht. Ebenso möchte ich daran erinnern, dass der Gerichtshof kürzlich im Urteil Parlament/UZ bestätigt hat, dass die Anforderung der Unparteilichkeit auch im Bereich des öffentlichen Dienstes gilt(30). In diesem Kontext erlaube ich mir, auf meine Schlussanträge in dieser Rechtssache zu verweisen, in denen ich ausgeführt habe, dass, „da sowohl das interne Funktionieren als auch das Außenbild der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen von der Beachtung des genannten Erfordernisses abhängen, sich dieses notwendigerweise auf alle Tätigkeitsbereiche der Verwaltung der Union, einschließlich der Aspekte im Zusammenhang mit der Verwaltung des öffentlichen Dienstes wie beispielsweise der Ernennung, Beförderung und Sanktionierung des Personals, erstrecken muss“(31). Daher besteht meines Erachtens kein Zweifel daran, dass die Anforderung der Unparteilichkeit auf ein Disziplinarverfahren wie das in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende anwendbar ist.

99.      Art. 11a des Statuts, auf den sich PV in seinen Erklärungen beruft, enthält spezifische Vorschriften, die gewährleisten sollen, dass der Beamte seine Aufgaben wahrnimmt, ohne dass Interessenkonflikte die Ausübung seines Amtes beeinträchtigen(32). Nach Abs. 1 dieses Artikels darf sich der Beamte bei der Ausübung seines Amtes nicht mit Angelegenheiten befassen, an denen er mittelbar oder unmittelbar ein persönliches, insbesondere ein familiäres oder finanzielles, Interesse hat, das seine Unabhängigkeit beeinträchtigen kann. Da diese Regeln einen Ausdruck der Anforderung der Unparteilichkeit im weiteren Sinne darstellen, halte ich es für erforderlich, sie im Licht des Begriffs „Unparteilichkeit“, wie er sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, auszulegen. Meines Erachtens ist es genau der Ansatz, dem das Gericht gefolgt ist, als es in Rn. 190 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, dass Art. 11a des Statuts „in Anbetracht des grundlegenden Charakters der Ziele der Unabhängigkeit und Integrität, die mit dieser Bestimmung verfolgt werden, und des allgemeinen Charakters der Verpflichtung, die den Beamten und Bediensteten auferlegt wird, ein weiter Anwendungsbereich“ zuzuerkennen sei (Hervorhebung nur hier).

100. Der Gerichtshof stützt sich in seiner Rechtsprechung auf einen Begriff der „Unparteilichkeit“, der zwei Ausprägungen aufweist. Zum einen die subjektive Unparteilichkeit, wonach kein Mitglied des befassten Organs Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen darf, und zum anderen die objektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass das Organ hinreichende Garantien bieten muss, um jeden berechtigten Zweifel im Hinblick auf etwaige Vorurteile auszuschließen. Hierzu hat der Gerichtshof klargestellt, dass es nicht erforderlich sei, eine mangelnde Unparteilichkeit darzutun, um nachzuweisen, dass die Organisation des Verwaltungsverfahrens keine hinreichenden Garantien bietet, um jeden berechtigten Zweifel in Bezug auf etwaige Vorurteile auszuschließen. Es genügt, dass insoweit ein berechtigter Zweifel besteht und nicht ausgeräumt werden kann(33). Im Licht der vorstehenden Erwägungen sind die Erwägungen des Gerichts zu prüfen.

101. Zur objektiven Unparteilichkeit ist festzustellen, dass das Gericht, nachdem es in den Rn. 180 und 191 des angefochtenen Urteils das Vorbringen des Rechtsmittelführers dargelegt hatte, wonach ein Interessenkonflikt vorliege, weil die Personen, die in den gegen ihn eingeleiteten Disziplinarverfahren Entscheidungen getroffen hätten, in Strafverfahren wegen Mobbings oder Falschbeurkundung im Amt verwickelt seien, in den Rn. 193 und 194 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, dass dieses Vorbringen durch keinen Beweis untermauert worden sei. Darüber hinaus trägt PV im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels nichts vor, was diesen Aspekt weiter untermauern könnte.

