Language of document : ECLI:EU:T:2011:209

Verbundene Rechtssachen T−267/08 und T−279/08

Région Nord-Pas-de-Calais und Communauté d’agglomération du Douaisis

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Herstellung von Eisenbahnmaterial– Rückzahlbare Vorschüsse – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Anpassung der Anträge – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Staatliche Mittel – Zurechenbarkeit zum Staat – Kriterium des privaten Kapitalgebers – Unternehmen in Schwierigkeiten“

Leitsätze des Urteils

1.      Verfahren – Entscheidung, die während des Verfahrens die angefochtene Entscheidung ersetzt – Neue Tatsache – Erweiterung der ursprünglichen Anträge und Klagegründe

2.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung der Kommission über staatliche Beihilfen

(Art. 296 AEUV; Mitteilung 97/C 273/03 der Kommission)

3.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Verwaltungsverfahren – Pflicht der Kommission, den Beteiligten und damit den Körperschaften unterhalb der staatlichen Ebene, die Beihilfen gewähren, eine Frist zur Äußerung zu setzen – Grenzen

(Art. 108 Abs. 2 AEUV)

4.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Entscheidung, das in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehene förmliche Prüfverfahren einzuleiten – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 108 Abs. 2 AEUV; Verordnung des Rates Nr. 659/1999, Art. 6)

5.      Handlungen der Organe – Rücknahme – Rechtswidrige Handlungen – Unzureichende Begründung einer Entscheidung, mit der eine staatliche Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird – Erlass einer neuen Entscheidung – Pflicht, das förmliche Prüfverfahren neu zu eröffnen – Fehlen

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beihilfen aus staatlichen Mitteln – Finanzierung aus Mitteln, die der staatlichen Kontrolle unterliegen – Einbeziehung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

7.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils an die Empfänger – Gelddarlehen mit zinsträchtiger Rückzahlung – Beurteilung anhand des gewährten Zinssatzes

(Art  107Abs. 1 AEUV)

8.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden können – Ermessen der Kommission – Befugnis zum Erlass von Leitlinien

(Art. 107Abs. 3 AEUV; Mitteilung 2004/C 244/02 der Kommission)

9.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Ermittlung der in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmen

(Art. 107 Abs. 3 AEUV; Mitteilung 2004/C 244/02 der Kommission, Randnr. 11)

10.    Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Anerkennung der Eigenschaft als Unternehmen in Schwierigkeiten zu Zwecken der Gewährung einer Befreiung vom Beihilfeverbot

11.    Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Kriterium des privaten Kapitalgebers

(Art. 107Abs. 1 AEUV)

12.    Handlungen der Organe – Rücknahme – Rechtswidrige Handlungen – Entscheidungen der Kommission über staatliche Beihilfen – Erlass einer neuen Entscheidung unter Hinzufügung neuer Elemente, mit denen Beanstandungen der Beteiligten Rechnung getragen werden soll – Verletzung der Verteidigungsrechte – Nichtvorliegen

1.      Eine Entscheidung, die während des Verfahrens eine andere Entscheidung mit gleichem Gegenstand ersetzt, ist als neue Tatsache anzusehen, die den Kläger zur Anpassung seiner Anträge und Klagegründe berechtigt. Es wäre nämlich mit einer geordneten Rechtspflege und dem Erfordernis der Prozessökonomie unvereinbar, wenn der Kläger eine weitere Klage erheben müsste. Außerdem wäre es ungerecht, wenn das fragliche Unionsorgan den Rügen in einer beim Unionsrichter gegen eine Entscheidung eingereichten Klageschrift dadurch begegnen könnte, dass es die angefochtene Entscheidung anpasst oder durch eine andere ersetzt und sich im Verfahren auf diese Änderung oder Ersetzung beruft, um es der Gegenpartei unmöglich zu machen, ihre ursprünglichen Anträge und Klagegründe auf die spätere Entscheidung zu erstrecken oder gegen diese ergänzende Anträge zu stellen und zusätzliche Angriffsmittel vorzubringen.

(vgl. Randnr. 23)

2.      Eine Entscheidung, mit der eine staatliche Beihilfe, die einem Unternehmen in Schwierigkeiten gewährt wurde, für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird, genügt hinsichtlich der von der Kommission zugrunde gelegte Methode der Berechnung des Beihilfebetrags den Anforderungen des Art. 296 AEUV, wenn sie sich nicht auf eine bloße Verweisung auf eine Mitteilung der Kommission über Referenzsätze beschränkt, sondern eine eingehende Beschreibung der gewählten Berechnungsmethode sowie eine gründliche Untersuchung der Finanzlage des Unternehmens und des Fehlens von Sicherheiten enthält, und hinsichtlich der Begründung der Erhöhung des anwendbaren Referenzsatzes, wenn sie eine Untersuchung der Praxis auf den Finanzmärkten auf der Grundlage einer empirischen Nachforschung über die Zuschläge, die auf dem Markt für verschiedene Risikogruppen bei Unternehmen oder Transaktionen zu beobachten sind, enthält.

