Language of document : ECLI:EU:C:2024:38

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

9. Januar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 267 AEUV – Einem Obersten Gericht von seinem Ersten Präsidenten vorgelegte Rechtsfragen – Fehlen eines Rechtsstreits vor dem vorlegenden Gericht – Offensichtliche Unzulässigkeit“

In der Rechtssache C‑658/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 2. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2022, im Rahmen der Vorlage durch dessen Erste Präsidentin,

Beteiligter:

Prokurator Generalny,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer),

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten Z. Csehi sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und D. Gratsias,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Prokurator Generalny, vertreten durch R. Hernand,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch M. P. B. Jespersen, J. F. Kronborg und C. A.‑S. Maertens als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Runeskjöld und H. Shev als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, von Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 267 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der Prüfung von Rechtsfragen, die die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) der Zivilkammer dieses Gerichts in vollständiger Besetzung vorgelegt hat und die die Auswirkungen der Feststellung der Missbräuchlichkeit von Klauseln betreffen, die in Darlehensverträge aufgenommen wurden, die auf eine Fremdwährung lauten oder an eine solche gekoppelt sind.

 Polnisches Recht

 Verfassung

3        In Art. 144 Abs. 2 und 3 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen, im Folgenden: Verfassung) heißt es:

„(2)      Amtsakte des Präsidenten der Republik bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Vorsitzenden des Ministerrates, der infolge der Unterzeichnung die Verantwortung vor dem Sejm [(Abgeordnetenkammer, Polen)] trägt.

(3)      Die Vorschrift des Abs. 2 gilt nicht für:

17.      die Berufung von Richtern,

…“

4        Gemäß Art. 179 der Verfassung werden die Richter vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) auf unbestimmte Zeit berufen.

5        Art. 187 der Verfassung bestimmt:

„1.      Die [KRS] besteht aus:

1.      dem Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person,

2.      fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind,

3.      vier Mitgliedern, die von der [Abgeordnetenkammer] aus der Mitte der Abgeordneten gewählt worden sind, und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind.

…“

 Gesetz über das Oberste Gericht

6        Art. 29 §§ 2 und 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Position 5), bestimmt in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Position 190) (im Folgenden: Gesetz über das Oberste Gericht) geänderten Fassung:

„§ 2. Im Rahmen der Tätigkeit des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] oder seiner Organe ist es nicht zulässig, die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates oder der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts in Frage zu stellen.

§ 3.      Der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] oder ein anderes Staatsorgan darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich aus dieser Ernennung ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtspflege weder feststellen noch beurteilen.“

7        Art. 72 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht lautet wie folgt:

„Ein Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:

3)      Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird;

…“

8        Art. 83 § 1 dieses Gesetzes lautet:

„Wenn in der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte, der Militärgerichte oder des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] Unterschiede bei der Auslegung von Rechtsvorschriften, die ihrer Entscheidung zugrunde liegen, auftreten, kann der Erste Präsident oder der Präsident des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsprechung den mit sieben Richtern oder in einer anderen entsprechenden Besetzung tagenden Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] mit einer Rechtsfrage befassen.“

9        Art. 85 § 1 des genannten Gesetzes lautet wie folgt:

„Der Prokurator Generalny [(Generalstaatsanwalt, Polen)] wird darüber informiert, dass die Sitzung des Plenums des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] oder die Sitzung der Kammer oder der Vereinigten Kammern stattfindet.“

10      Art. 87 § 1 Satz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht lautet:

„Die Entscheidungen des Plenums des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der Vereinigten Kammern oder der Kammer in vollständiger Besetzung erlangen mit ihrem Erlass Rechtsgrundsatzcharakter.“

11      Art. 88 dieses Gesetzes bestimmt:

„§ 1.      Wenn ein Spruchkörper des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] beabsichtigt, eine Entscheidung aufzugeben, die Rechtsgrundsatzcharakter erlangt hat, legt er die aufgeworfene Rechtsfrage einem Spruchkörper vor, der aus sämtlichen Mitgliedern der Kammer besteht.

