Language of document : ECLI:EU:C:2020:817

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 8. Oktober 2020(1)

Rechtssache C95/19

Agenzia delle Dogane

gegen

Silcompa SpA

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuern – Richtlinie 92/12/EWG – Art. 6 und 20 – Überführung von Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr – Fälschung des begleitenden Verwaltungsdokuments – Während des Verfahrens der Steueraussetzung für verbrauchsteuerpflichtige Waren begangene Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit – Unrechtmäßige Entnahme von Waren aus einem Verfahren der Steueraussetzung – Ermittlung des Mitgliedstaats, in dem der Verbrauchsteueranspruch entstanden ist – Richtlinie 76/308/EWG – Art. 6, 8 und 12 Abs. 1 bis 3 – Gegenseitige Unterstützung – In zwei Mitgliedstaaten nacheinander auf dieselben Vorgänge erhobene Verbrauchsteuer – Verdoppelung der Verbrauchsteuerforderung – Überprüfungsbefugnis der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat – Mögliche Ablehnung des Unterstützungsersuchens“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agenzia delle Dogane (Zollagentur, Italien) (im Folgenden: Agentur) und der Silcompa SpA, einer in Italien ansässigen Gesellschaft, die Ethylalkohol herstellt, über eine im Rahmen des Amtshilfeverfahrens nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 76/308/EWG(2) an diese Gesellschaft gerichtete Aufforderung zur Entrichtung von Verbrauchsteuern.

2.        Mit ihrer Vorabentscheidungsfrage möchte die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) im Wesentlichen wissen, ob es im Rahmen eines von einem Unternehmen eingeleiteten Verfahrens gegen Vollstreckungsakte, die in einem Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Italien) auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats (in diesem Fall der Hellenischen Republik) zur Beitreibung von Verbrauchsteuerforderungen erlassen wurden, möglich ist, die Voraussetzung in Bezug auf den Ort, an dem die Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung während der Beförderung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren stattgefunden hat, zu überprüfen.

3.        Diese Frage stellt sich in einem Kontext, in dem nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sowohl die zuständigen italienischen als auch die zuständigen griechischen Behörden eine Verbrauchsteuerforderung für dieselben steuerpflichtigen Vorgänge geltend machen.

4.        Der Streitgegenstand dieses Rechtsstreits liegt an der Schnittstelle zwischen dem Verbrauchsteuersystem der Union und der gegenseitigen Unterstützung bei der Beitreibung bestimmter Abgaben. Der Gerichtshof wird sich daher mit dem Verhältnis zwischen den Bestimmungen der Richtlinie 92/12/EWG über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren(3) und denen der Richtlinie 76/308, die im vorliegenden Fall zeitlich anwendbar sind, zu befassen haben. Obwohl die vorliegende Rechtssache inzwischen aufgehobene Richtlinien betrifft, ist die vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen gestellte Frage nach wie vor aktuell, weil die Richtlinien 2008/118 und 2010/24 im Wesentlichen auf denselben Grundsätzen beruhen wie die oben genannten früheren Richtlinien.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 92/12

5.        Die Richtlinie 92/12 ist gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 u. a. auf Alkohol und alkoholische Getränke anwendbar.

6.        Art. 4 der Richtlinie 92/12 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie gelten als

a)      zugelassener Lagerinhaber: die natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs unter Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden;

b)      Steuerlager: jeder Ort, an dem unter bestimmten, von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren unter Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber hergestellt, bearbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden;

c)      Verfahren der Steueraussetzung: die steuerliche Regelung, die auf die Herstellung, die Verarbeitung, die Lagerung sowie die Beförderung der Waren unter Steueraussetzung Anwendung findet;

…“

7.        Art. 6 der Richtlinie 92/12 bestimmt:

„(1)      Die Verbrauchsteuer entsteht mit der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr oder mit der Feststellung von Fehlmengen gemäß Artikel 14 Absatz 3.

Als Überführung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr gelten

a)      jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung;

b)      jede – auch unrechtmäßige – Herstellung dieser Erzeugnisse außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung;

c)      jede – auch unrechtmäßige – Einfuhr dieser Waren, sofern sie nicht einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellt worden sind.

(2)      Die Voraussetzungen für das Entstehen des Steueranspruchs und der maßgebende Verbrauchsteuersatz richten sich nach den Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Entstehens des Steueranspruchs in dem Mitgliedstaat gelten, in dem die Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr stattfindet oder die Fehlmengen festgestellt werden. …“

8.        Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 92/12 bestimmt grundsätzlich, dass „die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Verfahren der Steueraussetzung zwischen Steuerlagern erfolgen [muss]“.

9.        In Art. 15 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie heißt es:

„(3)      Die mit der innergemeinschaftlichen Warenbeförderung verbundenen Risiken werden von der Sicherheitsleistung gemäß Artikel 13, die der Versender in seiner Eigenschaft als zugelassener Lagerinhaber gestellt hat, und gegebenenfalls durch eine gesamtschuldnerische Sicherheitsleistung des Versenders und des Beförderers gedeckt. …

(4)      Unbeschadet des Artikels 20 können der zugelassene Lagerinhaber als Versender und gegebenenfalls der Beförderer erst dann aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wenn der Nachweis dafür vorliegt, dass der Empfänger die Waren übernommen hat, insbesondere mittels des in Artikel 18 genannten Begleitdokuments unter den in Artikel 19 festgelegten Bedingungen.“

10.      Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 sieht vor:

„Ungeachtet des etwaigen Einsatzes der elektronischen Datenverarbeitung wird jeder verbrauchsteuerpflichtigen Ware, die im Verfahren der Steueraussetzung zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten – auch im direkten See- oder Luftverkehr zwischen zwei Häfen bzw. Flughäfen der Gemeinschaft – befördert wird, ein vom Versender ausgestelltes Begleitdokument beigegeben. Das Begleitdokument kann entweder ein Verwaltungsdokument oder ein Handelsdokument sein. Form und Inhalt dieses Dokuments sowie das Verfahren für die Fälle, in denen die Verwendung des Dokuments objektiv unangebracht ist, werden nach dem Verfahren des Artikels 24 festgelegt.“

11.      Art. 20 dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Wurde während des Verfahrens der Steueraussetzung eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen, aufgrund derer eine Verbrauchsteuer entsteht, so wird die Verbrauchsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem die Unregelmäßigkeit oder die Zuwiderhandlung begangen wurde, ungeachtet einer etwaigen Strafverfolgung von der natürlichen oder juristischen Person geschuldet, die gemäß Artikel 15 Absatz 3 eine Sicherheit für die Zahlung der Verbrauchsteuern geleistet hat.

Wird die Verbrauchsteuer in einem anderen Mitgliedstaat als dem Abgangsmitgliedstaat erhoben, so unterrichtet der Mitgliedstaat, der die Verbrauchsteuern erhebt, die zuständigen Behörden des Abgangsmitgliedstaats.

(2)      Wurde während des Verfahrens der Steueraussetzung eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit festgestellt, ohne dass der Ort der Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit feststeht, so gilt sie als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt worden ist.

(3)      Treffen die verbrauchsteuerpflichtigen Waren nicht am Bestimmungsort ein, und kann der Ort der Zuwiderhandlung oder der Unregelmäßigkeit nicht festgestellt werden, so gilt diese Zuwiderhandlung oder diese Unregelmäßigkeit unbeschadet des Artikels 6 Absatz 2 als in dem Abgangsmitgliedstaat begangen; der Abgangsmitgliedstaat erhebt die Verbrauchsteuern nach dem zum Zeitpunkt des Versands der Waren geltenden Satz, sofern nicht innerhalb von vier Monaten nach dem Versand der Waren der Nachweis über die Ordnungsmäßigkeit des Vorgangs oder den Ort, an dem die Zuwiderhandlung oder die Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen worden ist, zur Zufriedenheit der zuständigen Behörden erbracht wird. Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten zu begegnen und wirksame Sanktionen zu verhängen.

(4)      Wird vor Ablauf einer Frist von drei Jahren, ab dem Tag der Ausfertigung des Begleitpapiers gerechnet, der Mitgliedstaat ermittelt, in dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen worden ist, so erhebt dieser Mitgliedstaat die Verbrauchsteuern zu dem Steuersatz, der zum Zeitpunkt des Versands der Waren gilt. In diesem Fall wird, sobald der Nachweis erbracht worden ist, dass die Verbrauchsteuer in diesem Mitgliedstaat entrichtet worden ist, die ursprünglich erhobene Verbrauchsteuer erstattet.“

2.      Richtlinie 76/308

12.      Ziel der Richtlinie 76/308 ist es, Hindernisse für die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu beseitigen, die sich aus der territorialen Begrenzung des Anwendungsbereichs der nationalen Bestimmungen auf dem Gebiet der Beitreibung u. a. von Verbrauchsteuern ergeben.

13.      Nach Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie nimmt die ersuchte Behörde auf Antrag der ersuchenden Behörde nach Maßgabe der Rechtsvorschriften für die Zustellung entsprechender Rechtsakte in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, die Zustellung aller mit einer Forderung oder mit deren Beitreibung zusammenhängenden und von dem Staat, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, ausgehenden Verfügungen und Entscheidungen, einschließlich der gerichtlichen, an den Empfänger vor.

14.      Art. 6 der Richtlinie 76/308 sieht vor:

„(1)      Auf Antrag der ersuchenden Behörde nimmt die ersuchte Behörde nach Maßgabe der für die Beitreibung derartiger, in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, entstandener Forderungen geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften die Beitreibung von Forderungen vor, für die ein Vollstreckungstitel besteht.

(2)      Zu diesem Zweck wird jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, als Forderung des Mitgliedstaats, in dem sich die ersuchte Behörde befindet, behandelt, es sei denn, Artikel 12 findet Anwendung.“

15.      Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Dem Ersuchen um Beitreibung einer Forderung, das die ersuchende Behörde an die ersuchte Behörde richtet, sind eine amtliche Ausfertigung oder eine beglaubigte Kopie des in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, ausgestellten Vollstreckungstitels und gegebenenfalls das Original oder eine beglaubigte Kopie etwaiger für die Beitreibung sonst erforderlicher Dokumente beizufügen.