102. Folglich ist, wie bereits ausgeführt(34), meines Erachtens von der Prämisse auszugehen, dass im vorliegenden Fall kein Mobbing stattgefunden hat. Dies gilt auch für die gegen die Mitglieder des Dreiergremiums der Anstellungsbehörde erhobene Behauptung, strafbare Handlungen begangen zu haben, da die in Belgien eingeleiteten Strafverfahren nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt haben, was das Gericht in Rn. 184 des angefochtenen Urteils zu Recht hervorgehoben hat. Da sich die betroffenen Personen zu Recht auf die Unschuldsvermutung berufen können, ist es meines Erachtens offensichtlich, dass die Einreichung einer bloßen Beschwerde für sich genommen nicht ausreicht, um einen Zweifel an der Unparteilichkeit der Mitglieder zu wecken, wenn keine anderen Anhaltspunkte vorliegen, die den Schluss zulassen, dass ein Interessenkonflikt vorliegt. Eine andere Schlussfolgerung liefe darauf hinaus, das Recht auf die Unschuldsvermutung als Garantie eines fairen Verfahrens in Frage zu stellen und die Beweislast in einem Strafverfahren umzukehren, was mir mit der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar erscheint.

b)      Zur missbräuchlichen Ausübung eines Rechts und zu den Gefahren für das ordnungsgemäße Funktionieren der Verwaltung

103. Bereits aufgrund dieser Erwägungen kann ein großer Teil des Vorbringens von PV zur angeblichen Verfälschung, die die Erwägungen des Gerichts in Rn. 192 des angefochtenen Urteils erkennen ließen, zurückgewiesen werden. Dennoch halte ich es für erforderlich, diese Rüge eingehend zu prüfen, um jeden Zweifel auszuräumen, der hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der in diesem Urteil dargelegten Gründe fortbestehen kann.

104. In der angeführten Randnummer hat das Gericht ausgeführt, dass „die These des Klägers, dass die Einlegung einer Beschwerde, wenn sie zulässig wäre, ausreichen würde, um einen Interessenkonflikt zu begründen, dazu führen würde, dass jeder Beamte den Erlass von Disziplinarmaßnahmen gegen ihn vereiteln könnte“, und hinzugefügt, dass „ein Beamter, gegen den ein Disziplinarverfahren anhängig ist, einfach eine Beschwerde gegen die Personen einlegen könnte, die mit Entscheidungen ihm gegenüber betraut sind, und anschließend seine Ablehnung nach Art. 11a des Statuts beantragen [könnte]“. Hierzu trägt PV vor, dass die bei der belgischen Justiz anhängigen Verfahren nicht als eine „bloße Beschwerde“ ausgelegt werden könnten, die er eingereicht habe, um sich dem Disziplinarverfahren zu entziehen. Für das Vorliegen eines Interessenkonflikts komme es auf das weitere Vorgehen im Anschluss an die strafrechtlichen Ermittlungen an.

105. Die in der vorstehenden Nummer wiedergegebenen Erwägungen des Gerichts lassen das Bestreben erkennen, die Unparteilichkeit des Disziplinarverfahrens zu gewährleisten und zugleich das ordnungsgemäße Funktionieren der Verwaltung sicherzustellen. Zum einen geht aus den Rn. 189 und 190 des angefochtenen Urteils hervor, dass sich das Gericht der Bedeutung, die Art. 11a des Statuts zukommt, bewusst war, indem es darauf hingewiesen hat, dass diese Bestimmung „das Ziel hat, die Unabhängigkeit, Integrität und Unparteilichkeit der Beamten und Bediensteten zu gewährleisten“. Zum anderen hat das Gericht zu Recht anerkannt, dass eine Auslegung des Begriffs „Unparteilichkeit“ dahin, dass die Mitglieder der Anstellungsbehörde, die in die strafrechtlichen Ermittlungen einbezogen gewesen seien, im Disziplinarverfahren nicht hätten tätig werden dürfen, wie von PV vorgetragen, rechtlich unhaltbar war, da es nicht nur keinen objektiven Grund gab, die Unparteilichkeit der betroffenen Personen in Frage zu stellen, sondern auch, weil eine nicht unerhebliche Gefahr bestand, die Arbeit der Verwaltung zu behindern, wenn man sich für eine solche Auslegung entscheiden würde.

106. Konkret hat das Gericht auf die Gefahr hingewiesen, dass die Einlegung einer Beschwerde von einem Beamten – in einer Weise, die als „missbräuchlich“ eingestuft werden könnte – verwendet werde, um einen Interessenkonflikt zu begründen und die Ablehnung der Personen zu verlangen, die mit dem Erlass von Entscheidungen ihm gegenüber betraut seien, so dass der Zweck des Disziplinarverfahrens vereitelt werden könne. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass PV zahlreiche Beschwerden eingereicht hat, die zur Beschuldigung von etwa 40 Beamten und Bediensteten der Kommission geführt haben. Daher wurden gegen eine beträchtliche Zahl von Personen innerhalb dieses Organs auf Initiative von PV Vorwürfe des Mobbings und strafbaren Verhaltens erhoben. Dieser Umstand ist bemerkenswert und verlangt einige Anmerkungen rechtlicher Art.

