Language of document : ECLI:EU:T:2022:627

URTEIL DES GERICHTS (Vierte erweiterte Kammer)

12. Oktober 2022(*)

„Wirtschafts- und Währungsunion – Bankenunion – Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten – Frühzeitiges Eingreifen – Beschluss der EZB, die Banca Carige unter vorläufige Verwaltung zu stellen – Nichtigkeitsklage – Klage eines Anteilseigners – Klagebefugnis – Interesse, das sich von dem der Bank unterscheidet – Zulässigkeit – Rechtsfehler bei der Bestimmung der Rechtsgrundlage – Unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts durch den Unionsrichter – Grenze – Verbot der Auslegung des nationalen Rechts contra legem“

In der Rechtssache T‑502/19,

Francesca Corneli, wohnhaft in Velletri (Italien), vertreten durch die Rechtsanwälte M. Condinanzi, L. Boggio und F. Ferraro,

Klägerin,

gegen

Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch C. Hernández Saseta, A. Pizzolla und G. Marafioti als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Europäische Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, D. Triantafyllou und A. Nijenhuis als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

erlässt

DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas sowie der Richter S. Gervasoni, L. Madise, P. Nihoul (Berichterstatter) und J. Martín y Pérez de Nanclares,

Kanzler: P. Nuñez Ruiz, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere

–        der Einrede der Unzulässigkeit, die die EZB mit am 2. Oktober 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem gesondertem Schriftsatz erhoben hat,

–        des Beschlusses vom 29. April 2020, die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts dem Endurteil vorzubehalten,

–        der Entscheidung vom 24. Juni 2020, mit der die Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der EZB zugelassen worden ist,

–        der Entscheidung des Gerichts, die Rechtssache gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung an einen erweiterten Spruchkörper zu verweisen,

–        der Beweiserhebung vom 17. November 2021, mit der das Gericht der EZB auf der Grundlage von Art. 91 Buchst. b und Art. 92 Abs. 3 der Verfahrensordnung aufgegeben hat, die vollständige Fassung ihres Beschlusses ECB‑SSM‑2019‑ITCAR‑11 vom 1. Januar 2019, mit dem die Banca Carige SpA unter vorläufige Verwaltung gestellt wurde, und die drei Beschlüsse über die Verlängerung dieser Maßnahme vorzulegen,

–        der Entscheidung des Gerichts vom 15. Dezember 2021, mit der der Klägerin und der Kommission aus Gründen des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 103 Abs. 3 der Verfahrensordnung Zugang zu den von der EZB vorgelegten Unterlagen gewährt wird,

auf die mündliche Verhandlung vom 19. Januar 2022

folgendes

Urteil

1        Mit Klage nach Art. 263 AEUV begehrt die Klägerin, Frau Francesca Corneli, die Nichtigerklärung des Beschlusses ECB‑SSM‑2019‑ITCAR‑11 der EZB vom 1. Januar 2019, mit dem die Banca Carige SpA (im Folgenden: Bank) unter vorläufige Verwaltung gestellt wurde, sowie jeder darauf folgenden oder späteren Handlung, u. a. einschließlich des Beschlusses ECB‑SSM‑2019‑ITCAR‑13 der EZB vom 29. März 2019, mit dem die Dauer der vorläufigen Verwaltung bis zum 30. September 2019 verlängert wurde.

 Vorgeschichte des Rechtsstreits und Sachverhalt nach Klageerhebung

2        Die Bank ist ein Kreditinstitut mit Sitz in Italien, das an der Börse notiert ist und seit 2014 der unmittelbaren Aufsicht der Europäischen Zentralbank (EZB) unterliegt. Von Dezember 2014 bis zum 1. Januar 2019 häufte sie Verluste von mehr als 1,6 Mrd. Euro an. Die Klägerin ist Minderheitsaktionärin der Bank. Bei Klageerhebung hielt sie 200 000 Stammaktien, was einem Anteil von 0,000361 % des Aktienkapitals der Bank entspricht.

3        Im Jahr 2016 erließ die EZB mit dem Beschluss ECB/SSM/2016 – F1T 87K3OQ2OV1UORLH26/26 eine Frühinterventionsmaßnahme die Bank betreffend, mit der Ziele festgelegt wurden, die zwischen 2017 und 2019 für notleidende Kredite und die damit verbundene Deckung zu erreichen waren.

4        Zur Erreichung der festgelegten Ziele genehmigte der Verwaltungsrat im September 2017 einen Rekapitalisierungsplan zur Wiederherstellung einer angemessenen Höhe der Eigenmittel, zur Deckung der entstandenen Verluste und allgemein zur Stärkung der Kapitalstruktur, um akzeptable Kapitalquoten wiederherzustellen.

5        Trotz der Ausgabe von Instrumenten in Höhe von 544 Mio. Euro, die am 21. Dezember 2017 abgeschlossen wurde, erfüllte die Bank am 1. Januar 2018 nicht die geltenden Eigenmittelanforderungen.

6        In der Folge versuchte die Bank erfolglos, ihre Eigenmittel zu erhöhen, um die geltenden Anforderungen zu erfüllen. So scheiterte ein Versuch der Ausgabe von Eigenmittelinstrumenten im Jahr 2018 dreimal (im März, im Mai und im Juni) wegen des geringen Interesses der Investoren.

7        Diese Misserfolge verschärften Spannungen innerhalb des Verwaltungsrats der Bank, die zu verschiedenen Rücktritten (16 zwischen März 2016 und August 2018) führten, die die Ernennung neuer Mitglieder erforderlich machten. So besetzten die Aktionäre der Bank den Verwaltungsrat in der außerordentlichen Hauptversammlung vom 20. September 2018 neu und ernannten Herrn Modiano zum Vorsitzenden. In der Sitzung des Verwaltungsrats vom 21. September 2018 wurde Herr Innocenzi zum Generaldirektor ernannt.

8        Ende September 2018 wies die Bank noch unter den Anforderungen liegende Kapitalquoten auf. Die EZB forderte die Bank daher auf, einen Erhaltungsplan gemäß Art. 142 der Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG (ABl. 2013, L 176, S. 338) vorzulegen. Die Bank legte mithin einen neuen Erhaltungsplan vor, was nach einem dritten erfolglosen Versuch der Erhöhung ihrer Eigenmittel (siehe oben, Rn. 6) geschah. Da dieser Plan aber nach Ansicht der EZB keine wesentlichen Änderungen enthielt, lehnte sie dessen Billigung ab und forderte die Bank auf, bis spätestens zum 30. November 2018 eine Strategie zur Wiederherstellung und dauerhaften Gewährleistung der Erfüllung der Anforderungen vor dem 1. Januar 2019 vorzulegen.

9        Um dieser Aufforderung nachzukommen, erließ der Verwaltungsrat der Bank am 12. November 2018 einen „Plan zur Erhöhung der Eigenmittel vom November 2018“, der auf zwei Stufen beruhte, nämlich zunächst der Ausgabe nachrangiger Anleihen Tier 2 und sodann einer der Genehmigung der Aktionäre unterliegenden Kapitalerhöhung.

10      Die erste Stufe wurde mit der Zeichnung von Anleihen in Höhe von 318,2 Mio. Euro durch den freiwilligen Interventionsfonds des Fondo interbancario di tutela dei depositi (Interbankenfonds zur Einlagensicherung, Italien) und in Höhe von 1,8 Mio. Euro durch die Banco di Desio e della Brianza SpA erreicht.

