URTEIL DES GERICHTS (Zweite erweiterte Kammer)
10. Juli 1997 (1)
„Wettbewerb Untätigkeitsklage Erledigung der Hauptsache
Schadensersatzklage Unzulässigkeit“
In der Rechtssache T-38/96
Guérin automobiles, Gesellschaft französischen Rechts in Liquidation mit Sitz in
Alençon (Frankreich), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Jean-Claude
Fourgoux, Paris und Brüssel, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts
Pierrot Schiltz, 4, rue Béatrix de Bourbon, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ursprünglich vertreten durch
Francisco Enrique González Díaz, Juristischer Dienst, und Guy Charrier, zur
Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte, im Anschluß
daran durch Giuliano Marenco, Rechtsberater, und Guy Charrier,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg- Kirchberg,
wegen Feststellung, daß es die Kommission unterlassen hat, der Gesellschaft Nissan
France die Beschwerdepunkte mitzuteilen, und Ersatz des Schadens wegen dieses
Unterlassens
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Zweite erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten C. W. Bellamy sowie der Richter C. P. Briët und
A. Kalogeropoulos,
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20.
November 1996,
folgendes
Urteil
Sachverhalt und Verfahren
- 1.
- Über das Vermögen der Klägerin ihre Tätigkeit bestand im Kauf und Verkauf
von Kraftfahrzeugen wurde mit Urteil des Handelsgerichts Alençon vom 22. Mai
1995 das Konkursverfahren eröffnet.
- 2.
- Zuvor, am 27. Mai 1994, hatte sie bei der Kommission eine Beschwerde gegen die
Nissan France SA eingereicht, die Nissan Fahrzeuge einführt und
Tochtergesellschaft des japanischen Herstellers ist.
- 3.
- In dieser Beschwerde führte sie aus, daß sie Vertragshändlerin von Nissan France
gewesen sei und daß diese Anfang 1991 den Konzessionsvertrag zum Jahresbeginn
1992 gekündigt habe. Nach dieser Kündigung habe Nissan France sich weiterhin auf
ihr Alleinvertriebssystem berufen, um Herrn Guérin jegliche Entschädigung zu
verweigern, einen anderen Vertragshändler in diskriminierender Weise zu
bevorzugen und ihm mehrmals den Verkauf zu verweigern. Der von Nissan France
verwendete Standard-Konzessionsvertrag sei mit der Verordnung (EWG) Nr.
123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel
85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und
Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. 1985, L 15, S. 16)
unvereinbar. Da dieser Vertrag infolge seiner Wirkungen nicht unter Artikel 85
Absatz 3 EG-Vertrag fallen könne, wende sie sich an die Kommission, die dafür
zuständig sei, über die Praktiken von Nissan zu befinden, da sie nach Artikel 10 der
Verordnung Nr. 123/85 die Freistellung entziehen könne. Dabei wies sie auf
mehrere Klauseln des Standardvertrags von Nissan France bzw. sich daraus
ergebende Praktiken hin, die Nissan France gehandhabt habe, und erklärte, daß sie
ihre Beschwerde auf einen Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag stütze.
- 4.
- Mit Schreiben vom 30. Juni 1994 übermittelte die Kommission der Nissan France
eine Kopie dieser Beschwerde und forderte sie auf, zu dem behaupteten
Sachverhalt Stellung zu nehmen. Am selben Tag unterrichtete sie die Klägerin von
dieser Übermittlung. Zwei Monate später übersandte Nissan France ihre Antwort
an die Kommission, die diese der Klägerin im September 1994 mitteilte.
- 5.
- Mit Schreiben vom 21. Februar 1995 teilte die Klägerin der Kommission ihre
Stellungnahme zu den Antworten der Nissan France mit. Sie war insbesondere der
Auffassung, bereits der Vergleich der von ihr zur Begründung ihrer Beschwerde
gelieferten Nachweise, die Prüfung der beiden Fassungen des Vertrages und die
von Nissan eingereichte Antwort hätten es der Kommission gestattet, die
Beschwerdepunkte mitzuteilen. Nach einer ausführlichen Stellungnahme zu den
Antworten der Nissan France forderte sie die Kommission erneut auf, Nissan die
Beschwerdepunkte mitzuteilen, die sich eindeutig aus dem Studium der Akten
ergäben.
- 6.
- Dieses Schreiben blieb unbeantwortet.
- 7.
