Language of document : ECLI:EU:C:2016:973

Rechtssache C104/16 P

Rat der Europäischen Union

gegen

Front populaire pour la libération de la saguia-el-hamra et du rio de oro (Front Polisario)

„Rechtsmittel – Außenbeziehungen – Abkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko über Liberalisierungsmaßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft und Fischerei – Beschluss, mit dem der Abschluss einer internationalen Übereinkunft genehmigt wird – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Klagebefugnis – Räumlicher Geltungsbereich des Abkommens – Auslegung des Abkommens – Grundsatz der Selbstbestimmung – Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. Dezember 2016

1.        Gerichtliches Verfahren – Mündliches Verfahren – Wiedereröffnung – Verpflichtung, das mündliche Verfahren wiederzueröffnen, um den Parteien Gelegenheit zu geben, zu rechtlichen Punkten, die in den Schlussanträgen des Generalanwalts angesprochen werden, Stellung zu nehmen – Fehlen

(Art. 252 Abs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 23; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 83)

2.        Rechtsmittel – Rechtsschutzinteresse – Von einem privilegierten Kläger eingelegtes Rechtsmittel

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 56 Abs. 2 und 3)

3.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen der Union – Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Marokko – Auslegung – Anwendung der einschlägigen Völkerrechtssätze – Grundsatz der Selbstbestimmung

(Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Marokko)

4.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen der Union – Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Marokko – Räumlicher Geltungsbereich – Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung der Westsahara außerhalb der Souveränität der Parteien – Ausschluss

(Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Marokko, Art. 94)

5.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen der Union – Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Marokko – Räumlicher Geltungsbereich – Anwendung des Abkommens auf das Volk der Westsahara ohne dessen Zustimmung – Ausschluss

(Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Marokko, Art. 94)

6.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen der Union – Liberalisierungsabkommen EU–Marokko – Auslegung – Vorrang der Vorschriften des Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommens EG–Marokko, die durch das Liberalisierungsabkommen nicht geändert worden sind

(Europa–Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Marokko, Art. 94; Liberalisierungsabkommen EU–Marokko)

7.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen der Union – Auslegung – Berücksichtigung einer späteren Übung bei der Anwendung des Abkommens – Bedeutung – Ausdehnung des räumlichen Geltungsbereichs eines Abkommens durch den Unionsrichter ohne eine Praxis festgestellt zu haben, aus der eine Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Ausdehnung hervorgeht – Unzulässigkeit – Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz der Durchführung der Verträge nach Treu und Glauben

8.        Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Beschluss des Rates über den Abschluss eines Abkommens mit einem Drittstaat, der in einem von diesem kontrollierten Gebiet mangels international anerkannter Souveränität keine Rechtswirkungen entfaltet – Klage einer Bewegung, die als Vertreter des Volkes dieses Gebietes anerkannt ist und an den Verhandlungen der Vereinten Nationen zur Bestimmung des Status dieses Gebietes teilnimmt – Unzulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Liberalisierungsabkommen EU–Marokko)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 60-65)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 68, 69)

3.      Um aus dem Fehlen einer Bestimmung, die die Westsahara vom räumlichen Geltungsbereich des Europa–Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits ausschließt, die richtigen Rechtsfolgen ableiten zu können, hat der Unionsrichter bei der Auslegung des Abkommens nicht nur die Regeln der Auslegung nach Treu und Glauben gemäß Art. 31 Abs. 1 des am 23. Mai 1969 in Wien geschlossenen Übereinkommens über das Recht der Verträge zu beachten, sondern auch die in Abs. 3 Buchst. c dieses Artikels vorgesehene Regel, nach der jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz zu berücksichtigen ist.

Wie der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten über die Westsahara ausgeführt hat, ist der gewohnheitsrechtliche Grundsatz der Selbstbestimmung, auf den insbesondere in Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen hingewiesen wird, ein Grundsatz des Völkerrechts, der für alle Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung und für alle Völker, die noch nicht die Unabhängigkeit erlangt haben, gilt. Es handelt sich um eine Erga-omnes-Verpflichtung und ein Grundprinzip des Völkerrechts. Der Grundsatz der Selbstbestimmung gehört deshalb zu den in den Beziehungen zwischen der Union und dem Königreich Marokko anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssätzen, die vom Unionsrichter zu berücksichtigen sind.