11      Die zweite Stufe konnte nicht umgesetzt werden, nachdem sich Aktionäre, die 70 % des Kapitals hielten, in einer außerordentlichen Hauptversammlung am 22. Dezember 2018 gegen eine Kapitalerhöhung ausgesprochen hatten, die durch den Tausch nachrangiger Anleihen gegen neu ausgegebene Aktien erfolgen sollte. Vor ihrer Entscheidung wollten die fraglichen Aktionäre den Geschäftsplan und die Bilanz der von der Bank im Jahr 2018 ausgeübten Tätigkeiten einsehen.

12      In der Folge dieser Ereignisse

–        teilte die Bank am 23. Dezember 2018 in einer Pressemitteilung mit, dass nach der Ablehnung des Vorschlags ihres Verwaltungsrats die stellvertretende Vorsitzende und ein weiteres Mitglied des Verwaltungsrats mit sofortiger Wirkung zurückgetreten seien;

–        wurde am 2. Januar 2019 durch eine weitere, ebenfalls von der Bank herausgegebene Pressemitteilung der Rücktritt von fünf weiteren Mitgliedern des Verwaltungsrats, darunter des Vorsitzenden Herrn Modiano und des Generaldirektors Herrn Innocenzi, mit Wirkung zu diesem Zeitpunkt bekannt gegeben;

–        führten diese Rücktritte zur Abberufung des Verwaltungsrats gemäß Art. 18 Abs. 12 der Satzung der Bank und nach Art. 2386 des italienischen Zivilgesetzbuchs.

13      Gemäß der Satzung der Bank blieben die vier nicht zurückgetretenen Mitglieder des Verwaltungsrats im Amt, um die laufende Geschäftsführung sicherzustellen.

14      Am 1. Januar 2019 beschloss die EZB, die Bank mit den folgenden Wirkungen unter vorläufige Verwaltung zu stellen (im Folgenden: Beschluss über die vorläufige Verwaltung):

–        Auflösung des Verwaltungsrats der Bank und Ersetzen der ehemaligen Mitglieder durch drei vorläufige Verwalter, darunter Herr Modiano und Herr Innocenzi, die Vorsitzender des Verwaltungsrats bzw. Generaldirektor dieses Instituts waren;

–        Auflösung des Aufsichtsrats der Bank und Ersetzung der ehemaligen Mitglieder durch drei andere Personen;

–        Beauftragung der neuen Organe damit, „die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass [die Bank] den vermögensrechtlichen Anforderungen auf Dauer gerecht wird“.

15      Am 2. Januar 2019 wurde der Erlass des Beschlusses über die vorläufige Verwaltung gleichzeitig von der EZB und der Bank mittels Pressemitteilung angekündigt. Am selben Tag wurde der Handel mit den ausgegebenen oder garantierten Wertpapieren von der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde, Italien) „bis zum Inkrafttreten des Beschlusses [über die vorläufige Verwaltung] oder bis zur Wiederherstellung eines umfassenden Informationsrahmens für die von der Bank ausgegebenen oder garantierten Wertpapiere, insbesondere infolge neuer Initiativen der für die Beaufsichtigung zuständigen Behörden“, ausgesetzt.

16      Am 5. Januar 2019 ersuchte die Klägerin die EZB gemäß Art. 6 des Beschlusses EZB/2004/3 der EZB vom 4. März 2004 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EZB (ABl. 2004, L 80, S. 42) um eine Kopie des Beschlusses über die vorläufige Verwaltung. Nachdem dieser Antrag abgelehnt worden war, erhob die Klägerin Klage auf Nichtigerklärung der ablehnenden Beschlüsse (Urteil vom 29. Juni 2022, Corneli/EZB, T‑501/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:402).

17      Am 29. März 2019 verlängerte die EZB die Dauer der vorläufigen Verwaltung bis zum 30. September 2019 (im Folgenden: Verlängerungsbeschluss). Der Erlass dieses Beschlusses wurde von der Bank am 30. März 2019 in einer Pressemitteilung bekannt gegeben.

18      Am 30. September 2019 verlängerte die EZB die vorläufige Verwaltung bis zum 31. Dezember 2019 (im Folgenden: zweiter Verlängerungsbeschluss).

19      Am 20. Dezember 2019 verlängerte die EZB die vorläufige Verwaltung bis zum 31. Januar 2020, um den Abschluss der Erhöhung der Eigenmittel zu ermöglichen (im Folgenden: dritter Verlängerungsbeschluss).

 Anträge der Parteien

20      Die Klägerin beantragt,

–        den Beschluss über die vorläufige Verwaltung sowie jede darauf folgende oder spätere Handlung, u. a. einschließlich des Verlängerungsbeschlusses sowie der nachfolgenden Verlängerungsbeschlüsse, für nichtig zu erklären;

–        der EZB und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

21      Die EZB, unterstützt von der Kommission, beantragt,

–        die Klage für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet zu erklären;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

 Zur Zulässigkeit

 Zu den Handlungen, deren Nichtigerklärung beantragt wird

22      Im vorliegenden Fall begehrt die Klägerin die Nichtigerklärung mehrerer Handlungen:

–        in der Klageschrift beantragt sie die Nichtigerklärung des Beschlusses über die vorläufige Verwaltung und „jeder darauf folgenden oder späteren Handlung“, einschließlich des Verlängerungsbeschlusses;

–        in einem Schreiben an die Kanzlei zur Einreichung der Erwiderung führt sie aus, dass der inzwischen erlassene zweite Verlängerungsbeschluss vom Klagegegenstand umfasst sein müsse;

–        in der Erwiderung macht sie geltend, der Klagegegenstand müsse in gleicher Weise den dritten Verlängerungsbeschluss umfassen.

23      Nach Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts muss der Streitgegenstand in der Klageschrift angegeben werden.

24      Im Übrigen müssen Nichtigkeitsklagen gegen bestehende und beschwerende Handlungen gerichtet sein (vgl. Urteil vom 5. Oktober 2017, Ben Ali/Rat, T‑149/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:693, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Im vorliegenden Fall sind die in den vorstehenden Rn. 23 und 24 genannten Regeln zum einen für den Beschluss über die vorläufige Verwaltung und zum anderen für den Verlängerungsbeschluss gewahrt, da diese beiden Beschlüsse in der Klageschrift genannt sind, bei Klageerhebung bestanden und die Klägerin dann beschwerten.

26      Der zweite und der dritte Verlängerungsbeschluss sind hingegen nach Einreichung der Klageschrift erlassen worden und in dieser nicht erwähnt. Zwar hat die Klägerin in der Klageschrift außer dem Beschluss über die vorläufige Verwaltung „jede darauf folgende oder spätere Handlung“ genannt. Eine derart allgemeine Formulierung kann jedoch im Hinblick auf das in Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgestellte und in Art. 76 der Verfahrensordnung aufgegriffene Erfordernis nicht als genügend angesehen werden. Nach diesen Bestimmungen ist der Streitgegenstand in der Klageschrift anzugeben, und dieser ist im Fall einer Nichtigkeitsklage eine Kopie des angefochtenen Rechtsakts beizufügen, so dass der Streitgegenstand zweifelsfrei bestimmt werden kann. Im vorliegenden Fall ist dieses Erfordernis offensichtlich nicht gewahrt, wenn die Klägerin sich darauf beschränkt, in die Klageschrift eine derartige Formulierung aufzunehmen.