- Am 17. Oktober 1995 erhob die Klägerin eine Klage, die zum einen, gestützt auf
Artikel 175 EG-Vertrag, auf die Feststellung einer Untätigkeit der Kommission,
und zum anderen, gestützt auf Artikel 215 EG-Vertrag, auf die Verurteilung der
Kommission zum Ersatz des durch diese Untätigkeit verursachten Schadens
gerichtet war.
- 8.
- Mit Beschluß vom 11. März 1996 in der Rechtssache T-195/95 (Guérin
automobiles/Kommission, Slg. 1996, II-171) hat das Gericht die Klage als unzulässig
abgewiesen, soweit sie auf die Feststellung einer Untätigkeit der Kommission
gerichtet war. Soweit die Klage auf Schadensersatz gerichtet war, wurde die
Entscheidung über die Unzulässigkeitseinrede dem Endurteil vorbehalten.
- 9.
- Mit Urteil des Gerichts vom 6. Mai 1997 in der Rechtssache T-195/95 (Slg. 1997,
II-0000) wurde die Schadensersatzklage als unzulässig abgewiesen.
- 10.
- Am 2. Januar 1996 richtete die Klägerin ein weiteres Schreiben an die Kommission,
in dem sie diese bat, Nissan France die Beschwerdepunkte mitzuteilen. Dieses
Schreiben blieb unbeantwortet.
- 11.
- Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 15. März 1966 in das Register der
Kanzlei des Gerichts eingetragen worden ist, die vorliegende Klage erhoben.
- 12.
- Das Gericht (Zweite erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters
beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu
eröffnen.
- 13.
- Die Parteien haben in der Sitzung am 20. November 1996 mündliche Ausführungen
gemacht und die Fragen des Gerichts beantwortet; die mündliche Verhandlung
fand unter Mitwirkung des Präsidenten C. W. Bellamy sowie der Richter
H. Kirschner, C. P. Briët, A. Kalogeropoulos und A. Potocki statt. In der Sitzung
wurde es den Parteien gestattet, folgende Unterlagen vorzulegen: ein Schreiben der
Kommission an die Klägerin vom 25. Juli 1996, das auf Artikel 6 der Verordnung
Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel
19 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268)
gestützt war, die Antwort der Klägerin vom 29. August 1996 sowie das Urteil des
Tribunal de commerce Versailles vom 22. März 1996 auf eine von der Klägerin am
22. Oktober 1992 gegen Nissan France erhobene Klage.
- 14.
- Nach dem Ableben von Richter Kirschner am 6. Februar 1997 ist das vorliegende
Urteil von den drei unterzeichneten Richtern gemäß Artikel 32 § 1 der
Verfahrensordnung beraten worden.
Anträge der Parteien
- 15.
- Die Klägerin beantragt,
die Untätigkeit der Kommission festzustellen,
gemäß Artikel 215 EG-Vertrag zu erkennen, daß die Kommission der
Klägerin außervertraglich haftet und ihr den auf 1 660 912 FF oder 237 273
ECU geschätzten Schaden zu ersetzen hat.
- 16.
- Die Kommission beantragt,
die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen,
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Zum Antrag wegen Untätigkeit
Vorbringen der Parteien
- 17.
- Die Klägerin vertritt die Auffassung, der Schriftsatz der Kommission in der
Rechtssache T-195/95 bestätige deren Absicht, dieses Verfahren nicht zu Ende zu
führen, und ihre Entschlossenheit, keine Stellungnahme abzugeben, die der
Klägerin, die Opfer des ihr vor den französischen Gerichten entgegengehaltenen
rechtswidrigen Vertrages sei, die Anerkennung ihrer Rechte erleichtern würde.
- 18.
- Die Kommission trägt vor, nach ständiger Rechtsprechung sei sie nicht gehalten,
zu ermitteln oder gar Beschwerdepunkte mitzuteilen, um gegebenenfalls
Verletzungen der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag festzustellen, wenn sie nicht
ausschließlich zuständig sei. Somit entspreche das Schreiben der Klägerin vom 2.
Januar 1996, mit dem nicht der Erlaß einer Entscheidung über die Zurückweisung
der Beschwerde und auch nicht eine Stellungnahme zu dieser Beschwerde begehrt
werde, nicht den in Artikel 175 EG-Vertrag festgelegten Bedingungen. Daher sei
die vorliegende Untätigkeitsklage unzulässig, da der Nachweis einer
ordnungsgemäßen Aufforderung fehle, die unerläßliche Voraussetzung einer auf
Artikel 175 EG-Vertrag gestützten Klage sei.