§ 2.      Die Aufgabe einer Entscheidung mit Rechtsgrundsatzcharakter, die von einer Kammer, den Vereinigten Kammern oder dem Plenum des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] erlassen worden ist, erfordert den Erlass einer neuen Entscheidung durch Beschluss der betreffenden Kammer, der Vereinigten Kammern bzw. des Plenums des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)].

§ 3.      Wenn der Spruchkörper einer Kammer des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] beabsichtigt, eine Entscheidung mit Rechtsgrundsatzcharakter aufzugeben, die von einer anderen Kammer erlassen worden ist, wird die Entscheidung durch Beschluss beider Kammern des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] getroffen. Die Kammern können das Plenum des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] mit der Rechtsfrage befassen.“

 Gesetz über die KRS

12      Die KRS wird geregelt durch die Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Nr. 126, Position 714) in der u. a. durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Position 3) und die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze) vom 20. Juli 2018 (Dz. U. 2018, Position 1443) geänderten Fassung (im Folgenden: KRS-Gesetz).

13      Art. 37 Abs. 1 des KRS-Gesetzes bestimmt:

„Hat sich mehr als ein Kandidat um eine Stelle als Richter beworben, prüft und bewertet [die KRS] alle eingereichten Bewerbungen gemeinsam. In diesem Fall verabschiedet [die KRS] eine Entschließung, die ihre Entscheidungen über die Einreichung eines Vorschlags zur Ernennung auf eine Richterstelle für alle Kandidaten enthält.“

14      Art. 44 Abs. 1b des KRS-Gesetzes sah vor:

„Haben in Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, nicht alle Teilnehmer an dem Verfahren die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung angefochten, wird diese Entschließung für die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, in dem Teil bestandskräftig, in dem die Entscheidung über die Einreichung eines Vorschlags für die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag für die Ernennung zum Richter an diesem Gericht einzureichen, enthalten ist.

…“

15      Gemäß Art. 3 der Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz ustawy – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesrichterrat und des Gesetzes über die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 26. April 2019 (Dz. U. 2019, Position 914), die am 23. Mai 2019 in Kraft getreten ist, werden „Verfahren über Rechtsbehelfe gegen die Entschließungen [der KRS] in Individualsachen, die die Ernennung zum Richter [am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht entschieden wurden, von Rechts wegen eingestellt“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16      Am 29. Januar 2021 befasste die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gemäß Art. 83 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht die Zivilkammer dieses Gerichts in vollständiger Besetzung mit der Beantwortung verschiedener Rechtsfragen, die sich auf die Folgen der Feststellung der Missbräuchlichkeit von Klauseln zur Bestimmung des Wechselkurses in Darlehensverträgen beziehen, die auf eine Fremdwährung lauten oder an eine solche gekoppelt sind.

17      Die Zivilkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) prüfte in vollständiger Besetzung diese Fragen in ihrer Sitzung vom 2. September 2021, an der 21 Richter teilnahmen, von denen sieben vom Präsidenten der Republik am 10. Oktober 2018 aufgrund der beiden Entschließungen Nr. 330/18 und Nr. 331/18 der KRS vom 28. August 2018 (im Folgenden: Entschließungen vom 28. August 2018) ernannt worden waren.

18      Angesichts der Teilnahme dieser Richter an der genannten Sitzung äußerte die Mehrheit der Mitglieder des Plenarspruchkörpers Zweifel an der ordnungsgemäßen Zusammensetzung dieses Spruchkörpers und daran, dass es sich dabei um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht handele.

19      Nach Ansicht der Zivilkammer in vollständiger Besetzung beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der das vorlegende Gericht ist, sind die im Rahmen der Justizreform erfolgten Gesetzesänderungen nämlich geeignet, den Schluss nahezulegen, dass die Legislative mit der Absicht gehandelt habe, jede Möglichkeit einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle der Entschließungen vom 28. August 2018 zu verhindern.

