Language of document : ECLI:EU:C:2012:300

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

22. Mai 2012(*)

„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 28 Abs. 3 Buchst. a – Ausweisungsverfügung – Strafrechtliche Verurteilung – Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“

In der Rechtssache C‑348/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. August 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2009, in dem Verfahren

P. I.

gegen

Oberbürgermeisterin der Stadt Remscheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot und U. Lõhmus, der Richter A. Rosas, E. Levits, A. Ó Caoimh, L. Bay Larsen, T. von Danwitz und A. Arabadjiev sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Januar 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn I., vertreten durch die Rechtsanwälte G. L. Pagliaro und A. Caramazza,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,

–        der irischen Regierung, vertreten durch D. O’Hagan und J. Kenny als Bevollmächtigte im Beistand von D. Conlan Smyth, Barrister,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. März 2012

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn I., einem italienischen Staatsangehörigen, und der Oberbürgermeisterin der Stadt Remscheid (Deutschland) wegen der Entscheidung der Oberbürgermeisterin, mit der der Verlust des Rechts von Herrn I., in das deutsche Hoheitsgebiet einzureisen und sich dort aufzuhalten, festgestellt und ihm die Abschiebung nach Italien angedroht worden ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2004/38

3        Die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 lauten:

„(23) Die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist eine Maßnahme, die Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem [EG-]Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann. Die Wirkung derartiger Maßnahmen sollte daher gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt werden, damit der Grad der Integration der Betroffenen, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, ihr Alter, ihr Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Situation und die Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt werden.

(24)      Daher sollte der Schutz vor Ausweisung in dem Maße zunehmen, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind. Gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren Aufenthalt gehabt haben, sollte nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit eine Ausweisung verfügt werden. Gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes sollten solche außergewöhnlichen Umstände zudem auch für Ausweisungsmaßnahmen gegen Minderjährige gelten, damit die familiären Bande unter Schutz stehen.“

4        Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

5        Art. 28 der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)      Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

(2)      Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.

(3)      Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie

a)      ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder

b)      minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“

6        Art. 33 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:

„(1)      Der Aufnahmemitgliedstaat kann eine Ausweisungsverfügung als Strafe oder Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe nur erlassen, wenn die Voraussetzungen der Artikel 27, 28 und 29 eingehalten werden.

(2)      Wird eine Ausweisungsverfügung nach Absatz 1 mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt, so muss der Mitgliedstaat überprüfen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht, und beurteilen, ob seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist.“

 Richtlinie 2011/93/EU

7        Die Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. L 335, S. 1) dient zur Festlegung von Mindestvorschriften zur Definition von Straftaten und Sanktionen auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern, der Kinderpornografie und der Kontaktaufnahme zu Kindern für sexuelle Zwecke. Ferner werden mit ihr Bestimmungen zur Stärkung der Prävention dieser Verbrechen und des Schutzes ihrer Opfer eingeführt.

 Nationales Recht

8        § 6 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer Gesetze vom 26. Februar 2008 (BGBl. 2008 I S. 215) bestimmt:

„(1)      Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 39 Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages …) festgestellt und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht oder über den Daueraufenthalt eingezogen und die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte widerrufen werden. Aus den in Satz 1 genannten Gründen kann auch die Einreise verweigert werden. Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise auftritt.

(2)      Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in Absatz 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

(3)      Bei der Entscheidung nach Absatz 1 sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

(4)      Eine Feststellung nach Absatz 1 darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden.

(5)      Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Für Minderjährige gilt dies nicht, wenn der Verlust des Aufenthaltsrechts zum Wohl des Kindes notwendig ist. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

9        Herr I. wurde am 3. September 1965 in Italien geboren und lebt seit 1987 in Deutschland. Seine erste Aufenthaltserlaubnis wurde im April 1987 erteilt und in der Folge mehrfach verlängert. Er ist ledig und kinderlos. Er hat keine Schul- oder Berufsausbildung abgeschlossen und war in Deutschland nur zeitweise erwerbstätig. Herr I. hat fünf Geschwister, von denen einige in Deutschland und andere in Italien leben. Seine Mutter lebt seit seiner Inhaftierung im Januar 2006 teils in Deutschland und teils in Italien.

