Language of document : ECLI:EU:C:2017:682

Rechtssache C‑646/15

Trustees of the P Panayi Accumulation & Maintenance Settlements

gegen

Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

(Vorabentscheidungsersuchen des First-tier Tribunal [Tax Chamber])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Direkte Besteuerung – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Freier Kapitalverkehr – Trust – Trustees – Sonstige juristische Personen – Begriff – Steuer auf die Wertzuwächse beim Vermögen eines Trusts wegen der Verlegung der Steueransässigkeit von Treuhändern in einen anderen Mitgliedstaat – Bestimmung des Steuerbetrags zum Zeitpunkt dieser Verlegung – Sofortige Einziehung der Steuer – Rechtfertigung – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 14. September 2017

1.        Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Bestimmungen des Vertrags – Geltungsbereich – Begriff – Sonstige juristische Personen – Trust, der über Rechte und Pflichten verfügt, die es ihm erlauben, als juristische Person im Rechtsverkehr aufzutreten und eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben – Einbeziehung

(Art. 54 AEUV)

2.        Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Bestimmungen des Vertrags – Geltungsbereich – Verlegung des Orts der tatsächlichen Geschäftsleitung einer Gesellschaft nationalen Rechts in einen anderen Mitgliedstaat – Anlässlich der Verlegung anwendbare nationale Steuerregelung – Einbeziehung

(Art. 49 AEUV und 54 AEUV)

3.        Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Beschränkungen – Steuerrecht – Verlegung des Wohnsitzes der Mehrzahl der Treuhänder eines Trusts nationalen Rechts in einen anderen Mitgliedstaat – Nationale Regelung, wonach die nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen des Trusts besteuert werden – Keine Möglichkeit der aufgeschobenen Einziehung der Steuer – Unzulässigkeit

(Art. 49 AEUV)

1.      Art. 49 Abs. 1 AEUV schreibt die Beseitigung von Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats vor. Nach Art. 54 Abs. 1 AEUV stehen die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, für die Anwendung der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.

Als Gesellschaften gelten nach Art. 54 Abs. 2 AEUV die Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen.

Insoweit ist festzustellen, dass die Niederlassungsfreiheit, die eine der grundlegenden Vorschriften des Unionsrechts darstellt (Urteil vom 24. Mai 2011, Kommission/Belgien, C‑47/08, EU:C:2011:334, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung), die zum Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts beitragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2005, SEVIC Systems, C‑411/03, EU:C:2005:762, Rn. 19), sehr weitreichend ist.

Wie die Generalanwältin in den Nrn. 33 und 34 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erfasst dieser Begriff der „sonstigen juristischen Personen“ eine Einheit, die nach dem nationalen Recht über Rechte und Pflichten verfügt, die es ihr erlauben, ungeachtet des Fehlens einer speziellen Rechtsform als solche im Rechtsverkehr aufzutreten, und die einen Erwerbszweck verfolgt.

Somit zeigt sich, dass die Treuhänder nach der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung für deren Zwecke die Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen des Trusts in ihrer Gesamtheit – als Einheit und nicht einzeln – schulden, wenn der Verwaltungssitz des Trusts als in einen anderen Mitgliedstaat als das Vereinigte Königreich verlegt gilt. Eine solche Verlegung liegt vor, wenn eine Mehrzahl der Treuhänder ihren Wohnsitz im Vereinigten Königreich aufgibt. Die Tätigkeit der Treuhänder in Bezug auf das Eigentum und die Verwaltung des Vermögens des Trusts ist demnach untrennbar mit dem Trust selbst verbunden und bildet folglich mit diesem ein unteilbares Ganzes. Unter diesen Umständen sollte ein solcher Trust als eine Einheit angesehen werden, die nach dem nationalen Recht über Rechte und Pflichten verfügt, die es ihr erlauben, als solche im Rechtsverkehr aufzutreten.

Zur Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Trusts einen Erwerbszweck verfolgen, ist lediglich festzustellen, dass sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt, dass diese Trusts keinen karitativen oder sozialen Zweck haben und errichtet wurden, damit die Gewinne aus dem Vermögen dieser Trusts den Begünstigten zugutekommen.

Daraus folgt, dass sich eine Einheit wie ein Trust, die nach dem nationalen Recht über Rechte und Pflichten verfügt, die es ihr erlauben, als solche aufzutreten, und die eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann.