107. Meines Erachtens lässt sich nicht ausschließen, dass es Umstände gibt, unter denen die Ausübung eines Rechts, wie desjenigen, wegen eines angeblichen Interessenkonflikts die Befreiung eines Beamten von seinen Aufgaben zu beantragen, als missbräuchlich eingestuft werden kann. Der Gerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass sich nach einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts der Einzelne nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Vorschriften dieses Rechts berufen darf(35). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die Feststellung eines Missbrauchs zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraus, aus denen sich ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden(36).

108. Zwar hat das Gericht das Verhalten von PV nach den in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien nicht ausdrücklich als „missbräuchlich“ eingestuft, doch geht aus Rn. 192 des angefochtenen Urteils hervor, dass ernsthafte Zweifel daran bestanden, dass die Beschwerden von PV gegen die betroffenen Beamten begründet waren. In diesem Zusammenhang bin ich der Ansicht, dass das Gericht zu Recht eine gewisse Besorgnis hinsichtlich der Gefahr zum Ausdruck bringen konnte, die die von PV vertretene Auslegung für die ordnungsgemäße Führung des Disziplinarverfahrens bedingte, u. a. angesichts der besonders hohen Zahl von Beschwerden, die gegen verschiedene Beamte der Kommission eingelegt wurden, und des Fehlens von Beweisen für Mobbing und von Straftaten unter den in Rede stehenden Umständen.

109. Sofern diese Beschwerden nicht allein zu dem Zweck eingelegt worden wären, die Arbeit der Anstellungsbehörde zu behindern, hätte man nämlich vernünftigerweise erwarten dürfen, dass PV in der Lage gewesen wäre, bestimmte Mobbingsituationen nachzuweisen, was offensichtlich nicht der Fall ist. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte stellt sich die Frage, ob PV tatsächlich gutgläubig gehandelt hat, wie es das Unionsrecht verlangt, oder ob er vielmehr den Zweck verfolgt hat, sich des Schutzes zu bedienen, den Art. 11a des Statuts, wie er im Licht der Anforderung der Unparteilichkeit ausgelegt wird, gewährt, um Ziele zu erreichen, die der Unionsgesetzgeber offenkundig nicht verfolgt, nämlich einem Beamten zu gestatten, die Arbeit der Verwaltung zu sabotieren und seinen Kollegen zu schaden.

110. Sollte dies der Fall sein, so würde dieses Verhalten zweifellos die Kriterien erfüllen, die erforderlich sind, um als Rechtsmissbrauch eingestuft zu werden, was zur Folge hätte, dass ihm die Ausübung des durch die genannte Bestimmung verliehenen Rechts verweigert werden müsste(37). Mit anderen Worten könnte sich PV nicht wirksam auf Art. 11a des Statuts berufen. Dies vorausgeschickt, ist festzustellen, dass es sich letztlich um eine Tatsachenfrage handelt, die das Gericht auf der Grundlage einer Beurteilung der Umstände hinreichend klar beantwortet zu haben scheint. Der vorsichtige Ansatz, den das Gericht in Bezug auf die Haltung von PV gegenüber der Verwaltung und insbesondere im Rahmen des in Rede stehenden Disziplinarverfahrens gewählt hat, erscheint mir unter den besonderen Umständen der vorliegenden Rechtssache gerechtfertigt. Aus diesen Gründen komme ich zu dem Ergebnis, dass die Erwägungen des Gerichts keinen Rechtsfehler enthalten.

111. Ungeachtet der vorstehenden Erwägungen braucht sich der Gerichtshof meines Erachtens nicht erschöpfend zu der Frage zu äußern, ob das Gericht das Vorbringen von PV unter Feststellung eines missbräuchlichen Verhaltens seinerseits hätte zurückweisen können, da jedenfalls die Beachtung der Unschuldsvermutung und das Fehlen gegenteiliger Beweise für sich genommen stichhaltige Argumente darstellen, die den Schluss zulassen, dass kein Verstoß gegen die Anforderung der Unparteilichkeit wegen der Beteiligung bestimmter Mitglieder der Anstellungsbehörde, gegen die von PV Beschwerden eingelegt wurden, an der Entscheidung vorliegt. Meines Erachtens stellt die vom Gericht allgemein erwähnte Notwendigkeit, missbräuchliche Verhaltensweisen zu verhindern, nur ein ergänzendes Argument dar, mit dem bereits hinreichend überzeugende Erwägungen gestützt werden sollen.