10      Der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts Köln vom 16. Mai 2006, rechtskräftig seit dem 28. Oktober 2006, wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexueller Nötigung und Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die zugrunde liegenden Taten fanden in den Jahren 1990 bis 2001 statt. Herr I. zwang sein Opfer von 1992 an fast wöchentlich zum Geschlechtsverkehr oder anderen sexuellen Handlungen, indem er Gewalt anwandte und es mit dem Tod der Mutter oder des Bruders bedrohte. Opfer der Straftaten war die zu Beginn der Taten acht Jahre alte Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin. Seit dem 10. Januar 2006 befindet sich Herr I. in Haft, die voraussichtlich am 9. Juli 2013 endet.

11      Mit Bescheid vom 6. Mai 2008 stellte die Oberbürgermeisterin der Stadt Remscheid, die Beklagte des Ausgangsverfahrens, den Verlust des Rechts von Herrn I., in das deutsche Hoheitsgebiet einzureisen und sich dort aufzuhalten, fest, ordnete die sofortige Vollziehbarkeit dieser Maßnahme an und drohte ihm die Abschiebung nach Italien an.

12      Die Beklagte des Ausgangsverfahrens führt aus, Herr I. habe mit erheblicher krimineller Energie gehandelt und seinem Opfer durch den jahrelangen Missbrauch „unendliches Leid“ angetan. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass er beim Vorliegen ähnlicher Umstände erneut in gleicher oder ähnlicher Weise wie vor seiner Inhaftierung straffällig werde, insbesondere aufgrund des langen Tatzeitraums sowie seines bis heute fehlenden Unrechtsbewusstseins. Die schutzwürdigen Belange von Herrn I. seien berücksichtigt worden; eine besondere wirtschaftliche oder soziale Integration in die deutsche Gesellschaft habe bei ihm nicht stattgefunden.

13      Am 12. Juni 2008 erhob Herr I. Klage gegen den Ausweisungsbescheid vom 6. Mai 2008 und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2008 ab und begründete dies insbesondere damit, dass die der Verurteilung zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten zeigten, das eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft, nämlich des Schutzes von Mädchen und Frauen vor sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen, befürchten lasse. Wie sich u. a. aus der Länge des Begehungszeitraums, dem Alter des Opfers und den von Herrn I. zum Schutz vor Entdeckung getroffenen Maßnahmen in Form der kontinuierlichen Bedrohung und Isolierung seines Opfers ergebe, habe er mit erheblicher krimineller Energie gehandelt.

14      Herr I. legte gegen dieses Urteil Berufung zum Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen ein, das nach Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Erfasst der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 lediglich Gefährdungen der inneren und äußeren Sicherheit des Staates im Sinne des Bestands des Staates mit seinen Einrichtungen und seinen wichtigen öffentlichen Diensten, des Überlebens der Bevölkerung sowie der auswärtigen Beziehungen und des friedlichen Zusammenlebens der Völker?

 Zur Vorlagefrage

15      In Randnr. 56 seines Urteils vom 23. November 2010, Tsakouridis (C‑145/09, Slg. 2010, I‑11979), hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt werden kann.

16      In Beantwortung einer vom Gerichtshof im Anschluss an die Verkündung des Urteils Tsakouridis gestellten schriftlichen Frage hat das vorlegende Gericht mitgeteilt, dass im Ausgangsverfahren weiterhin Zweifel bestünden, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen auch die Bekämpfung anderer als der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität ein „zwingender Grund der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 sein könne.

17      Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall von Unionsbürgern, die – ohne in eine Bande oder sonstige kriminelle Strukturen eingebunden zu sein – schwerste Straftaten gegen Individualrechtsgüter wie die sexuelle Selbstbestimmung, das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit verübt hätten und bei denen ein hohes Risiko der Begehung weiterer derartiger Delikte bestehe, eine Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaat in Betracht komme.

18      In Bezug auf die öffentliche Sicherheit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sie sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst (Urteil Tsakouridis, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Aus dem Wortlaut und der Systematik von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber, indem er jede Ausweisungsverfügung in den in dieser Bestimmung genannten Fällen vom Vorliegen „zwingender Gründe“ der öffentlichen Sicherheit – einem Begriff, der erheblich enger ist als der der „schwerwiegenden Gründe“ im Sinne von Abs. 2 dieses Artikels – abhängig gemacht hat, die auf Abs. 3 gestützten Maßnahmen ganz offensichtlich entsprechend der Ankündigung im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie auf „außergewöhnliche Umstände“ begrenzen wollte (Urteil Tsakouridis, Randnr. 40).

