Language of document : ECLI:EU:C:2022:142

Rechtssache C275/20

Europäische Kommission

gegen

Rat der Europäischen Union

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 1. März 2022

„Nichtigkeitsklage – Beschluss (EU) 2020/470 – Verlängerung der Frist des Leistungsanspruchs für audiovisuelle Koproduktionen gemäß Artikel 5 des Protokolls über kulturelle Zusammenarbeit zum Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits – Verfahrensrechtliche Grundlage – Art. 218 Abs. 7 AEUV – Anzuwendendes Verfahren und geltende Abstimmungsregel“

1.        Handlungen der Organe – Verfahren des Zustandekommens – Bestimmungen der Verträge – Zwingender Charakter – Möglichkeit für ein Organ zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen – Fehlen

(vgl. Rn. 32)

2.        Internationale Übereinkünfte – Abkommen der Union – Änderungen – Verfahrensrechtliche Grundlage – Art. 218 Abs. 7 AEUV – Durch das Protokoll im Anhang eines Freihandelsabkommens eingeführtes vereinfachtes Verfahren – Beschluss des Rates, mit dem die Kommission zur Billigung einer Änderung dieses Abkommens ermächtigt wird und strengere Abstimmungsmodalitäten eingeführt werden – Verstoß gegen Art. 218 AEUV – Bestimmung des anzuwendenden Verfahrens und der geltenden Abstimmungsregel

(Art. 218 Abs. 7 und Abs. 8 Unterabs. 1 AEUV; Beschlüsse des Rates 2015/2169, Art. 3 Abs. 1, und 2020/470)

(vgl. Rn. 33, 37-49, 51)

3.        Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Wirkungen – Begrenzung durch den Gerichtshof – Aufrechterhaltung der Wirkungen der angefochtenen Handlung – Rechtfertigung aus Gründen der Rechtssicherheit

(Art. 264 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 54-56)

Zusammenfassung

Mit dem Beschluss 2020/470 des Rates (im Folgenden: angefochtener Beschluss)(1) wurde die Frist des Leistungsanspruchs für audiovisuelle Koproduktionen gemäß dem Protokoll über kulturelle Zusammenarbeit(2), das dem Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits(3) beigefügt ist, bis zum 30. Juni 2023 verlängert.

Das Protokoll sieht vor, dass für audiovisuelle Koproduktionen ein Anspruch auf Leistungen aus den jeweiligen Regelungen für die Förderung von lokalen/regionalen kulturellen Inhalten besteht (im Folgenden: fraglicher Anspruch), der nach dem ersten Dreijahreszeitraum zunächst um drei Jahre und danach automatisch jeweils um weitere drei Jahre verlängert wird, es sei denn, eine Vertragspartei setzt dem Anspruch schriftlich wenigstens drei Monate vor Ablauf des ursprünglichen oder eines nachfolgenden Zeitraums ein Ende(4).

Der angefochtene Beschluss wurde auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 erlassen, mit dem das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits abgeschlossen wurde(5). Nach dieser Vorschrift setzt die Europäische Kommission die Republik Korea von der Absicht der Union in Kenntnis, die Frist für den fraglichen Anspruch nur dann zu verlängern, wenn der Rat vier Monate vor Ablauf dieser Frist auf Vorschlag der Kommission der Verlängerung dieses Anspruchs einstimmig zustimmt.

Die Kommission erhob Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses. Sie machte als einzigen Klagegrund geltend, der Rat habe, indem er den angefochtenen Beschluss auf Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 gestützt habe, unzulässigerweise eine „abgeleitete Rechtsgrundlage“ verwendet.

