Language of document : ECLI:EU:C:2015:654

Rechtssache C‑489/14

A

gegen

B

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England & Wales])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Rechtshängigkeit – Art. 16 und Art. 19 Abs. 1 und 3 – Verfahren der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes in einem ersten Mitgliedstaat und Scheidungsverfahren in einem zweiten Mitgliedstaat – Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts – Begriff der ‚geklärten‘ Zuständigkeit – Erledigung des ersten Verfahrens und Einleitung eines erneuten Scheidungsverfahrens im ersten Mitgliedstaat – Folgen – Zeitverschiebung zwischen den Mitgliedstaaten – Auswirkungen auf das Verfahren zur Anrufung der Gerichte“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 6. Oktober 2015

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Bestimmungen dieser Verordnung, die als denen der Verordnung Nr. 44/2001 und des Brüsseler Übereinkommens gleichwertig eingestuft werden – Auslegung dieser Bestimmungen gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verordnung Nr. 44/2001 und zum Brüsseler Übereinkommen

(Übereinkommen vom 27. September 1968; Verordnungen des Rates Nr. 44/2001 und Nr. 2201/2003)

2.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit in Verfahren betreffend die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes, die Ehescheidung oder die Ungültigerklärung einer Ehe – Rechtshängigkeit – Voraussetzungen – Identität des Anspruchs – Ausschluss

(Verordnung des Rates Nr. 2201/2003, Art. 19 Abs. 1 und 2)

3.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit in Verfahren betreffend die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes, die Ehescheidung oder die Ungültigerklärung einer Ehe – Rechtshängigkeit – Begriff „geklärte“ Zuständigkeit

(Verordnung des Rates Nr. 2201/2003, Art. 19 Abs. 1)

4.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit in Verfahren betreffend die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes, die Ehescheidung oder die Ungültigerklärung einer Ehe – Rechtshängigkeit – Erledigung des bei dem zuerst angerufenen Gericht eingeleiteten Verfahrens nach der Anrufung des zweiten Gerichts – Keine Rechtshängigkeit

(Verordnung des Rates Nr. 2201/2003, Art. 19 Abs. 1 und 3)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 27)

2.        Zu der Frage, ob Rechtshängigkeit vorliegt, geht aus dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 hervor, dass in Ehesachen eine Identität des Anspruchs der bei den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten gestellten Anträge nicht erforderlich ist. Die Anträge müssen zwar dieselben Parteien betreffen, können aber unterschiedliche Ansprüche zum Gegenstand haben, sofern sie eine Trennung ohne Auflösung des Ehebandes, eine Ehescheidung oder die Ungültigerklärung einer Ehe betreffen. Diese Auslegung wird durch einen Vergleich der Abs. 1 und 2 des Art. 19 der Verordnung bekräftigt, der zeigt, dass nur Abs. 2, der Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind betrifft, für seine Anwendbarkeit die Identität des Anspruchs der eingeleiteten Verfahren voraussetzt. Folglich kann Rechtshängigkeit vorliegen, wenn zwei Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten zum einen wegen eines Verfahrens auf Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und zum anderen wegen eines Ehescheidungsverfahrens angerufen werden, oder wenn beide Gerichte wegen eines Antrags auf Ehescheidung angerufen werden.

(vgl. Rn. 33)

3.        Wenn zwei Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten zum einen wegen eines Verfahrens auf Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und zum anderen wegen eines Ehescheidungsverfahrens angerufen werden, oder wenn beide Gerichte wegen eines Antrags auf Ehescheidung angerufen werden, ist bei Identität der Parteien die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 bereits dann geklärt, wenn sich das zuerst angerufene Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und keine der Parteien den Mangel seiner Zuständigkeit vor oder mit der Stellungnahme geltend gemacht hat, die nach dem innerstaatlichen Recht als das erste Verteidigungsvorbringen vor diesem Gericht anzusehen ist.

(vgl. Rn. 33, 34)

4.        In Bezug auf Verfahren der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und der Ehescheidung, die zwischen denselben Parteien bei Gerichten zweier Mitgliedstaaten angestrengt wurden, ist Art. 19 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 dahin auszulegen, dass in einer Situation, in der sich das Verfahren vor dem zuerst im ersten Mitgliedstaat angerufenen Gericht nach Anrufung des zweiten Gerichts im zweiten Mitgliedstaat erledigt hat, die Kriterien für die Rechtshängigkeit nicht mehr erfüllt sind und folglich die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts als nicht geklärt bzw. nicht feststehend anzusehen ist.

Damit Rechtshängigkeit gegeben ist, müssen Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten nämlich gleichzeitig mit diesen Verfahren befasst sein. Wurden zwei Verfahren bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten eingeleitet, entfallen bei Erledigung eines dieser Verfahren die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen und damit die Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 19 der Verordnung. Folglich liegt, selbst wenn die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts während des ersten Verfahrens geklärt worden sein sollte, keine Rechtshängigkeit mehr vor, so dass diese Zuständigkeit nicht feststeht. In dieser Situation wird das später angerufene Gericht zum Zeitpunkt der Erledigung zum zuerst angerufenen Gericht.

In solchen Umständen ist das Verhalten des Antragstellers im ersten Verfahren, insbesondere seine möglicherweise fehlende Sorgfalt, für die Frage, ob die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist bzw. feststeht, nicht relevant. Ebenfalls irrelevant ist zum einen der Umstand, dass zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten eine Zeitverschiebung besteht, die es ermöglichen würde, die Gerichte des ersten Mitgliedstaats vor denen des zweiten Mitgliedstaats anzurufen, und zum anderen der Umstand, dass die Erledigung des Verfahrens vor dem zuerst im ersten Mitgliedstaat angerufenen Gericht ganz kurz vor der Einleitung eines dritten Verfahrens bei einem Gericht des ersten Mitgliedstaats eingetreten ist.

(vgl. Rn. 37, 38, 43-47 und Tenor)