(2)      Die ersuchende Behörde kann ein Beitreibungsersuchen nur dann stellen,

a)      wenn die Forderung oder der Vollstreckungstitel in dem Staat, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, nicht angefochten ist, außer für den Fall, dass Artikel 12 Absatz 2 Unterabsatz 2 angewandt wird;

b)      wenn sie in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, bereits Beitreibungsverfahren durchgeführt hat, wie sie aufgrund des in Absatz 1 genannten Titels ausgeführt werden sollen, und die getroffenen Maßnahmen nicht zur vollständigen Tilgung der Forderung führen werden.“

16.      Art. 8 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Der Vollstreckungstitel wird unmittelbar anerkannt und automatisch wie ein Vollstreckungstitel des Mitgliedstaates behandelt, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat.

(2)      Ungeachtet des Absatzes 1 kann der Vollstreckungstitel gegebenenfalls nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, als solcher bestätigt und anerkannt oder durch einen Titel ergänzt oder ersetzt werden, der die Vollstreckung im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates ermöglicht.

Die Mitgliedstaaten bemühen sich, innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Eingang des Beitreibungsersuchens eine derartige Bestätigung, Anerkennung, Ergänzung oder Ersetzung des Vollstreckungstitels abzuschließen, außer in den Fällen, in denen Unterabsatz 3 Anwendung findet. Die Vornahme dieser Formalitäten kann nicht verweigert werden, wenn der Titel ordnungsgemäß abgefasst ist. Die ersuchte Behörde unterrichtet die ersuchende Behörde über die Gründe für eine Überschreitung der Dreimonatsfrist.

Hat die Durchführung einer dieser Formalitäten eine Anfechtung der Forderung und/oder des im Land der ersuchenden Behörde ausgestellten Vollstreckungstitels zur Folge, so findet Artikel 12 [dieser Richtlinie] Anwendung.“

17.      In Art. 12 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 76/308 heißt es:

„(1)      Wird im Verlauf des Beitreibungsverfahrens die Forderung oder der in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, ausgestellte Titel von einem Betroffenen angefochten, so wird der Rechtsbehelf von diesem bei der zuständigen Instanz des Mitgliedstaats, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, nach dessen Recht eingelegt. Über die Einleitung dieses Verfahrens hat die ersuchende Behörde der ersuchten Behörde Mitteilung zu machen. Ferner kann der Betroffene der ersuchten Behörde über die Einleitung dieses Verfahrens Mitteilung machen.

(2)      Sobald die ersuchte Behörde die in Absatz 1 genannte Mitteilung, die entweder durch die ersuchende Behörde oder durch den Betroffenen erfolgt ist, erhalten hat, setzt sie in Erwartung einer Entscheidung der zuständigen Instanz das Beitreibungsverfahren aus, es sei denn, die ersuchende Behörde wünscht ein anderes Vorgehen in Übereinstimmung mit Unterabsatz 2. …

Ungeachtet des Absatzes 2 Unterabsatz 1 kann die ersuchende Behörde nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften und der Verwaltungspraxis des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, die ersuchte Behörde um Beitreibung einer angefochtenen Forderung bitten, sofern die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Verwaltungspraxis des Mitgliedstaats, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, dies zulassen. Wird der Anfechtung später stattgegeben, haftet die ersuchende Behörde für die Erstattung bereits beigetriebener Beträge samt etwaiger geschuldeter Entschädigungsleistungen gemäß den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat.

(3)      Richtet sich der Rechtsbehelf gegen Vollstreckungsmaßnahmen in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, so ist er bei der zuständigen Instanz dieses Mitgliedstaats nach Maßgabe seiner Rechts- und Verwaltungsvorschriften einzulegen.“

B.      Italienisches Recht

18.      Die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Verbrauchsteuern wird in Italien u. a. durch das decreto legislativo n. 69, recante „Attuazione della direttiva 2001/44/CE relativa all’assistenza reciproca in materia di recupero di crediti connessi al sistema di finanziamento del FEOGA, nonché ai prelievi agricoli, ai dazi doganali, all’IVA ed a talune accise“ (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 69 über die „Umsetzung der Richtlinie 2001/44… über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des [Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (FEOGA)] sind, sowie von Agrarabschöpfungen und Zöllen und bezüglich der Mehrwertsteuer und bestimmter Verbrauchsteuern“ vom 9. April 2003(4) (im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 69/2003) geregelt.

19.      Art. 5 („Unterstützung bei der Beitreibung der Forderungen“) des Decreto legislativo Nr. 69/2003 sieht vor:

„(1)      Auf Antrag der ersuchenden Behörde nimmt das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen auf der Grundlage der erhaltenen Vollstreckungstitel die Beitreibung der in Art. 1 genannten Forderungen, die in dem Mitgliedstaat entstanden sind, in dem diese ihren Sitz hat, nach Maßgabe der für die Beitreibung gleichartiger, im Inland entstandener Forderungen geltenden Vorschriften vor. Diese Titel, die direkt und unmittelbar vollstreckbar sind, sind den im Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 602 vom 29. September 1973 genannten Hebelisten gleichgestellt.

(2)      Die ersuchende Behörde kann ein Beitreibungsersuchen nur stellen:

a)      wenn die Forderung oder der Vollstreckungstitel in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, nicht angefochten worden sind, es sei denn, dass ausdrücklich darum ersucht wird, die Forderung auch im Fall der Anfechtung beizutreiben;

b)      wenn sie in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, ein Beitreibungsverfahren eingeleitet hat und die getroffenen Maßnahmen nicht zur vollständigen Begleichung der Forderung führen werden.

(3)      Das Ersuchen enthält:

a)      Namen, Firma, Anschrift oder Sitz und sonstige Angaben zur Identifizierung der natürlichen Personen, juristischen Personen oder von Drittschuldnern, die Vermögenswerte innehaben;

b)      Namen, Anschrift und sonstige Angaben zur Identifizierung der ersuchenden Behörde;

c)      den Vollstreckungstitel, auf dessen Grundlage um Beitreibung ersucht wird und der in dem Mitgliedstaat ausgestellt wurde, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat;

d)      Art und Betrag der Forderung unter Angabe von Hauptforderung, Zinsen, möglichen Geldstrafen, Geldbußen und Kosten, in den Währungen der Mitgliedstaaten, in denen die beiden Behörden ihren Sitz haben;

e)      Datum des Tages, an dem die ersuchende Behörde oder die ersuchte Behörde den Vollstreckungstitel dem Empfänger zugestellt hat;

f)      Datum des Tages, von dem an nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats die Beitreibung erfolgen kann, und Frist, während der dies möglich ist;

g)      Erklärung, dass die Forderung und der Vollstreckungstitel im ersuchenden Staat nicht angefochten worden sind, oder das ausdrückliche Ersuchen, im Fall der Anfechtung die Forderung dennoch beizutreiben. Jedenfalls hat das Ersuchen die Erklärung zu enthalten, dass das Beitreibungsverfahren im ersuchenden Mitgliedstaat eingeleitet wurde und nicht zur vollständigen Zahlung der Forderung führen wird;

h)      alle sonstigen sachdienlichen Informationen.

(4)      Die ersuchende Behörde übersendet der ersuchten Behörde unverzüglich nach Kenntniserlangung alle zweckdienlichen Informationen, die sich auf die Sache beziehen, auf Grund derer das Beitreibungsersuchen gestellt wurde.

(5)      Dem Ersuchen um Beitreibung einer Forderung sind das Original oder eine beglaubigte Kopie des in dem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Vollstreckungstitels und die für die Beitreibung sonst erforderlichen Dokumente beizufügen. Dem Ersuchen, dem Vollstreckungstitel und den etwaigen sonstigen Dokumenten ist eine Übersetzung in die italienische Sprache beizufügen.

(6)      Für die Zahlung der geschuldeten Beträge können dem Schuldner nach Anhörung der ersuchenden Behörde in den Grenzen und unter den Voraussetzungen der geltenden nationalen Vorschriften eine Zahlungsfrist oder Ratenzahlung gewährt werden Die Verzugszinsen sind nach den geltenden nationalen Vorschriften anzuwenden und werden ab dem Zeitpunkt der Zustellung des Vollstreckungstitels für die Beitreibung berechnet. Die gegebenenfalls erhobenen Zinsen für die gewährte Zahlungsfrist oder Ratenzahlung oder den Zahlungsverzug sind an die ersuchende Behörde zu übergeben.

(7)      Das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen treibt die Forderungen beim Schuldner bei und zieht sämtliche Kosten im Zusammenhang mit dem Beitreibungsverfahren ein, die bei vergleichbaren Forderungen nach innerstaatlichem Recht anfallen.

(8)      Für die Beitreibung der Forderungen nach dem vorliegenden Dekret gelten sinngemäß die Bestimmungen des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 602 vom 29. September 1973 mit nachfolgenden Änderungen und des Decreto legislativo Nr. 46 vom 26. Februar 1999 mit nachfolgenden Änderungen.

(9)      Wenn die Beitreibung der Forderungen besondere Probleme bereitet, sehr hohe Kosten verursacht oder im Rahmen der Bekämpfung der organisierten Kriminalität erfolgt, können die ersuchende Behörde und die ersuchte Behörde im Einzelfall besondere Erstattungsmodalitäten vereinbaren.

(10)      Das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen teilt der ersuchenden Behörde die Maßnahmen mit, die es im Hinblick auf das Beitreibungsersuchen veranlasst hat.“

20.      Art. 6 („Anfechtung der Forderung“) des Decreto legislativo Nr. 69/2003 bestimmt:

„(1)      Der Betroffene, der die Forderung oder den im ersuchenden Mitgliedstaat ausgestellten Titel anfechten will, hat den Rechtsbehelf bei der zuständigen Stelle dieses Mitgliedstaats nach dessen Recht einzulegen; in diesem Fall setzt das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, wenn es durch die ersuchende Behörde oder durch den Betroffenen die Mitteilung über die erfolgte Anfechtung erhalten hat, vorbehaltlich eines gegenteiligen Antrags dieser Behörde das Beitreibungsverfahren bis zur Entscheidung der genannten Stelle aus. Wurde das Verfahren zur Beitreibung der angefochtenen Forderung auf Ersuchen der ersuchenden Behörde gleichwohl durchgeführt und wird der Anfechtung später stattgegeben, hat die ersuchende Behörde den beigetriebenen Betrag zusammen mit allen weiteren nach italienischem Recht geschuldeten Beträgen zu erstatten. Trifft ein Gericht eine für die ersuchende Behörde günstige Entscheidung über die Anfechtung und lässt es die Beitreibung der Forderung in eben diesem Staat zu, wird das Vollstreckungsverfahren auf der Grundlage dieser Entscheidung wieder aufgenommen.