Der Gerichtshof (Große Kammer) hat sich erstmals dazu geäußert, welches Verfahren und welche Abstimmungsregel anzuwenden sind, wenn das in Art. 218 Abs. 7 AEUV vorgesehene vereinfachte Verfahren zur Änderung einer von der Union geschlossenen Übereinkunft(6) zum Tragen kommt. Er hat den angefochtenen Beschluss für nichtig erklärt, weil er festgestellt hat, dass das in Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 geregelte und mit dem angefochtenen Beschluss umgesetzte Verfahren nicht mit Art. 218 AEUV vereinbar ist, da es Einstimmigkeit im Rat verlangt, während für den Erlass einer internen Regelung in dem von diesem Beschluss erfassten Bereich die Abstimmungsregel der qualifizierten Mehrheit zur Anwendung käme.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof hat einleitend ausgeführt, dass aus dem sechsten Erwägungsgrund des Beschlusses 2015/2169(7) hervorgeht, dass die Rechtsgrundlage des in Art. 3 Abs. 1 dieses Beschlusses vorgesehenen Beschlussverfahrens Art. 218 Abs. 7 AEUV ist. Sodann hat er sich der Prüfung der Frage zugewandt, ob dieses mit dem angefochtenen Beschluss umgesetzte Verfahren in den Anwendungsbereich von Art. 218 Abs. 7 AEUV fällt und mit Art. 218 AEUV im Einklang steht.

Als Erstes hat der Gerichtshof zum einen festgestellt, dass sich aus Art. 5 Abs. 8 Buchst. a und b des Protokolls ergibt, dass die Vertragsparteien des Abkommens – und damit auch des Protokolls – alle drei Jahre im Anschluss an eine Bewertung durch den Ausschuss für kulturelle Zusammenarbeit prüfen müssen, ob sie den fraglichen Anspruch um weitere drei Jahre verlängern möchten oder nicht. Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 sieht in dieser Hinsicht ein unionsinternes Verfahren vor, indem er der Kommission die Befugnis einräumt, dem fraglichen Anspruch mit Ablauf des jeweiligen Dreijahreszeitraums ein Ende zu setzen oder, falls der Anspruch ihrer Ansicht nach verlängert werden sollte, dem Rat vor Ablauf des betreffenden Zeitraums einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten. Die Nichtverlängerung des Anspruchs bedeutet aber letztlich, dass ein durch das Protokoll geschaffener Anspruch, der sich grundsätzlich stillschweigend und automatisch alle drei Jahre verlängert, abgeschafft wird. Das fragliche Verfahren ermächtigt die Kommission somit zum Erlass von Entscheidungen über die Änderung des Protokolls. Folglich stellt Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 eine Ermächtigung dar, die der Kommission vom Rat beim Abschluss des Abkommens – und damit auch des Protokolls – erteilt wurde, und zwar eine Ermächtigung, im Namen der Union „Änderungen der Übereinkunft“ im Sinne von Art. 218 Abs. 7 AEUV zu billigen.

Zum anderen sieht Art. 5 Abs. 8 Buchst. a und b des Protokolls insofern ein vereinfachtes Verfahren vor, als es für die Beendigung des fraglichen Anspruchs ausreicht, dass eine Vertragspartei des Abkommens dem Anspruch schriftlich wenigstens drei Monate vor Ablauf des betreffenden Zeitraums ein Ende setzt, und sich der Anspruch andernfalls automatisch verlängert.

Im Übrigen können die in Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 festgelegten Regeln als Anwendung der in Art. 218 Abs. 7 AEUV vorgesehenen Befugnis des Rates angesehen werden, die der Kommission erteilte Ermächtigung mit besonderen Bedingungen zu verbinden, da die Kommission nach dieser Vorschrift des Beschlusses 2015/2169, wenn sie der Auffassung ist, dass der fragliche Anspruch um drei Jahre verlängert werden sollte, verpflichtet ist, dem Rat vier Monate vor Ablauf des gegenwärtigen Zeitraums einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten.

Daraus folgt, dass das in Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 geregelte und mit dem angefochtenen Beschluss umgesetzte Verfahren in den Anwendungsbereich von Art. 218 Abs. 7 AEUV fällt, so dass dieser Beschluss nicht im Wege des in Art. 218 Abs. 6 Buchst. a AEUV vorgesehenen ordentlichen Verfahrens zu erlassen war.