27      Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin einen Antrag auf Anpassung der Klageschrift im Sinne von Art. 86 der Verfahrensordnung gestellt hat, der bestimmt:

–        wird ein Rechtsakt, dessen Nichtigerklärung beantragt wird, durch einen anderen Rechtsakt mit demselben Gegenstand ersetzt oder geändert, so kann der Kläger vor Abschluss des mündlichen Verfahrens oder vor der Entscheidung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden, die Klageschrift anpassen, um diesem neuen Umstand Rechnung zu tragen (Abs. 1);

–        in einem solchen Fall muss die Anpassung der Klageschrift mit gesondertem Schriftsatz und innerhalb der vorgesehenen Frist erfolgen (Abs. 2).

28      Formal ist das Erfordernis der Anpassung der Klageschrift mit gesondertem Schriftsatz im vorliegenden Fall nicht gewahrt worden. Zwar hat die Klägerin die Rechtmäßigkeit des zweiten und des dritten Verlängerungsbeschlusses in Frage gestellt. Dies ist jedoch für beide Dokumente zum einen in der Erwiderung und zum anderen in einem Schreiben an die Kanzlei zur Einreichung dieses Schriftstücks geschehen. Die Angabe in einem Schriftstück, das einen anderen Rechtsakt betrifft, kann jedoch im Hinblick auf die geprüfte Bestimmung nicht als Antrag mit „gesondertem Schriftsatz“ angesehen werden.

29      Somit sind die in Art. 86 der Verfahrensordnung festgelegten Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht erfüllt; die Anträge auf Anpassung der Klageschrift sind folglich unzulässig. Daher ist die Klage, wie sich aus den obigen Rn. 25 und 26 ergibt, zulässig, soweit sie gegen den Beschluss über die vorläufige Verwaltung und den Verlängerungsbeschluss (im Folgenden: angefochtene Beschlüsse) gerichtet ist, nicht aber im Hinblick auf „jede darauf folgende oder spätere Handlung“, einschließlich des zweiten und des dritten Verlängerungsbeschlusses.

 Zur Klagebefugnis

30      Unterstützt von der Kommission erhebt die EZB eine Einrede der Unzulässigkeit, die sie darauf stützt, dass die Klägerin nicht über die erforderliche Befugnis verfüge, um gegen die angefochtenen Beschlüsse zu klagen, da sie von diesen Beschlüssen weder unmittelbar noch individuell betroffen sei.

31      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage erforderliche Befugnis in Art. 263 Abs. 4 AEUV geregelt ist, wonach in dem vorliegend in Rede stehenden Fall eine natürliche oder juristische Person von dem Beschluss, den sie in Frage stellen möchte, unmittelbar und individuell betroffen sein muss, wenn dieser Beschluss an eine andere Person gerichtet ist.

32      Um zu einer Entscheidung zu gelangen, sind diese Anforderungen im Hinblick auf die Situation zu prüfen, in der sich die Klägerin befand.

–       Zur unmittelbaren Betroffenheit der Klägerin

33      Nach der Rechtsprechung ist eine Person unmittelbar betroffen (unmittelbare Betroffenheit), wenn die angefochtene Handlung

–        sich unmittelbar auf die Rechtsstellung der Person auswirkt; und kumulativ

–        den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung einer Durchführungsvorschrift ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2019, EZB u. a./Trasta Komercbanka u. a., C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, im Folgenden: Urteil Trasta, EU:C:2019:923, Rn. 103).

34      Wie aus den Akten hervorgeht, ist die Rechtsstellung der Klägerin im vorliegenden Fall durch die angefochtenen Beschlüsse betroffen, ohne dass eine Durchführungshandlung erfolgt wäre, da die Beschlüsse selbst die Rechte ändern, die der Klägerin zur Verfügung stehen, um sich in ihrer Eigenschaft als Aktionärin an der Geschäftsführung der Bank gemäß den geltenden Vorschriften zu beteiligen:

–        so betreffen die Beschlüsse das Recht der Klägerin, als Aktionärin die Leitungs- und Aufsichtsorgane der Bank zu wählen, da ohne diese Beschlüsse Aktionäre, die allein oder zusammen mit anderen einen bestimmten Kapitalanteil halten, eine Liste von Kandidaten für die Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrats und des Aufsichtsrats vorlegen können und jeder Aktionär die Mitglieder dieser beiden Organe gemäß der Satzung der Bank aus den Kandidaten wählen kann (Art. 18 und 26);

–        darüber hinaus betrifft der Beschluss über die vorläufige Verwaltung das Recht der Aktionäre wie der Klägerin, die Hauptversammlung der Aktionäre einzuberufen und die Tagesordnung festzulegen, da die Aktionäre nach Art. 10 Abs. 4 der Satzung der Bank die Abhaltung einer Hauptversammlung herbeiführen und die Tagesordnungspunkte festlegen können, dieses Recht im vorliegenden Fall durch die angefochtenen Beschlüsse ausgesetzt wird und gemäß Art. 70 Abs. 2 des Decreto legislativo n. 385 – Testo unico delle leggi in materia bancaria e creditizia (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 385 – Testo unico der Bestimmungen über das Bank- und Kreditwesen) vom 1. September 1993 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 230 vom 30. September 1993) (im Folgenden: Testo unico bancario oder TUB) nur die vorläufigen Verwalter mit Genehmigung der EZB gemäß Art. 72 Abs. 6 des TUB die Hauptversammlung einberufen und die Tagesordnung festlegen können;

–        schließlich ändern die angefochtenen Beschlüsse die Voraussetzungen, unter denen Aktionäre wie die Klägerin die Haftung von Leitungs- und Aufsichtsorganen geltend machen können, da diese Haftung, die grundsätzlich in Art. 2392 des italienischen Zivilgesetzbuchs geregelt ist, im Fall einer vorläufigen Verwaltung gemäß Art. 72 Abs. 9 des TUB auf Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beschränkt ist, diese Bestimmung außerdem vorsieht, dass zivilrechtliche Ansprüche gegen vorläufige Verwalter nur mit Genehmigung der EZB geltend gemacht werden können, und Art. 72 Abs. 5 des TUB den vorläufigen Verwaltern das Recht überträgt, Haftungsklagen gegen die Mitglieder der aufgelösten Organe der Bank oder den Generaldirektor zu erheben, wodurch der Aktionärsversammlung oder den Aktionären, die zusammen einen bestimmten Anteil am Aktienkapital halten, das Recht genommen wird, eine solche Klage gemäß den Art. 2393 und 2393bis des italienischen Zivilgesetzbuchs zu erheben.

35      Aus diesen Umständen ergibt sich, dass das Rechtsverhältnis zwischen der Bank und ihren Aktionären, zu denen die Klägerin gehört, durch die angefochtenen Beschlüsse geändert worden ist, ohne dass eine Durchführungshandlung erfolgt wäre, und diese Beschlüsse sie somit unmittelbar betreffen.

36      Die EZB und die Kommission treten dieser Schlussfolgerung jedoch entgegen.

37      Erstens machen diese Organe im Wesentlichen geltend, dass die Wirkung der angefochtenen Beschlüsse auf die Stellung der Aktionäre, wenn man sie als erwiesen ansehe, die Ausübung ihrer Rechte nur zeitweise, während des von diesen Beschlüssen erfassten Zeitraums, betroffen habe.

38      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich des gerichtlichen Rechtsschutzes kein Unterschied zwischen den Wirkungen einer Handlung gemacht wird, je nachdem, ob sie das Bestehen eines Rechts oder seine Ausübung betreffen; ein Recht besteht, um ausgeübt zu werden, so dass, selbst wenn die durch die Handlung hervorgerufene Wirkung die Ausübung des Rechts betrifft, dieses Recht in dem beeinträchtigt wird, wozu es geschaffen und verliehen worden ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 25. Juni 2014, Accorinti u. a./EZB, T‑224/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:611, Rn. 89). Somit deutet nichts in der Rechtsprechung darauf hin, dass Situationen, in denen die Rechtsstellung einer Partei für einen begrenzten Zeitraum betroffen wäre, vom gerichtlichen Rechtsschutz auszuschließen sind.

