Language of document : ECLI:EU:T:2021:643

URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)

6. Oktober 2021(*)(1)

„Unionsmarke – Unionswortmarke Muresko – Ältere nationale Wortmarken Muresko – Inanspruchnahme des Zeitrangs der älteren nationalen Marken nach der Eintragung der Unionsmarke – Art. 39 und 40 der Verordnung (EU) 2017/1001 – Ablauf der Eintragung der älteren nationalen Marken vor dem Tag der Inanspruchnahme“

In der Rechtssache T‑32/21,

Daw SE mit Sitz in Ober-Ramstadt (Deutschland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt A. Haberl,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch E. Markakis als Bevollmächtigten,

Beklagter,

betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Vierten Beschwerdekammer des EUIPO vom 25. November 2020 (Sache R 1686/2020‑4) über eine Inanspruchnahme des Zeitrangs identischer älterer nationaler Marken für die Unionswortmarke Muresko Nr. 15 465 719

erlässt

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tomljenović, des Richters F. Schalin und der Richterin P. Škvařilová-Pelzl (Berichterstatterin),

Kanzler: E. Coulon,

aufgrund der am 22. Januar 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

aufgrund der am 30. März 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung,

aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach der Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und des darauf gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts ergangenen Beschlusses, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Am 23. Mai 2016 meldete die Klägerin, Daw SE, nach der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke (ABl. 2009, L 78, S. 1) in geänderter Fassung (ersetzt durch die Verordnung [EU] 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke [ABl. 2017, L 154, S. 1]) beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) eine Unionsmarke an. Bei der angemeldeten Marke handelt es sich um das Wortzeichen Muresko.

2        Die Anmeldung wurde im Blatt für Unionsmarken Nr. 102/2016 vom 3. Juni 2016 veröffentlicht, und das entsprechende Wortzeichen wurde am 12. September 2016 unter der Nr. 15 465 719 in das Unionsmarkenregister eingetragen.

3        Am 3. Februar 2020 beantragte die Klägerin beim EUIPO u. a. gemäß Art. 40 der Verordnung 2017/1001 die Inanspruchnahme des Zeitrangs einer identischen polnischen Marke, eingetragen unter der Nr. 108 756 mit Anmeldetag 4. April 1996 (im Folgenden: polnische Marke), und einer identischen deutschen Marke, eingetragen unter der Nr. 981 144 mit Anmeldetag 24. Februar 1978 (im Folgenden: deutsche Marke) für die in Rede stehende Unionsmarke (im Folgenden: streitige Inanspruchnahme).


4        Mit Schreiben vom 10. Februar 2020 teilte die Prüferin der Registerabteilung des EUIPO der Klägerin mit, dass die streitige Inanspruchnahme Mängel aufweise, weil die Eintragung der polnischen und der deutschen Marke zum Zeitpunkt dieser Inanspruchnahme abgelaufen gewesen sei. Die Eintragung der polnischen Marke sei nach 2006 nicht verlängert worden und am 4. April 2006 abgelaufen, und die deutsche Marke sei am 1. März 2008 gelöscht worden. Die Prüferin forderte die Klägerin auf, ihr Beweise für die Verlängerung der polnischen und der deutschen Marke vorzulegen, damit die streitige Inanspruchnahme bearbeitet werden könne.

5        Mit ihrer Stellungnahme vom 10. März 2020 stellte die Klägerin nicht in Abrede, dass die Eintragung der polnischen und der deutschen Marke zum Zeitpunkt der Beantragung der streitigen Inanspruchnahme abgelaufen war, berief sich jedoch auf die Zulassung der Inanspruchnahme des Zeitrangs dieser beiden Marken für eine andere Unionswortmarke, die am 29. Juli 1996 angemeldet und am 14. Juni 1999 unter der Nr. 340 810 eingetragen worden sei.

6        Mit Entscheidung vom 30. Juni 2020 wies die Prüferin die streitige Inanspruchnahme zurück, weil die Eintragung der polnischen und der deutschen Marke zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Zeitrangs abgelaufen gewesen sei. Dies gelte unabhängig davon, ob zuvor die Inanspruchnahme des Zeitrangs dieser Marken für eine andere Unionsmarke zugelassen worden sei.

7        Am 17. August 2020 legte die Klägerin gegen diese Entscheidung der Prüferin Beschwerde ein.

8        Mit Entscheidung vom 25. November 2020 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Vierte Beschwerdekammer des EUIPO die Beschwerde zurück und bestätigte damit die Entscheidung der Prüferin.