20      Der Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern auch, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist, der im Gebrauch des Ausdrucks „zwingende Gründe“ zum Ausdruck kommt (Urteil Tsakouridis, Randnr. 41).

21      Zudem ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten keine einheitliche Werteskala für die Beurteilung von Verhaltensweisen vorschreibt, die als Verletzung der öffentlichen Sicherheit angesehen werden können (vgl. entsprechend Urteil vom 20. November 2001, Jany u. a., C‑268/99, Slg. 2001, I‑8615, Randnr. 60).

22      Die zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit werden nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 „von den Mitgliedstaaten festgelegt“.

23      Zwar steht es den Mitgliedstaaten im Wesentlichen weiterhin frei, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, doch sind diese Anforderungen, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von dem grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit rechtfertigen sollen, eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Europäischen Union bestimmt werden kann (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, Slg. 2008, I‑5157, Randnr. 23, sowie vom 17. November 2011, Gaydarov, C‑430/10, Slg. 2011, I‑11637, Randnr. 32, und Aladzhov, C‑434/10, Slg. 2011, I‑11659, Randnr. 34).

24      Bei der Klärung der Frage, ob Straftaten wie die von Herrn I. begangenen unter den Begriff „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen, sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

25      Nach Art. 83 Abs. 1 AEUV gehört die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu den Bereichen besonders schwerer Kriminalität, die eine grenzüberschreitende Dimension haben und für die ein Tätigwerden des Unionsgesetzgebers vorgesehen ist.

26      Im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/93 wird dieses Ziel zum Ausdruck gebracht und hervorgehoben, dass sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern schwere Verstöße gegen die Grundrechte darstellen, insbesondere gegen die im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegten Rechte des Kindes auf Schutz und Fürsorge, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind.

27      Die Schwere solcher Straftaten ergibt sich auch aus Art. 3 der Richtlinie 2011/93, nach dessen Abs. 4 eine Person, die sexuelle Handlungen mit einem Kind vornimmt, das das Alter der sexuellen Mündigkeit noch nicht erreicht hat, mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens fünf Jahren zu bestrafen ist, während nach Abs. 5 Ziff. i eine Person, die solche Handlungen vornimmt und dabei eine anerkannte Stellung des Vertrauens, der Autorität oder des Einflusses auf das Kind missbraucht, mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens acht Jahren zu bestrafen ist. Nach Abs. 5 Ziff. iii muss diese Strafe mindestens zehn Jahre betragen, wenn Zwang, Gewalt oder Drohungen angewandt wurden. Gemäß Art. 9 Buchst. b und g der Richtlinie 2011/93 gilt es als erschwerender Umstand, wenn die Straftat von einem Familienmitglied, einer mit dem Kind unter einem Dach lebenden Person oder einer Person, die ein Vertrauensverhältnis oder ihre Autorität missbraucht hat, begangen wurde oder wenn sie unter Anwendung schwerer Gewalt begangen oder dem Kind durch sie ein schwerer Schaden zugefügt wurde.

28      Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen gemäß Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist; dies ist vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falles, mit dem es befasst ist, zu klären.

29      Sollte das vorlegende Gericht anhand der spezifischen Werte der Rechtsordnung des Mitgliedstaats, dem es angehört, feststellen, dass Straftaten wie die von Herrn I. verübten die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar bedrohen, muss dies nicht zwangsläufig zur Ausweisung des Betroffenen führen.

30      Nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 setzt nämlich jede Ausweisungsverfügung voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten.

31      Hinzu kommt, dass die Mitgliedstaaten, wenn eine Ausweisungsverfügung als Strafe oder Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe ergeht, aber mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt wird, nach Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 überprüfen müssen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht, und beurteilen müssen, ob seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist.

32      Wie schließlich dem Wortlaut von Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zu entnehmen ist, hat der Aufnahmemitgliedstaat, bevor er eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staates, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

33      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen gemäß Art. 28 Abs. 3 eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist; dies ist vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falles, mit dem es befasst ist, zu klären.

34      Jede Ausweisungsverfügung setzt voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten. Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, hat er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staates, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

 Kosten

35      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen gemäß Art. 28 Abs. 3 eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist; dies ist vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falles, mit dem es befasst ist, zu klären.

Jede Ausweisungsverfügung setzt voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten. Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, hat er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staates, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

Unterschriften


*Verfahrenssprache: Deutsch.