Language of document : ECLI:EU:T:2017:224

Rechtssache T210/15

Deutsche Telekom AG

gegen

Europäische Kommission

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Dokumente eines Verfahrens zur Durchführung der Wettbewerbsregeln – Verweigerung des Zugangs – Begründungspflicht – Ausnahme zum Schutz der geschäftlichen Interessen eines Dritten – Ausnahme zum Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Überwiegendes öffentliches Interesse – Konsultation Dritter – Transparenz – Fehlen einer fristgemäßen Beantwortung eines Zweitantrags“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 28. März 2017

1.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Verweigerung des Zugangs – Begründungspflicht – Umfang – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten

(Art. 296 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

2.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Schutz der geschäftlichen Interessen – Anwendung auf Verwaltungsakten betreffend Verfahren wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung – Allgemeine Vermutung, dass der Schutz der mit einer solchen Untersuchung verbundenen Interessen durch die Offenlegung der Dokumente beeinträchtigt wird – Aufrechterhaltung der Vermutung nach Abschluss des Verfahrens

(Art. 15 Abs. 3 AEUV und Art. 102 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 erster und dritter Gedankenstrich; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 2 und Art. 28; Verordnung Nr. 773/2004 der Kommission, Art. 6, 8, 15 und 16)

3.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Verpflichtung, einen teilweisen Zugang zu den nicht von den Ausnahmen erfassten Informationen zu gewähren – Anwendung auf Dokumente einer Kategorie, für die eine allgemeine Vermutung zugunsten einer Verweigerung des Zugangs gilt – Ausschluss

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 und 6)

4.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Schutz der geschäftlichen Interessen – Überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung von Dokumenten – Begriff – Interesse, vom Tätigwerden der Kommission auf dem Gebiet des Wettbewerbs zu erfahren – Einbeziehung – Grenzen

(Art. 102 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, 6. Erwägungsgrund und Art. 4 Abs. 2 erster und dritter Gedankenstrich; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)

5.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung von Dokumenten – Begriff – Besonderes Interesse des Antragstellers – Ausschluss

(Art. 15 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 1 und 2 sowie Art. 4 Abs. 2)

6.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Entscheidung, mit der ein Erstantrag auf Zugang zu Dokumenten eines Organs abgelehnt wird – Nichteinbeziehung

(Art. 263 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 8)

7.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Grundsatz des Zugangs zu Dokumenten – Auf mehrere Ausnahmen gestützte Verweigerung – Zulässigkeit

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4)

8.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Dokumente, die von Dritten stammen – Pflicht zur vorherigen Konsultierung der betroffenen Dritten – Umfang

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1, 2 und 4)

9.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Verweigerung des Zugangs – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten – Pflicht, alle von einem allgemeinen Zugangsantrag erfassten Dokumente individuell zu prüfen – Fehlen

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4)

10.    Grundrechte – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane – Grenzen – Klage gegen eine den Zugang verweigernde Entscheidung – Prüfung der Rechtmäßigkeit im Hinblick auf die sekundärrechtlichen Vorschriften zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang

(Art. 15 Abs. 3 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 42; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates)

11.    Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Schutz der geschäftlichen Interessen – Rechtfertigung durch Gemeinwohlerwägungen – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 erster und dritter Gedankenstrich)

12.    Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Frist zur Beantwortung eines Zweitantrags auf Akteneinsicht – Überschreitung – Implizite Ablehnungsentscheidung, gegen die ein gerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist – Eintreffen der verspäteten Antwort des betreffenden Organs vor Klageerhebung – Umstand, der geeignet ist, die Nichtigerklärung der Entscheidung, den Zugang zu verweigern, zu rechtfertigen – Ausschluss

(Art. 263 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 8 Abs. 1 bis 3)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 27-29, 87)

2.      Die Kommission stützt sich zu Recht auf eine auf den Ausnahmen des Art. 4 Abs. 2 erster und dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission beruhende allgemeine Vermutung, um den Zugang zu den im Dossier der Untersuchung bezüglich eines Verfahrens wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung enthaltenen Dokumenten mit der Feststellung zu verweigern, dass die Verbreitung dieser Dokumente grundsätzlich geeignet sei, den Schutz der geschäftlichen Interessen der an einem solchen Verfahren beteiligten Unternehmen und den Schutz des Zwecks der Untersuchungstätigkeiten im Zusammenhang mit diesem Verfahren zu beeinträchtigen.