 Anträge der Parteien

9        Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–        das EUIPO anzuweisen, für die in Rede stehende Unionsmarke die streitige Inanspruchnahme einzutragen.

–        dem EUIPO die Kosten aufzuerlegen.


10      Das EUIPO beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

11      Die Klägerin bestreitet nicht, dass – wie von der Prüferin in ihrem Mängelbescheid vom 10. Februar 2020 festgestellt – die Eintragung der polnischen und der deutschen Marke abgelaufen war, als sie die streitige Inanspruchnahme beim EUIPO beantragte.

12      Sie stützt ihre Klage im Wesentlichen auf einen einzigen Klagegrund, nämlich auf einen Rechtsfehler der Beschwerdekammer, weil diese Art. 40 in Verbindung mit Art. 39 der Verordnung 2017/1001 in Rn. 12 der angefochtenen Entscheidung zu eng dahin ausgelegt habe, dass die nationale Marke zum Zeitpunkt der Beantragung der Inanspruchnahme des Zeitrangs eingetragen und in Kraft sein müsse. Aufgrund dieser fehlerhaften Auslegung habe die Beschwerdekammer die Beschwerde zu Unrecht zurückgewiesen anstatt die Entscheidung, mit der die Prüferin die streitige Inanspruchnahme abgelehnt habe, aufzuheben und die Inanspruchnahme für die in Rede stehende Unionsmarke einzutragen.

13      Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, dass der Inhaber der identischen älteren nationalen Marke, deren Eintragung abgelaufen sei, ihren Zeitrang stets zugunsten jeder später angemeldeten oder eingetragenen Unionsmarke in Anspruch nehmen könne, wenn zum Zeitpunkt der Beantragung der Inanspruchnahme bereits eine auf dieselbe nationale Marke gestützte Inanspruchnahme für eine andere Unionsmarke zugelassen gewesen sei.

14      Insoweit verweist die Klägerin zunächst auf den zwölften Erwägungsgrund der Verordnung 2017/1001, in dem das mit dieser Verordnung verfolgte Ziel, die von den Inhabern älterer Marken erworbenen Rechte zu erhalten, zum Ausdruck komme.

15      Weiter macht sie geltend, dass durch das in den Art. 39 und 40 der Verordnung 2017/1001 genannte Erfordernis einer Eintragung der identischen älteren nationalen Marke lediglich verhindert werden solle, dass die Inanspruchnahme des Zeitrangs auf eine bloße Benutzungsmarke gestützt werde. Daher genüge es, wenn die identische ältere nationale Marke irgendwann in der Vergangenheit eingetragen gewesen sei und aufgrund der Eintragung die Inanspruchnahme des Zeitrangs dieser nationalen Marke für eine identische Unionsmarke zugelassen worden sei, damit dem Inhaber der nationalen Marke gemäß Art. 39 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 selbst nach deren Ablauf in Bezug auf jede andere Unionsmarke dieselben Rechte zustünden, die er gehabt hätte, wenn die nationale Marke weiterhin eingetragen gewesen wäre.

16      Die Klägerin führt ferner aus, dass die den Zeitrang betreffenden Regelungen in der Verordnung 2017/1001 auch aus Gründen der praktischen Wirksamkeit nicht eng ausgelegt werden dürften, da den Inhabern identischer nationaler und Unionsmarken die Möglichkeit zu einer Verschlankung ihres Markenportfolios gegeben werden solle, indem ihnen für Unionsmarken die gleichen Rechte eingeräumt würden wie für die nationalen Marken, die sie dann ablaufen lassen könnten. Diese Regelungen gewährten den Inhabern identischer nationaler und Unionsmarken eine hohe Flexibilität bei der Verwaltung, weil, wenn die Inanspruchnahme des Zeitrangs der nationalen Marken für eine identische Unionsmarke einmal zugelassen worden sei, das Recht der Berufung auf den Zeitrang sich nicht verbrauche und ihnen weiterhin für eine Vielzahl von Unionsmarken bzw. gemäß Art. 139 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 für später angemeldete oder eingetragene nationale Marken zustehe. Es gehe nicht um eine Übertragung des Zeitrangs einer Unionsmarke auf alle anderen, sondern darum, das Recht auf Inanspruchnahme des Zeitrangs der identischen älteren nationalen Marke zugunsten aller dieser Marken selbst dann zu erhalten, wenn die Eintragung der nationalen Marke inzwischen abgelaufen sei. In Rn. 30 des Urteils vom 19. April 2018, Peek & Cloppenburg (C‑148/17, EU:C:2018:271), habe der Gerichtshof bestätigt, dass der Inhaber einer identischen älteren nationalen Marke, wenn die Inanspruchnahme ihres Zeitrangs einmal zugelassen worden sei, weiter über dieselben Rechte verfügen müsse, die ihm zugestanden hätten, wenn diese Marke weiterhin eingetragen gewesen wäre.

