Language of document : ECLI:EU:C:2013:291

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

8. Mai 2013(*)

„Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Aufenthaltsrecht der Angehörigen von Drittstaaten, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat – Grundrechte“

In der Rechtssache C‑87/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Luxemburg) mit Entscheidung vom 16. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Februar 2012, in dem Verfahren

Kreshnik Ymeraga,

Kasim Ymeraga,

Afijete Ymeraga-Tafarshiku,

Kushtrim Ymeraga,

Labinot Ymeraga

gegen

Ministre du Travail, de l’Emploi et de l’Immigration

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter G. Arestis, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Januar 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Ymeraga u. a., vertreten durch O. Lang, avocat,

–        der luxemburgischen Regierung, vertreten durch C. Schiltz, P. Frantzen und L. Maniewski als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne und C. Pochet als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar und B. Majczyna als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Kreshnik Ymeraga, seinen Eltern Kasim Ymeraga und Afijete Ymeraga-Tafarshiku (im Folgenden: Eheleute Ymeraga) und seinen beiden Brüdern Kushtrim und Labinot Ymeraga auf der einen und dem Ministre du Travail, de l’Emploi et de l’Immigration (Minister für Arbeit, Beschäftigung und Zuwanderung, im Folgenden: Minister) auf der anderen Seite wegen der Entscheidung des Ministers, mit der den Eheleuten Ymeraga sowie Kushtrim und Labinot Ymeraga ein Aufenthaltsrecht in Luxemburg verweigert und ihnen aufgegeben wurde, das luxemburgische Hoheitsgebiet zu verlassen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Die Richtlinie 2003/86/EG

3        Art. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12) bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“

4        Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie findet auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers keine Anwendung.“

 Die Richtlinie 2004/38/EG

5        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. L 229, S. 35) bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;

2.       ‚Familienangehöriger‘

d)      die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

3.      ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den der Unionsbürger sich begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit und sein Aufenthaltsrecht auszuüben.“

6        Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von AA 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

(2)      Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:

a)      jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;

Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.“

 Luxemburgisches Recht

7        Die Loi du 29 août 2008 portant sur la libre circulation des personnes et l’immigration (Gesetz vom 29. August 2008 über die Freizügigkeit und die Zuwanderung, Mém. A 2008, S. 2024, im Folgenden: Freizügigkeitsgesetz) bezweckt die Umsetzung der Richtlinien 2003/86 und 2004/38 in die luxemburgische Rechtsordnung.

8        Art. 6 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      Der Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet für eine Dauer von mehr als drei Monaten aufzuhalten, wenn er eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt:

1.      Er übt als Arbeitnehmer eine Erwerbstätigkeit aus oder geht einer selbständigen Erwerbstätigkeit nach;

2.      er verfügt für sich und seine Familienangehörigen im Sinne von Art. 12 über ausreichende Mittel, so dass Leistungen des Sozialhilfesystems nicht in Anspruch genommen werden müssen, und über eine Krankenversicherung;

3.      er ist bei einer im Großherzogtum Luxemburg anerkannten öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtung gemäß den geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eingeschrieben, um als Hauptzweck eine Ausbildung oder in diesem Rahmen eine Berufsausbildung zu absolvieren, wobei gewährleistet sein muss, dass er über ausreichende Mittel für sich und seine Familienangehörigen verfügt, so dass Leistungen des Sozialhilfesystems nicht in Anspruch genommen werden müssen, und dass er über eine Krankenversicherung verfügt.

(2)      Durch großherzogliche Verordnung werden die nach den Nrn. 2 und 3 des vorstehenden Abs. 1 erforderlichen Mittel und die Art ihres Nachweises im Einzelnen festgelegt.

…“

9        Art. 12 des Gesetzes bestimmt:

„(1)      Als Familienangehörige gelten

d)      die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchst. b, denen von diesen Unterhalt gewährt wird.

(2)      Der Minister kann jedem weiteren nicht unter die Definition nach Abs. 1 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt im Hoheitsgebiet erlauben, wenn er eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt:

1.      im Herkunftsland wurde ihm vom primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger Unterhalt gewährt oder er lebte mit ihm in häuslicher Gemeinschaft;

2.      schwerwiegende gesundheitliche Gründe machen die persönliche Pflege des betreffenden Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich.