Wegen des sich aus dem Grundsatz der Selbstbestimmung ergebenden gesonderten und unterschiedlichen Status der Westsahara gegenüber jedem Staat kann das genannte Abkommen nicht dahin ausgelegt werden, dass es auf dieses Gebiet Anwendung fände.

(vgl. Rn. 86, 88, 89, 92)

4.      Nach der in Art. 29 des am 23. Mai 1969 in Wien geschlossenen Übereinkommens über das Recht der Verträge niedergelegten Regel des Gewohnheitsrechts bindet ein Vertrag jede Vertragspartei hinsichtlich ihres gesamten Hoheitsgebiets, sofern keine abweichende Absicht aus dem Vertrag hervorgeht oder anderweitig festgestellt ist.

Aus dieser Regel und der allgemeinen Bedeutung des Ausdrucks „Gebiet“ im Zusammenhang mit dem adjektivischen Possessivpronomen „seinem“ ergibt sich, dass ein Vertrag einen Staat grundsätzlich hinsichtlich des räumlichen Bereichs bindet, in dem er sämtliche Befugnisse ausübt, die souveränen Einheiten nach dem Völkerrecht zustehen, nicht aber hinsichtlich eines jeglichen anderen Gebiets, wie etwa eines Gebiets, auf das sich lediglich seine Hoheitsgewalt oder internationale Verantwortung erstreckt. Es ist internationale Praxis, dass ein Vertrag, wenn er nicht nur für das Hoheitsgebiet eines Staates, sondern auch darüber hinaus gelten soll, dies ausdrücklich vorsieht. Es kann sich dabei etwa um ein der Hoheitsgewalt unterstehendes Hoheitsgebiet dieses Staates handeln, wie es z. B. in Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 heißt, oder um ein Hoheitsgebiet, für dessen internationale Beziehungen der betreffende Staat verantwortlich ist, wie es z. B. in Art. 56 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention heißt.

Was die Auslegung von Art. 94 des Europa–Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits angeht, nach dem dieses Abkommen „für das Gebiet des Königreichs Marokko“ gilt, ist also festzustellen, dass die Annahme, die Westsahara falle in den räumlichen Geltungsbereich des Assoziationsabkommens, grundsätzlich nicht mit der in Art. 29 des Wiener Übereinkommens niedergelegten Regel des Gewohnheitsrechts vereinbar ist.

(vgl. Rn. 94-97)

5.      Nach dem völkerrechtlichen Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen, der in Art. 34 des am 23. Mai 1969 in Wien geschlossenen Übereinkommens über das Recht der Verträge eine besondere Ausprägung gefunden hat, dürfen Verträge Dritten ohne deren Zustimmung weder schaden noch nützen.

Dieser Grundsatz ist bei der Auslegung des Europa–Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits zu berücksichtigen, da eine Anwendung dieses Abkommens auf die Westsahara bedeuten würde, dass das Abkommen einen „Dritten“ betrifft. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten über die Westsahara nämlich die Auffassung vertreten, dass die Westsahara zum Zeitpunkt der Kolonialisierung durch das Königreich Spanien kein staatsrechtliches Niemandsland (terra nullius) war und dass nach den ihm vorliegenden Unterlagen und Auskünften zwischen der Westsahara und dem Königreich Marokko kein Verhältnis einer territorialen Souveränität bestand.

Das Volk der Westsahara ist daher als „Dritter“ im Sinne des Grundsatzes der relativen Wirkung von Verträgen anzusehen. Beim Einschluss des Gebiets der Westsahara in den Geltungsbereich des Assoziationsabkommens kann es als ein solcher Dritter durch die Durchführung des Abkommens betroffen sein, ohne dass ermittelt werden müsste, ob diese ihr schaden oder vielmehr nützen könnte. Die Annahme, das Gebiet der Westsahara falle in den Geltungsbereich des Assoziationsabkommens, wäre mithin nicht mit dem in den Beziehungen zwischen der Union und dem Königreich Marokko anwendbaren Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen vereinbar.