- 19.
- Die Klägerin erwidert, sie brauche keine besondere Form einzuhalten, um die
Kommission zum Handeln zu veranlassen. Es reiche aus, daß diese Aufforderung
hinreichend deutlich und konkret sei.
- 20.
- Artikel 175 EG-Vertrag verpflichte den Beschwerdeführer nicht, die Kommission
dazu aufzufordern, seine Beschwerde zurückzuweisen. Es sei abwegig, vom
Beschwerdeführer zu verlangen, daß er seiner Enttäuschung dadurch Ausdruck
verleihe, daß er das Organ auffordere, eine Entscheidung gegen ihn zu erlassen.
- 21.
- Die von der Kommission zitierte Rechtsprechung, nach der sie nicht verpflichtet
sei, eine Beschwerde zu untersuchen, sei in Wirklichkeit wesentlich subtiler und
gebe ihr lediglich die Möglichkeit, nach dem konkreten Gemeinschaftsinteresse
Prioritäten bei der Behandlung der Aktenvorgänge festzulegen.
- 22.
- Im Bereich von Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag seien die nationalen Gerichte nicht
zuständig; die Kommission verfüge über eine ausschließliche Zuständigkeit. Bereits
mehrfach sei entschieden worden, daß die Arbeitsbelastung von Dienststellen
keinen Grund für die Mißachtung der Interessen der einzelnen, die der EG-Vertrag
schützen wolle, darstellen könne.
Würdigung durch das Gericht
- 23.
- Es ist zunächst der Gegenstand der vorliegenden Untätigkeitsklage zu bestimmen.
Die Klage zielt auf Feststellung der Untätigkeit der Kommission; in Punkt 14 der
Klageschrift wird diese Untätigkeit unter Bezugnahme auf das
Aufforderungsschreiben vom 2. Januar 1996 erklärt. Diese Aufforderung beschränkt
sich darauf, die Mitteilung von Beschwerdepunkten gegenüber Nissan France zu
fordern.
- 24.
- Artikel 175 EG-Vertrag gibt den dort genannten Personen die Möglichkeit, die
Unterlassung eines Beschlusses durch das Parlament, den Rat oder die Kommission
gerichtlich anzugreifen. Diese Personen können allerdings nicht verlangen, daß das
betreffende Organ in einer von ihnen bestimmten Weise handelt. Insbesondere
kann das Organ einen Beschluß fassen oder Stellung nehmen und dabei einen
anderen Rechtsakt als denjenigen erlassen, den der Betroffene gewünscht oder für
erforderlich gehalten hat (Urteil des Gerichtshofes vom 13. Juli 1971 in der
Rechtssache 8/71, Deutscher Komponistenverband/Kommission, Slg. 1971, 705,
Randnr. 2, und vom 24. November 1992 in der Rechtssache C-15/91 und C-108/91,
Buckl u. a./Kommission, Slg. 1992, I-6061, Randnr. 17, Beschluß des Gerichts vom
12. November 1996 in der Rechtssache T-47/96, SDDDA/Kommission, Slg. 1997,
II-0000, Randnr. 40).
- 25.
- In einem Fall der vorliegenden Art, in dem ein Antrag gemäß Artikel 3 der
Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962: Erste
Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr.
13, S. 20) gestellt ist, muß die Kommission eine vorläufige Prüfung vornehmen und
die Informationen einholen, die es ihr erlauben, über die weitere Behandlung dieses
Antrags zu entscheiden. Sie muß sodann innerhalb einer angemessenen Frist zu
dem Antrag Stellung nehmen (Urteil des Gerichts vom 18. September 1992 in der
Rechtssache T-28/90, Asia Motor France u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2285,
Randnr. 29). Wenn der Antrag begründet ist, hat sie das Verfahren der
Zuwiderhandlung mittels einer Übermittlung der Beschwerdepunkte an das oder
die in dem Antrag genannten Unternehmen einzuleiten. Wenn der Antrag nicht
begründet ist, muß sie dem Antragsteller ein Schreiben gemäß Artikel 6 der
Verordnung Nr. 99/63 übermitteln, in dem die Gründe für die beabsichtigte
Zurückweisung seines Antrags dargestellt sind und in dem der Antragsteller
aufgefordert wird, seine etwaigen Bemerkungen zu übermitteln. Im Anschluß daran
trifft die Kommission eine endgültige Entscheidung (Urteile des Gerichts vom 18.