3.      Schlussbemerkungen

112. Die Prüfung des zweiten Rechtsmittelgrundes, insbesondere hinsichtlich der in den Rn. 189 bis 194 des angefochtenen Urteils dargelegten Gründe, lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Vielmehr ist festzustellen, dass das Gericht den Anwendungsbereich von Art. 11a des Statuts in seiner Auslegung im Licht des Grundsatzes der Unparteilichkeit nach Art. 41 Abs. 1 der Charta zutreffend bestimmt und zu Recht entschieden hat, dass die Beteiligung bestimmter Mitglieder der Anstellungsbehörde, gegen die von PV Beschwerden erhoben wurden, nicht zu einem Interessenkonflikt führt, der die Rechtswidrigkeit der im Rahmen des Disziplinarverfahrens gegenüber PV ergangenen Entscheidungen zur Folge hätte.

113. Die vom Gericht in Rn. 192 des angefochtenen Urteils angesprochene Gefahr, dass ein missbräuchlicher Rückgriff auf den Grundsatz der Unparteilichkeit eine Fehlfunktion der Verwaltung, insbesondere zulasten der ordnungsgemäßen Führung des in Rede stehenden Disziplinarverfahrens, zur Folge habe, ist durch die besonderen Umstände der Rechtssache gerechtfertigt, nämlich dadurch, dass PV eine besonders große Zahl von Beschwerden gegen verschiedene Beamte der Kommission erhoben hatte, obwohl Beweise dafür fehlten, dass diese ein Mobbing und Straftaten begangen hätten. Daher bin ich der Ansicht, dass das Vorbringen von PV, mit dem ein Verstoß gegen die Anforderung der Unparteilichkeit geltend gemacht wird, zurückzuweisen ist.

4.      Zwischenergebnis

114. Nach dieser Prüfung bin ich der Ansicht, dass der zweite Rechtsmittelgrund keinen Erfolg haben kann. Ich schlage vor, ihn als unbegründet zurückzuweisen.

D.      Zum achten Rechtsmittelgrund

1.      Vorbringen der Parteien

115. Mit seinem achten Rechtsmittelgrund macht PV geltend, dass die vom Gericht vorgenommene Beurteilung der Zulässigkeit seines Antrags auf Aufhebung der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 26. Juli 2016 mit zwei Rechtsfehlern behaftet sei.

116. Erstens habe das Gericht in Rn. 81 des angefochtenen Urteils nicht zu Recht feststellen können, dass die Anstellungsbehörde eine Verrechnung der Schulden von PV gegenüber der Kommission mit den dem Rechtsmittelführer von der Kommission geschuldeten Beträgen vorgenommen habe. Die Rücknahme der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst habe rückwirkend alle Folgen dieser Entscheidung beseitigt, insbesondere die Feststellung unbefugten Fernbleibens. Daraus folge, dass die Schulden aufgehoben und infolge dieser Rücknahme die einbehaltenen Bezüge von seinem Gehalt zurückerstattet hätten werden müssen, so dass eine Verrechnung nicht hätte vorgenommen werden können.

117. Zweitens habe das Gericht einen Rechtsfehler begangen, indem es in Rn. 82 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass die finanziellen Auswirkungen der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vor Erhebung der Klage in der Rechtssache T‑786/16 neutralisiert worden seien. Die Anstellungsbehörde habe die finanziellen Folgen ihrer Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst nicht ausgeglichen, da sie PV hierfür eine materielle und immaterielle Entschädigung hätte zahlen müssen.

118. Die Kommission trägt erstens vor, dass die Aufhebung des Disziplinarverfahrens wegen unterbliebener Untersuchung nicht die früheren Entscheidungen beseitigt hätte, die die Einleitung dieses Verfahrens gerechtfertigt hätten und die vollständig von diesem Verfahren getrennt und unabhängig seien. Zweitens seien die finanziellen Auswirkungen der Rücknahme der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst durchaus neutralisiert worden.

2.      Würdigung

119. Auf Wunsch des Gerichtshofs konzentriert sich die Prüfung des achten Rechtsmittelgrundes auf die Begründung des Gerichts in den Rn. 81 und 82 des angefochtenen Urteils für die Feststellung der Unzulässigkeit der Klage von PV auf Aufhebung der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 26. Juli 2016. Konkret beanstandet PV die Feststellung des Gerichts in Rn. 82 des angefochtenen Urteils, wonach der Antrag auf Aufhebung der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 26. Juli 2016 gegenstandslos sei, da diese zurückgenommen worden sei und ihre finanziellen Auswirkungen vor Erhebung der Klage in der Rechtssache T‑786/16 neutralisiert worden seien. Nach Ansicht von PV hat die Anstellungsbehörde die finanziellen Folgen der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst nicht ausgeglichen, da PV hierfür einen Ersatz des sich aus dieser Entfernung ergebenden materiellen und immateriellen Schadens hätte erhalten müssen.