20      Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, dass Art. 44 Abs. 1b des KRS-Gesetzes vorsehe, dass in Individualverfahren zur Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) dann, wenn nicht alle Teilnehmer des Verfahrens die Entschließung, die die KRS-Entscheidungen über die Einreichung eines Vorschlags zur Ernennung enthalte, angefochten hätten, diese Entschließung für die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt hätten, in dem Teil bestandskräftig werde, in dem die Entscheidung über die Einreichung eines Vorschlags für die Ernennung bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag für eine solche Ernennung einzureichen, enthalten sei.

21      Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass die Entschließungen vom 28. August 2018, die u. a. die Vorschläge zur Ernennung der sieben am 10. Oktober 2018 ernannten Richter der Zivilkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) enthielten, vor dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) angefochten worden seien, der mit Entscheidungen vom 27. September 2018 deren Vollzug ausgesetzt habe.

22      Der Präsident der Republik habe ungeachtet dieser Aussetzung die Ernennung der von der KRS vorgeschlagenen Kandidaten vorgenommen; darüber hinaus sehe der in Rn. 15 dieses Beschlusses erwähnte Art. 3 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und des Gesetzes über die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor, dass Rechtsbehelfe gegen Entschließungen der KRS in Individualsachen, die die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beträfen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes – am 23. Mai 2019 – eingereicht und noch nicht entschieden worden seien, von Rechts wegen eingestellt würden.

23      Im Anschluss an das Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153), habe der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), der die gegen die Entschließungen vom 28. August 2018 gerichteten Rechtsbehelfe nicht für erledigt erklärt habe, mit Urteil vom 6. Mai 2021 diese Entschließungen in dem Teil aufgehoben, der den Vorschlag zur Ernennung der Kandidaten für das Amt eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) enthalten habe.

24      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich daraus, dass der Präsident der Republik mit der Ernennung der Richter ungeachtet des beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) gegen die Entschließungen vom 28. August 2018 eingelegten und noch anhängigen Rechtsbehelfs, der zu deren Aufhebung führte und wodurch diesen Ernennungen die Rechtsgrundlage entzogen wurde, rechtswidrig gehandelt hat, da Art. 179 der Verfassung vorsehe, dass Richter vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS berufen würden.

25      Unter diesen Umständen fragt sich das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage, ob ein Spruchkörper des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als unabhängiges und unparteiisches Gericht bezeichnet werden kann, obgleich einige Mitglieder dieses Spruchkörpers ernannt worden seien, ohne dass die Ausschreibung der freien Richterstellen durch den Präsidenten der Republik vom Vorsitzenden des Ministerrats gegengezeichnet worden sei, obgleich das Verfahren vor der Ernennung dieser Mitglieder ohne Einhaltung der Grundsätze der Transparenz und Integrität durchgeführt worden sei und obgleich die Ernennung dieser Mitglieder durch den Präsidenten der Republik ungeachtet des gegen die Entschließungen vom 28. August 2018 beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) eingelegten Rechtsbehelfs und ungeachtet dessen Entscheidungen über die Aussetzung des Vollzugs und die Aufhebung, wie in Rn. 21 bzw. 23 des vorliegenden Beschlusses erwähnt, erfolgt sei.

26      In Bezug auf die zweite Vorlagefrage weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das in Rn. 6 des vorliegenden Beschlusses erwähnte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze im Gesetz über das Oberste Gericht einen neuen Art. 29 §§ 2 und 3 einfüge, der dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) unter Androhung von Disziplinarstrafen jede Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern oder ihrer Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtspflege untersage. Das vorlegende Gericht hegt jedoch Zweifel, ob ein solches Verbot mit dem Unionsrecht vereinbar sei und ob es durch die Achtung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden könne.