(2)      Der Betroffene, der die Rechtsakte des Beitreibungsverfahrens anfechten will, hat den Rechtsbehelf bei der nach dem innerstaatlichen Recht zuständigen Stelle einzulegen.

(3)      Der Mitgliedstaat, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, bleibt dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, für jegliche Kosten und Verluste aufgrund von Handlungen haftbar, die hinsichtlich der Begründetheit der Forderung oder der Gültigkeit des von der ersuchenden Behörde ausgestellten Titels als nicht gerechtfertigt befunden werden.“

II.    Sachverhalt und Vorlagefrage

21.      In den Jahren 1995 und 1996 verkaufte Silcompa Ethylalkohol unter Aussetzung der Verbrauchsteuer im Sinne von Art. 4 Buchst. c der Richtlinie 92/12 nach Griechenland. Aus der dem vorlegenden Gericht vorgelegten und bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereichten Akte (im Folgenden: nationale Akte) geht hervor, dass dieser Verkauf durch einen Vermittler, eine natürliche Person, an verschiedene griechische Gesellschaften erfolgte.

22.      Im Januar 2000 wurde nach einer Überprüfung durch das Ufficio Tecnico di Finanza di Reggio Emilia (Technisches Finanzamt von Reggio Emilia, Italien) festgestellt, dass die begleitenden Verwaltungsdokumente (im Folgenden: Begleitdokumente) zu den von Silcompa versandten Alkoholpartien den griechischen Zoll zur Ausstellung der üblichen Bescheinigungen nie erreicht hatten und die Stempel der Zollbehörde Korinth auf den bei Silcompa vorgefundenen Begleitdokumenten gefälscht waren. Die Agentur erließ daher im Januar 2000 drei Zahlungsbescheide(5) zur Beitreibung der nicht entrichteten Verbrauchsteuern in Höhe von insgesamt 6 296 495,47 Euro. Gegen diese Bescheide erhob Silcompa Klage beim Tribunale di Bologna (Gericht Bologna, Italien), dessen für Silcompa günstige Urteile(6) von der Agentur vor der Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien) angefochten wurden.

23.      Aus der nationalen Akte geht hervor, dass die griechische Zollbehörde im April 2001 ein Auskunftsersuchen an Silcompa richtete, um Aufklärung über die Vorgänge zwischen Silcompa, dem Vermittler und den griechischen Unternehmen zu erhalten. Silcompa soll dieses Ersuchen beantwortet und keine weitere Mitteilung von den griechischen Behörden erhalten haben.

24.      Im Februar 2004 teilte die griechische Zollbehörde der Agentur mit, dass Lieferungen von Silcompa an ein griechisches Unternehmen als unregelmäßig angesehen würden. Daher erließ das Technische Finanzamt von Reggio Emilia am 27. März 2004 den Nacherhebungsbescheid Nr. 6/2004(7), der sowohl die italienischen Steuerforderungen, die sich aus den im Januar 2000 erlassenen und in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Zahlungsbescheiden ergaben, als auch die nach dieser Mitteilung der griechischen Verwaltung geschuldete zusätzliche Nacherhebung von 473 410,66 Euro umfasste. Silcompa focht den Nacherhebungsbescheid Nr. 6/2004 vor der Commissione tributaria provinciale di Reggio Emilia (Finanzgericht der Provinz Reggio Emilia, Italien) an. Dieses Verfahren führte im September 2017 zum Abschluss einer Vergleichsvereinbarung zwischen der Agentur und Silcompa, der zufolge Silcompa einen Gesamtbetrag von 1 554 181,23 Euro auf die von den italienischen Behörden geltend gemachte Forderung zu zahlen hatte (im Folgenden: Vergleich)(8).

25.      Im Januar 2005 erließ die Zollbehörde Athen für dieselben innergemeinschaftlichen Lieferungen „Bescheide zur Erhebung der Verbrauchsteuern“, die die rechtswidrige Überführung des von Silcompa an „Briefkastenfirmen“ versandten Ethylalkohols in den steuerrechtlich freien Verkehr auf griechischem Hoheitsgebiet betrafen. Diese Feststellung gründete sich nach dem Vorbringen der Parteien vor dem vorlegenden Gericht(9) auf vorausgegangene strafrechtliche Ermittlungen, die zu einem erstinstanzlichen Urteil eines griechischen Gerichts(10) geführt hatten, in dem bestätigt wurde, dass die in Rede stehenden Waren bei griechischen Unternehmen angekommen und in betrügerischer Weise in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden waren.

26.      Am 31. Januar 2005 ersuchte die griechische Steuerverwaltung die Italienische Republik nach Art. 7 der Richtlinie 76/308 um Unterstützung bei der Beitreibung der Forderungen ihrer Staatskasse in Höhe von insgesamt 10 280 291,66 Euro (im Folgenden: von den griechischen Behörden geltend gemachte Ansprüche).

27.      Am 13. September 2005 stellte die Agentur Silcompa gemäß Art. 5 des Decreto legislativo Nr. 69/2003 zwei Zahlungsbescheide(11) zu, mit denen sie die freiwillige Zahlung der Beträge verlangte, die aufgrund der von den griechischen Behörden geltend gemachten Ansprüche gefordert wurden(12). Silcompa erhob gegen die beiden Zahlungsbescheide Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Roma (Finanzgericht der Provinz Rom, Italien), die als unzulässig abgewiesen wurde(13). Auf die von Silcompa eingelegte Berufung gab die Commissione tributaria regionale di Roma (Finanzgericht zweiter Instanz der Region Rom, Italien) der Klage mit Urteil vom 22. April 2010(14) wegen der Nichtzustellung der erforderlichen vorausgegangenen Rechtsakte durch die griechischen Behörden und der unzureichenden Begründung der vorgenannten Zahlungsbescheide statt.

28.      Daraufhin erhob die Agentur bei dem vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde und machte drei Kassationsbeschwerdegründe geltend, von denen nach Angaben des vorlegenden Gerichts nur der zweite(15) und der dritte(16) für die Zwecke des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens relevant sind.

29.      Dem hält Silcompa in ihrer Kassationsbeschwerdeerwiderung die Nichtigkeit der Verbrauchsteuerforderungen, die den ihr bereits von der Agentur vorgeworfenen Sachverhalt zum Gegenstand hätten, die Identität der vorgeworfenen Tatsachen und somit die Verdoppelung der Steuerforderung entgegen.

30.      Hierzu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass im vorliegenden Fall sowohl die italienischen als auch die griechischen Steuerbehörden aufgrund jeweils getrennter und eigenständiger Feststellungen davon ausgingen, dass der Ort, an dem die Zuwiderhandlung begangen worden sei, ihr eigener Staat sei. Die von den griechischen Behörden geltend gemachten Forderungen beruhten offenbar auf einem Strafurteil, während die von den italienischen Behörden geltend gemachten Forderungen auf der Feststellung beruhten, dass die Begleitdokumente gefälscht waren. Die Verbrauchsteuerforderungen seien jedoch „alternativ“, weil es, wie sich aus Art. 20 der Richtlinie 92/12 ergebe, nur einen einzigen Ort der Zuwiderhandlung und somit auch nur eine einzige Steuerschuld geben könne.

31.      In diesem Zusammenhang laufe Silcompa Gefahr, dieselben Beträge an Verbrauchsteuern und Strafen zweimal zahlen zu müssen, was insbesondere wegen der beträchtlichen Beträge, um die es gehe, eine schwere finanzielle Belastung sowie eine Verdoppelung der Kosten der Rechtsverfolgung bedeuten würde.

32.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die ursprünglich (in einem anderen Staat) erhobene Verbrauchsteuer zwar nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 92/12 unter bestimmten Voraussetzungen erstattet werde, falls der Ort der Zuwiderhandlung nachträglich festgestellt werde, diese Feststellung aber „vor Ablauf einer Frist von drei Jahren, ab dem Tag der Ausfertigung des Begleitpapiers gerechnet“, die im vorliegenden Fall längst verstrichen sei, stattgefunden haben müsse.

33.      Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob auch im Rahmen des in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 76/308 vorgesehenen Verfahrens gegen die Vollstreckungsmaßnahmen zur Beitreibung, mit denen dem Unterstützungsersuchen auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie entsprochen wird, das Vorliegen der in Art. 20 der Richtlinie 92/12 genannten Voraussetzungen – wie der Ort, an dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen wurde – Gegenstand der Prüfung sein kann, zumindest unter Umständen wie den hier in Rede stehenden, unter denen ein und dieselbe Forderung sowohl von den Instanzen des Mitgliedstaats, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat (im Folgenden: ersuchender Mitgliedstaat), als auch von den Instanzen des Mitgliedstaats, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat (im Folgenden: ersuchter Mitgliedstaat), geltend gemacht wird, wobei die Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit diesen Forderungen im letztgenannten Staat anhängig sind.

34.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts dürfte es sich dabei um eine Prüfung handeln, die sich weder auf die Forderung oder auf den ausländischen Vollstreckungstitel bezieht, die Gegenstand der Klage sind, noch diese in Frage stellt, wie dies in Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 76/308 vorgesehen ist, sondern um eine Frage, die die Voraussetzung und die Grundlage der Rechtmäßigkeit der Unterstützungsersuchen und damit sämtlicher Vollstreckungsmaßnahmen betrifft. Insbesondere gehe es im Ausgangsverfahren allein um die Frage, ob es für die Zwecke der Beitreibung im Rahmen des Systems der Zusammenarbeit relevant ist, wie der ersuchte Mitgliedstaat seinen eigenen Anspruch auf die Forderung beurteilt, und ob ein solcher Parameter von den Gerichten beurteilt werden kann.