Eine solche allgemeine Vermutung kann sich nämlich hinsichtlich der Verfahren nach Art. 102 AEUV aus den Bestimmungen der Verordnungen Nr. 1/2003 und der Verordnung Nr. 773/2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 101 und 102 AEUV durch die Kommission ergeben, die speziell das Recht auf Zugang zu den Dokumenten regeln, die in den diese Verfahren betreffenden Akten der Kommission enthalten sind. Insoweit regeln Art. 27 Abs. 2 und Art. 28 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie die Art. 6, 8, 15 und 16 der Verordnung Nr. 773/2004 die Verwendung der in der Akte eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV enthaltenen Dokumente restriktiv, indem sie den Zugang zur Akte auf die Parteien und die Beschwerdeführer, deren Beschwerde die Kommission abzuweisen beabsichtigt, beschränken, und zwar unter dem Vorbehalt, dass weder Geschäftsgeheimnisse oder weitere vertrauliche Informationen der Unternehmen noch interne Dokumente der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten verbreitet werden, und nur insofern, als die zugänglich gemachten Dokumente nur für Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zur Anwendung von Art. 102 AEUV verwendet werden. Daraus folgt nicht nur, dass die Parteien eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV kein Recht auf unbeschränkten Zugang zu den in der Akte der Kommission enthaltenen Dokumenten haben, sondern auch, dass Dritte mit Ausnahme der Beschwerdeführer im Rahmen eines solchen Verfahrens über kein Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Kommissionsakte verfügen.

Unter diesen Umständen könnte im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV ein allgemeiner Zugang aufgrund der Verordnung Nr. 1049/2001 zum Schriftverkehr zwischen der Kommission und den von diesem Verfahren betroffenen Parteien oder Dritten das Gleichgewicht gefährden, das der Unionsgesetzgeber in den Verordnungen Nrn. 1/2003 und 773/2004 zwischen der Verpflichtung der betroffenen Unternehmen, der Kommission möglicherweise sensible geschäftliche Informationen mitzuteilen, und der Gewährung eines wegen des Berufs- und des Geschäftsgeheimnisses verstärkten Schutzes der so der Kommission übermittelten Informationen sicherstellen wollte. Insoweit ist hinsichtlich der Verwaltungstätigkeit der Kommission der Zugang zu Dokumenten nicht im gleichen Umfang erforderlich wie bei der rechtsetzenden Tätigkeit eines Unionsorgans.

Außerdem besteht in Anbetracht der Art der geschützten Interessen eine allgemeine Vermutung unabhängig davon, ob der Zugangsantrag ein bereits abgeschlossenes oder ein noch laufendes Untersuchungsverfahren betrifft. Die Veröffentlichung der sensiblen Informationen über die wirtschaftlichen Tätigkeiten der beteiligten Unternehmen ist nämlich unabhängig davon, ob ein Untersuchungsverfahren noch anhängig ist, geeignet, deren Geschäftsinteressen zu schädigen. Zudem besteht die Gefahr, dass die Aussicht auf eine solche Veröffentlichung nach Abschluss des Untersuchungsverfahrens der Bereitschaft der Unternehmen zur Zusammenarbeit im laufenden Verfahren abträglich wäre.