(vgl. Randnrn. 50, 52-53)

3.      Im Rahmen eines nach Art. 108 Abs. 2 AEUV eingeleiteten Verwaltungsverfahrens weist die Rechtsprechung den Beteiligten – u. a. Körperschaften unterhalb der staatlichen Ebene, die staatliche Beihilfen gewähren – im Wesentlichen die Rolle von Informationsquellen für die Kommission zu. Daraus folgt, dass die Beteiligten keineswegs einen Anspruch auf rechtliches Gehör geltend machen können, wie er denjenigen zusteht, gegen die ein Verfahren eingeleitet worden ist, sondern lediglich über das Recht verfügen, am Verwaltungsverfahren unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls angemessen beteiligt zu werden.

Die Betroffenen können sich daher nicht auf eine Verletzung des Grundsatzes ordnungsgemäßer Verwaltung berufen, weil die Kommission sie nicht persönlich aufgefordert hat, zum Verfahren der Beihilfeprüfung Stellung zu nehmen. Ebenso wenig ist die Kommission verpflichtet, den Betroffenen die Stellungnahmen oder die Angaben zu übermitteln, die sie von der Regierung des betroffenen Mitgliedstaats erhalten hat.

(vgl. Randnrn. 71, 74-75, 88)

4.      Nach Art. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 93 EG kann sich, wenn die Kommission entscheidet, das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen, diese Entscheidung auf eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der fraglichen staatlichen Maßnahme und Ausführungen über die Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt beschränken.

Somit muss die Eröffnungsentscheidung die Betroffenen in die Lage versetzen, sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend machen können. Hierfür brauchen die Beteiligten nur zu erfahren, welche Überlegungen die Kommission zu der vorläufigen Ansicht veranlasst haben, dass die in Rede stehende Maßnahme eine neue, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Maßnahme darstellen könnte.

(vgl. Randnrn. 80-81)

5.      Im Fall der Rücknahme der ursprünglichen Entscheidung kann das Verfahren, mit dem eine rechtswidrige Maßnahme ersetzt werden soll, genau an dem Punkt wieder aufgenommen werden, an dem der Rechtsverstoß vorgekommen ist, ohne dass die Kommission verpflichtet wäre, das Verfahren in der Weise wieder aufzunehmen, dass sie über diesen genauen Punkt hinaus zurückginge.

In Bezug auf eine Entscheidung, mit der eine staatliche Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird, geht die unzureichende Begründung, die zur Rücknahme der ursprünglichen Entscheidung geführt hat, nicht auf die Eröffnung des Verfahrens zurück, wenn diese mit keinem Rechtsverstoß behaftet ist. Wurde das dem Erlass der zurückgenommenen Entscheidung vorausgegangene förmliche Prüfverfahren ordnungsgemäß durchgeführt, braucht es vor dem Erlass der neuen Entscheidung nicht wieder eröffnet zu werden.

Die Hinzufügung neuer Elemente in der neuen Entscheidung kann diese Feststellung nicht in Frage stellen, wenn mit dieser Hinzufügung den Einwänden, die die ursprüngliche Entscheidung hervorgerufen hat, eingehender Rechnung getragen werden soll.

(vgl. Randnrn. 83-85)

6.      Im Anwendungsbereich des Art. 107 Abs. 1 AEUV könnte eine etwaige Finanzierung der betreffenden Maßnahmen durch Mittel, die nicht steuerlicher oder steuerähnlicher Art wären, diese Maßnahmen nicht der Einstufung als staatliche Beihilfe entziehen. Das entscheidende Kriterium im Bereich staatlicher Mittel ist nämlich die öffentliche Kontrolle, und Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst alle Geldmittel, ob sie aus verbindlichen Abgaben stammen oder nicht, die der öffentliche Sektor zur Unterstützung von Unternehmen effektiv bereitstellen kann.

(vgl. Randnr. 111)

7.      Handelt es sich um ein Gelddarlehen mit zinsträchtiger Rückzahlung, heben die Zinsen, die ein Unternehmen als Gegenleistung für ein Darlehen zahlen muss, den Vorteil, der diesem Unternehmen zugutekommt, nicht unbedingt vollständig auf. Es besteht sehr wohl eine Belastung für den Haushalt der Körperschaft, die das Darlehen gewährt hat, wenn diese eine günstigere Ertragsrate hätte erzielen können, wenn sie diesen Betrag zu normalen Marktbedingungen verliehen oder wenn sie ihn anders platziert oder investiert hätte. In einem solchen Fall entspricht die Beihilfe der Differenz zwischen den Zinsen, die gezahlt worden wären, wenn ein Zinssatz entsprechend den normalen Marktbedingungen gegolten hätte, und den tatsächlich gezahlten Zinsen.