a)      Zu dem nach dem Verfahrensrecht erforderlichen „Rechtsschutzinteresse“

120. Wie Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Wunenburger/Kommission(38) ausgeführt hat, wird mit dem Erfordernis eines Rechtsschutzinteresses auf prozessualer Ebene sichergestellt, dass die Gerichte nicht mit einer gutachtlichen Klärung rein hypothetischer Rechtsfragen befasst werden. Das Rechtsschutzinteresse ist deshalb eine zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung, die in verschiedenen Verfahrensabschnitten relevant werden kann. Es muss unbestreitbar bereits zum Zeitpunkt der Einlegung der jeweiligen Klage vorliegen. Ferner muss es jedoch auch über den Zeitpunkt der Klageerhebung hinaus bis zur Entscheidung in der Sache fortbestehen(39).

121. Entfällt das Rechtsschutzinteresse erst während eines anhängigen Gerichtsverfahrens, so ist zwar die Entscheidung des Gerichts in der Sache nicht mehr gerechtfertigt. Ebenso wenig wäre es allerdings dem Kläger zuzumuten, dass seine ursprünglich in zulässiger Weise erhobene Klage nunmehr kurzerhand abgewiesen würde und er die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hätte. Allein sachgerecht ist es vielmehr in einem solchen Fall, den Rechtsstreit für erledigt zu erklären, wodurch einerseits zum Ausdruck gebracht wird, dass die Grundlage für die Klage erst nach ihrer Erhebung wegfiel, und andererseits eine für den Kläger negative Kostenfolge vermieden werden kann.

122. Nach der Rechtsprechung kann der Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Klägers sich erstens aus der Gefahr einer Wiederholung des (vermeintlich) rechtswidrigen Handelns eines Unionsorgans ergeben. Art. 266 Abs. 1 AEUV verpflichtet nämlich das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, „die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs … ergebenden Maßnahmen zu ergreifen“, was in der Praxis bedeutet, dass dieses Organ die in diesem Urteil dargelegten Nichtigkeitsgründe zu berücksichtigen hat, falls es beschließen sollte, das für nichtig erklärte Handeln später zu ersetzen(40). Zweitens kann das Rechtsschutzinteresse dann fortbestehen, wenn eine Entscheidung über eine erhobene Nichtigkeitsklage für etwaige Schadensersatzforderungen des Klägers von Bedeutung ist. Drittens kann der Kläger in bestimmten Fällen, insbesondere in beamtenrechtlichen Streitigkeiten, ein Interesse an der Beseitigung abwertender Äußerungen über seine Person haben, damit er für die Zukunft rehabilitiert wird.

b)      Prüfung der Erwägungen des Gerichts

123. Das angefochtene Urteil betrifft den zweiten dieser drei Fälle, d. h. eine Schadensersatzforderung des Rechtsmittelführers. Der Gerichtshof hat entschieden, dass das Rechtsschutzinteresse eines Klägers im konkreten Fall und insbesondere unter Berücksichtigung der Folgen des geltend gemachten Rechtsverstoßes und der Art des angeblich erlittenen Schadens zu beurteilen ist(41). Anhand dieser Grundsätze ist die Situation von PV in der vorliegenden Rechtssache zu prüfen. Im Rahmen der Prüfung ist auch zu untersuchen, ob die Erwägungen des Gerichts diesen Grundsätzen Rechnung tragen.

124. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich PV nicht in der in Nr. 121 der vorliegenden Schlussanträge genannten Situation befindet. Die Klage von PV auf Aufhebung ist nicht aus dem Grund „gegenstandslos“, dass das Rechtsschutzinteresse in einem anhängigen Gerichtsverfahren entfallen wäre, sondern vielmehr deshalb, weil die angefochtene Entscheidung schon vor der Klageerhebung nicht mehr bestanden hat. Es ist nämlich daran zu erinnern, dass die Anstellungsbehörde ihre Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst am 24. Juli 2017 zurückgenommen hatte, d. h. vor dem Zeitpunkt der Erhebung der Klage beim Gericht. In diesem Zusammenhang hat das Gericht in Rn. 80 des angefochtenen Urteils auf den grundlegenden Unterschied hingewiesen, der zwischen der „Aufhebung“, die eine Entscheidung nur für die Zukunft beseitigt(42), und der rückwirkenden „Rücknahme“ einer solchen Entscheidung bestehe. Sodann hat das Gericht in Rn. 82 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Rücknahme der in Rede stehenden Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst diese rückwirkend beseitigt habe und folglich, da die angefochtene Entscheidung nicht mehr bestehe, diese PV nicht mehr habe beschweren können. Diese Feststellung erscheint mir rechtlich nicht zu beanstanden.