Mai 1994 in der Rechtssache T-37/92, BEUC und NCC/Kommission, Slg. 1994,
II-285, Randnr. 29, vom 24. Januar 1995 in der Rechtssache T-74/92,
Ladbroke/Kommission, Slg. 1995, II-115, Randnr. 61, sowie Urteil des Gerichtshofes
vom 18. März 1997 in der Rechtssache C-282/95 P, Guérin
automobiles/Kommission, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht, Randnr. 36).
- 26.
- Im vorliegenden Fall ist der Zeitraum, der zwischen der Einreichung des Antrags
(27. Mai 1994) und der Absendung des Aufforderungsschreibens (2. Januar 1996)
verstrichen ist, hinreichend lang, um für die Klägerin ein Recht darauf zu
begründen, eine Stellungnahme der Kommission (Urteil Asia Motor France
u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 29) und somit zumindest eine Mitteilung gemäß
Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 zu erhalten.
- 27.
- Daraus folgt, daß die Untätigkeitsklage im Zeitpunkt der Einreichung der
Klageschrift zulässig war.
- 28.
- Es bleibt jedoch noch zu prüfen, ob eine Stellungnahme der Kommission während
des Verfahrens dieser Klage später die Grundlage entzogen hat.
- 29.
- Die Kommission hat der Klägerin am 25. Juli 1996 ein Schreiben übermittelt,
dessen Betreff sich ausdrücklich auf Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 bezieht.
In diesem Schreiben war dargelegt, weshalb die Kommission den Antrag
zurückweisen wollte; gleichzeitig setzte sie eine Frist von einem Monat für die
Mitteilung von etwaigen schriftlichen Bemerkungen.
- 30.
- Dieses Schreiben muß als eine Mitteilung gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr.
99/63 angesehen werden.
- 31.
- Nach ständiger Rechtsprechung stellt aber ein an den Antragsteller gerichtetes
Schreiben, das den Voraussetzungen von Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63
entspricht, eine Stellungnahme gemäß Artikel 175 Absatz 2 EG-Vertrag dar. Ein
solches Schreiben beendet daher die Untätigkeit der Kommission und entzieht der
gegen sie gerichteten Untätigkeitsklage die Grundlage (Urteile des Gerichtshofes
vom 18. Oktober 1979 in der Rechtssache 125/78, Gema/Kommission, Slg. 1979,
3173, Randnr. 21, und vom 18. März 1997 in der Rechtssache Guérin
automobiles/Kommission, a. a. O., Randnrn. 30 und 31).
- 32.
- Das Schreiben vom 25. Juli 1996 hat folglich die geltend gemachte Untätigkeit
beendet; die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vertretene
Auffassung, die Untätigkeit bestehe so lange, bis die Kommission eine endgültige
Entscheidung über die Zurückweisung des Antrags getroffen habe, geht fehl.
- 33.
- Die Kommission ist nämlich erst dann verpflichtet, entweder ein Verfahren gegen
die in dem Antrag genannte Person einzuleiten oder eine endgültige Entscheidung
über die Zurückweisung des Antrags zu treffen, wenn sie ein Schreiben gemäß
Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 versandt und der Antragsteller schriftliche
Bemerkungen zu diesem Schreiben abgegeben hat (Urteil Guérin
automobiles/Kommission, a. a. O., Randnr. 38).
- 34.
- Aus alledem folgt, daß das Schreiben vom 25. Juli 1996, das nach der Erhebung der
Klage abgesandt worden ist, den Antrag wegen Untätigkeit gegenstandslos gemacht
und daß sich die Hauptsache insoweit erledigt hat (Urteil Asia Motor France
u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 38).
Zum Antrag auf Schadensersatz
Vorbringen der Parteien
- 35.