(vgl. Randnr. 112)

8.      Die Kommission verfügt nach Art. 107 Abs. 3 AEUV über ein weites Ermessen. Gleichwohl kann sie sich mit Rechtsakten wie den Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten Orientierungsregeln zur Ausübung dieses Ermessens geben, soweit diese Regeln nicht von den Bestimmungen des Vertrags abweichen. Hat die Kommission einen solchen Rechtsakt erlassen, ist dieser für sie verbindlich. Es ist somit Sache des Gerichts, zu prüfen, ob die Kommission die Regeln, die sie sich selbst gegeben hat, beachtet hat.

Da jedoch das weite Ermessen der Kommission, das gegebenenfalls durch die von ihr erlassenen Orientierungsregeln näher bestimmt wird, die Würdigung komplexer wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten impliziert, die auf die Union als Ganzes zu beziehen ist, führt das Gericht in Bezug auf diese Würdigung nur eine beschränkte Nachprüfung durch. Diese ist nämlich auf die Prüfung beschränkt, ob die Verfahrensvorschriften und die Begründungspflicht beachtet wurden, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt wurde und ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler und kein Ermessensmissbrauch vorliegen.

(vgl. Randnrn. 129-132)

9.      Da nach Randnr. 11 der Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten „ein Unternehmen als in Schwierigkeiten befindlich angesehen werden [kann], wenn die hierfür typischen Symptome auftreten, wie steigende Verluste, sinkende Umsätze …“, ist die Kommission zu Recht davon ausgegangen, dass ein Unternehmen, das ein negatives Eigenkapital und ein negatives Nettoergebnis aufweist, als Unternehmen in Schwierigkeiten zu gelten hat.

Die Kommission darf Ereignisse nicht berücksichtigen, die nach der Gewährung der betreffenden Beihilfen eintreten. Sie hat nämlich die Situation zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung besteht, da sie, wenn sie spätere Ereignisse berücksichtigen würde, die Mitgliedstaaten begünstigen würde, die ihre Pflicht verletzen, die von ihnen geplanten Beihilfen im Planungsstadium zu notifizieren. Darüber hinaus kann eine Entspannung der Lage des begünstigten Unternehmens im Lauf des Jahres, in dem die streitigen Maßnahmen gewährt wurden, auf die Beurteilung seiner Lage zum Zeitpunkt der Gewährung keinen Einfluss haben, insbesondere weil nicht auszuschließen ist, dass diese Maßnahmen zu dieser Entwicklung beigetragen haben.

(vgl. Randnrn. 135, 141, 143-144, 146)

10.    Da die Begriffe der Unionsrechtsordnung grundsätzlich nicht in Anlehnung an eine oder mehrere nationale Rechtsordnungen zu definieren sind, sofern dies nicht ausdrücklich vorgesehen ist, und da die maßgeblichen Leitlinien keinerlei Verweisung auf nationale Rechtsordnungen enthalten, ist im Rahmen der Anwendung der Unionsvorschriften über staatliche Beihilfen und bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Einstufung als Unternehmen in Schwierigkeiten durch die Kommission die Rechtsprechung eines Mitgliedstaats nicht zu berücksichtigen.

(vgl. Randnr. 150)

11.    Um beurteilen zu können, ob eine staatliche Maßnahme eine Beihilfe darstellt, ist zu prüfen, ob das begünstigte Unternehmen eine wirtschaftliche Vergünstigung erhält, die es unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte. Zu diesem Zweck ist das Kriterium der Möglichkeiten des begünstigten Unternehmens heranzuziehen, die betreffenden Geldbeträge zu ähnlichen Bedingungen auf dem Kapitalmarkt zu erhalten. Insbesondere ist zu fragen, ob ein privater Investor das betreffende Geschäft zu den gleichen Bedingungen durchgeführt hätte.

(vgl. Randnrn. 158-159)

12.    Vorbehaltlich des Vertrauensschutzes und des Grundsatzes der Rechtssicherheit sind die Organe der Union berechtigt, eine Entscheidung, mit der ihrem Adressaten ein Vorteil gewährt wurde, wegen ihrer Rechtswidrigkeit zurückzunehmen, sofern die Rücknahme binnen einer angemessenen Frist erfolgt. Dieses Recht zur Rücknahme einer rechtswidrigen Entscheidung muss den Organen der Union erst recht zustehen, wenn es um einen nicht begünstigenden Akt geht, der sich als rechtswidrig erweist. Bei dieser Fallgestaltung stehen nämlich Erwägungen zum Schutz des berechtigten Vertrauens und der wohlerworbenen Rechte des Adressaten der Entscheidung einer Rücknahme nicht entgegen.

Da mit der Hinzufügung neuer Elemente in der neuen Entscheidung dem Vorbringen der klägerischen Parteien im Rahmen ihrer Verwaltungsbeschwerden von Seiten der Kommission eingehender als in der ursprünglichen Entscheidung Rechnung getragen werden sollte, kann diese Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerinnen selbst nicht zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte im Rahmen des Verwaltungsverfahrens führen.

(vgl. Randnrn. 189-190, 192)