125. Zum Vorliegen eines Rechtsschutzinteresses an einer Schadensersatzklage ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die Schadensersatzklage ein „selbständiger“ Rechtsbehelf mit eigener Funktion im System der Klagemöglichkeiten und von Voraussetzungen abhängig sei, die ihrem besonderen Zweck angepasst seien(43). Daher ist die Erhebung einer Aufhebungsklage gegen eine Handlung keine notwendige Voraussetzung für die Erhebung einer Schadensersatzklage, um den Ersatz des sich aus dieser Handlung ergebenden Schadens zu erlangen(44). Im Kontext der vorliegenden Rechtssache ist festzustellen, dass PV mit seiner Aufhebungsklage tatsächlich einen Schadensersatzantrag verbunden hat. Daher scheint mir das Fehlen eines Rechtsschutzinteresses an der Aufhebungsklage für die Zulässigkeit seines Schadensersatzantrags nicht entscheidend zu sein. Dagegen bin ich der Ansicht, dass es zwingend erforderlich ist, festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Schadensersatzklage sowie die in Art. 340 Abs. 2 AEUV genannten Voraussetzungen im vorliegenden Fall gerade wegen ihres „selbständigen“ Charakters erfüllt waren.

126. Was die Voraussetzungen für die Schadensersatzklage(45) angeht, habe ich einige Zweifel daran, dass sie im vorliegenden Fall erfüllt sind. Insbesondere erscheint es mir zweifelhaft, ob ein Kausalzusammenhang zwischen der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst, die die Anstellungsbehörde selbst zurückgenommen hat, und dem materiellen Schaden, den PV erlitten haben soll, bestehen kann. Wie das Gericht in Rn. 81 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, hatte die Rücknahme der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst am 24. Juli 2017 zum einen die Wiederverwendung von PV bei der Kommission ab dem 16. September 2017 und zum anderen die rückwirkende Gewährung von Vergütungen und Tagen des Jahresurlaubs für den Zeitraum vom 1. August 2016 bis zum 15. September 2017 zur Folge.

127. Hinzu kommt, dass die Anstellungsbehörde die Schulden von PV gegenüber der Kommission und die Beträge, die die Kommission PV für den genannten Zeitraum schuldete, aufgerechnet hatte, was zu einer Zahlung von 9 550 Euro an PV führte. Folglich war, wie das Gericht in Rn. 82 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt hat, die Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst vom 26. Juli 2016 zurückgenommen worden, und ihre finanziellen Auswirkungen waren neutralisiert worden. Wenn PV in seinem Rechtsmittel geltend macht, dass diese Aufrechnung nicht gerechtfertigt gewesen sei, ist zu entgegnen, dass die Rücknahme der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst die früheren Entscheidungen, mit denen das dem Disziplinarverfahren zugrunde liegende unbefugte Fernbleiben festgestellt wurde, nicht beseitigt hat. Das Gericht hat daher zu Recht die Aufrechnung der Verbindlichkeiten des Rechtsmittelführers infolge seines unbefugten Fernbleibens mit den Beträgen gebilligt, die die Kommission dem Rechtsmittelführer für den fraglichen Zeitraum schuldete. Unter diesen Umständen ist schwer nachvollziehbar, wie PV einen materiellen Schaden hätte erlitten haben können.

c)      Schlussbemerkungen

128. Die Prüfung der Erwägungen des Gerichts in den Rn. 81 und 82 des angefochtenen Urteils erlaubt nicht die Feststellung eines Rechtsfehlers. Nach alledem neige ich wie das Gericht dazu, ein Rechtsschutzinteresse insbesondere dann auszuschließen, wenn es an einer PV beschwerenden Maßnahme fehlt. Alles deutet darauf hin, dass die von PV angefochtene Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst rückwirkend vor der Erhebung der Aufhebungsklage zurückgenommen wurde, so dass sie keine ihn beschwerenden Wirkungen mehr entfalten kann. Daher hat das Gericht den Antrag auf Aufhebung zu Recht für unzulässig erklärt.

129. Was den Schadensersatzantrag von PV betrifft, lässt sich meines Erachtens anhand des Vorbringens von PV nicht beurteilen, inwieweit er einen materiellen Schaden hätte erlitten haben können, da die von der Kommission vorgenommene Aufrechnung gerechtfertigt war, wie das Gericht in seinem Urteil festgestellt hat. Ich bin daher der Ansicht, dass das Vorbringen von PV zur Stützung eines angeblichen Schadensersatzanspruchs zurückzuweisen ist.