(vgl. Rn. 100, 103, 104, 106, 107)

6.      Art. 30 Abs. 2 des am 23. Mai 1969 in Wien geschlossenen Übereinkommens über das Recht der Verträge kodifiziert die Regel, dass, wenn ein Vertrag bestimmt, dass er einem früher oder später geschlossenen Vertrag untergeordnet ist oder nicht als mit diesem unvereinbar anzusehen ist, der andere Vertrag Vorrang hat.

Das Abkommen in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko mit Maßnahmen zur gegenseitigen Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen, zur Ersetzung der Protokolle Nrn. 1, 2 und 3 und ihrer Anhänge sowie zur Änderung des Europa–Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits dient dazu, ein früher zwischen der Union und dem Königreich Marokko geschlossenes Abkommen, das Assoziationsabkommen, insbesondere die darin enthaltenen Bestimmungen im Bereich der Liberalisierung des Handels mit Erzeugnissen aus der Landwirtschaft und Fischerei, zu ändern. Durch das genannte Liberalisierungsabkommen wurden vier der 96 Artikel des Assoziationsabkommens geändert – Art. 94 des Assoziationsabkommens nicht – und drei der fünf Protokolle des Abkommens ersetzt. Diese Änderungen sind abschließend, wie der Briefwechsel zwischen der Union und dem Königreich Marokko, in dessen Form das Liberalisierungsabkommen geschlossen wurde, bestätigt.

Mithin handelt es sich bei dem Assoziations- und dem Liberalisierungsabkommen um nacheinander zwischen denselben Parteien geschlossene Verträge und ist das Liberalisierungsabkommen als der später über ganz bestimmte, beschränkte Aspekte eines bereits weitgehend durch ein früher geschlossenes Abkommen geregelten Bereichs geschlossene Vertrag als diesem früher geschlossenen Abkommen untergeordnet anzusehen. Wegen dieses besonderen Verhältnisses haben die Vorschriften des Assoziationsabkommens, die durch das Liberalisierungsabkommen nicht ausdrücklich geändert worden sind, gemäß der in Art. 30 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens kodifizierten Regel bei der Anwendung des Liberalisierungsabkommens Vorrang. Auf diese Weise wird jegliche Inkompatibilität zwischen den beiden Abkommen vermieden.

(vgl. Rn. 110-113)

7.      Nach Art. 31 Abs. 3 Buchst. b des am 23. Mai 1969 in Wien geschlossenen Übereinkommens über das Recht der Verträge ist bei der Auslegung eines Vertrags außer dem Zusammenhang in gleicher Weise jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen. Der Unionsrichter hat daher zu prüfen, ob aus der De-facto-Anwendung der Regelung in einzelnen Fällen die Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Änderung der Auslegung des betreffenden Vertrags hervorgeht.

Bringt die Union mit einer späteren Praxis zum Ausdruck, dass sie davon ausgeht, dass ein Abkommen rechtlich auf ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung Anwendung findet, gesteht sie damit gleichzeitig ein, dass sie das Abkommen in einer Weise durchführen will, die nicht mit den Grundsätzen der Selbstbestimmung und der relativen Wirkung der Verträge zu vereinbaren ist, obwohl sie immer wieder betont, dass diese Grundsätze zu beachten seien. Eine solche Durchführung der Abkommen wäre aber zwangsläufig unvereinbar mit dem Grundsatz der Durchführung der Verträge nach Treu und Glauben, der einen zwingenden Grundsatz des allgemeinen Völkerrechts darstellt, der für die Völkerrechtssubjekte gilt, die Vertragsparteien eines Vertrags sind.

(vgl. Rn. 120, 122-124)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 130, 132, 133)