35.      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 76/308 in Verbindung mit Art. 20 der Richtlinie 92/12 dahin auszulegen, dass im gegen die Vollstreckungsakte zur Steuerbeitreibung eingeleiteten Gerichtsverfahren die Voraussetzung des Ortes (der tatsächlichen Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr), an dem die Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde, Gegenstand einer Prüfung sein kann – und gegebenenfalls in welchem Umfang –, wenn, wie im vorliegenden Fall, dieselbe Forderung, die sich auf dieselben einheitlichen Ausfuhrvorgänge gründet, vom ersuchenden Staat und vom ersuchten Staat unabhängig voneinander gegenüber dem Steuerpflichtigen geltend gemacht wird und im ersuchten Staat gleichzeitig das Gerichtsverfahren über die innerstaatliche Forderung und dasjenige über die Beitreibung für den anderen Staat anhängig sind, wobei diese Feststellung dem Unterstützungsersuchen und folglich allen Vollstreckungsakten entgegensteht?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

36.      Die italienische, die spanische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

37.      Am 22. Oktober 2019 hat der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht ein Auskunftsersuchen zur Sach- und Rechtslage des Ausgangsverfahrens übermittelt.

38.      Mit seiner Antwort vom 18. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Dezember 2019, ist das vorlegende Gericht diesem Ersuchen nachgekommen.

39.      Aufgrund der mit Covid-19 verbundenen Gesundheitskrise ist die für den 26. März 2020 anberaumte mündliche Verhandlung aufgehoben und mit Beschluss vom 1. April 2020 durch den Parteien übermittelte Fragen zur schriftlichen Beantwortung ersetzt worden. Die italienische, die spanische und die schwedische Regierung sowie die Kommission haben die Fragen innerhalb der vom Gerichtshof gesetzten Frist beantwortet.

IV.    Würdigung

A.      Tragweite der Vorlagefrage

40.      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs diesem obliegt, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren(17).

41.      Im vorliegenden Fall sind vor den italienischen Gerichten zwei Verfahren anhängig, in denen es um die Beitreibung von zwei Steuerforderungen geht, die dieselben verbrauchsteuerpflichtigen Vorgänge betreffen und sowohl von den italienischen als auch von den griechischen Verwaltungsbehörden geltend gemacht werden. Zum einen geht die von den italienischen Behörden geltend gemachte Forderung auf die Feststellung der Agentur vom Januar 2000 zurück, dass die nach Griechenland versandten Waren den griechischen Zoll nie erreicht hätten und die auf den zugehörigen Begleitdokumenten angebrachten griechischen Zollstempel gefälscht gewesen seien. Zum anderen werden die von den griechischen Behörden geltend gemachten Forderungen auf die Feststellung dieser Behörden gestützt, dass die in Rede stehenden Waren tatsächlich – wahrscheinlich unrechtmäßig – auf griechischem Hoheitsgebiet in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden seien, eine Feststellung, auf deren Grundlage diese Behörden im Januar 2005 gemäß den einschlägigen nationalen Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie 76/308 Ersuchen um Beitreibung der Forderungen an die Agentur gerichtet hatten.

42.      Die Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 20 der Richtlinie 92/12, nämlich diejenigen, die sich auf den Ort beziehen, an dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen wurde, von dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, geprüft werden können, wenn bei diesem Gericht eine Klage gegen Vollstreckungsmaßnahmen zur Beitreibung einer Forderung nach Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 76/308 anhängig ist und diese Vollstreckung zur Folge hätte, dass das betreffende Unternehmen die Verbrauchsteuern auf dieselben Waren zweifach zahlen müsste(18).

43.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen und der Antwort auf die Fragen vom 18. Dezember 2019(19) geht hervor, dass das vorlegende Gericht Zweifel hegt, ob der Rechtsakt, auf dem das Beitreibungsverfahren in Italien nach der Richtlinie 76/308 beruht, hinreichend begründet ist und ob es einer Prüfung der Doppelbelastung mit den Verbrauchsteuern bedarf.

44.      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 76/308 in Verbindung mit Art. 20 der Richtlinie 92/12 dahin auszulegen ist, dass er es einem Gericht des Mitgliedstaats, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, verwehrt, zu prüfen, ob die Erledigung von Ersuchen um Beitreibung von Verbrauchsteuerforderungen, mit denen diese Behörde nach Art. 6 der Richtlinie 92/12 befasst ist, zur Folge hat, dass ein Unternehmen für dieselben Vorgänge und dieselben Waren zweimal besteuert wird, weil diese Behörde zuvor selbst eine Forderung wegen dieser Vorgänge und Waren beigetrieben hat, die Gegenstand eines Gerichtsverfahrens in diesem Staat ist.

45.      Der Kern der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage liegt in der möglichen Doppelerhebung derselben Verbrauchsteuern durch den Abgangsmitgliedstaat und durch den Bestimmungsmitgliedstaat der in Rede stehenden Waren. Ausgangspunkt der Prüfung sollten daher die in der Richtlinie 92/12 enthaltenen Regeln sein, wobei insbesondere auf bestimmte Vorschriften über die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs im Sinne dieser Richtlinie hinzuweisen ist (Teil B). Während die Richtlinie 92/12 gewissermaßen materiell-rechtliche Regeln über die Befugnis zur Erhebung der Verbrauchsteuern vorsieht, wird die verfahrensrechtliche Ausübung dieser Befugnis insbesondere durch die Richtlinie 76/308 (Teil C) festgelegt.

B.      Zur Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs nach der Richtlinie 92/12

46.      Um die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen(20), zielt die Richtlinie 92/12 darauf ab, die materiellen Vorschriften über den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren zu harmonisieren, um insbesondere zu gewährleisten, dass der Verbrauchsteueranspruch in allen Mitgliedstaaten identisch ist. Diese Harmonisierung ermöglicht es grundsätzlich, eine Doppelbesteuerung in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden(21). Diesem Zweck dienen auch die Art. 6 und 20 dieser Richtlinie, die allgemeine und spezifische Regeln für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs festlegen. Dieser Zweck ist jedoch gefährdet, wenn die griechischen und die italienischen Behörden im vorliegenden Fall nacheinander befugt sind, Verbrauchsteuern auf ein und denselben Vorgang zu erheben.

1.      Allgemeine Bemerkungen zur Entstehung der Verbrauchsteuer

47.      Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 der Steuertatbestand im Sinne dieser Richtlinie die Herstellung verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Gebiet der Union oder deren Einfuhr in dieses Gebiet ist. Da es sich um eine Besteuerung des Verbrauchs handelt, muss der Steueranspruch zum anderen möglichst nahe am Endverbraucher entstehen(22). Aus diesem Grund sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie vor, dass der Anspruch auf die Verbrauchsteuer für verbrauchsteuerpflichtige Waren wie Alkohol mit ihrer Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr entsteht(23).

48.      In der Regel vergeht eine gewisse Zeit zwischen dem steuerbaren Vorgang und dem Zeitpunkt, zu dem der Anspruch auf die Verbrauchsteuer entsteht. Für eben diesen Zeitraum gilt das in Art. 4 Buchst. c der Richtlinie 92/12 definierte Verfahren der Steueraussetzung als die steuerliche Regelung, die u. a. auf die Herstellung von Waren unter Aussetzung der Verbrauchsteuer Anwendung findet(24). Nach dieser Regelung, der die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren unterlagen, entsteht der Anspruch auf die Verbrauchsteuer erst dann, wenn diese Waren aus dieser Regelung entnommen und in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt werden. Somit ist der Verbrauchsteueranspruch für Waren, die unter diese Regelung fallen, noch nicht entstanden, obwohl der Steuertatbestand bereits erfüllt ist(25).

49.      Als allgemeine Regel ergibt sich aus Art. 4 Buchst. b und Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 92/12, dass die Herstellung, die Verarbeitung und der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung nur in einem Steuerlager erfolgen können, das in dem Mitgliedstaat, in dem sich die Waren befinden, ordnungsgemäß zugelassen ist. Gemäß Art. 15 dieser Richtlinie darf die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung nur zwischen Steuerlagern erfolgen, wobei dem zugelassenen Lagerinhaber eine zentrale Rolle im Rahmen des Verfahrens der Beförderung dieser Waren zukommt(26).

50.      Für Waren, auf die von den Mitgliedstaaten Verbrauchsteuern erhoben werden, sehen die Bestimmungen der Richtlinie 92/12 in ihrer Gesamtheit somit eine einheitliche Regelung vor, die auf dem Grundsatz beruht, dass die Verbrauchsteuer nur einmal entsteht. Die Einhaltung der Vorschriften über den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Erreichung der Ziele der Richtlinie 92/12. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass diese Regeln in der Praxis missachtet werden, weshalb der Gesetzgeber die in der Richtlinie 92/12 festgelegten spezifischen Regeln erlassen hat.

2.      Zum Anwendungsbereich von Art. 20 der Richtlinie 92/12

51.      Nach der Lehre ist das Betrugsrisiko in den Fällen am größten, in denen die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit während der Beförderung von Waren begangen wird, die dem Verfahren der Steueraussetzung unterliegen(27). Da die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit in jedem Staat stattfinden kann, in dem die Waren befördert werden, soll Art. 20 der Richtlinie 92/12 Kompetenzkonflikte zwischen Mitgliedstaaten verhindern, die beabsichtigen, die Waren zu besteuern, die Gegenstand der Zuwiderhandlung oder der Unregelmäßigkeit waren(28). So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 20 der Richtlinie 92/12 bestimmt, welcher Mitgliedstaat allein befugt ist, bei einer während des Verfahrens der Steueraussetzung begangenen Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung, wie einer unrechtmäßigen Entnahme aus einem solchen Verfahren, die Verbrauchsteuer zu erheben(29).

52.      Genauer gesagt bezieht sich Art. 20 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 92/12 auf den Fall, in dem eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit während des Verfahrens der Steueraussetzung begangen wurde. Abs. 1 betrifft insbesondere den Fall, dass der Ort der Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit bekannt ist, während Abs. 2 den Fall betrifft, dass eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit festgestellt wurde, ohne dass der Ort, an dem sie begangen wurde, festgestellt werden kann. In diesem Fall gilt die Zuwiderhandlung als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt worden ist(30).