39      Das Vorbringen ist daher zurückzuweisen.

40      Zweitens bringen die EZB und die Kommission vor, der Beschluss über die vorläufige Verwaltung habe nicht die wesentlichsten Rechte der Aktionäre betroffen, da nach den geltenden Vorschriften die für die Bank wichtigen Entscheidungen weiterhin in die Zuständigkeit der Aktionäre fielen.

41      Wie die EZB und die Kommission ausführen, konnten bestimmte Entscheidungen die Bank betreffend unter vorläufiger Verwaltung noch von den Aktionären in der Hauptversammlung erlassen werden. Die Hauptversammlung musste allerdings in diesen Fällen von den vorläufigen Verwaltern einberufen werden, ohne dass die Aktionäre dies selbst vornehmen konnten. Es gibt aber keinen Grund, unter den Aktionärsrechten zwischen einigen wesentlichen und schützenswerten und anderen weniger wichtigen und nicht schützenswerten zu unterscheiden.

42      Das Vorbringen ist daher zurückzuweisen.

43      Drittens machen die EZB und die Kommission geltend, dass die angeblich betroffenen Rechte der Hauptversammlung zustünden und nicht den einzelnen Aktionären. Daraus folge, dass die Rechtsstellung jedes einzelnen Aktionärs von den angefochtenen Beschlüssen nicht auf unmittelbare Weise betroffen werde.

44      Dieses auf die Rechte der Hauptversammlung gestützte Vorbringen der EZB und der Kommission lässt zumindest das Stimmrecht außer Acht, das jedem Aktionär die individuelle Teilnahme an der Wahl der Mitglieder ermöglicht, die in die Leitungs- und Aufsichtsorgane berufen werden. Aus den Akten geht jedoch hervor, dass dieses Recht mit dem Erlass des Beschlusses über die vorläufige Verwaltung von den Aktionären aufgrund der vorläufigen Verwaltung nicht mehr ausgeübt werden konnte, da eine solche Berufung im Rahmen dieser Regelung von der EZB selbst beschlossen werden müsse, ohne dass diese die Aktionäre hätte konsultieren müssen.

45      Zwar erlaubt die Abstimmung durch einen bestimmten Aktionär für sich genommen nicht, die Entscheidung in der Hauptversammlung herbeizuführen, wenn dieser Aktionär keinen hinreichend großen Anteil am Aktienkapital hält. Dieser Umstand nimmt dem Stimmrecht jedoch nicht das Bestehen und damit seinen notwendigen gerichtlichen Rechtsschutz für jeden einzelnen Aktionär.

46      Das Vorbringen ist daher zurückzuweisen.

47      Viertens sind die EZB und die Kommission im Gegensatz zur Auffassung der Klägerin, wonach die Zulässigkeit der Klage im vorliegenden Fall auf den vom Gerichtshof im Urteil Trasta eingenommenen Standpunkt gestützt werden könne, der Ansicht, dass dieses Urteil vielmehr ihre Auffassung bestätige, nämlich dass die Klage unzulässig sei.

48      In diesem Urteil hat sich der Gerichtshof zu den Voraussetzungen geäußert, unter denen die Aktionäre von einem Beschluss im Rahmen der Bankenaufsicht gegenüber einem Institut, an dem sie Anteile halten, als unmittelbar betroffen angesehen werden können, ohne dass er auf die individuelle Betroffenheit der Aktionäre eingegangen ist.

49      In diesem Fall hatte die EZB mit dem Erlass dieses Beschlusses die Zulassung entzogen, die das Institut für die Ausübung seiner Geschäftstätigkeit als Bank benötigte. Nach diesem Entzug war das in Rede stehende Institut nach nationalem Recht von einem nationalen Gericht liquidiert worden. Zur Durchführung der Liquidation hatte dieses Gericht einen Liquidator ernannt. In diesem Fall war der angefochtene Beschluss derjenige, mit dem die EZB dem Institut die Zulassung entzogen hatte.

50      Im Urteil Trasta hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Beschluss über den Entzug die Rechtsstellung des betreffenden Instituts selbst unmittelbar betroffen hat, da das Institut nach Erlass des Beschlusses seine Geschäftstätigkeit als Bank nicht mehr fortsetzen durfte (Rn. 104).

51      Dagegen hatte der Beschluss über den Entzug keine solche Wirkung auf die Aktionäre. Zwar waren der Wert der Aktien oder der Anteil der zur Ausschüttung stehenden Dividenden nach dem Erlass dieses Beschlusses gesunken. Diese Wirkung hat für den Gerichtshof jedoch keinen rechtlichen Charakter aufgewiesen, sondern war für ihn vielmehr wirtschaftlicher Natur. Der Entzug der Zulassung als solcher hat nach Ansicht des Gerichtshofs die Aktionäre nicht daran gehindert, ihre Rechte in der Hauptversammlung weiter auszuüben, z. B. um eine Änderung des Gesellschaftszwecks des Instituts zu beantragen, um es diesem zu ermöglichen, seine Tätigkeit auf einem anderen Gebiet als dem des Bankwesens weiterzuführen.

52      Letztlich geht nach Ansicht des Gerichtshofs aus dem Urteil Trasta hervor, dass nur der Liquidationsbeschluss die Rechtsstellung der Aktionäre betroffen hat, da mit diesem Beschluss die Geschäftsführung des betreffenden Instituts dem Liquidator übertragen wurde, während den Aktionären die Möglichkeit genommen wurde, auf diese Geschäftsführung Einfluss zu nehmen. Dieser Beschluss war jedoch nicht von der EZB, sondern von einem nationalen Gericht in Anwendung des nationalen Rechts erlassen worden, ohne dass eine solche Folge, d. h. die Liquidation, im Unionsrecht im Falle des Entzugs der Zulassung vorgesehen ist. Dieser von der EZB angeordnete Entzug der Zulassung hat als solcher folglich die Rechtsstellung der Aktionäre nicht unmittelbar betroffen. Da es sich bei dem Entzug der Zulassung um die angefochtene Handlung handelte, war die Klage der Aktionäre für unzulässig zu erklären (Rn. 105 bis 115 des Urteils).

53      Somit betraf das Urteil Trasta eine andere Situation, da der Beschluss, der in der ihm zugrunde liegenden Rechtssache angefochten wurde, anders als in der vorliegenden Rechtssache für sich genommen keine Auswirkungen auf die Rechtsstellung der klagenden Aktionäre hatte.

54      Das Vorbringen ist daher zurückzuweisen. Folglich kann die Klägerin im vorliegenden Fall als von den angefochtenen Beschlüssen unmittelbar betroffen angesehen werden.

–       Zur individuellen Betroffenheit der Klägerin

55      Nach Ansicht der EZB und der Kommission ist die Klägerin nicht individuell betroffen (individuelle Betroffenheit), da ihre Rechte von den angefochtenen Beschlüssen in einem Ausmaß betroffen worden seien, das sich nicht von dem Ausmaß der Betroffenheit der übrigen Aktionäre der Bank unterscheide.

56      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV Einzelne, die nicht Adressaten sind, von einer angefochtenen Handlung individuell betroffen sind, wenn diese Handlung sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten (Urteil vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission, 25/62, EU:C:1963:17, S. 238).