Als Zweites hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 218 Abs. 7 AEUV keine Abstimmungsregel für den Fall vorsieht, dass der Rat Beschlüsse erlassen möchte, für die er im Rahmen der Ermächtigung, die er der Kommission gemäß dieser Bestimmung erteilt hat, seine Zuständigkeit bewahrt hat. Die anzuwendende Abstimmungsregel ist daher in jedem Einzelfall ausgehend von Art. 218 Abs. 8 AEUV(8) zu bestimmen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass der Rat im Allgemeinen mit qualifizierter Mehrheit und nur in den im zweiten Unterabsatz genannten Fällen einstimmig beschließt. Die erste und hier einzig relevante Konstellation, in der Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 2 AEUV einen einstimmigen Ratsbeschluss verlangt, bezieht sich auf den Fall, dass die Übereinkunft einen Bereich betrifft, in dem für den Erlass eines Rechtsakts der Union Einstimmigkeit erforderlich ist. Da der fragliche Anspruch keinen solchen Bereich betrifft, ist das in Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2015/2169 vorgesehene Verfahren nicht mit Art. 218 AEUV vereinbar, soweit es Einstimmigkeit verlangt. Für den Erlass von Beschlüssen wie dem angefochtenen Beschluss gilt unter diesen Umständen nämlich die Abstimmungsregel nach Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 1 AEUV, wonach bei der Abstimmung im Rat eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist.

Der Gerichtshof hat den angefochtenen Beschluss daher für nichtig erklärt. Aus Gründen der Rechtssicherheit hat er jedoch entschieden, dessen Wirkungen aufrechtzuerhalten, bis die festgestellten Nichtigkeitsgründe behoben sind.


1      Beschluss (EU) 2020/470 des Rates vom 25. März 2020 in Bezug auf die Verlängerung der Frist des Leistungsanspruchs für audiovisuelle Koproduktionen gemäß Artikel 5 des Protokolls über kulturelle Zusammenarbeit zum Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits (ABl. 2020, L 101, S. 1).


2      Gemäß Art. 5 des Protokolls über kulturelle Zusammenarbeit (ABl. 2011, L 127, S. 1418, im Folgenden: Protokoll).


3      Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits (ABl. 2011, L 127, S. 6, im Folgenden: Abkommen).


4      Art. 5 Abs. 8 Buchst. a und b des Protokolls.


5      Beschluss (EU) 2015/2169 des Rates vom 1. Oktober 2015 (ABl. 2015, L 307, S. 2).


6      Art. 218 Abs. 7 AEUV bestimmt: „Abweichend von den Absätzen 5, 6 und 9 kann der Rat den Verhandlungsführer bei Abschluss einer Übereinkunft ermächtigen, im Namen der Union Änderungen der Übereinkunft zu billigen, wenn die Übereinkunft vorsieht, dass diese Änderungen im Wege eines vereinfachten Verfahrens oder durch ein durch die Übereinkunft eingesetztes Gremium anzunehmen sind. Der Rat kann diese Ermächtigung gegebenenfalls mit besonderen Bedingungen verbinden.“


7      Im sechsten Erwägungsgrund des Beschlusses 2015/2169 heißt es, dass es zweckmäßig sei, wenn der Rat die Kommission auf der Grundlage von Art. 218 Abs. 7 AEUV ermächtige, bestimmte begrenzte Änderungen des Abkommens zu billigen, und dass die Kommission ermächtigt werden sollte, den fraglichen Anspruch zu widerrufen, es sei denn, der Anspruch sollte nach ihrem Dafürhalten aufrechterhalten werden und der Rat genehmige dies in einem Sonderverfahren, da zum einen dieser Punkt in dem Abkommen besonders sensibel sei und zum anderen das Abkommen von der Union und ihren Mitgliedstaaten abgeschlossen werden müsse.


8      Art. 218 Abs. 8 AEUV sieht in Unterabs. 1 vor: „Der Rat beschließt während des gesamten Verfahrens mit qualifizierter Mehrheit.“ Unterabs. 2 bestimmt: „Er beschließt jedoch einstimmig, wenn die Übereinkunft einen Bereich betrifft, in dem für den Erlass eines Rechtsakts der Union Einstimmigkeit erforderlich ist, sowie bei Assoziierungsabkommen und Übereinkünften nach Artikel 212 mit beitrittswilligen Staaten. …“