17      Im vorliegenden Fall ist die Klägerin der Auffassung, sie könne, weil die Inanspruchnahme des Zeitrangs der deutschen und der polnischen Marke für die unter der Nr. 340 810 eingetragenen Unionsmarke zugelassen worden sei, diesen Zeitrang weiterhin für die in Rede stehende Unionsmarke in Anspruch nehmen, obwohl die Eintragung dieser nationalen Marken inzwischen abgelaufen sei.

18      Das EUIPO tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und beantragt, die Klage als offensichtlich unbegründet abzuweisen.

19      Der einzige von der Klägerin vorgebrachte Klagegrund wirft eine Frage auf, die die Auslegung von Art. 40 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit Art. 39 dieser Verordnung betrifft, auf den die erstgenannte Bestimmung verweist. Zu klären ist demnach, ob der Inhaber einer Unionsmarke, für die die Inanspruchnahme des Zeitrangs einer identischen älteren nationalen Marke zugelassen wurde, sich zugunsten einer anderen Unionsmarke, für die der Zeitrang der älteren nationalen Marke nach dem Ablauf ihrer Eintragung beantragt wurde, auf die Fiktion der Aufrechterhaltung der Eintragung der älteren nationalen Marke berufen kann.

20      Art. 40 („Inanspruchnahme des Zeitrangs einer nationalen Marke nach Eintragung einer Unionsmarke“) der Verordnung 2017/1001 bestimmt:

„(1)      Der Inhaber einer Unionsmarke, der Inhaber einer in einem Mitgliedstaat … registrierten identischen älteren Marke für Waren oder Dienstleistungen ist, die mit denen identisch sind, für welche die ältere Marke eingetragen ist, oder die von diesen Waren oder Dienstleistungen umfasst werden, kann den Zeitrang der älteren Marke in Bezug auf den Mitgliedstaat, in dem oder für den sie eingetragen ist, in Anspruch nehmen.

(2)      Anträge auf Inanspruchnahme des Zeitrangs gemäß Absatz 1 dieses Artikels müssen die Nummer der Eintragung der Unionsmarke, den Namen und die Anschrift ihres Inhabers, Angaben zu dem Mitgliedstaat oder den Mitgliedstaaten, in dem/denen oder für den/die die ältere Marke eingetragen ist, zur Nummer und zum Anmeldetag der maßgeblichen Eintragung, zu den Waren und Dienstleistungen, für die die Marke eingetragen ist, und zu jenen, für die der Zeitrang in Anspruch genommen wird, sowie die unterstützenden Unterlagen gemäß den nach Artikel 39 Absatz 6 angenommenen Vorschriften enthalten.

(3)      Sind die Erfordernisse für die Inanspruchnahme des Zeitrangs nicht erfüllt, so teilt das [EUIPO] dem Inhaber der Unionsmarke den Mangel mit. Wird der Mangel nicht innerhalb einer vom [EUIPO] festgesetzten Frist beseitigt, so weist es den Antrag zurück.

(4)      Es gilt Artikel 39 Absätze 3, 4, 5 und 7.“

21      In Art. 39 („Inanspruchnahme des Zeitrangs einer nationalen Marke bei der Anmeldung einer Unionsmarke oder nach der Einreichung der Anmeldung“) der Verordnung 2017/1001 heißt es u. a.:

„…

(3)      Der Zeitrang hat nach dieser Verordnung die alleinige Wirkung, dass dem Inhaber der Unionsmarke, falls er auf die ältere Marke verzichtet oder sie erlöschen lässt, weiter dieselben Rechte zugestanden werden, die er gehabt hätte, wenn die ältere Marke weiterhin eingetragen gewesen wäre.

(4)      Der für die Unionsmarke in Anspruch genommene Zeitrang erlischt, wenn die ältere Marke, deren Zeitrang in Anspruch genommen worden ist, für nichtig oder für verfallen erklärt wird. Wird die ältere Marke für verfallen erklärt, erlischt der Zeitrang, sofern der Verfall vor dem Anmeldetag oder dem Prioritätstag der Unionsmarke eintritt.