Der Antrag auf Einreise und Aufenthalt der Familienangehörigen im Sinne des vorstehenden Unterabsatzes unterliegt einer eingehenden Untersuchung ihrer persönlichen Umstände.

…“

10      Art. 103 dieses Gesetzes lautet:

„Vor Erlass einer Entscheidung über die Verweigerung, den Entzug oder die Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels oder einer Entscheidung über die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet gegenüber einem Drittstaatsangehörigen berücksichtigt der Minister u. a. die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im luxemburgischen Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Situation, seine soziale und kulturelle Integration in Luxemburg sowie die Stärke seiner Bindungen zu seinem Herkunftsland, es sei denn, seine Anwesenheit stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar.

Gegenüber einem nicht von seinem gesetzlichen Vertreter begleiteten Minderjährigen darf keine Entscheidung über die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet – außer wenn sie auf schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit gestützt wird – ergehen, es sei denn, die Ausweisung ist in seinem Interesse erforderlich.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11      Die Kläger des Ausgangsverfahrens stammen alle aus dem Kosovo. Im Jahr 1999 kam Kreshnik Ymeraga im Alter von 15 Jahren nach Luxemburg, um bei seinem Onkel zu wohnen, der die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzt und sein gesetzlicher Vormund wurde. Nachdem der Asylantrag von Kreshnik Ymeraga von den luxemburgischen Behörden abgelehnt worden war, wurde seine Situation im Jahr 2001 aber legalisiert, und in der Folge nahm er seine Ausbildung auf und fand eine reguläre Beschäftigung.

12      Zwischen 2006 und 2008 reisten nacheinander die Eheleute Ymeraga und die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga nach Luxemburg ein. Bei ihrer Ankunft waren alle bis auf Labinot Ymeraga volljährig, der erst drei Wochen später volljährig wurde. Unmittelbar am Tag ihrer Ankunft stellten sie alle einen Antrag auf internationalen Schutz nach der Loi relative au droit d’asile et à des formes complémentaires de protection (Gesetz über das Asylrecht und ergänzende Schutzformen).

13      Nachdem ihre Anträge auf internationalen Schutz von den luxemburgischen Behörden abgelehnt worden waren, beantragten die Eheleute Ymeraga und die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga am 8. Mai 2008 eine Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung mit Letzterem. Dieser Antrag wurde am 9. August 2008 stillschweigend abgelehnt und die Ablehnung durch Urteil des Tribunal administratif vom 9. März 2010 bestätigt, gegen das jedoch keine Berufung eingelegt wurde.

14      Unterdessen hatte Kreshnik Ymeraga am 16. März 2009 die luxemburgische Staatsangehörigkeit erworben. Am 14. August jenes Jahres beantragten die Eheleute Ymeraga beim Minister eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers.

15      Am 17. Mai 2010 wiederholten die Eheleute Ymeraga ihren Antrag vom 14. August 2009 beim Minister und beantragten zugleich einen Aufenthaltstitel, hilfsweise eine Aufenthaltserlaubnis für die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga.

16      Mit drei Entscheidungen vom 12. Juli 2010 lehnte der Minister diese Anträge ab. Die gegen diese Entscheidungen gerichtete Klage wurde mit Urteil des Tribunal administratif vom 6. Juli 2011 ebenfalls abgewiesen.

17      In diesem Urteil wird ausgeführt, dass Kreshnik Ymeraga zwar finanziell zum Unterhalt der im Kosovo verbliebenen Familie beigetragen habe, jedoch nicht davon ausgegangen werden könne, dass er seinen Eltern im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes „Unterhalt“ gewährt habe. Da Kreshnik Ymeraga den Kosovo 1999 verlassen habe, könne hinsichtlich seiner beiden Brüder trotz der für die Zeit vom 19. März 2006 bis 20. Februar 2007 nachgewiesenen finanziellen Unterstützung auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie mit ihm im Sinne dieses Gesetzes „in häuslicher Gemeinschaft“ gelebt hätten.