- Die Klägerin macht geltend, die Untätigkeit der Kommission habe ihren Konkurs
mit Verbindlichkeiten in Höhe von 1 289 128,10 FF herbeigeführt. Dies sei der
verzögerten Entschädigung und somit gesamtschuldnerisch der Kommission und
Nissan France anzulasten, gegen die die Kommission Rückgriff nehmen könne. Die
Klägerin weist darauf hin, daß es im Verfahren der Kündigung des Händlervertrags
um eine Entschädigung von 2 420 676 FF gehe. Die Verzögerung bei der Zahlung
dieser Entschädigung habe zwischen Mai 1994 und dem 8. Oktober 1995
Zinszahlungen in Höhe von 288 060,43 FF nach sich gezogen; hinzuzurechnen seien
Verzugszinsen für den Zeitraum zwischen dem 9. Oktober 1995 und der Erhebung
der Klage, d. h. 84 723,66 FF, unbeschadet weiterer Verzugszinsen bis zur
Beendigung der Untätigkeit.
- 36.
- Der gesamte von der Kommission zu ersetzende Schaden belaufe sich somit auf
1 576 188,53 FF + 84 723,66 FF = 1 660 912,19 FF, d. h. 237 273 ECU.
- 37.
- Die Kommission betont, die Angaben über das tatsächliche Vorliegen des
behaupteten Schadens und dessen Bemessung reichten nicht aus, um ihr die
Geltendmachung ihrer Rechte zu ermöglichen. Die Klage erfülle nicht die in
Artikel 19 der EG-Satzung des Gerichtshofes und in Artikel 44 § 1 Buchstabe c der
Verfahrensordnung des Gerichts niedergelegten Voraussetzungen, nach denen die
Klageschrift neben dem Streitgegenstand insbesondere eine kurze Darstellung der
Klagegründe enthalten müsse. Um diesen Vorschriften zu genügen, müsse die
Klägerin hinreichende Informationen liefern, damit die Kommission zur Sache
Stellung nehmen und der Gemeinschaftsrichter seine Kontrolle ausüben könne.
- 38.
- Es genüge nicht, daß sich die Klägerin auf schlichte Hypothesen stütze, sich auf
ihren Konkurs berufe und ohne nähere Ausführungen den Gesamtbetrag der
Verbindlichkeiten der Gesellschaft der Kommission zu Last lege sowie diesem
Betrag einen zeitanteilig berechneten Betrag zuschlage, der der Verzögerung
entspreche, die bei der eventuellen Entschädigung verursacht worden sei, die die
Klägerin als Folge einer Vertragskündigung ermittelt habe.
- 39.
- Die Haftung der Kommission könne zudem nur gegeben sein, wenn ein
Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden, d. h. dem Konkurs der Klägerin und
der geltend gemachten Untätigkeit vorliege. Vor dem entsprechenden Beweis
müßten ein Fehlverhalten der Kommission und der geltend gemachte Schaden
nachgewiesen werden. Es obliege der Klägerin, diese Elemente vorzutragen; dies
sei hier aber nicht geschehen.
- 40.
- Selbst wenn ein Vorgehen auf der Grundlage der Wettbewerbsregeln angemessen
und unerläßlich sei, um einen Konkurs abzuwenden, könne sich der Betroffene an
die nationalen Gerichte wenden, die aufgrund des Prinzips der dezentralen
Anwendung dieser Regeln für eine Entscheidung zuständig seien.
Würdigung durch das Gericht
- 41.
- Gemäß Artikel 19 der Satzung des Gerichtshofes und Artikel 44 § 1 Buchstabe c
der Verfahrensordnung des Gerichts muß die Klageschrift den Streitgegenstand und
eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen so klar
und genau sein, daß dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem
Gericht die Entscheidung über die Klage, gegebenenfalls auch ohne weitere
Informationen, ermöglicht wird. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße
Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich,
daß die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf denen die Klage
beruht, zumindest in gedrängter Form, jedenfalls aber zusammenhängend und
verständlich aus dem Wortlaut der Klageschrift selbst hervorgehen (siehe z. B. den
Beschluß des Gerichts vom 29. November 1993 in der Rechtssache T-56/92,
Koelman/Kommission, Slg. 1993, II-1267, Randnr. 21).
- 42.
- Eine Klage auf Ersatz der von einem Gemeinschaftsorgan verursachten Schäden
genügt diesen Erfordernissen nur, wenn sie Tatsachen anführt, anhand deren sich
das dem Organ vom Kläger vorgeworfene Verhalten bestimmen läßt, die Gründe
angibt, aus denen nach Auffassung des Klägers ein Kausalzusammenhang zwischen
dem Verhalten und dem angeblich erlittenen Schaden besteht, sowie Art und
Umfang dieses Schadens bezeichnet (Urteil des Gerichts vom 18. September 1996
in der Rechtssache T-387/94, Asia Motor France u. a./Kommission, Slg. 1996, II-961, Randnr. 107).