…“

22      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (Urteile vom 11. Juli 2018, COBRA, C‑192/17, EU:C:2018:554, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Januar 2020, Kommission/Italien [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑122/18, EU:C:2020:41, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Ausnahmebestimmungen sind nach der Rechtsprechung eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 22. Januar 2020, Pensionsversicherungsanstalt [Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nach Erreichen des Pensionsantrittsalters], C‑32/19, EU:C:2020:25, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Angesichts der Konsequenzen, die sich aus der Inanspruchnahme des Zeitrangs einer identischen älteren nationalen Marke gemäß den Art. 39 und 40 der Verordnung 2017/1001 ergeben und die von dem Grundsatz abweichen, dass der Inhaber einer solchen Marke im Fall der Nichtverlängerung ihrer Eintragung seine durch die Marke verliehenen Rechte verliert, sind die Voraussetzungen, unter denen eine solche Inanspruchnahme zugelassen werden kann, restriktiv auszulegen (vgl. in diesem Sinne zur Voraussetzung der Identität der betroffenen Marken Urteil vom 19. Januar 2012, Shang/HABM [justing], T‑103/11, EU:T:2012:19, Rn. 17).

24      Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass es sich nach dem Wortlaut von Art. 40 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 bei der identischen älteren nationalen Marke, deren Zeitrang der Inhaber der Unionsmarke in Anspruch nimmt, je nach Sprachfassung um eine in einem Mitgliedstaat „eingetragene“ Marke oder um eine Marke handeln muss, die in einem Mitgliedstaat „eingetragen ist“.

25      Diese Formulierung im Indikativ Präsens macht deutlich, dass die identische ältere nationale Marke, deren Zeitrang zugunsten der Unionsmarke in Anspruch genommen wird, zu dem Zeitpunkt eingetragen sein muss, zu dem die Inanspruchnahme des Zeitrangs beantragt wird.

26      Somit ist das Vorbringen der Klägerin unbegründet, dass Art. 40 in Verbindung mit Art. 39 der Verordnung 2017/1001 sich auf das Erfordernis beschränke, dass die ältere nationale Marke irgendwann in der Vergangenheit eingetragen gewesen sein müsse, um zu verhindern, dass die Inanspruchnahme des Zeitrangs auf eine bloße Benutzungsmarke gestützt werden könne.

27      Zweitens wird diese wörtliche Auslegung von Art. 40 der Verordnung 2017/1001 durch den Kontext bestätigt, in dem dieser Artikel steht. Denn dieser Artikel ist gemäß seinem Abs. 4 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 3 der Verordnung anzuwenden. Nach der letztgenannten Bestimmung in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung hat die Inanspruchnahme des Zeitrangs einer identischen älteren nationalen Marke lediglich zur Folge, dass der Inhaber der Unionsmarke, dem die Inanspruchnahme des Zeitrangs der älteren nationalen Marke bewilligt wurde, falls er auf die ältere Marke verzichtet oder sie erlöschen lässt, weiter dieselben Rechte geltend machen kann, die er gehabt hätte, wenn die ältere Marke weiterhin eingetragen gewesen wäre (Urteile vom 19. Januar 2012, justing, T‑103/11, EU:T:2012:19, Rn. 17, und vom 20. Februar 2013, Langguth Erben/HABM [MEDINET], T‑378/11, EU:T:2013:83, Rn. 28).


28      Das sich aus Art. 40 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 ergebende System der Inanspruchnahme des Zeitrangs einer nationalen Marke nach der Eintragung einer Unionsmarke beruht somit auf dem Grundsatz, dass der Inhaber der älteren nationalen Marke nicht auf diese verzichten bzw. sie nicht erlöschen lassen wird, bevor die von ihm beantragte Inanspruchnahme ihres Zeitrangs für die Unionsmarke zugelassen wurde, so dass die Eintragung der identischen älteren nationalen Marke erst recht nicht bereits zum Zeitpunkt der Beantragung der Inanspruchnahme abgelaufen sein darf.