57      Die Klägerin hält die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit im vorliegenden Fall für erfüllt, da

–        sie zu einer Gruppe gehöre, deren Mitglieder zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Beschlüsse festgestanden hätten oder feststellbar gewesen seien;

–        zudem habe diese Feststellung auf den Mitgliedern dieser Gruppe eigene Merkmale gestützt werden können (vgl. Urteil vom 23. April 2009, Sahlstedt u. a./Kommission, C‑362/06 P, EU:C:2009:243, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Zum ersten Kriterium ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin, wie sie vorbringt, zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Beschlüsse in ihrer Eigenschaft als Aktionärin feststellbar war. Der Beschluss über die vorläufige Verwaltung wurde nämlich an einem 1. Januar erlassen, d. h. an einem Tag, an dem die am Kapital gehaltenen Anteile nicht gehandelt werden konnten, da die Kreditinstitute geschlossen waren. Wie die EZB eingeräumt hat, wurde der Beschluss über die vorläufige Verwaltung im Übrigen deshalb an diesem Tag erlassen, weil es an ihm unmöglich war, Anteile zu kaufen oder zu verkaufen. Zu diesem Zeitpunkt war die Aktionärsliste geschlossen. Die Identität jedes einzelnen von ihnen war nachprüfbar, wie es die Rechtsprechung verlangt. Beim Verlängerungsbeschluss war die Situation nicht anders. Zwar wurde dieser Beschluss anders als der erste nicht an einem Feiertag erlassen. Gleichwohl stand auch zum Zeitpunkt seines Erlasses die Liste der möglicherweise betroffenen Aktionäre fest.

59      Zum zweiten Kriterium ist in gleicher Weise festzustellen, dass die Aktionäre, darunter die Klägerin, durch den Erlass der angefochtenen Beschlüsse in einer Eigenschaft betroffen waren, die für sie charakteristisch war, nämlich zum einen, Anteile am Kapital der Bank zu halten, und zum anderen, dass sie durch die Wirkung dieser Beschlüsse daran gehindert waren, bestimmte mit diesen Anteilen verbundene Rechte auszuüben.

60      Das Kriterium der eigenen Betroffenheit ist in dem Sinne präzisiert worden, dass es u. a. dann als erfüllt angesehen werden kann, wenn die angefochtene Handlung in Rechte eingreift, die die betroffene Person vor ihrem Erlass erworben hat (vgl. Urteil vom 13. März 2008, Kommission/Infront WM, C‑125/06 P, EU:C:2008:159, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Die Klägerin hatte gerade vor Erlass der angefochtenen Beschlüsse mit ihren Anteilen verbundene Rechte, die, obwohl sie bereits erworben waren, während des erfassten Zeitraums betroffen wurden.

62      Nach Art. 70 Abs. 2 des TUB besteht die erste Wirkung der vorläufigen Verwaltung in der Aussetzung der Funktionen der Hauptversammlung, d. h. der Möglichkeit der Aktionäre, ihren Standpunkt zu den an sie gerichteten Vorschlägen zu äußern.

63      Außerdem gehörte die Klägerin zu den Aktionären, die gegen den der Hauptversammlung am 22. Dezember 2018 vorgelegten Vorschlag stimmten, wobei diese Abstimmung, auch wenn sie nur einen Antrag auf Verschiebung zum Ausdruck brachte, zum Rücktritt von Mitgliedern des Verwaltungsrats und schließlich zur Auflösung des Verwaltungsrats führte, wodurch die Bank in die Lage geriet, die in ihrem Kontext, wie im Beschluss über die vorläufige Verwaltung angegeben, das Eingreifen der EZB auslöste, mit der Aussetzung der Funktionen der Hauptversammlung und damit der Möglichkeit der Aktionäre, durch ihre Stimmabgabe die von der Bank zu verfolgende Strategie zu beeinflussen.

64      Unter diesen Umständen kann davon ausgegangen werden, dass die Anforderungen, die sich aus dem Urteil vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission (25/62, EU:C:1963:17), ergeben, bei der Klägerin erfüllt sind.

65      Die EZB und die Kommission treten dieser Schlussfolgerung entgegen.

66      Erstens verstieße eine Unzulässigkeitserklärung, wenn das Gericht zu dem Schluss gelangen sollte, dass die Nichtigkeitsklage unzulässig sei, nicht gegen die Verpflichtung des Unionsrichters, tatsächlichen oder potenziellen Klägern einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, da die Klägerin in einem solchen Fall vor demselben Gericht noch eine Schadensersatzklage erheben könne, um gegebenenfalls Ersatz für den erlittenen Schaden zu erlangen.

67      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung mit Nichtigkeits- und Schadensersatzklagen Ziele verfolgt werden, die verschieden sind und nicht durcheinandergebracht werden dürfen (Urteil vom 2. Dezember 1971, Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat, 5/71, EU:C:1971:116). Unter diesen Umständen kann der Unionsrichter nicht davon ausgehen, dass eine Klageart (im vorliegenden Fall eine Nichtigkeitsklage) für unzulässig erklärt werden kann, weil eine zweite Klage (z. B. eine Schadensersatzklage) für zulässig erklärt werden könnte.

68      Der Einwand ist daher zurückzuweisen.

69      Zweitens macht die EZB mit Unterstützung der Kommission geltend, dass die Rechtsprechung zu geschlossenen Gruppen auf Einheiten mit einer geringen Anzahl von Mitgliedern beschränkt werden müsse. Dies sei vorliegend nicht gegeben, da die Bank zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Beschlüsse etwa 35 000 Aktionäre gehabt habe. Es liefe dem im Urteil vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission (25/62, EU:C:1963:17), verfolgten Ansatz zuwider, wenn man die Zulässigkeit einer Klage bejahe, die von einer so großen Anzahl von Klägern erhoben werden könne.

70      Wie die EZB und die Kommission vorbringen, betreffen mehrere von der Klägerin angeführte Urteile Gruppen mit einer geringen Anzahl von Mitgliedern, z. B. acht Mitglieder in der Rechtssache, in der das Urteil vom 22. Juni 2006, Belgien und Forum 187/Kommission (C‑182/03 und C‑217/03, EU:C:2006:416, Rn. 63), ergangen ist, sechs in der Rechtssache, die dem Urteil vom 13. März 2008, Kommission/Infront WM (C‑125/06 P, EU:C:2008:159, Rn. 76), zugrunde liegt oder 27 im Urteil vom 1. Juli 1965, Toepfer und Getreide‑Import Gesellschaft/Kommission (106/63 und 107/63, EU:C:1965:65, S. 552).

71      Die in der untersuchten Rechtsprechung verwendeten Begriffe dienen nach Ansicht der Klägerin jedoch nur dazu, das in Rede stehende Kriterium zu erläutern, nämlich das Erfordernis, dass die betroffene Gruppe aus Mitgliedern bestehe, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses über die vorläufige Verwaltung feststellbar gewesen seien, und somit eine Gruppe darstelle, die nicht erweitert werden könne und folglich das Merkmal „beschränkt“, „begrenzt“ oder auch „geschlossen“ aufweise (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2008, Kommission/Infront WM, C‑125/06 P, EU:C:2008:159, Rn. 71, und vom 27. Februar 2014, Stichting Woonpunt u. a./Kommission, C‑132/12 P, EU:C:2014:100, Rn. 59).