- 43.
- Ein Antrag, der der notwendigen Bestimmtheit ermangelt, ist als unzulässig
anzusehen; ein Verstoß gegen Artikel 19 der Satzung des Gerichtshofes und Artikel
44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts zählt zu den
Unzulässigkeitsgründen, die das Gericht gemäß Artikel 113 dieser
Verfahrensordnung jederzeit von Amts wegen prüfen kann (Urteil vom 18.
September 1996, Asia Motor France u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 108).
- 44.
- Im vorliegenden Fall ermöglicht es die Klageschrift, auch insgesamt betrachtet,
nicht, mit der erforderlichen Klarheit und Bestimmtheit das Bestehen eines
Kausalzusammenhangs zwischen der geltend gemachten Untätigkeit der
Kommission und dem von der Klägerin behaupteten Schaden festzustellen.
- 45.
- Nach den Angaben der Klägerin besteht dieser Schaden hauptsächlich in der am
22. Mai 1995 erfolgten gerichtlichen Konkurseröffnung aufgrund von
Verbindlichkeiten von 1 289 128,10 FF. Selbst wenn eine Untätigkeit der
Kommission zwischen dem 27. Mai 1994 (Zeitpunkt des Eingangs des Antrags)
oder dem 21. Februar 1995 (Zeitpunkt des letzten Schreibens der Klägerin an die
Kommission vor der Konkurseröffnung) und dem 22. Mai 1995 (Zeitpunkt der
gerichtlichen Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der Klägerin)
festgestellt werden könnte, hat die Klägerin in ihrer Klageschrift nichts vorgetragen,
was erklären könnte, inwieweit die Kommission für den bezifferten Schaden
verantwortlich wäre. Der Gemeinschaftsrichter kann daher nicht nachprüfen, wie
die behauptete Untätigkeit zur Erhöhung der Verbindlichkeiten der Klägerin und
damit zu ihrem Konkurs hätte beitragen können.
- 46.
- Das gleiche gilt für den von der Klägerin geltend gemachten Schaden von
288 060,43 FF, der auf die Verzögerung bei der Auszahlung der Entschädigung
zurückzuführen sei, die ihr angeblich wegen der Kündigung des Konzessionsvertrags
durch Nissan France zustehe. Auch hier enthält die Klageschrift nichts, woraus sich
ein Kausalzusammenhang zwischen den beanspruchten Beträgen in Höhe von
288 060,43 FF und 84 723,66 FF und der angeblichen Untätigkeit der Kommission
erkennen ließe.
- 47.
- Nach alledem ist der Schadensersatzantrag als unzulässig abzuweisen.
Kosten
- 48.
- Gemäß Artikel 87 § 6 der Verfahrensordnung des Gerichts entscheidet dieses über
die Kosten nach freiem Ermessen, wenn die Hauptsache erledigt ist. Gemäß Artikel
87 § 3 dieser Verfahrensordnung kann das Gericht die Kosten teilen oder
beschließen, daß jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils
obsiegt, teils unterliegt oder wenn ein außergewöhnlicher Grund gegeben ist.
- 49.
- Im vorliegenden Fall hat das Verhalten der Kommission in hohem Maße zu der
Erhebung der Klage beigetragen. Die Kommission hat nämlich nicht innerhalb der
Frist des Artikels 175 EG-Vertrag der am 2. Januar 1996 an sie gerichteten
Aufforderung der Klägerin Folge geleistet, obwohl sie über den einschlägigen
Sachverhalt seit Mai 1994 ordnungsgemäß informiert war. Außerdem hat die
Kommission erst am 25. Juli 1996, d. h. nach der Erhebung der vorliegenden Klage,
der Klägerin eine Stellungnahme zu ihrem Antrag gemäß Artikel 6 der Verordnung
Nr. 99/63 mitgeteilt.
- 50.
- Unter Würdigung der Umstände des vorliegenden Falles hat die Kommission daher
ihre eigenen Kosten sowie die Hälfte der Kosten der Klägerin zu tragen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Zweite erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wegen Untätigkeit ist in der Hauptsache erledigt.
2. Im übrigen wird die Klage als unzulässig abgewiesen.
3. Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Hälfte der Kosten der
Klägerin.
Bellamy Briët Kalogeropoulos
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Juli 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
C. W. Bellamy