27      Die Gründe, die das vorlegende Gericht zur dritten Vorlagefrage veranlasst haben, hängen damit zusammen, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) am 23. Januar 2020 durch einen Spruchkörper, der sich aus seiner Zivilkammer, seiner Strafkammer sowie seiner Kammer für Arbeit und soziale Sicherheit zusammensetzte, auf der Grundlage der Erkenntnisse, die sich aus dem Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), ergeben haben, einen Beschluss mit Rechtsgrundsatzcharakter erlassen hat, mit dem insbesondere die nicht vorschriftsmäßige Besetzung eines Gerichts festgestellt wird, dem Richter angehören, die auf Vorschlag einer KRS berufen wurden, die nach den Modalitäten gemäß des in Rn. 12 des vorliegenden Beschlusses erwähnten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze eingerichtet worden war. Dieser Beschluss sei jedoch in einem Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) vom 20. April 2020 für verfassungswidrig erklärt worden, der mit Beschluss vom 21. April 2020 außerdem festgestellt habe, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nicht zuständig sei, im Beschlusswege eine Fortbildung des Rechts vorzunehmen, die geeignet sei, zu einer Änderung des normativen Rahmens für die Organisation der Justiz zu führen, und ferner unzuständig sei, die Ausübung der dem Präsidenten der Republik durch Art. 179 der Verfassung übertragenen Befugnisse zu überwachen.

28      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts nimmt die Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) den Parteien einer gerichtlichen Instanz die Möglichkeit, die ordnungsgemäße Besetzung eines Gerichts anzufechten, stellt einen Eingriff in die Ausübung der Rechtsprechungstätigkeit dar und kann das letztgenannte Gericht nicht binden, da sie von einem Gericht stamme, das selbst nicht ordnungsgemäß besetzt sei.

29      Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass ein letztinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaats (Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]), dessen Spruchkörper Personen angehören, die unter folgenden Verstößen gegen die Grundregeln des Rechts des Mitgliedstaats über die Ernennung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu Richtern ernannt wurden, kein unabhängiges, unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, das dem Einzelnen in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet:

a)      Ausschreibung freier Richterstellen beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) durch den Präsidenten der Republik Polen ohne vorherige Gegenzeichnung durch den Präsidenten des Ministerrats,

b)      Durchführung eines Vorverfahrens bezüglich der Ernennung unter Missachtung der Grundsätze der Transparenz und des fairen Verfahrens durch ein nationales Organ (KRS), das unter Berücksichtigung der Umstände seiner Konstituierung im richterlichen Teil und seiner Arbeitsweise nicht den Anforderungen an ein Verfassungsorgan entspricht, das mit der Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter betraut ist,

c)      Aushändigung von Urkunden über die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) durch den Präsidenten der Republik Polen, obwohl die Entschließung der KRS, die den Vorschlag zur Ernennung in das Richteramt umfasste, zuvor beim zuständigen nationalen Gericht (Naczelny Sąd Administracyjny [Oberstes Verwaltungsgericht]) angefochten wurde, der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) den Vollzug dieser Entschließung in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht aussetzte und das Berufungsverfahren noch nicht abgeschlossen war, nach dessen Durchführung der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) die angefochtene Entschließung der KRS wegen Rechtswidrigkeit rechtskräftig aufhob und sie endgültig aus der Rechtsordnung entfernte, wodurch dem Akt der Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) die nach Art. 179 der Verfassung der Republik Polen erforderliche Grundlage in Form eines Vorschlags des Landesjustizrats zur Ernennung in das Richteramt entzogen wurde?

2.      Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass sie der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften wie Art. 29 §§ 2 und 3, Art. 26 § 3 und Art. 72 §§ 1, 2 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht entgegenstehen, soweit diese es unter Androhung einer Disziplinarstrafe in Form der Entfernung aus dem Amt verbieten, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich aus dieser Ernennung ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung feststellt oder beurteilt und auf diese Gründe gestützte Anträge auf Ausschluss eines Richters inhaltlich beurteilt, unter der Annahme, dass dieses Verbot wegen der Achtung der verfassungsrechtlichen Identität der Mitgliedstaaten durch die Union gerechtfertigt sei?