72      Jedenfalls lasse die Rechtsprechung Klagen in Fällen zu, die eine große Anzahl von Klägern betreffen könnten. Dies sei bei Klagen von Begünstigten gegen Beschlüsse der Kommission an einen oder mehrere Mitgliedstaaten wegen Regelungen für Beihilfen, die von diesen Staaten gewährt worden seien oder gewährt werden könnten, der Fall. Obwohl diese Art von Beschluss nicht an diese Begünstigten gerichtet sei, könnten sie nach der Rechtsprechung die Rechtmäßigkeit der so erlassenen Beschlüsse anfechten, ungeachtet dessen, dass diese Kläger je nach Art der betreffenden Regelung zahlreich oder sogar sehr zahlreich sein könnten (Urteil vom 28. Juni 2018, Andres [Insolvenz Heitkamp BauHolding]/Kommission, C‑203/16 P, EU:C:2018:505).

73      Die Kommission entgegnet, dass die angefochtenen Handlungen in solchen Rechtssachen betreffend die Begünstigten von Beihilfen einen Verordnungscharakter hätten und nicht individueller Natur seien. Sie beträfen nämlich nationale Maßnahmen, die eine Beihilferegelung für Personengruppen mit bestimmten Merkmalen enthielten.

74      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der von der Kommission eingenommene Standpunkt zum Verordnungscharakter der in den Rechtssachen betreffend die Begünstigten von Beihilfen genannten Handlungen nicht zur Unzulässigkeit der Klage führt, wenn dieser Charakter bestätigt werden sollte. Art. 263 Abs. 4 AEUV gewährleistet nämlich die Zulässigkeit von Klagen gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, wenn die Stellung der Kläger ohne Durchführungsmaßnahme betroffen ist. Die angefochtenen Beschlüsse haben die Rechtsstellung der Aktionäre im vorliegenden Fall betroffen, ohne dass eine wie auch immer geartete Durchführungshandlung erfolgt wäre, indem sie ihnen die Möglichkeit genommen haben, während der vorläufigen Verwaltung der Bank bestimmte mit ihren Anteilen verbundene Rechte auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 28 und 58).

75      Somit kann die Kommission in einem Kontext, in dem eine Handlung die Rechtsstellung der Klägerin betroffen hat, ohne dass eine Durchführungshandlung erfolgt wäre, nicht mit Erfolg die individuelle Betroffenheit der Klägerin mit der Begründung bestreiten, dass diese zu einer Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern gehöre, und geltend machen, dass die Klage unzulässig sei, da sie gegen eine eine solche Gruppe betreffende Handlung gerichtet sei, die Verordnungscharakter habe.

76      Daher ist auch der zweite Einwand zurückzuweisen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Klägerin von den angefochtenen Beschlüssen individuell betroffen ist, und dass sie angesichts der obigen Ausführungen zur unmittelbaren Betroffenheit den Anforderungen genügt, die der Vertrag an die Klagebefugnis stellt.

 Zum Rechtsschutzinteresse

77      Die EZB macht geltend, die Klägerin verfüge nicht über das für die Erhebung der vorliegenden Klage erforderliche Rechtsschutzinteresse.

78      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Klägerin für ihre Klage ein Rechtsschutzinteresse nachweisen muss, indem sie dartut, dass die verbindlichen Rechtswirkungen der angefochtenen Beschlüsse ihre Interessen beeinträchtigen, wobei dies durch den Nachweis einer qualifizierten Änderung ihrer Rechtsstellung durch die Handlung erbracht werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 37).

79      Da die Klägerin am Kapital eines Unternehmens beteiligt ist, muss sich das Rechtsschutzinteresse von dem des Unternehmens unterscheiden, hier von dem der Bank, an der sie Anteile hält. Grundsätzlich hat nämlich nur das Unternehmen ein Klagerecht zur Wahrung seines eigenen Interesses. Entspricht das zu wahrende Interesse dem Interesse des Unternehmens, so kann der Aktionär von der Hauptversammlung oder dem Leitungsorgan verlangen, Klage zu erheben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Juni 2000, Euromin/Rat, T‑597/97, EU:T:2000:157, Rn. 50, und vom 12. November 2015, HSH Investment Holdings Coinvest-C und HSH Investment Holdings FSO/Kommission, T‑499/12, EU:T:2015:840, Rn. 31).

80      Ebenso unterscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwischen Klagen, die von Anteilseignern zur Wahrung ihrer eigenen Rechte erhoben werden, und Klagen, die von ihnen zum Schutz der Rechte des Unternehmens erhoben werden (EGMR, Urteil vom 7. Juli 2020, Albert u. a./Ungarn, CE:ECHR:2020:0707JUD000529414).

81      Im vorliegenden Fall beruft sich die Klägerin zur Begründung ihrer Klage nicht auf die Wirkung, die die angefochtenen Beschlüsse auf die Bank entfalteten, sondern macht die Auswirkung dieser Beschlüsse auf die Rechte, die sie in ihrer Eigenschaft als Aktionärin persönlich innehabe, geltend, insbesondere das Recht, eine Hauptversammlung einzuberufen, um die Erhebung einer Klage vorzuschlagen, oder das Recht, der Tagesordnung einer solchen Versammlung einen entsprechenden Punkt hinzuzufügen.

82      Daher kann nicht mit der EZB davon ausgegangen werden, dass, wenn die angefochtenen Beschlüsse für nichtig erklärt würden, die Wirkung auf die Stellung der Aktionäre die gleiche wäre wie die Wirkung, die eine Nichtigerklärung auf die Stellung der Bank hätte: Handelt die Klägerin im Hinblick auf die Wirkung, die die angefochtenen Beschlüsse auf ihre eigenen Rechte haben, kann sie ein Interesse an der Nichtigerklärung der Beschlüsse geltend machen, das sich nicht mit dem der Bank überschneidet, sondern sich von diesem unterscheidet. Das Erfordernis eines unterschiedlichen Interesses ist daher im vorliegenden Fall erfüllt.

83      Nach alledem kann die Klage der Klägerin für zulässig erklärt werden, soweit sie in ihrem Namen gegen die angefochtenen Beschlüsse erhoben worden ist.

 Zur Begründetheit

84      Die Klägerin stützt ihre Klage auf die folgenden sieben Gründe:

–        einen Verstoß gegen die Regeln der Verhältnismäßigkeit;

–        eine Verletzung der Begründungspflicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör;

–        die Ernennung von Personen als vorläufige Verwalter, die zuvor wichtige Funktionen in der Leitung und der Verwaltung der Bank ausgeübt haben;

–        einen Rechtsfehler bei der Bestimmung der Rechtsgrundlage für den Erlass der angefochtenen Beschlüsse;

–        den Umstand, dass die EZB versucht habe, Probleme in der Unternehmensführung zu lösen, indem sie Personen ernannt habe, die diese Probleme geschaffen hätten;

–        einen Verstoß gegen die die Rechte der Aktionäre betreffenden Vorschriften und gegen die zentralen Grundsätze zum Schutz des Eigentums und der Ersparnisse, der Freiheit der privatwirtschaftlichen Initiative und der Selbstbestimmung des Bürgers bei seinen persönlichen Entscheidungen;

–        die Ungeeignetheit der vorläufigen Verwaltung zur Lösung des festgestellten Problems.

85      Das Gericht hält es für angebracht, die Prüfung mit dem Klagegrund zu beginnen, mit dem ein Rechtsfehler bei der Bestimmung der Rechtsgrundlage für den Erlass der angefochtenen Beschlüsse geltend gemacht wird.

 Zum Klagegrund eines Rechtsfehlers der EZB bei der Bestimmung der für den Erlass der angefochtenen Beschlüsse herangezogenen Rechtsgrundlage

86      Die Klägerin macht geltend, die EZB habe einen Rechtsfehler begangen, indem sie die angefochtenen Beschlüsse auf Art. 70 Abs. 1 des TUB gestützt habe, obwohl diese Bestimmung nicht den Fall betreffe, der zur Rechtfertigung der vorläufigen Verwaltung geltend gemacht werde, nämlich eine „erhebliche Verschlechterung“ der Lage der Bank.