(vgl. Rn. 32, 37, 38, 41, 42, 45, 53)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 46, 54, 55, 107)

4.      Die Öffentlichkeit muss in der Lage sein, vom Tätigwerden der Kommission auf dem Gebiet des Wettbewerbs zu erfahren, um sicherzustellen, dass Verhaltensweisen, die die Wirtschaftsteilnehmer Sanktionen aussetzen können, hinreichend genau zu identifizieren sind und außerdem die Entscheidungspraxis der Kommission nachvollziehbar ist, da diese eine wesentliche Bedeutung für das Funktionieren des Binnenmarkts hat, das alle Unionsbürger betrifft, seien sie Wirtschaftsteilnehmer oder Verbraucher. Es besteht also ein überwiegendes öffentliches Interesse daran, dass die Öffentlichkeit bestimmte grundlegende Elemente des Tätigwerdens der Kommission auf dem Gebiet des Wettbewerbs erfährt. Jedoch verpflichtet das Bestehen dieses öffentlichen Interesses die Kommission nicht, auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission einen allgemeinen Zugang zu jeder im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV gesammelten Information zu gewähren.

Ein solcher allgemeiner Zugang könnte nämlich das Gleichgewicht gefährden, das der Unionsgesetzgeber in der Verordnung Nr. 1/2003 zwischen der Verpflichtung des betroffenen Unternehmens oder der betroffenen Unternehmen, der Kommission möglicherweise sensible geschäftliche Informationen mitzuteilen, und der Gewährung eines wegen des Berufs- und des Geschäftsgeheimnisses verstärkten Schutzes der so der Kommission übermittelten Informationen sicherstellen wollte. Im Übrigen ergibt sich aus dem sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1049/2001, dass das Interesse der Öffentlichkeit an der Zugänglichmachung eines Dokuments nach dem Transparenzgrundsatz nicht das gleiche Gewicht hat, je nachdem, ob es sich um ein Dokument eines Verwaltungsverfahrens oder ein Dokument über ein Verfahren handelt, in dem das Organ als Gesetzgeber tätig wird.

(vgl. Rn. 64-67)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 68, 69, 71)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 80, 81)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 82, 84)

8.      Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission sieht vor, dass bezüglich Dokumenten Dritter das Organ diese konsultiert, um zu beurteilen, ob eine der Ausnahmeregelungen nach Art. 4 Abs. 1 oder 2 anwendbar ist, es sei denn, es ist klar, dass das Dokument verbreitet werden muss bzw. nicht verbreitet werden darf. Daraus folgt, dass Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 die Organe nicht verpflichtet, Dritte unter allen Umständen zu konsultieren.

(vgl. Rn. 96, 97)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 105)

10.    Nach Art. 42 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 15 Abs. 3 AEUV ist das Recht auf Zugang zu Dokumenten vorbehaltlich der Grundsätze und Bedingungen garantiert, die das Parlament und der Rat durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festlegen. Im Rahmen einer Klage gegen eine den Zugang zu Dokumenten verweigernde Entscheidung muss sich die Kontrolle des Unionsrichters daher auf die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung allein im Licht der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission und nicht auf die Rechtmäßigkeit dieser Verordnung im Hinblick auf die Charta der Grundrechte erstrecken, wenn keine Einrede der Rechtswidrigkeit gegen die genannte Verordnung erhoben worden ist.

(vgl. Rn. 113, 114)

11.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 118, 119)

12.    Die in Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vorgesehene verlängerbare Frist von 15 Arbeitstagen, binnen deren ein Organ einen Zweitantrag beantworten muss, ist zwingend. Ihr Verstreichen hat jedoch nicht zur Folge, dass die Befugnis des Organs zum Erlass einer Entscheidung wegfällt. Der Gesetzgeber hat nämlich die Folgen einer Überschreitung der in Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehenen Frist geregelt, indem er in Art. 8 Abs. 3 dieser Verordnung vorsah, dass ihre Nichteinhaltung durch das Organ zur Erhebung einer Klage berechtigt.

In dem Fall, dass die Kommission verspätet auf einen Zugangsantrag antwortet, bevor der Antragsteller mit der Erhebung einer Klage Konsequenzen gemäß Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1049/2001 aus dem Ausbleiben einer fristgerechten Antwort gezogen hat, ist diese Fristüberschreitung, so bedauerlich sie auch sein mag, somit nicht geeignet, einen Rechtsfehler des angefochtenen Beschlusses zu begründen, der seine Nichtigerklärung rechtfertigte.

(vgl. Rn. 126-129)