53.      Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 92/12 stellt seinerseits klar, dass für den Fall, dass die verbrauchsteuerpflichtigen Waren nicht an ihrem Bestimmungsort eintreffen und der Ort der Zuwiderhandlung oder der Unregelmäßigkeit nicht bestimmt werden kann, diese Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit als im Abgangsmitgliedstaat begangen gilt, der damit für die Erhebung der Verbrauchsteuern zuständig ist(31). Diese Bestimmung regelt somit den Fall, dass die betreffenden Waren nicht am Bestimmungsort eintreffen. In diesem Fall wird der Abgangsstaat für zuständig erklärt.

54.      Während Art. 20 Abs. 2 und 3 die oben genannten Vermutungen enthält, sieht Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 92/12 einen so genannten „Korrekturmechanismus“ für den Fall vor, dass die Vermutung später aufgrund tatsächlicher Umstände entfällt, die es ermöglichen, die Zuständigkeit eines anderen als des aufgrund dieser Vermutung bestimmten Mitgliedstaats festzustellen. Zu diesem Zweck bestimmt dieser Abs. 4 für den Fall, dass vor Ablauf einer Frist von drei Jahren ab dem Tag der Ausfertigung des Begleitdokuments der Mitgliedstaat ermittelt wird, in dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen worden ist(32), diesem Mitgliedstaat die Erhebung der geschuldeten Verbrauchsteuer obliegt.

55.      Aus der Gesamtbetrachtung der oben genannten Bestimmungen der Richtlinie 92/12 lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ziehen. Erstens entsteht der Verbrauchsteueranspruch nicht nur bei der Überführung von Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr, sondern ebenso bei ihrer – auch unrechtmäßigen – Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung. Wie Generalanwalt Colomer ausgeführt hat, stellt der Unionsgesetzgeber „[d]ie Fälle, in denen die zur Entstehung des Steueranspruchs führenden Tätigkeiten (die Einfuhr und die Herstellung) an einem Verfahren der Steueraussetzung vorbei stattfinden oder die Entnahme aus diesem Verfahren zu einem anderen Zeitpunkt als dem ihrer Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr erfolgt, … der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr und somit Handlungen, mit denen der Steueranspruch entsteht, gleich, damit vermieden wird, dass verbrauchsteuerpflichtige Waren der Besteuerung entgehen“(33).

56.      Zweitens kann die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit während des Verfahrens der Steueraussetzung nur an einem einzigen Ort begangen werden, weil verbrauchsteuerpflichtige Waren nur einmal in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt werden können. Diese Schlussfolgerung wird dadurch untermauert, dass die während des Verfahrens der Steueraussetzung begangene Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit einer Überführung der Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr gleichstellt wird und Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 92/12 einen sogenannten „Korrekturmechanismus“ vorsieht. So kann in der Praxis ein und dieselbe verbrauchsteuerpflichtige Ware während des Verfahrens der Steueraussetzung zwar Gegenstand mehrerer aufeinander folgender Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten sein (Fall der Mehrheit von Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten), aber nur die erste von ihnen, d. h. diejenige, zur Folge hatte, dass die dem Verfahren der Steueraussetzung unterliegenden Waren diesem Verfahren entnommen wurden, hat rechtliche Bedeutung im Sinne von Art. 20 der Richtlinie, weil eine solche Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit aller Wahrscheinlichkeit nach zur Überführung der Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr geführt hat.

3.      Zum sogenannten „Korrekturmechanismus“ in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 92/12

57.      Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 92/12 sieht einen „Korrekturmechanismus“ vor, dem zufolge, wenn vor Ablauf einer Frist von drei Jahren, ab dem Tag der Ausfertigung des Begleitpapiers(34) gerechnet, der Mitgliedstaat ermittelt wird, in dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen worden ist, dieser Mitgliedstaat die Verbrauchsteuern zu dem Steuersatz erhebt, der zum Zeitpunkt des Versands der Waren galt. In diesem Fall wird, sobald der Nachweis erbracht worden ist, dass diese Verbrauchsteuer entrichtet worden ist, die ursprünglich erhobene Verbrauchsteuer erstattet. Während Art. 20 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/12 die vorerwähnten Vermutungen enthält, sieht Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie einen Mechanismus für den Fall vor, dass der tatsächliche Sachverhalt vom vermuteten abweicht. In Anbetracht des Grundsatzes der Rechtssicherheit ist dieser Mechanismus jedoch nur für drei Jahre ab dem Tag der Ausfertigung des Begleitdokuments anwendbar.

58.      Somit stellt diese Bestimmung zwei kumulative Voraussetzungen auf, nämlich die Begehung der Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Verbrauchsteuer entrichtet wurde, und die Frist von drei Jahren ab dem Tag der Ausfertigung des Begleitdokuments. Aus der Systematik von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 92/12 ergibt sich daher, dass die Einhaltung dieser Frist nur dann zu prüfen ist, wenn der Mitgliedstaat, in dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen wurde, ermittelt wird und mit dem ursprünglich bestimmten Mitgliedstaat nicht übereinstimmt.

4.      Zur Anwendung der oben genannten Grundsätze auf den vorliegenden Fall

59.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Prüfung der Zuständigkeit der italienischen und griechischen Behörden dadurch erschwert wird, dass das Vorabentscheidungsersuchen nur wenige Angaben zur betreffenden Sach- und Rechtslage enthält. Zudem lässt sich in Ermangelung spezifischer Gesichtspunkte nicht erkennen, welches konkrete Auslegungsproblem sich im Zusammenhang mit der Richtlinie 92/12 ergeben könnte. Auch wenn es Sache des vorlegenden Gerichts ist, die erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen vorzunehmen und sie auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwenden, ist es daher gleichwohl Aufgabe des Gerichtshofs, anhand der Sach- und Rechtslage, wie sie das vorlegende Gericht dargestellt hat, das Unionsrecht auszulegen, um diesem Gericht sachdienliche Hinweise für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu geben(35).

60.      Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass in den Rechtssachen, die die von den italienischen Behörden geltend gemachten und in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Forderungen betrafen, aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass die Agentur der Auffassung war, dass die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit in der Nichterledigung des Verfahrens der Steueraussetzung bestanden habe, weil die Begleitdokumente, die Silcompa für die betreffenden Warensendungen erhalten hatte, durch Anbringen eines gefälschten griechischen Zollstempels gefälscht worden seien. Daher war die Agentur der Auffassung, dass die Fälschung der Begleitdokumente eine in Italien begangene Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit gewesen sei und folglich einer unrechtmäßigen Entnahme aus dem Verfahren der Steueraussetzung gleichstehe, die die Verbrauchsteuer in Italien habe entstehen lassen(36). Im Januar 2000 stellte die Agentur daher die entsprechenden Zahlungsbescheide zu. Zum anderen ist in den Rechtssachen, die die von den griechischen Behörden geltend gemachten (und in den Nrn. 26 und 27 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten) Forderungen betreffen, die dem im Ausgangsverfahren angefochtenen Zahlungsbescheid zugrunde lagen, davon auszugehen, dass die griechischen Behörden ihre Zuständigkeit mutmaßlich nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/12 festgestellt haben, weil die Waren in Griechenland unrechtmäßig in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sein dürften, was das vorlegende Gericht jedoch zu überprüfen hat(37).

61.      Da die italienischen Behörden festgestellt hatten, dass die von Silcompa im Verfahren der Aussetzung der Verbrauchsteuer versandten Waren nicht an ihrem Bestimmungsort in Griechenland eingetroffen seien und die betreffenden Begleitdokumente gefälscht gewesen seien, und dass diese Waren demnach aufgrund einer während des Verfahrens der Steueraussetzung für verbrauchsteuerpflichtige Waren begangenen Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 20 der Richtlinie 92/12 aus diesem Verfahren entnommen wurden. Daher dürfte die Agentur nach Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie berechtigt gewesen sein, die Steuerforderung unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts beizutreiben. Wie bereits erläutert, beruht die allgemeine Systematik von Art. 20 der Richtlinie 92/12 insgesamt auf der Vorstellung, dass eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit, die während der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren begangen wird, die dem Verfahren der Aussetzung der Verbrauchsteuer unterliegen, einer Überführung dieser Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr gleichkommt, die für dieselben Waren nur einmal stattfinden kann. Trotz dieser Regel gab die Agentur im Lauf des Jahres 2005 dem Ersuchen der griechischen Behörden um Unterstützung bei der Beitreibung von Verbrauchsteuerforderungen statt, die von den griechischen Behörden gegen dasselbe Unternehmen geltend gemacht wurden und sich auf dieselben Waren bezogen.

62.      Im vorliegenden Fall verfügt der Gerichtshof jedoch über keine konkreten Anhaltspunkte, um beurteilen zu können, ob die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit möglicherweise in einem anderen Mitgliedstaat als Italien begangen wurde. Das rechtswidrige Inverkehrbringen des von Silcompa versandten Ethylalkohols auf griechischem Hoheitsgebiet, das in Griechenland strafrechtlich verfolgt wurde, ist in Bezug auf diese Waren zwar als Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit anzusehen; in Anbetracht des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und der allgemeinen Systematik der Richtlinie 92/12 ist sie aber lediglich eine Folge der zuvor in Italien begangenen Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit.

63.      Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, dass es in Anbetracht dieser Feststellung, die diesen Behörden oder Gerichten obliegt, im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens auf die Prüfung der zweiten Voraussetzung des Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 92/12, nämlich auf die Frage, wann die Dreijahresfrist für die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen „Korrekturmechanismus“ zu laufen beginnt, nicht ankommt. Wie bereits erwähnt, braucht diese Frist nämlich nur geprüft zu werden, wenn der Mitgliedstaat, in dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen wurde, ermittelt wird und sich von dem ursprünglich bestimmten Mitgliedstaat unterscheidet, was im Ausgangsverfahren offenbar nicht der Fall ist.

64.      In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und wie das vorlegende Gericht als Gericht des ersuchten Mitgliedstaats überprüfen kann, ob die von zwei Behörden zweier verschiedener Mitgliedstaaten geltend gemachten Verbrauchsteuerforderungen möglicherweise eine Doppelbesteuerung darstellen.