18      Das Tribunal administratif wies auch die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit der Begründung zurück, dass die in Bezug auf die Eltern und die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga ergangenen Aufenthaltsverweigerungen sie nicht daran hindern könnten, ihr familiäres Zusammenleben mit ihm so weiterzuführen, wie es vor dessen Abreise aus dem Kosovo und vor ihrer Einreise nach Luxemburg bestanden habe.

19      Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten gegen das Urteil des Tribunal administratif Berufung beim vorlegenden Gericht ein. Der Vollzug der Entscheidungen des Ministers über die Ausweisung ist bis zur Entscheidung über den Rechtsstreit in der Hauptsache ausgesetzt; hiervon ausgenommen war die Labinot Ymeraga betreffende Entscheidung, die vor der Aussetzung vollzogen worden war.

20      Die Cour administrative weist darauf hin, dass das Freizügigkeitsgesetz zwar die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 umsetzen solle, diese Richtlinien aber nicht auf Kreshnik Ymeraga anwendbar seien.

21      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich daher die Frage, ob Art. 20 AEUV und möglicherweise bestimmte Vorschriften der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Recht auf Familienzusammenführung in Luxemburg gewähren könnten.

22      Vor diesem Hintergrund hat die Cour administrative beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Inwieweit gewähren die Eigenschaft als Unionsbürger und das entsprechende Aufenthaltsrecht in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, wie sie in Art. 20 AEUV vorgesehen sind, in Verbindung mit den in der Charta vorgesehenen Rechten, Garantien und Pflichten, insbesondere und soweit erforderlich deren Art. 20, 21, 24, 33 und 34, ein Recht auf Familienzusammenführung für einen Zusammenführenden, der Unionsbürger ist und in seinem Wohnsitzland, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die Familienzusammenführung mit seinem Vater, seiner Mutter und seinen beiden Brüdern, die alle Drittstaatsangehörige sind, betreibt, wenn der Zusammenführende weder von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat noch sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt?

 Zur Vorlagefrage

23      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Weigerung eines Mitgliedstaats entgegensteht, Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gewähren, wenn diese Drittstaatsangehörigen dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchten, der Unionsbürger ist und sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

 Zu den Richtlinien 2003/86 und 2004/38

24      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 nicht auf die Kläger des Ausgangsverfahrens anwendbar sind.

25      Was erstens die Richtlinie 2003/86 betrifft, ist nach ihrem Art. 1 ihr Ziel die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

26      Nach ihrem Art. 3 Abs. 3 findet diese Richtlinie jedoch auf Familienangehörige eines Unionsbürgers keine Anwendung.

27      Da sich im Ausgangsrechtsstreit der Unionsbürger in einem Mitgliedstaat aufhält und seine einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen beabsichtigen, sich in diesem Mitgliedstaat im Rahmen einer Familienzusammenführung mit diesem Unionsbürger aufzuhalten, ist festzustellen, dass die Richtlinie 2003/86 auf die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist, soweit es um die im Ausgangsverfahren gestellten Anträge geht.

28      Was zweitens die Richtlinie 2004/38 betrifft, so hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass sie die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern soll und insbesondere bezweckt, dieses Recht zu stärken (vgl. Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, Slg. 2011, I‑11315, Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt diese Richtlinie für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

30      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass ein Unionsbürger, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, so dass diese auf ihn nicht anwendbar ist (Urteile vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, Slg. 2011, I‑3375, Randnrn. 31 und 39, und Dereci u. a., Randnr. 54).

31      Wie er ferner festgestellt hat, fällt, wenn ein Unionsbürger nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, auch sein Familienangehöriger nicht unter diesen Begriff, da die durch diese Richtlinie den Familienangehörigen eines nach ihr Berechtigten verliehenen Rechte keine eigenen Rechte dieser Angehörigen, sondern abgeleitete Rechte sind, die sie als Familienangehörige des Berechtigten erworben haben (vgl. Urteile McCarthy, Randnr. 42, und Dereci u. a., Randnr. 55).

32      Da im vorliegenden Fall der betreffende Unionsbürger nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich als Unionsbürger stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, fällt er nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese weder auf ihn noch auf seine Familienangehörigen anwendbar ist.

