Language of document : ECLI:EU:T:2012:98

Rechtssachen T‑29/10 und T‑33/10

Königreich der Niederlande und ING Groep NV

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfe – Finanzsektor – Beihilfe zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats – Kapitalzuführung, bei der dem Beihilfeempfänger ein Wahlrecht zwischen der Rückzahlung oder der Umwandlung der Wertpapiere eingeräumt ist – Änderung der Rückzahlungsbedingungen während des Verwaltungsverfahrens – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird – Begriff ‚staatliche Beihilfe‘ – Vorteil – Kriterium des privaten Kapitalgebers – Notwendiger und proportionaler Zusammenhang zwischen dem Betrag der Beihilfe und dem Umfang der Maßnahmen, die die Vereinbarkeit der Beihilfe ermöglichen sollen“

Leitsätze des Urteils

1.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Kriterium des privaten Kapitalgebers

(Art. 87 Abs. 1 EG)

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Rechtlicher Charakter – Auslegung anhand objektiver Kriterien – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang

(Art. 87 Abs. 1 EG)

3.      Unionsrecht – Auslegung – Handlungen der Organe – Begründung – Berücksichtigung

1.      Um einen „Vorteil“ im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG im Fall einer Kapitalzuführung festzustellen, ist zu prüfen, ob ein privater Kapitalgeber von vergleichbarer Größe wie eine staatliche Behörde unter den gleichen Umständen hätte veranlasst werden können, Kapitalhilfen dieses Umfangs zu gewähren, wobei insbesondere die zum Zeitpunkt dieser Hilfen verfügbaren Informationen und vorhersehbaren Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Für die Prüfung der Frage, ob sich der Staat wie ein umsichtiger marktwirtschaftlich handelnder Kapitalgeber verhalten hat, muss man sich in den Kontext der Zeit zurückversetzen, in der die finanziellen Unterstützungsmaßnahmen getroffen wurden, und sich somit jeder Beurteilung aufgrund einer späteren Situation enthalten.

Diese Grundsätze finden Anwendung, wenn der Staat zunächst beschlossen hat, von einem Unternehmen ausgegebenes Kapital zu zeichnen, und diese Kapitalzuführung bestimmten Rückzahlungsbedingungen unterliegt und er dann der Änderung dieser Bedingungen zustimmt. Unter solchen Umständen kann eine staatliche Beihilfe sowohl bei der Kapitalzuführung als auch bei der Änderung der genannten Rückzahlungsbedingungen gewährt worden sein.

Was die Prüfung der wirtschaftlichen Vernünftigkeit des Verhaltens des Staats betrifft, kann sich die Kommission ihrer Verpflichtung, die wirtschaftliche Vernünftigkeit der Änderung der Rückzahlungsbedingungen anhand des Kriteriums des privaten Kapitalgebers zu prüfen, nicht mit der bloßen Begründung entziehen, die Kapitalzuführung, um deren Rückzahlung es gehe, stelle als solche bereits eine staatliche Beihilfe dar. Erst am Ende einer solchen Prüfung, die insbesondere einen Vergleich der ursprünglichen mit den geänderten Rückzahlungsbedingungen voraussetzt, ist die Kommission nämlich in der Lage, zu beurteilen, ob ein zusätzlicher Vorteil im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG gewährt wurde.

Bei dieser Prüfung hat die Kommission alle relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, insbesondere diejenigen, die sich aus den ursprünglichen und aus den geänderten Rückzahlungsbedingungen ergeben. Ein Ansatz, der sich auf die Feststellung beschränkt, dass die Änderung der Bedingungen für die Rückzahlung des zugeführten Kapitals eine staatliche Beihilfe darstellte, ohne dass vorher geprüft wurde, ob mit dieser Änderung ein Vorteil gewährt wurde, den ein privater Kapitalgeber in der gleichen Situation wie der Staat nicht gewährt hätte, kann nicht genügen, um eine Beihilfe am Maßstab von Art. 87 Abs. 1 EG zu charakterisieren. Mit einem solchen Ansatz kann weder der Umstand, dass der Staat eine Option, nicht aber einen Anspruch auf Rückzahlung zu den ursprünglichen Bedingungen hat, noch die wirtschaftlichen Überlegungen, die geeignet sind, die vorgenommene Änderung zu erklären, völlig außer Acht gelassen werden.