3.      Sind Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 19 EUV und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass ein Urteil eines Verfassungsgerichts eines Mitgliedstaats (Trybunał Konstytucyjny [Verfassungsgerichtshof]), mit dem eine Entscheidung eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts (Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]) für unvereinbar mit der Verfassung der Republik Polen erklärt wird, kein Hindernis für die Beurteilung der Unabhängigkeit eines Gerichts und für die Prüfung der Frage darstellen kann, ob ein Gericht im Sinne des Unionsrechts durch Gesetz errichtet worden ist, wobei im Übrigen zu berücksichtigen ist, dass die Entscheidung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf die Durchführung eines Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union gerichtet war, dass die Bestimmungen der Verfassung und die geltenden Gesetze (nationale Rechtsvorschriften) dem Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nicht die Zuständigkeit verleihen, gerichtliche Entscheidungen zu überprüfen, einschließlich der Beschlüsse zur Lösung von Diskrepanzen bei der Auslegung von Rechtsvorschriften, die gemäß Art. 83 des Gesetzes über das Oberste Gericht ergehen, und zudem, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) aufgrund seiner derzeitigen Zusammensetzung kein auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

30      Nach Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs kann der Gerichtshof, wenn ein Ersuchen oder eine Klage offensichtlich unzulässig ist, nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen.

31      Diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall anzuwenden.

32      Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen. Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die erbetene Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Der Gerichtshof hat daher wiederholt darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass vor der Zivilkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in vollständiger Besetzung kein Rechtsstreit anhängig ist. Wie sich nämlich aus den vom vorlegenden Gericht angeführten nationalen Bestimmungen und insbesondere aus Art. 83 § 1 und Art. 87 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht ergibt, entscheidet dieser Spruchkörper, wenn er vom Ersten Präsidenten auf der Grundlage des ersten dieser beiden Artikel mit Rechtsfragen befasst wird, um Auslegungsunterschiede zwischen Tatsachengerichten zu beseitigen, durch eine allgemeine Entscheidung, die Rechtsgrundsatzcharakter erlangt, ohne einen Rechtsstreit zwischen Parteien entscheiden zu müssen.

36      Mit Schreiben vom 25. Oktober 2022 hat das vorlegende Gericht im Übrigen klargestellt, dass es im Rahmen dieses Verfahrens nicht möglich sei, „Parteien des Rechtsstreits“ namhaft zu machen, und dass weder dem Ersten Präsidenten noch dem Generalstaatsanwalt eine Stellung als „Partei“ zukomme.

37      Zwar hat das vorlegende Gericht mit Schreiben vom 19. Mai 2023 mitgeteilt, dass der Generalstaatsanwalt gemäß dem Gesetz über das Oberste Gericht über den Termin der in Rn. 17 des vorliegenden Beschlusses erwähnten Sitzung der Zivilkammer des Sąd Najwyższy (Oberster Gerichtshof) in vollständiger Besetzung informiert worden sei und daran teilgenommen habe.

38      Dies ändert indessen nichts daran, dass das Ausgangsverfahren nicht auf die Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen sich gegenüberstehenden Parteien abzielt, sondern auf eine allgemeine Entscheidung mit Rechtsgrundsatzcharakter.

39      Unter diesen Umständen ist das in diesem Verfahren vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen nicht für die tatsächliche Entscheidung eines echten Rechtsstreits zwischen Parteien erforderlich.

40      Daraus folgt, dass dieses Ersuchen offensichtlich unzulässig ist.

 Kosten

41      Das Verfahren ist Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) beschlossen:

Das vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 2. September 2021 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen ist offensichtlich unzulässig.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.