3.      Zwischenergebnis

130. Aus den oben dargelegten Gründen schlage ich vor, den achten Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.

VI.    Ergebnis

131. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, den ersten, den zweiten und den achten Rechtsmittelgrund für unbegründet zu erklären.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Vgl. Urteile vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a. (C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 128), sowie vom 17. Dezember 2020, BP/FRA (C‑601/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:1048, Rn. 71).


3      Vgl. Urteile vom 25. Januar 2007, Sumitomo Metal Industries und Nippon Steel/Kommission (C‑403/04 P und C‑405/04 P, EU:C:2007:52, Rn. 39), sowie vom 17. Dezember 2020, Inpost Paczkomaty/Kommission (C‑431/19 P und C‑432/19 P, EU:C:2020:1051, Rn. 51).


4      Vgl. Urteile vom 26. Januar 2017, Duravit u. a./Kommission (C‑609/13 P, EU:C:2017:46, Rn. 86), sowie vom 28. November 2019, Brugg Kabel und Kabelwerke Brugg/Kommission (C‑591/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1026, Rn. 63).


5      Vgl. Rn. 175 des angefochtenen Urteils.


6      Vgl. Rn. 60, 171, 221, 222 und 231 des angefochtenen Urteils.


7      Siehe Nr. 77 der vorliegenden Schlussanträge.


8      Für eine ausführlichere Erläuterung des in Art. 41 der Charta verankerten Rechts auf eine gute Verwaltung verweise ich auf meine Schlussanträge in der Rechtssache Parlament/UZ (C‑894/19 P, EU:C:2021:497, Nrn. 66 ff.).


9      Pilorge-Vrancken, J., Le droit de la fonction publique de l’Union européenne, Larcier, Brüssel, 2017, S. 15.


10      Urteil vom 4. Februar 2021, Ministre de la Transition écologique et solidaire und Ministre de l’Action et des Comptes publics (C‑903/19, EU:C:2021:95, Rn. 37).


11      Urteil vom 20. Oktober 1981, Kommission/Belgien (137/80, EU:C:1981:237, Rn. 9).


12      Andreone, F., „Hiérarchie des normes et sources du droit de la fonction publique de l’Union européenne“, Groupe de réflexion sur l’avenir du service public européen, Cahier Nr. 25, Juni 2015, S. 16.


13      Urteil vom 14. Dezember 2017, RL/Gerichtshof der Europäischen Union (T‑21/17, EU:T:2017:907, Rn. 51).


14      Siehe Nr. 64 der vorliegenden Schlussanträge.


15      Vgl. Urteil vom 15. Juli 2021, OH (Befreiung von der Gerichtsbarkeit) (C‑758/19, EU:C:2021:603, Rn. 24 und 25), sowie Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache SATCEN/KF (C‑14/19 P, EU:C:2020:220, Nr. 91).


16      Giacobbo Peyronnel, V., und Perillo, E., weisen in Statut de la fonction publique de l’Union européenne (Larcier, Brüssel, 2017, S. 17) auf die Absicht der Gründer der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hin, einen unabhängigen öffentlichen Dienst zu schaffen, der aus supranationalen Beamten besteht.


17      Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/RQ (C‑831/18 P, EU:C:2020:481).


18      Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/RQ (C‑831/18 P, EU:C:2020:481, Rn. 45).


19      Urteil vom 6. Oktober 2021, AV und AW/Parlament (T‑43/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:666, Rn. 106).


20      Urteil vom 6. Oktober 2021, AV und AW/Parlament (T‑43/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:666, Rn. 106).


21      Urteil vom 6. Oktober 2021, AV und AW/Parlament (T‑43/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:666, Rn. 106).


22      Siehe Nr. 51 der vorliegenden Schlussanträge.


23      Vgl. Urteile vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 41), sowie vom 25. Februar 2021, Dalli/Kommission (C‑615/19 P, EU:C:2021:133, Rn. 223).


24      ABl. 2016, L 65, S. 1.


25      ABl. 2013, L 294, S. 1.


26      Vgl. insoweit EGMR, 28. Oktober 1994, Murray/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1994:1028JUD001431088, § 55).


27      De Béco, R., „L’audition par la police, le parquet ou le juge d’instruction“, Justice-en-ligne (Artikel vom 25. August 2021), legt dar, dass das belgische Strafprozessrecht jeder Person, die in welcher Eigenschaft auch immer vernommen wird (Opfer, Beschwerdeführer, Informant, Zeuge, Verdächtiger, von der Polizei vorgeladene Person oder Person, der die Freiheit entzogen wurde), Rechte und Garantien einräumt.