(vgl. Rn. 24-26, 29, 32-34)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 36-39)

3.      Die Vorschriften des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit stehen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in dem die Treuhänder nach dem nationalen Recht als einheitliche und fortdauernde Personengesamtheit behandelt werden, die sich von den Personen unterscheidet, die die Treuhänderfunktion zeitweilig ausüben, Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie denen des Ausgangsverfahrens entgegen, die die Besteuerung von nicht realisierten Wertzuwächsen beim Vermögen des Trusts vorsehen, wenn die Mehrzahl der Treuhänder ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, und keine aufgeschobene Einziehung der geschuldeten Steuer zulassen.

Was zunächst die Vergleichbarkeit der betreffenden Situationen angeht, genügt die Feststellung, dass hinsichtlich der Regelung eines Mitgliedstaats über die Besteuerung der in seinem Hoheitsgebiet entstandenen Wertzuwächse die Situation eines Trusts, der seinen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, in Bezug auf die Besteuerung der Wertzuwächse beim Vermögen des Trusts, die im ersten Mitgliedstaat vor der Verlegung dieses Sitzes erzielt wurden, der Situation eines Trusts gleicht, der seinen Verwaltungssitz in diesem Mitgliedstaat belässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus, C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 38).

Der Gerichtshof hat jedoch präzisiert, dass das Ziel der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten eine nationale Maßnahme nur dann rechtfertigen kann, wenn der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Einkünfte entstanden sind, tatsächlich an der Ausübung seiner Steuerhoheit über die Einkünfte gehindert ist (Urteil vom 23. Januar 2014, DMC, C‑164/12, EU:C:2014:20, Rn. 56).

Wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, können nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren fraglichen, da sie die Besteuerungsbefugnis des betreffenden Mitgliedstaats völlig dem Ermessen der Treuhänder und der Begünstigten unterstellen, nicht als hinreichend angesehen werden, um die Besteuerungsbefugnis dieses Mitgliedstaats über die in seinem Hoheitsgebiet realisierten Wertzuwächse zu wahren.

Demnach ist festzustellen, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Besteuerung von nicht realisierten Wertzuwächsen beim Vermögen eines Trusts anlässlich der Verlegung des Verwaltungssitzes dieses Trusts in einen anderen Mitgliedstaat ungeachtet des Umstands vorsehen, dass dieser erste Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, eine etwaige Befugnis zur Besteuerung dieser Wertzuwächse zu behalten, geeignet ist, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren, da der erste Mitgliedstaat seine Befugnis zur Besteuerung dieser Wertzuwächse nach dieser Verlegung verliert.

Was schließlich die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Maßnahme betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum einen, dass es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt, dass der Herkunftsmitgliedstaat zur Wahrung seiner Steuerhoheit die Höhe der Steuer bestimmt, die für die in seinem Hoheitsgebiet erzielten, aber nicht realisierten Wertzuwächse zu dem Zeitpunkt geschuldet wird, zu dem seine Steuerhoheit über diese Wertzuwächse endet, im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der Verlegung des Verwaltungssitzes des Trusts in einen anderen Mitgliedstaat (Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus, C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 52). Zum anderen wäre eine Regelung eines Mitgliedstaats, nach der ein Trust, der seinen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, zwischen der sofortigen Einziehung der Steuer auf diese Wertzuwächse oder der aufgeschobenen Einziehung dieses Steuerbetrags, gegebenenfalls zuzüglich Zinsen entsprechend der anwendbaren nationalen Regelung, wählen kann, eine Maßnahme, die die Niederlassungsfreiheit weniger stark beeinträchtigt als die sofortige Einziehung der geschuldeten Steuer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Mai 2015, Verder LabTec, C‑657/13, EU:C:2015:331, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

In diesem Zusammenhang ist außerdem klarzustellen, dass eine aufgeschobene Einziehung nicht zu einer Verpflichtung des Herkunftsmitgliedstaats führen kann, etwaige Wertminderungen zu berücksichtigen, die nach der Verlegung des Verwaltungssitzes eines Trusts in einen anderen Mitgliedstaat eingetreten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus, C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 61).

Diese Beurteilung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Wertzuwächse unter den Umständen des Ausgangsverfahrens nach der Festsetzung des Steuerbetrags, aber vor seiner Fälligkeit realisiert wurden, da sich die Unverhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren fraglichen Rechtsvorschriften daraus ergibt, dass sie dem Steuerpflichtigen keine Möglichkeit bieten, den Zeitpunkt der Einziehung der geschuldeten Steuer hinauszuschieben.

(vgl. Rn. 49, 53, 55-58, 60, 61 und Tenor)