29      Diese Auslegung von Art. 40 der Verordnung 2017/1001 steht im Einklang mit seiner praktischen Anwendung durch das EUIPO, die in Teil B Kapitel 2 Abschnitt 13.2 der Prüfungsrichtlinien des EUIPO beschrieben ist, wonach dieses „prüfen [muss], ob die ältere Marke zum Zeitpunkt der Einreichung der Unionsmarkenanmeldung eingetragen war und ob die ältere Eintragung zum Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs nicht erloschen war“, und wonach, „[w]enn die ältere Eintragung zum Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs erloschen war, … der Zeitrang nicht in Anspruch genommen werden [kann], auch wenn das relevante nationale Markenrecht eine sechsmonatige ‚Nachfrist‘ für die Verlängerung vorsieht“.

30      Drittens ist diese Auslegung von Art. 40 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 mit dem Zweck des Systems der Inanspruchnahme des Zeitrangs einer nationalen Marke nach der Eintragung einer Unionsmarke vereinbar, der darin besteht, den Inhabern identischer nationaler und Unionsmarken eine Verschlankung ihres Markenportfolios unter Erhaltung ihrer älteren Rechte zu ermöglichen. Denn wenn die Inanspruchnahme des Zeitrangs der identischen älteren nationalen Marke für die Unionsmarke einmal zugelassen wurde, kann der Inhaber die erste Marke ablaufen lassen und dennoch für die zweite Marke weiter dieselben Rechte geltend machen, die er gehabt hätte, wenn die erste Marke weiterhin eingetragen wäre (siehe oben, Rn. 27).

31      Gemäß diesem Zweck und entsprechend dem Wortlaut von Art. 39 Abs. 3 und 4 der Verordnung 2017/1001, der eng auszulegen ist (vgl. oben Rn. 23), findet diese Vermutung, dass die Rechte aus der identischen älteren nationalen Marke erhalten bleiben, entgegen der Auffassung der Klägerin keine allgemeine Anwendung, sondern gilt nur für die identische Unionsmarke und für die identischen Waren oder Dienstleistungen, für die die Inanspruchnahme des Zeitrangs zugelassen wurde, und nur, wenn die Eintragung der identischen älteren nationalen Marke nicht verlängert wurde.

32      So ist ausdrücklich vorgesehen, dass diese Vermutung keine Anwendung findet, wenn die betreffende nationale Marke vor dem Anmeldetag oder dem Prioritätstag der Unionsmarke für nichtig oder für verfallen erklärt wird.


33      Außerdem wird nach der Rechtsprechung durch diese Vermutung nicht der Fortbestand der gelöschten älteren nationalen Marke als solche ermöglicht, und eine etwaige Benutzung des in Rede stehenden Zeichens nach der Löschung dieser Marke ist in einem solchen Fall als Benutzung der Unionsmarke und nicht der gelöschten älteren nationalen Marke anzusehen (Urteil vom 19. April 2018, Peek & Cloppenburg, C‑148/17, EU:C:2018:271, Rn. 30). Dies bestätigt, dass eine zugelassene Inanspruchnahme des Zeitrangs nicht zur Folge hat, dass die betreffende ältere nationale Marke oder auch nur bestimmte mit ihr verbundene Rechte unabhängig von der Unionsmarke, für die die Inanspruchnahme des Zeitrangs zugelassen wurde, erhalten bleiben.

34      Diese enge Auslegung des Anwendungsbereichs der Vermutung, dass die Rechte aus der identischen älteren nationalen Marke erhalten bleiben, wird nicht in Frage gestellt, wenn Art. 40 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung 2017/1001 gelesen wird, in dem das mit der Verordnung verfolgte Ziel zum Ausdruck kommt, die von den Inhabern älterer Marken erworbenen Rechte zu erhalten.

35      Zum einen können die Erwägungsgründe eines Rechtsakts der Union zwar dessen Inhalt präzisieren, aber sie erlauben es nicht, von seinen Regelungen abzuweichen (Urteil vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 76). So erlaubt der Inhalt des zwölften Erwägungsgrundes nicht, von einem in Art. 40 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 vorgesehenen Erfordernis abzuweichen, damit die Inanspruchnahme des Zeitrangs einer identischen älteren nationalen Marke zugelassen werden kann. Zum anderen liegt jedenfalls diesem Erwägungsgrund selbst, der auf den „Prioritätsgrundsatz, dem zufolge eine eingetragene ältere Marke Vorrang vor einer später eingetragenen Marke genießt,“ verweist, der Gedanke zugrunde, dass die vom Inhaber einer älteren Marke erworbenen Rechte nur insoweit Vorrang gegenüber den Rechten aus den später eingetragenen Marken genießen können, als auch die ältere Marke eingetragen ist. Somit steht der Inhalt dieses Erwägungsgrundes im Einklang mit einer Auslegung von Art. 40 der Verordnung 2007/1001, nach der die identische ältere nationale Marke, deren Zeitrang in Anspruch genommen wird, zum Zeitpunkt der Beantragung der Inanspruchnahme des Zeitrangs eingetragen sein muss.