87      Die EZB tritt dem Klagegrund mit Unterstützung der Kommission entgegen.

88      Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b des TUB, der Art. 28 („Entlassung der Geschäftsleitung und des Leitungsorgans“) der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2014, L 173, S. 190) umsetzt, sieht vor:

„1. Die Bank von Italien kann gegenüber einer Bank oder der Muttergesellschaft einer Bankengruppe folgende Maßnahmen ergreifen:

b) die Entlassung der in Art. 69vicies semel genannten Akteure bei schwerwiegenden Verstößen gegen Rechts‑, Verwaltungs- oder Satzungsvorschriften, bei schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Verwaltung oder wenn die Verschlechterung der Lage der Bank bzw. Bankengruppe besonders erheblich ist, sofern die in Buchst. a oder in den Art. 53bis und 67ter vorgesehenen Maßnahmen nicht ausreichen, um Abhilfe zu schaffen.“

89      Art. 70 des TUB, der Art. 29 („Vorläufiger Verwalter“) der Richtlinie 2014/59 umsetzt, bestimmt:

„1. Die Bank von Italien kann die Auflösung von Organen, die Verwaltungs- und Kontrollfunktionen der Banken ausüben, anordnen bei Verstößen oder Unregelmäßigkeiten im Sinne von Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b, falls schwerwiegende Vermögensverluste erwartet werden oder wenn die Auflösung durch begründeten Antrag der Verwaltungsorgane oder der außerordentlichen Hauptversammlung verlangt wird.“

90      Aus diesen Formulierungen geht hervor, dass die beiden Bestimmungen zwei unterschiedliche Fälle betreffen:

–        Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b regelt die „Entlassung“ der Verwaltungs- oder Kontrollorgane der Banken, die nach dem Erlass dieser Maßnahme nach den im nationalen Recht und im Unionsrecht vorgesehenen Verfahren zu ersetzen sind;

–        Art. 70 regelt dagegen die „Auflösung“ (scioglimento) der Verwaltungs- oder Kontrollorgane der Banken. Diese Auflösung hat die Aussetzung der Funktionen der Versammlungen und der anderen Organe sowie die Einsetzung einer Sonderverwaltung zur Folge.

91      Nach dem Wortlaut der Art. 28 und 29 der Richtlinie 2014/59, die mit den oben genannten Bestimmungen umgesetzt werden sollen, können die fraglichen Maßnahmen nicht als gleichwertig oder alternativ angesehen werden, da die erste Maßnahme weniger eingreifend ist als die zweite, die nur erlassen werden kann, wenn die Ersetzung der Verwaltungs- oder Kontrollorgane der Banken nach den Verfahren des nationalen Rechts und des Unionsrechts von der zuständigen Behörde als unzureichend angesehen wird, um Abhilfe zu schaffen.

92      Ferner unterscheiden sich die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b des TUB und von Art. 70 des TUB. So ist die „Entlassung“ der Verwaltungs- oder Kontrollorgane in folgenden Fällen vorgesehen:

–        bei schwerwiegenden Verstößen gegen Rechts‑, Verwaltungs- oder Satzungsvorschriften;

–        bei schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Verwaltung;

–        oder wenn die Verschlechterung der Lage der Bank bzw. Bankengruppe besonders erheblich ist.

93      Dagegen ist die „Auflösung“ der Verwaltungs- oder Kontrollorgane und die Einsetzung einer Sonderverwaltung in diesen Fällen vorgesehen:

–        bei schwerwiegenden Verstößen gegen Rechts‑, Verwaltungs- oder Satzungsvorschriften im Sinne von Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b;

–        bei schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Verwaltung im Sinne von Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b;

–        falls schwerwiegende Vermögensverluste erwartet werden;

–        oder wenn die Auflösung durch begründeten Antrag der Verwaltungsorgane oder der außerordentlichen Hauptversammlung verlangt wird.

94      Aus einer grammatikalischen Auslegung der Formulierung der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b des TUB und von Art. 70 des TUB ergibt sich, dass die Aufzählung der Voraussetzungen abschließend ist und dass diese alternativ sind, wie die Verwendung der alternativen Konjunktion „oder“ zeigt. So sieht die zweite Bestimmung vor, dass die Auflösung der Verwaltungs- oder Kontrollorgane der Banken und die Einsetzung einer Sonderverwaltung in vier Fällen möglich sind, von denen zwei in der ersten Bestimmung vorgesehen sind und die, wie der unmittelbare Verweis auf diese Bestimmung zeigt, genauso auszulegen sind wie im Zusammenhang mit der „Entlassung“. Die Auslegung des Wortlauts zeigt auch, dass zwischen diesen Voraussetzungen keine Rangordnung besteht.

95      Folglich ergibt sich aus Art. 69octiesdecies Abs. 1 Buchst. b des TUB und aus seinem Art. 70, dass die zweite Bestimmung die Auflösung der Verwaltungs- oder Kontrollorgane der Banken und die Einsetzung einer Sonderverwaltung nicht für den Fall vorsieht, dass die „Verschlechterung der Lage der Bank bzw. Bankengruppe besonders erheblich ist“.

96      Im vorliegenden Fall hat die EZB mit dem Beschluss über die vorläufige Verwaltung die „Auflösung der Verwaltungs- und Kontrollorgane [der Bank] und deren Ersetzung durch drei Sonderverwalter und einen Aufsichtsrat“ beschlossen.

97      Zum Erlass dieses Beschlusses hat sie in Nr. 2.1 festgestellt, dass „die in Art. 69octiesdecies und in Art. 70 des Testo unico bancario genannten Voraussetzungen, d. h. eine erhebliche Verschlechterung der Lage [der Bank], erfüllt sind“, bevor sie in Nr. 2.6 zu dem Schluss gekommen ist, dass „die Sonderverwaltung erforderlich und angemessen ist“ und dass „auch die Ausübung der in Art. 70 [des TUB] genannten Befugnis als verhältnismäßig angesehen wird, um der schwerwiegenden Lage[, in der sich die Bank zu diesem Zeitpunkt befand,] gerecht zu werden“.

98      Somit geht aus der Begründung des oben genannten Beschlusses hervor, dass die von der EZB in der vorliegenden Rechtssache ausgeübte Befugnis, die Bank unter vorläufige Verwaltung zu stellen, die in Art. 70 des TUB geregelte Befugnis ist, wobei die Bezugnahme auf Art. 69octiesdecies des TUB diese Feststellung nicht entkräften kann.

99      Ebenso war die EZB im Verlängerungsbeschluss der Ansicht, dass die vorläufige Verwaltung aufgrund der anhaltenden „erheblichen Verschlechterung der Lage des beaufsichtigten Unternehmens“ weiterzuführen sei (Nr. 2.1), und dass „die Ausübung der Befugnis gemäß Art. 70 [des Testo unico bancario]“ den Umständen angemessen sei (Nr. 2.6).

100    Daraus folgt, dass die EZB gegen Art. 70 des TUB verstoßen hat, indem sie sich auf die „erhebliche Verschlechterung der Lage [der Bank]“ gestützt hat, um Verwaltungs- oder Kontrollorgane der Bank aufzulösen, eine vorläufige Verwaltung einzusetzen und sie während des Zeitraums, auf den sich der Verlängerungsbeschluss bezieht, aufrechtzuerhalten, obwohl diese Voraussetzung in dieser Bestimmung nicht vorgesehen ist.