C.      Zur Richtlinie 76/308 über die gegenseitige Unterstützung

1.      Zum rechtlichen Rahmen der Analyse

65.      Während die Schaffung eines Binnenmarktes es den Unternehmen ermöglicht hat, den Wirtschaftsraum innerhalb dieses Marktes in vollem Umfang zu nutzen, sind die nationalen Steuerverwaltungen, für die die Grenzen noch immer bestehen, seit den 1970er Jahren mit einer Reihe von Rechtsinstrumenten gegenseitiger Unterstützung ausgestattet worden, um eine größere Effizienz im Steuerbereich zu gewährleisten(38). So zielt die Richtlinie 76/308 darauf ab, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens umzusetzen, indem sie die Beitreibung von Forderungen zwischen Mitgliedstaaten erleichtert(39). Die Durchführung der mit dieser Richtlinie eingeführten Amtshilferegelung hängt davon ab, dass zwischen den betreffenden nationalen Behörden ein solches Vertrauen besteht(40).

66.      Diese Richtlinie sieht zum einen drei gesonderte und spezielle Formen der gegenseitigen Unterstützung vor, die die ersuchte Behörde auf Antrag einer ersuchenden Behörde zu leisten hat, nämlich das Auskunftsersuchen(41), das Ersuchen, mit einer Forderung zusammenhängende Schriftstücke, die von dem Mitgliedstaat ausgehen, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, an den Empfänger zuzustellen(42), und das Ersuchen um Beitreibung von Forderungen, die Gegenstand eines vollstreckbaren Titels sind(43). Zum anderen enthält die Richtlinie 76/308 spezifische Bestimmungen, die die Zuständigkeit zwischen dem ersuchenden Mitgliedstaat und dem ersuchten Mitgliedstaat im Hinblick auf das betreffende Ersuchen festlegen. Das Ausgangsverfahren betrifft ein Ersuchen um Unterstützung bei der Beitreibung, weil die griechischen Behörden ein solches Ersuchen an die Agentur gerichtet haben.

a)      Die in Art. 12 der Richtlinie 76/308 vorgesehene Aufteilung der Zuständigkeiten

67.      Art. 12 der Richtlinie 76/308 sieht eine Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Instanzen des ersuchenden Mitgliedstaats und denen des ersuchten Mitgliedstaats für die Entscheidung über Anfechtungen der Forderung, des Vollstreckungstitels oder von Vollstreckungsmaßnahmen vor. Bei derartigen Anfechtungen hängt die Wahl der zuständigen Instanz des Mitgliedstaats, an die sich eine Partei zu wenden hat, davon ab, ob mit dem Rechtsbehelf die Forderung oder der Vollstreckungstitel einerseits oder aber die Beitreibungsmaßnahmen andererseits angegriffen werden. Wie Generalanwalt Bobek dargelegt hat, sieht die Richtlinie 2010/24, die an die Stelle der Richtlinie 76/308 getreten ist, als allgemeine Regel die Anwendung der lex auctoritatis vor, wonach die von den Behörden eines Mitgliedstaats vorgenommenen Handlungen (und damit deren Gültigkeit) dem Recht dieses Mitgliedstaats unterliegen(44). Daraus folgt, dass die zuständige Instanz eines jeden Mitgliedstaats lediglich die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte und Maßnahmen prüft, die von Behörden dieses Mitgliedstaats erlassen bzw. durchgeführt wurden, und zwar im Licht der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates(45).

68.      Somit ist die Klage, wenn die Forderung oder der über sie ausgestellte Vollstreckungstitel im Verlauf des Beitreibungsverfahrens angefochten wird, nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 76/308 bei der zuständigen Instanz des ersuchenden Mitgliedstaats zu erheben. Werden hingegen die Beitreibungsmaßnahmen angefochten, die in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, ergriffen wurden, ist die Klage gemäß Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 76/308 bei der zuständigen Instanz dieses Mitgliedstaats zu erheben(46).

69.      Um das Recht des Betroffenen, die Forderung oder den Vollstreckungstitel während des Beitreibungsverfahrens anzufechten, in vollem Umfang zu gewährleisten, sieht Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 76/308 vor, dass die ersuchte Behörde das Vollstreckungsverfahren in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Instanz des ersuchenden Mitgliedstaats aussetzt, sobald ihr mitgeteilt worden ist, dass ein Verfahren wegen der Anfechtung der Forderung oder des Vollstreckungstitels anhängig ist.

70.      Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, ist die in den vorliegenden Schlussanträgen beschriebene Aufteilung der Zuständigkeiten die logische Konsequenz des Umstands, dass die Forderung und der Vollstreckungstitel auf der Grundlage des geltenden Rechts des Mitgliedstaats, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, festgestellt bzw. erlassen worden sind, während die ersuchte Behörde für Vollstreckungsmaßnahmen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, nach den Art. 5 und 6 der Richtlinie 76/308 die Vorschriften anwendet, die ihr nationales Recht für entsprechende Handlungen vorsieht(47). Außerdem ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie, dass der Vollstreckungstitel unmittelbar anerkannt und automatisch wie ein Vollstreckungstitel des Mitgliedstaats behandelt wird, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, was meines Erachtens Ausdruck des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ist. Aus dieser Aufteilung der Zuständigkeiten ergibt sich, dass die ersuchte Behörde die Gültigkeit und Vollstreckbarkeit des Rechtsakts oder der Entscheidung, für den oder die die ersuchende Behörde um Unterstützung bei der Beitreibung ersucht, grundsätzlich nicht in Frage stellen darf. Die Rechtsprechung hat diesen Grundsatz jedoch abgeschwächt.

b)      Zur Möglichkeit für nationale Behörden, die Gewährung der gegenseitigen Unterstützung zu verweigern

71.      Während sich zum einen aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 76/308 ergibt, dass der Vollstreckungstitel für die Beitreibung der Forderung unmittelbar anerkannt und automatisch wie ein Vollstreckungstitel des Mitgliedstaats behandelt wird, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, ergibt sich zum anderen aus Art. 6 dieser Richtlinie, dass die ersuchte Behörde diese Beitreibung „vornimmt“, weil diese Richtlinie eine automatische Vollstreckung durch die ersuchte Behörde vorsieht. Zudem gibt es keine spezifische Bestimmung, die es erlaubt, ein Beitreibungsersuchen abzulehnen(48). In Ermangelung solcher Bestimmungen hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Grundlage dafür geschaffen, dass nationale Behörden und Einrichtungen die Unterstützung bei der Beitreibung ausnahmsweise verweigern können, wenn diese gegen die öffentliche Ordnung verstoßen würde.

72.      Insoweit hat der Gerichtshof im Urteil Kyrian(49) entschieden, dass „nicht auszuschließen [ist], dass ausnahmsweise die Instanzen des Mitgliedstaats, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, befugt sind, zu prüfen, ob die Vollstreckung dieses Titels insbesondere die öffentliche Ordnung dieses Mitgliedstaats beeinträchtigen würde, und gegebenenfalls die Gewährung der Unterstützung ganz oder teilweise zu versagen oder sie von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen abhängig zu machen“(50). Dem Gerichtshof zufolge „ist kaum denkbar, dass ein Vollstreckungstitel von diesem Mitgliedstaat vollstreckt wird, wenn diese Vollstreckung seine öffentliche Ordnung beeinträchtigen könnte“(51). In einem späteren Urteil, Donnellan(52), hat der Gerichtshof diesen Grundsatz bekräftigt, indem er eine solche Ablehnung zulässt, wenn die Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie über die gegenseitige Amtshilfe wegen einer unterlassenen Zustellung an die betroffene Person zu einer Verletzung ihrer Grundrechte, nämlich des Rechts aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, geführt hätte(53). Dabei hat der Gerichtshof seine klassische Rechtsprechung zur Einschränkung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens(54) in einem Kontext angewandt, in dem die Anwendung dieses Grundsatzes möglicherweise zu einer Verletzung von Grundrechten geführt hätte.

73.      Gleichwohl wird der Gerichtshof im vorliegenden Fall zu entscheiden haben, ob Gründe für die Ablehnung eines Unterstützungsersuchens vorliegen, wenn festgestellt wird, dass eine Verbrauchsteuerforderung doppelt geltend gemacht wird(55). Kann eine solche Doppelbesteuerung bei der Durchführung des Unionsrechts durch den Mitgliedstaat ein Grund für die Ablehnung eines Ersuchens um Unterstützung bei der Beitreibung sein? In diesem Zusammenhang halte ich es für angebracht, vor der Prüfung der Hypothese einer möglichen Verletzung der öffentlichen Ordnung oder der Grundrechte zu überlegen, ob die Antwort auf diese Frage nicht aus den einschlägigen Bestimmungen des Sekundärrechts abgeleitet werden kann.

2.      Zur Verpflichtung der Instanzen des ersuchenden Mitgliedstaats, die Zuständigkeit der Behörden dieses Staates zu überprüfen

74.      Meiner Ansicht nach kann die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage nur mit Nein beantwortet werden.

75.      Wie bereits in den Nrn. 47 bis 50 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt, ergibt sich aus der Systematik der Richtlinie 92/12, dass eine verbrauchsteuerpflichtige Ware nur einmal in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt werden kann, weil der Verbrauchsteueranspruch mit der Überführung der Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr entsteht, unabhängig davon, ob dies rechtmäßig oder unrechtmäßig geschieht. Für die Zwecke dieser Entstehung stellt Art. 20 der Richtlinie 92/12 es einer Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr gleich, wenn die Waren während des Verfahrens der Steueraussetzung infolge der Begehung einer Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit aus diesem Verfahren entnommen werden. Wie in Nr. 56 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, wird nach dieser Bestimmung aber nur die erste Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit, die dazu führt, dass die Waren während des Verfahrens der Steueraussetzung aus diesem Verfahren entnommen werden, als im Sinne dieser Bestimmung relevant angesehen. Dennoch lässt sich in der Praxis nicht ausschließen, dass es zu Meinungsverschiedenheiten über die Bestimmung des Ortes kommt, an dem eine solche Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit stattgefunden hat.