Folglich hat die Kommission den Begriff „Beihilfe“ dadurch verkannt, dass sie nicht geprüft hat, ob sich der Staat, als er der Änderung der Rückzahlungsbedingungen zugestimmt hat, so verhalten hat, wie es ein privater Kapitalgeber in einer vergleichbaren Situation getan hätte, insbesondere da der Staat eine vorzeitige Rückzahlung erhalten konnte und hierbei angesichts der zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Marktbedingungen über eine größere Gewissheit verfügte, eine zufriedenstellende Vergütung zu erhalten.

(vgl. Randnrn. 97-99, 110-111, 118, 125)

2.      Der Begriff der staatlichen Beihilfe hat rechtlichen Charakter und ist anhand objektiver Kriterien auszulegen. Deshalb hat der Unionsrichter die Frage, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich von Art. 87 Abs. 1 EG fällt, grundsätzlich unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits und des technischen oder komplexen Charakters der von der Kommission vorgenommenen Beurteilungen umfassend zu prüfen. Allerdings ist die gerichtliche Nachprüfung in Bezug auf die Frage, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich von Art. 87 Abs. 1 EG fällt, beschränkt, wenn die Beurteilungen der Kommission technischen oder komplexen Charakter haben. Es ist jedoch Sache des Gerichts, zu ermitteln, ob dies der Fall ist.

Die Frage, ob die Änderung der Bedingungen für die Rückzahlung von zugeführtem Kapital insofern eine staatliche Beihilfe darstellt, als sie dem Begünstigten einen Vorteil gewährt, unterliegt daher grundsätzlich einer vollständigen Nachprüfung durch das Gericht. Ist jedoch das Gericht der Auffassung, dass die Feststellung der Beihilfe eine von der Kommission vorgenommene komplexe wirtschaftliche Beurteilung in Frage stellen würde, insbesondere soweit es darum geht, ob der Staat, als er der Änderung der Rückzahlungsbedingungen zugestimmt hat, nicht so gehandelt hat, wie es ein umsichtiger privater Kapitalgeber von vergleichbarer Größe getan hätte, unterliegt diese Frage einer eingeschränkten Nachprüfung.

Somit sind, um die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission im Bereich der staatlichen Beihilfen zu beurteilen, die Informationen heranzuziehen, über die die Kommission zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Entscheidung erlassen hat, verfügte oder verfügen konnte. Stellt sich insoweit heraus, dass Informationen, von denen die Kommission im Verwaltungsverfahren keine Kenntnis hatte, der Beurteilung durch die Kommission widersprechen oder sie in Zweifel ziehen, ist zu prüfen, ob sie diese Informationen rechtzeitig zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen konnte und, wenn ja, ob sie sie normalerweise hätte berücksichtigen müssen, zumindest als Angaben, die für die Anwendung des Kriteriums eines privaten Kapitalgebers relevant sind.

(vgl. Randnrn. 100-101, 105-106)

3.      Der verfügende Teil eines Rechtsakts kann nicht von seiner Begründung getrennt werden, so dass er, wenn dies erforderlich ist, unter Berücksichtigung der Gründe auszulegen ist, die zu seinem Erlass geführt haben. Zwar kann allein der verfügende Teil einer Entscheidung Rechtswirkungen erzeugen, jedoch können die Feststellungen in den Gründen einer Entscheidung der Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Unionsrichter unterliegen, soweit sie als Begründung einer beschwerenden Maßnahme die tragenden Gründe für den verfügenden Teil dieser Maßnahme darstellen oder wenn diese Begründung geeignet ist, den materiellen Gehalt des verfügenden Teils der fraglichen Maßnahme zu ändern.

So fällt, wenn die Kommission in einer Entscheidung im Bereich der staatlichen Beihilfen eine der ihr zur Prüfung unterbreiteten Maßnahmen rechtswidrig als Beihilfe eingestuft hat, diese Rechtswidrigkeit zwangsläufig auf die Vereinbarkeitserklärung der Beihilfe zurück, für die ein gewisses Maß an Verpflichtungszusagen erforderlich ist, das sich anhand des rechnerischen Mindestbetrags der Beihilfe bestimmt.

(vgl. Randnrn. 146, 156, 160)