33      Folglich sind die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die ein Aufenthaltsrecht begehren, um zu einem Familienangehörigen zu ziehen, der Unionsbürger ist, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil Dereci u. a., Randnr. 58).

 Zu Art. 20 AEUV

34      Zu Art. 20 AEUV ist festzustellen, dass die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte verleihen (Urteil vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, Randnr. 66).

35      Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich keine eigenen Rechte dieser Staatsangehörigen, sondern Rechte, die daraus abgeleitet werden, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Der Zweck und die Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte, weil ihn dies davon abhalten könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten (Urteil Iida, Randnrn. 67 und 68).

36      Hierzu hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Fälle gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, trotz der Tatsache, dass das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft des betroffenen Bürgers ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich dieser infolge einer solchen Verweigerung de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. Urteile Dereci u. a., Randnrn. 64, 66 und 67, und Iida, Randnr. 71).

37      Kennzeichnend für die genannten Fälle ist, dass sie zwar durch Rechtsvorschriften geregelt sind, die a priori in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, d. h. durch die Rechtsvorschriften über das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen außerhalb des Anwendungsbereichs des Sekundärrechts, das unter bestimmten Voraussetzungen die Verleihung dieses Rechts vorsieht, aber in einem inneren Zusammenhang mit der Freizügigkeit eines Unionsbürgers stehen, die beeinträchtigt würde, wenn den Drittstaatsangehörigen das Recht verweigert würde, in den Mitgliedstaat, in dem dieser Bürger wohnt, einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die daher dieser Verweigerung entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Iida, Randnr. 72).

38      Der Gerichtshof hat insoweit auch entschieden, dass die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme rechtfertigt, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (Urteil Dereci u. a., Randnr. 68).

39      Im Ausgangsverfahren ist das Einzige, was es nach Ansicht des vorlegenden Gerichts rechtfertigte, den Familienangehörigen des betreffenden Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, der Wunsch von Kreshnik Ymeraga, in seinem Wohnsitzmitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die Familienzusammenführung mit seinen Angehörigen zu betreiben, was nicht für die Annahme ausreicht, dass die Verweigerung dieses Aufenthaltsrechts zur Folge hat, Kreshnik Ymeraga den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, zu verwehren.

40      Zu den vom vorlegenden Gericht angeführten Grundrechten ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten. Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta dehnt diese den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen (vgl. Urteil Dereci u. a., Randnr. 71, und Iida, Randnr. 78).

41      Um festzustellen, ob die Weigerung der luxemburgischen Behörden, den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige eines Unionsbürgers zu gewähren, die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta betrifft, ist u. a. zu prüfen, ob mit der in Rede stehenden nationalen Regelung eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann (Urteile vom 18. Dezember 1997, Annibaldi, C‑309/96, Slg. 1997, I‑7493, Randnrn. 21 bis 23, und Iida, Randnr. 79).

42      Das Freizügigkeitsgesetz soll zwar das Unionsrecht umsetzen, die Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens fällt aber nicht unter das Unionsrecht, da Kreshnik Ymeraga weder im Sinne der Richtlinie 2004/38 noch – hinsichtlich der im Ausgangsverfahren gestellten Anträge – im Sinne der Richtlinie 2003/86 als Berechtigter angesehen werden kann und die Weigerung, den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, nicht zur Folge hat, ihm den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, zu verwehren.

43      Unter diesen Umständen betrifft die Weigerung der luxemburgischen Behörden, den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige eines Unionsbürgers zu gewähren, nicht die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta, so dass die Vereinbarkeit dieser Weigerung mit den Grundrechten nicht anhand der durch die Charta begründeten Rechte geprüft werden kann.

44      Diese Feststellung greift nicht der Frage vor, ob gestützt auf eine Prüfung im Licht der Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu deren Vertragsparteien alle Mitgliedstaaten gehören, den im Rahmen des Ausgangsverfahrens betroffenen Drittstaatsangehörigen ein Recht auf Aufenthalt nicht verweigert werden kann.

45      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Weigerung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gewähren, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Bürger der Europäischen Union ist und sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird.

 Kosten

46      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Weigerung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gewähren, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Bürger der Europäischen Union ist und sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.