36      Diese enge Auslegung des Anwendungsbereichs der Vermutung wird auch nicht durch Rn. 30 des Urteils vom 19. April 2018, Peek & Cloppenburg (C‑148/17, EU:C:2018:271), in Frage gestellt, auf die die Klägerin Bezug nimmt. Tatsächlich stellt der Gerichtshof darin nicht fest, dass der Inhaber der Unionsmarke, für die die Inanspruchnahme des Zeitrangs einer identischen älteren nationalen Marke zugelassen wurde, sich zugunsten einer anderen Unionsmarke auf die Fiktion der Aufrechterhaltung der Eintragung der älteren nationalen Marke berufen kann, sondern bestätigt vielmehr, dass diese Fiktion nur begrenzte Geltung hat (siehe oben, Rn. 33).

37      Schließlich wird diese Auslegung auch nicht durch Art. 139 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 in Frage gestellt, wonach „[d]ie nationale Anmeldung, die aus der Umwandlung einer Anmeldung oder einer Unionsmarke hervorgeht, … in dem betreffenden Mitgliedstaat den Anmeldetag oder den Prioritätstag der Anmeldung oder der Unionsmarke sowie gegebenenfalls den nach Artikel 39 oder Artikel 40 beanspruchten Zeitrang einer Marke dieses Staates [genießt]“. Die Wahrung der Rechte aus der identischen älteren nationalen Marke gilt auch hier nur zugunsten der nationalen Anmeldung, die aus der Umwandlung der Unionsmarke hervorgeht, für die die Inanspruchnahme des Zeitrangs zugelassen wurde.

38      Somit kann die Klägerin nicht mit Erfolg geltend machen, dass Art. 40 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 erlaube, die Vermutung, wonach die Rechte aus der identischen älteren nationalen Marke nach deren Ablauf erhalten bleiben, zugunsten einer anderen Unionsmarke als derjenigen, für die die Inanspruchnahme des Zeitrangs zugelassen wurde, anzuwenden, um darauf etwa eine Inanspruchnahme des Zeitrangs der älteren nationalen Marke für diese andere Unionsmarke zu stützen.

39      Allein die Tatsache, dass die Klägerin sich für die unter der Nr. 340 810 eingetragene Unionsmarke auf die Vermutung berufen kann, dass die Rechte aus der polnischen und der deutschen Marke selbst nach dem Ablauf ihrer Eintragung erhalten bleiben, bedeutet daher nicht, dass sie sich auf dieselbe Vermutung auch berufen kann, um darauf die streitige Inanspruchnahme für die in Rede stehende Unionsmarke zu stützen. Die insoweit von ihr angeführten älteren Rechte gelten nämlich grundsätzlich nur für die unter der Nr. 340 810 eingetragene Unionsmarke, für die die Inanspruchnahme des Zeitrangs der polnischen und der deutschen Marke zugelassen wurde.

40      Nach alledem hat die Beschwerdekammer folglich keinen Rechtsfehler begangen, als sie in Rn. 12 der angefochtenen Entscheidung Art. 40 in Verbindung mit Art. 39 der Verordnung 2017/1001 dahin ausgelegt hat, dass die identische ältere nationale Marke, deren Zeitrang zugunsten einer später eingetragenen Unionsmarke in Anspruch genommen wird, zum Zeitpunkt der Beantragung der Inanspruchnahme des Zeitrangs selbst eingetragen und in Kraft sein muss.

41      Da somit der einzige Klagegrund, auf den die vorliegende Klage gestützt ist, als unbegründet zurückgewiesen wurde, ist die Klage insgesamt abzuweisen, ohne dass es einer Prüfung der Zulässigkeit des Antrags bedarf, das EUIPO anzuweisen, die Inanspruchnahme des streitigen Zeitrangs für die in Rede stehende Unionsmarke einzutragen.

 Kosten

42      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des EUIPO die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Daw SE trägt die Kosten.

Tomljenović

Schalin

Škvařilová-Pelzl

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 6. Oktober 2021.

Der Kanzler

 

Der Präsident

E. Coulon

 

      A. M. Collins


*      Verfahrenssprache: Deutsch.


1      Das vorliegende Urteil wird auszugsweise veröffentlicht.