76.      Zur Beantwortung der durch das vorlegende Gericht gestellten Frage, ob das Gericht des ersuchten Staates im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsakte zur Beitreibung die Bestimmung des Ortes, an dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen wurde, überprüfen darf, ist im Licht der in den Nrn. 67 bis 70 der vorliegenden Schlussanträge genannten Bestimmungen der Richtlinie 76/308 zu beurteilen, ob eine solche Feststellung die Forderung, den Vollstreckungstitel oder die Vollstreckungsmaßnahmen im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 76/308 betrifft. Meines Erachtens ergibt sich die Antwort auf diese Frage aus einer Gesamtbetrachtung der Bestimmungen der Richtlinie 92/12, insbesondere ihrer Art. 6 und 20, die, wie bereits dargelegt, die Befugnisse der Mitgliedstaaten zur Erhebung von Verbrauchsteuern auf die unter diese Richtlinie fallenden Waren festlegen sollen.

77.      Wie insbesondere aus den Art. 6 und 20 der Richtlinie 92/12 hervorgeht, ist die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für die Erhebung von Verbrauchsteuern auf Waren wie Alkohol entweder gemäß Art. 6 dieser Richtlinie vom Ort der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr abhängig oder gemäß Art. 20 Abs. 1 bis 3 dieser Richtlinie von dem Ort, an dem die Waren während ihrer Beförderung das Verfahren der Steueraussetzung verlassen haben, oder gemäß Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie von dem – nachträglich bestimmten – Ort, an dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit tatsächlich begangen wurde. In Anbetracht der Gleichwertigkeit der in den Art. 6 und 20 genannten und oben beschriebenen Entstehungsgründe kann meines Erachtens nur der Schluss gezogen werden, dass die Frage nach dem Ort, an dem die verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden oder an dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen wurde, in erster Linie eine materiell-rechtliche Frage ist, die sich auf das Bestehen der Steuerschuld selbst bezieht(56). Da die Richtlinie 92/12 die Erhebung der Verbrauchsteuer durch einen Mitgliedstaat von einem bestimmten Ereignis abhängig macht, das in seinem Hoheitsgebiet eintritt, liegt für mich auf der Hand, dass ein Streit über die Bestimmung des Ortes einer Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit gemäß Art. 20 dieser Richtlinie ebenfalls als eine Frage anzusehen ist, die im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 76/308 die Forderung oder den Vollstreckungstitel betrifft. Nach der Logik dieser Richtlinie kann die Prüfung dieser Frage folglich nicht in die Zuständigkeit des Gerichts des ersuchten Mitgliedstaats fallen.

78.      Die in der Vorlageentscheidung beschriebene Situation, in der einem Unternehmen die Verbrauchsteuer für eine Warensendung doppelt auferlegt wird, steht meines Erachtens aber nicht im Einklang mit der Systematik der Richtlinie 92/12 insgesamt. Auch wenn sich aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Erledigung des an ihn gerichteten Ersuchens um Unterstützung wegen eines Verstoßes gegen seine öffentliche Ordnung oder gegen Grundrechte im Sinne der in Nr. 72 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung ablehnen könnte, darf das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats aber weder die verfügbaren Informationen über eine vergleichbare Maßnahme, die demselben Unternehmen in diesem Mitgliedstaat auferlegt wurde, d. h. in einem anderen Mitgliedstaat als dem, der das Ersuchen in Bezug auf einen dieselben Waren betreffenden Vorgang gestellt hat, unberücksichtigt lassen noch diesem Unterstützungsersuchen blind und mechanisch Folge leisten.

79.      In dieser Hinsicht bedeutet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, wie er in der Richtlinie 76/308 konkretisiert ist, notwendigerweise, dass alle Mitgliedstaaten die Anforderungen des Unionsrechts mit der gebotenen Sorgfalt beachten müssen. Da Silcompa, wie aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte hervorgeht, eine Klage gegen die Steuerforderung wegen der von den griechischen Behörden auferlegten Verbrauchsteuern erhoben hat, die dieselben Vorgänge und dieselben Erzeugnisse betrifft, die bereits in Italien besteuert wurden, ist es Sache des mit dieser Klage befassten griechischen Gerichts, zu prüfen, ob die griechischen Behörden für die Erhebung der Verbrauchsteuer auf die fraglichen Waren zuständig waren, da diese nach den derzeit verfügbaren Informationen das Verfahren der Aussetzung der Verbrauchsteuer im Sinne der Art. 3 und 20 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 infolge einer in Italien begangenen Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit verlassen haben. Daraus folgt, dass das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats die Erledigung des Unterstützungsersuchens gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 76/308 auszusetzen hat, bis das Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats die vorstehend beschriebenen Überprüfungen abgeschlossen hat.

II.    Ergebnis

80.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 76/308/EWG des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit bestimmten Abgaben, Zöllen, Steuern und sonstigen Maßnahmen in der durch die Richtlinie 2001/44/EG des Rates vom 15. Juni 2001 geänderten Fassung in Verbindung mit den Art. 6 und 20 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren in der durch die Richtlinie 92/108/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen in Bezug auf den Ort, an dem die Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 20 der Richtlinie 92/12 tatsächlich begangen wurde, nicht von dem mit einer Klage gegen Vollstreckungsmaßnahmen zur Beitreibung einer Forderung nach Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie befassten Gericht des Mitgliedstaats geprüft werden können, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat. Da eine Doppelbesteuerung durch von mehreren Mitgliedstaaten auf dieselben Waren erhobene Verbrauchsteuern aber gegen die allgemeine Systematik der Richtlinie 92/12 verstößt, obliegt es dem Gericht des Mitgliedstaats, vor dem eine Klage gegen die Steuerforderung wegen der Verbrauchsteuern auf dieselben Vorgänge und dieselben Waren wie diejenigen, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat besteuert wurden, anhängig ist, zu prüfen, ob die ersuchenden Behörden für die Erhebung dieser Verbrauchsteuer zuständig waren.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit bestimmten Abgaben, Zöllen, Steuern und sonstigen Maßnahmen (ABl. 1976, L 73, S. 18) in der durch die Richtlinie 2001/44/EG des Rates vom 15. Juni 2001 (ABl. 2001, L 175, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 76/308). Mit der Richtlinie 2008/55/EG des Rates vom 26. Mai 2008 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen (ABl. 2008, L 150, S. 28) waren die Richtlinie 76/308 sowie ihre Änderungsrechtsakte kodifiziert worden. Durch die Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen (ABl. 2010, L 84, S. 1) wurde die Richtlinie 2008/55 mit Wirkung vom 1. Januar 2012 aufgehoben. In Anbetracht des Datums des im Ausgangsverfahren streitigen Unterstützungsersuchens wird dieses Vorabentscheidungsersuchen jedoch im Licht der Bestimmungen der Richtlinie 76/308 geprüft.


3      Richtlinie des Rates vom 25. Februar 1992 (ABl. 1992, L 76, S. 1) in der durch die Richtlinie 92/108/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 (ABl. 1992, L 390, S. 124) geänderten Fassung. Die Richtlinie 92/12 wurde mit Wirkung vom 1. April 2010 durch die Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 (ABl. 2009, L 9, S. 12) aufgehoben. In Anbetracht des Zeitpunkts der Ereignisse des Ausgangsverfahrens wird dieses Vorabentscheidungsersuchen jedoch im Licht der Bestimmungen der Richtlinie 92/12 geprüft.


4      GURI Nr. 87 vom 14. April 2003.


5      Zahlungsbescheide Nrn. 5/2000, 15/2000 und 18/2000.


6      Urteile vom 12. April und 8. September 2010.


7      Rn. 8 bis 10 der Erklärungen der italienischen Regierung.


8      Silcompa hatte einen Antrag auf vereinfachte Beilegung der Streitigkeit nach Art. 5a des decreto legge n. 193/2016 (Gesetzesdekret Nr. 193/2016) gestellt. Die italienische Regierung erklärt in ihrer Antwort auf Fragen des Gerichtshofs, dass Silcompa den im Vergleich angegebenen Betrag in voller Höhe gezahlt habe.


9      Vgl. S. 8 der von der Agentur eingereichten Rechtsmittelschrift, die in der dem vorlegenden Gericht vorgelegten und bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereichten Akte enthalten ist.


10      Laut diesem Berufungsantrag soll es sich um das Urteil Nr. 98424/2001 des Landgerichts Athen handeln.


11      Zahlungsbescheid RP 05/14 in Höhe von 10 280 291,66 Euro und Zahlungsbescheid RP 05/12 in Höhe von 64 218,25 Euro, beide vom 1. September 2005. Die Daten dieser Zahlungsbescheide ergeben sich aus der dem Gerichtshof vorgelegten nationalen Akte.


12      Nach Angaben der italienischen Regierung entsprachen diese Bescheide den von den Zollbehörden Piräus bzw. Athen geforderten Zahlungen.


13      Urteil Nr. 501/41/07 vom 3. Dezember 2007.


14      Urteil Nr. 45/37/10.


15      Im Ausgangsverfahren rügt die Agentur mit ihrem zweiten Kassationsbeschwerdegrund, die Commissione tributaria regionale di Roma (Finanzgericht zweiter Instanz der Region Rom) habe gegen Art. 12 der Richtlinie 76/308 und gegen Art. 6 des Decreto legislativo Nr. 69/2003 verstoßen. In diesem Zusammenhang macht die Agentur im Wesentlichen geltend, im Rahmen der gegenseitigen Unterstützung unter den Mitgliedstaaten seien die Einwände gegen die Forderung und den Vollstreckungstitel – insbesondere das behauptete Fehlen der Zustellung der vorausgegangenen Rechtsakte durch die griechische Behörde – vor der für die Forderung zuständigen nationalen Behörde, nämlich der zuständigen griechischen Behörde, zu erheben.


16      Mit ihrem dritten Kassationsbeschwerdegrund rügt die Agentur einen Verstoß gegen Art. 3 der Legge n. 212 del 2000 (Gesetz Nr. 212/2000), weil die Commissione tributaria regionale di Roma (Finanzgericht zweiter Instanz der Region Rom) die Begründung des Zahlungsbescheids, in der die in Italien eingeleiteten Parallelverfahren zur Beitreibung der Verbrauchsteuer auf dieselben Vorgänge nicht aufgeführt seien, für unzureichend gehalten habe. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob in dem Rechtsstreit gegen das im Rahmen der gegenseitigen Unterstützung unter den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beitreibung von Verbrauchsteuern eingeleitete Vollstreckungsverfahren die Frage geprüft werden kann, ob möglicherweise eine „Doppelbesteuerung“ vorliegt, weil sowohl der ersuchende als auch der ersuchte Mitgliedstaat eine Forderung geltend machen, die auf denselben Entstehungstatbestand gestützt wird.