101    Die EZB und die Kommission treten dieser Schlussfolgerung entgegen.

102    Erstens sei die vorläufige Verwaltung in Art. 29 der Richtlinie 2014/59 vorgesehen. Art. 70 des TUB sei gemäß dem Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im Licht dieser Bestimmung zu lesen, deren Umsetzung er verfolge. Aus dieser Lesart ergebe sich, dass eine vorläufige Verwaltung nach Art. 70 auch dann zulässig sei, wenn die betreffende Situation, nämlich die erhebliche Verschlechterung der Lage der Bank, in dieser Bestimmung nicht ausdrücklich genannt werde.

103    Nach ständiger Rechtsprechung müssen die nationalen Gerichte bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der in Rede stehenden Richtlinie auslegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen. Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem System des AEU-Vertrags immanent, da den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden (vgl. Urteile vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 24, sowie vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. auch entsprechend Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 55, 57 und 58). Das Gericht ist ebenso zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts im Licht einer Richtlinie verpflichtet, wenn es, wie im vorliegenden Rechtsstreit, aufgrund der einschlägigen Bestimmungen nationales Recht anzuwenden hat.

104    Da die Auslegung einer Bestimmung des nationalen Rechts in Rede steht, ist außerdem darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bedeutung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte zu beurteilen ist (vgl. Urteil vom 24. April 2018, Caisse régionale de crédit agricole mutuel Alpes Provence u. a./EZB, T‑133/16 bis T‑136/16, EU:T:2018:219, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).

105    Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts unterliegt jedoch bestimmten Schranken. Die Verpflichtung des Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird nämlich durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze begrenzt und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteile vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 100, und vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 25).

106    Daraus folgt, dass die soeben angesprochene Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht als Grundlage für eine Auslegung dienen darf, die den in der nationalen Bestimmung zur Umsetzung einer Richtlinie verwendeten Begriffen zuwiderläuft.

107    Zu einem solchen Ergebnis würde aber die Anwendung dieser Auslegungsmethode im vorliegenden Fall führen. Die ergriffene Maßnahme ist nämlich die in Art. 70 des TUB vorgesehene; folglich müssen die Voraussetzungen für die Anwendung dieses Artikels erfüllt sein. Die Bezugnahme auf Art. 69octiesdecies des TUB im Beschluss über die vorläufige Verwaltung, die durch den Verweis auf diesen Artikel für zwei der in Art. 70 des TUB genannten Anwendungsvoraussetzungen erklärt werden kann, kann weder die für den Erlass der genannten Maßnahmen geltenden Vorschriften noch die Voraussetzungen für ihre Anwendung ändern.

108    Die „Verschlechterung der Lage der Bank“ ist kein allgemeiner Ausdruck, sondern eine in einem Gesetzestext festgelegte Voraussetzung, die sich auf eine abschließende Aufzählung von vier alternativen Voraussetzungen bezieht. Diese ausdrücklich im Gesetz festgelegten Voraussetzungen für den Erlass einer so eingreifenden Maßnahme – der am stärksten eingreifenden Maßnahme im Frühinterventionssystem – wie derjenigen, eine Bank unter vorläufige Verwaltung zu stellen, sind einzuhalten, und die für den Erlass der am wenigsten eingreifenden Maßnahme vorgesehenen Voraussetzungen können ohne konkrete Bezugnahme im Wortlaut nicht als genügend angesehen werden, um den Erlass der am stärksten eingreifenden Maßnahme zu rechtfertigen.

109    Das Vorbringen ist daher zurückzuweisen.

110    Zweitens haben die EZB und die Kommission in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, die EZB sei verpflichtet, wenn sie als nach den Vorschriften im Bankenwesen zuständige Behörde tätig werde, außer dem nationalen Recht sämtliche im Unionsrecht enthaltenen Normen anzuwenden. Sie sei daher verpflichtet, die in der Richtlinie 2014/59 enthaltene Bestimmung anzuwenden, die im Fall einer erheblichen Verschlechterung der Lage des betreffenden Instituts die vorläufige Verwaltung vorsehe.

111    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich diese beiden Organe, wie sie anführen, bei ihren Handlungen an das Unionsrecht halten müssen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem Gebot rechtmäßigen Handelns, das die Organe verpflichtet, die für sie geltenden Vorschriften zu beachten, wobei sie der Kontrolle des Unionsrichters unterliegen. Für die Aufsicht kommt diese Verpflichtung, wie die betroffenen Organe vorgebracht haben, in Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die EZB (ABl. 2013, L 287, S. 63) speziell zum Ausdruck, der u. a. vorsieht, dass „[z]ur Wahrnehmung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben und mit dem Ziel, hohe Aufsichtsstandards zu gewährleisten, die EZB das einschlägige Unionsrecht an[wendet], und wenn dieses Unionsrecht aus Richtlinien besteht, sie die nationalen Rechtsvorschriften an[wendet], mit denen diese Richtlinien umgesetzt wurden“.

112    Aus dieser Bestimmung ergibt sich jedoch, dass, wenn das Unionsrecht aus Richtlinien besteht, die nationalen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, mit denen diese Richtlinien umgesetzt wurden. Die Bestimmung kann nicht so gelesen werden, dass sie zwei verschiedene Quellen von Verpflichtungen enthält, nämlich das gesamte Unionsrecht einschließlich der Richtlinien, dem die nationalen Rechtsvorschriften, mit denen diese Richtlinien umgesetzt wurden, hinzuzufügen wären. Eine solche Auslegung würde nämlich voraussetzen, dass sich die nationalen Bestimmungen von den Richtlinien unterschieden und dass in einem solchen Fall für die EZB beide Arten von Texten als verschiedene Rechtsquellen verbindlich wären. Einer solchen Auslegung kann nicht gefolgt werden, da sie Art. 288 AEUV zuwiderläuft, der vorsieht, dass „[d]ie Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich [ist], jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel [überlässt]“. Im Übrigen kann nach ständiger Rechtsprechung eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist (Urteil vom 26. Februar 1986, Marshall, 152/84, EU:C:1986:84, Rn. 48; vgl. auch Urteil vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

113    Somit kann der Fehler der EZB bei der Anwendung von Art. 70 des TUB nicht durch eine freie Auslegung des Wortlauts geheilt werden, die es ermöglichen würde, die Voraussetzungen für die Anwendung von Bestimmungen, die in der Richtlinie 2014/59 und im nationalen Recht unterschiedlich ausgestaltet sind, umzugestalten.

114    Dem Klagegrund ist daher stattzugeben und die angefochtenen Beschlüsse sind folglich aufzuheben, ohne dass die übrigen Klagegründe geprüft zu werden brauchen.

 Kosten

115    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

116    Da die EZB unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Klägerin ihre Kosten und die Kosten der Klägerin aufzuerlegen.

117    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. In Anwendung dieser Bestimmung trägt die Kommission ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss ECBSSM2019ITCAR11 der EZB vom 1. Januar 2019, mit dem die Banca Carige SpA unter vorläufige Verwaltung gestellt wurde, sowie der Beschluss ECBSSM2019ITCAR13 der EZB vom 29. März 2019, mit dem die Dauer der vorläufigen Verwaltung bis zum 30. September 2019 verlängert wurde, werden für nichtig erklärt.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Die Europäische Zentralbank (EZB) trägt ihre Kosten und die Kosten von Frau Francesca Corneli.

4.      Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.

Papasavvas

Gervasoni

Madise

Nihoul

 

      Martín y Pérez de Nanclares

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. Oktober 2022.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.