28      Dies gilt für das Strafrecht mehrerer Mitgliedstaaten, darunter des Königreichs Belgien, wie Du Jardin, J., in „Belgique, les principes de procédure pénale et leur application dans les procédures disciplinaires“, Revue internationale de droit pénal, Bd. 74, Nrn. 3 und 4, 2003, S. 801, ausführt. Konkret bestimmt Art. 56 Abs. 1 und 2 des Code d’instruction criminelle (Strafprozessgesetzbuch) betreffend die Aufgaben des Untersuchungsrichters, dass dieser „die Verantwortung für die gerichtliche Untersuchung [trägt], die sowohl zur Belastung als auch zur Entlastung geführt wird“ und dass er „über die Rechtmäßigkeit der Beweismittel sowie über die Lauterkeit, mit der sie gesammelt werden[, wacht]“ (Hervorhebung nur hier). In diesem Zusammenhang ist auch auf Art. 5 Abs. 4 der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) (ABl. 2017, L 283, S. 1) hinzuweisen, wonach „[d]ie EUStA … ihre Ermittlungen unparteiisch [führt] und alle sachdienlichen Beweise, belastende wie entlastende[, ermittelt]“, was als Ausdruck eines tragenden Grundsatzes des Strafprozessrechts der Union verstanden werden kann (Hervorhebung nur hier).


29      Ligeti, K., „The Place of the Prosecutor in Common Law and Civil Law Jurisdictions“, The Oxford Handbook of Criminal Process, Oxford University Press, Oxford, 2019, führt aus, dass der Staatsanwalt, wenn am Ende der Untersuchung ausreichende Beweise vorliegen, nach dem Legalitätsgrundsatz grundsätzlich verpflichtet ist, ein Verfahren einzuleiten, und er eine Sache nicht einstellen kann.


30      Urteil vom 21. Oktober 2021, Parlament/UZ (C‑894/19 P, EU:C:2021:863, Rn. 51 ff.).


31      Vgl. Nr. 104 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Parlament/UZ (C‑894/19 P, EU:C:2021:497) (Hervorhebung nur hier).


32      Giacobbo Peyronnel, V., und Perillo, E., Statut de la fonction publique de l’Union européenne, Larcier, Brüssel, 2017, S. 170.


33      Urteil vom 21. Oktober 2021, Parlament/UZ (C‑894/19 P, EU:C:2021:863, Rn. 54).


34      Siehe Nr. 51 der vorliegenden Schlussanträge.


35      Vgl. Urteil vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u. a. (C‑33/20, C‑155/20 und C‑187/20, EU:C:2021:736, Rn. 121).


36      Vgl. Urteil vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u. a. (C‑33/20, C‑155/20 und C‑187/20, EU:C:2021:736, Rn. 122 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


37      Vgl. entsprechend Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark (C‑116/16 und C‑117/16, EU:C:2019:135, Rn. 72), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass die Anwendung von Vorschriften des Unionsrechts verweigert werden müsse, wenn diese nicht geltend gemacht werden, um die Ziele der Vorschriften zu verwirklichen, sondern um in den Genuss eines im Unionsrecht vorgesehenen Vorteils zu gelangen, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen lediglich formal erfüllt sind.


38      C‑362/05 P, EU:C:2007:104, Nrn. 35 und 36.


39      Vgl. Urteile vom 28. Mai 2013, Abdulrahim/Rat und Kommission (C‑239/12 P, EU:C:2013:331, Rn. 61), sowie vom 27. Juni 2013, Xeda International und Pace International/Kommission (C‑149/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:433, Rn. 31).


40      Lenaerts, K., Maselis, I., und Gutman, K., EU Procedural Law, Rn. 7.223, S. 416.


41      Urteil vom 28. Mai 2013, Abdulrahim/Rat und Kommission (C‑239/12 P, EU:C:2013:331, Rn. 65).


42      Urteil vom 27. Juni 2013, Xeda International und Pace International/Kommission (C‑149/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:433, Rn. 32).


43      Urteile vom 23. März 2004, Bürgerbeauftragter/Lamberts (C‑234/02 P, EU:C:2004:174, Rn. 59), und vom 6. Oktober 2020, Bank Refah Kargaran/Rat (C‑134/19 P, EU:C:2020:793).


44      Urteil vom 12. September 2006, Reynolds Tobacco u. a./Kommission (C‑131/03 P, EU:C:2006:541, Rn. 82 und 83).


45      Nach ständiger Rechtsprechung hängen die außervertragliche Haftung der Union und der Anspruch auf Schadensersatz nach Art. 340 AEUV davon ab, dass eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt ist, die sich auf die Rechtswidrigkeit des den Organen vorgeworfenen Verhaltens, das tatsächliche Vorliegen des Schadens und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden beziehen (vgl. Urteil vom 19. Juni 2014, Commune de Millau und SEMEA/Kommission, C‑531/12 P, EU:C:2014:2008, Rn. 96).