17      Urteil vom 25. Juli 2018, Dyson (C‑632/16, EU:C:2018:599, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Mit der Kommission ist festzustellen, dass die Verwaltungsverfahren im Zusammenhang mit den Zahlungsbescheiden, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, nicht als „Parallelverfahren“ (Rn. 13 des Vorabentscheidungsersuchens) angesehen werden können, weil diese Bescheide fünf Jahre nach den im Jahr 2000 an Silcompa gerichteten Zahlungsbescheiden über die italienischen Forderungen zugestellt wurden. Vorbehaltlich der nach italienischem Recht zu erfüllenden Formalitäten dürfte der die italienischen Forderungen betreffende Fall zudem abgeschlossen sein, weil Silcompa diese Forderungen im Rahmen des Vergleichs vollständig bezahlt hat (siehe Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge).


19      Vgl. insbesondere Rn. 5.


20      Vgl. insbesondere den vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 92/12; vgl. auch Urteile vom 2. April 1998, EMU Tabac u. a. (C‑296/95, EU:C:1998:152, Rn. 22), vom 5. April 2001, Van de Water (C‑325/99, EU:C:2001:201, Rn. 39), und vom 29. April 2004, Kommission/Deutschland (C‑240/01, EU:C:2004:251, Rn. 36).


21      Urteile vom 30. Mai 2013, Scandic Distilleries (C‑663/11, EU:C:2013:347, Rn. 22 und 23), vom 3. Juli 2014, Gross (C‑165/13, EU:C:2014:2042, Rn. 17), und vom 5. März 2015, Prankl (C‑175/14, EU:C:2015:142, Rn. 20). Außerdem geht das Bestreben, eine Doppelbesteuerung zu vermeiden, aus Art. 8 der Richtlinie 92/12 hervor, der es Privatpersonen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, Waren zollfrei in einen anderen Mitgliedstaat zu befördern, sowie aus Art. 22 dieser Richtlinie, der in den in den Art. 7 und 10 genannten Fällen eine Erstattung durch den Abgangsmitgliedstaat vorsieht.


22      Zu den Grundsätzen, die der Richtlinie 92/12 zugrunde liegen, vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Van de Water (C‑325/99, EU:C:2000:614). Vgl. auch – für das Schrifttum – Berlin, D., Politique fiscale, Commentaire J. Mégret, Bd. I, Éditions de l’Université de Bruxelles, 2012.


23      Wie die Kommission hervorhebt, muss zwischen der Überführung der Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr und dem Verbrauch dieser Waren unterschieden werden.


24      Urteil vom 5. April 2001, Van de Water (C‑325/99, EU:C:2001:201, Rn. 31).


25      Urteile vom 12. Dezember 2002, Cipriani (C‑395/00, EU:C:2002:751, Rn. 42), vom 29. April 2010, Dansk Transport og Logistik (C‑230/08, EU:C:2010:231, Rn. 78), und vom 28. Januar 2016, BP Europa (C‑64/15, EU:C:2016:62, Rn. 22).


26      Vgl. Urteil vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia (C‑81/15, EU:C:2016:398, Rn. 31 und 32), bezüglich des durch die Richtlinie 92/12 eingeführten Haftungssystems für alle Risiken im Zusammenhang mit der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die unter eine solche Regelung fallen. Dieser Lagerinhaber wird daher als Schuldner der Verbrauchsteuer bestimmt, wenn während der Beförderung dieser Waren eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen wurde, die zur Entstehung des Steueranspruchs führt.


27      Vgl. dazu Berlin, D., „Fiscalité indirecte“, JurisClasseur Europe Traité, Heft Nr. 1650, 1. Januar 2016, Rn. 56.


28      Schlussanträge des Generalanwalts Mischo in der Rechtssache Cipriani (C‑395/00, EU:C:2002:209, Nr. 74).


29      Urteile vom 12. Dezember 2002, Cipriani (C‑395/00, EU:C:2002:751, Rn. 43), und vom 13. Dezember 2007, BATIG (C‑374/06, EU:C:2007:788, Rn. 44).


30      Diese Auslegung wird durch die Vorarbeiten zur Richtlinie 2008/118 bestätigt, die die Logik von Art. 20 der Richtlinie 92/12 erläutern. Vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das allgemeine Verbrauchsteuersystem (KOM[2008] 78 endgültig).


31      Urteil vom 12. Dezember 2002, Cipriani (C‑395/00, EU:C:2002:751, Rn. 47).


32      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs haben Einzelpersonen Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat. Dieser Anspruch ist eine Folge und eine Ergänzung der Rechte, die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Der betreffende Mitgliedstaat ist also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (Urteil vom 2. Oktober 2003, Weber’s Wine World u. a., C‑147/01, EU:C:2003:533, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Van de Water (C‑325/99, EU:C:2000:614, Nr. 38).


34      Insoweit sieht Art. 19 der Richtlinie 92/12 vor, dass das Begleitdokument aus vier Exemplaren besteht, nämlich einer Ausfertigung, die der Versender aufzubewahren hat, einer Ausfertigung für den Empfänger, einer Ausfertigung, die zur Erledigung des Verfahrens an den Versender zurückzusenden ist, und einer Ausfertigung für die zuständigen Behörden des Bestimmungsmitgliedstaats. Folglich wird das Begleitdokument zum Zeitpunkt des Versands der Waren ausgestellt.


35      Urteil vom 9. November 2006, Chateignier (C‑346/05, EU:C:2006:711, Rn. 22).


36      Aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte geht allerdings nicht klar hervor, welche Bestimmung der Richtlinie 92/12 angewandt wurde, um davon auszugehen, dass der Anspruch auf die Verbrauchsteuer in Italien entstanden sei. Da Art. 20 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 92/12 die Zahlung der Verbrauchsteuer im Fall einer während des Verfahrens der Steueraussetzung begangenen Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit dem zugelassenen Lagerinhaber auferlegt, ist davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall diese Bestimmung angewandt wurde.


37      In der Tat enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine präzisen Angaben dazu, welche Bestimmungen der Richtlinie 92/12 von den griechischen Behörden angewandt wurden. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.


38      Berlin, D., „Synthèse – Droit fiscal de l’Union européenne“, JurisClasseur Europe Traité, 1. Mai 2019, Rn. 49.


39      Vgl. Michel, V., „Juridiction compétente pour le contrôle des mesures de recouvrement“, Revue Europe, Nr. 3, März 2010, Anmerkung Nr. 109, sowie Maitrot de la Motte, A., Droit fiscal de l’Union européenne, Bruylant, 2016, Rn. 479 ff.


40      Vgl. Urteil vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282, Rn. 40 und 41).


41      Gemäß Art. 4 der Richtlinie 76/308. Zum Informationsaustausch vgl. Fernández Marín, F., „The Right of Defence and the exchange of tax information ruled by EU law“, Studi Tributari Europei, Bd. 8, 2018, S. II, S. 25 bis 95.


42      Gemäß Art. 5 der Richtlinie 76/308.


43      Gemäß Art. 6 der Richtlinie 76/308.


44      Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Metirato (C‑695/17, EU:C:2018:944, Nr. 40).


45      Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Metirato (C‑695/17, EU:C:2018:944, Nr. 43).


46      Vgl. auch den zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 76/308, wonach der Betroffene den betreffenden Rechtsbehelf bei der zuständigen Instanz des Mitgliedstaats, in dem die ersuchende Behörde ihren Sitz hat, einzulegen hat und die ersuchte Behörde das von ihr eingeleitete Vollstreckungsverfahren aussetzen muss, bis die zuständige Instanz eine Entscheidung getroffen hat.


47      Urteile vom 14. Januar 2010, Kyrian (C‑233/08, EU:C:2010:11, Rn. 40), und vom 14. März 2019, Metirato (C‑695/17, EU:C:2019:209, Rn. 34).


48      Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 76/308 sieht Ablehnungsgründe vor. Diese Bestimmung bezieht sich jedoch auf das Auskunftsersuchen, das nicht Gegenstand der vorliegenden Rechtssache ist.


49      Urteil vom 14. Januar 2010, Kyrian (C‑233/08, EU:C:2010:11).


50      Urteil vom 14. Januar 2010, Kyrian (C‑233/08, EU:C:2010:11, Rn. 42), bestätigt durch das Urteil vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282, Rn. 47). Hervorhebung nur hier.


51      Urteil vom 14. Januar 2010, Kyrian (C‑233/08, EU:C:2010:11, Rn. 43), bestätigt durch das Urteil vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282, Rn. 48). Hervorhebung nur hier.


52      Urteil vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282).


53      Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass Art. 14 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/24 dahin auszulegen ist, dass er eine Behörde eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, die Vollstreckung eines Ersuchens, das die Beitreibung einer Forderung betrifft, die auf einer in einem anderen Mitgliedstaat verhängten Geldbuße beruht, mit der Begründung abzulehnen, dass die Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, dem Betroffenen nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde, bevor bei der Behörde das Beitreibungsersuchen in Anwendung der Richtlinie gestellt wurde (Urteil vom 26. April 2018, Donnellan, C‑34/17, EU:C:2018:282).


54      Vgl. zur Einschränkung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586).


55      Im Gegensatz zu den Urteilen vom 14. Januar 2010, Kyrian (C‑233/08, EU:C:2010:11), und vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282), geht es in der vorliegenden Rechtssache nicht um die Modalitäten der Zustellung, was meines Erachtens den Rückgriff auf die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Rechtsprechung ausschließt.


56      Vgl. entsprechend zur Unterscheidung zwischen der Existenz einer Zollschuld und ihrer Beitreibung Urteil vom 20. Oktober 2005, Transport Maatschappij Traffic (C‑247/04, EU:C:2005:628, Rn. 26 ff.).