Language of document : ECLI:EU:T:2018:795

Verbundene Rechtssachen T202/10 RENV II und T203/10 RENV II

Stichting Woonlinie u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Sozialer Wohnungsbau – Beihilferegelungen zugunsten von sozialen Wohnungsbaugesellschaften – Bestehende Beihilfen – Verpflichtungen des Mitgliedstaats – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse – Art. 106 Abs. 2 AEUV – Festlegung der Gemeinwohlaufgabe“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Achte erweiterte Kammer) vom 15. November 2018

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Vorbereitende Handlungen – Ausschluss – Schreiben der Kommission, in dem sie Zweifel an der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt äußert und zweckdienliche Maßnahmen vorschlägt – Handlung, die einen Schritt bei der Ausarbeitung eines Beschlusses darstellt, mit dem die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Ausschluss

(Art. 263 AEUV; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 17)

2.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Beihilferegelung – Begriff – Zahlung von Einzelbeihilfen – Einbeziehung

(Art. 108 AEUV; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 1 Buchst. d)

3.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Beihilferegelung – Begriff – Notwendigkeit einer Rechtsvorschrift als Grundlage für diese Regelung – Fehlen

(Art. 108 AEUV; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 1 Buchst. d)

4.      Gerichtliches Verfahren – Vorbringen neuer Klage- und Verteidigungsgründe im Laufe des Verfahrens – Voraussetzungen – Erweiterung eines bereits vorgetragenen Klage- und Verteidigungsgrundes

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 84 Abs. 1)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Maßnahmen zum Ausgleich der Kosten der von einem Unternehmen übernommenen Gemeinwohlaufgaben – Ausschluss – Im Altmark-Urteil angeführte Voraussetzungen – Kumulativer Charakter

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Maßnahmen zum Ausgleich der Kosten der von einem Unternehmen übernommenen Gemeinwohlaufgaben – Unterscheidung zwischen der Altmark-Prüfung, mit der das Vorliegen einer Beihilfe festgestellt werden soll, und der Prüfung nach Art. 106 Abs. 2 AEUV, die die Feststellung zulässt, ob eine Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist

(Art. 106 Abs. 2 und Art. 107 Abs. 1 AEUV)

7.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind – Definition der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – Ermessen der Mitgliedstaaten – Grenzen – Auf offenkundige Fehler beschränkte Kontrolle durch die Kommission und die Gerichte

(Art. 106 Abs. 2 und Art. 107 Abs. 1 AEUV)

8.      Staatliche Beihilfen – Bestehende Beihilfen – Maßnahmen zum Ausgleich der Kosten der von einem Unternehmen übernommenen Gemeinwohlaufgaben – Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt durch die Kommission – Notwendigkeit, das Risiko der Überkompensation nur für die Zukunft zu berücksichtigen

(Art. 106 Abs. 2 und Art. 107 Abs. 1 AEUV)

9.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind – Bewertung der Mehrkosten, die durch die gemeinwirtschaftliche Aufgabe entstehen – Ermessen der Kommission

(Art. 106 Abs. 2 AEUV)

1.      Da ein Schreiben der Kommission nach Art. 17 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV, in dem sie Zweifel an der Vereinbarkeit einer Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt äußert und zweckdienliche Maßnahmen vorschlägt, einen ersten Schritt bei der Ausarbeitung eines Beschlusses darstellt, mit dem die Unvereinbarkeit der Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt festgestellt wird, und diese Zweifel durch diesen Beschluss bestätigt wurden, kann ein Kläger nicht daran gehindert sein, seine Klage gegen den angefochtenen Beschluss darauf zu stützen, dass die in dem Schreiben enthaltene Beurteilung rechtswidrig sei.

(vgl. Rn. 41)

2.      Aus Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV ergibt sich, dass die Zahlung von Einzelbeihilfen das Vorliegen einer Regelung, auf deren Grundlage diese Beihilfen gewährt werden, nicht ausschließt.

Insoweit steht die Tatsache, dass bei der Kommission Beschwerden über Einzelverkäufe von Gütern unter dem Marktpreis eingegangen sind, dem Bestehen einer Regelung, nach der diese Einzelbeihilfen gewährt worden sind, nicht entgegen.

(vgl. Rn. 50)

3.      Das Erfordernis einer Rechtsvorschrift als Grundlage für eine Beihilferegelung ist nicht Teil der Definition einer Beihilferegelung im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV.

(vgl. Rn. 51)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 63)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 72-74)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 76, 77)

7.      Auch wenn der Mitgliedstaat über ein weites Ermessen bei der Bestimmung dessen verfügt, was er als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI) erachtet, entbindet ihn dies jedoch nicht davon, rechtlich hinreichend nachzuweisen, dass deren Umfang in Bezug auf die tatsächliche Notwendigkeit einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung erforderlich und verhältnismäßig ist. Die nationalen Behörden sind nämlich dafür beweispflichtig, dass die DAWI hinreichend klar abgegrenzt ist. Weist der Mitgliedstaat nicht nach, dass diese Kriterien erfüllt sind, oder verkennt er sie, kann das einen offensichtlichen Beurteilungsfehler darstellen, den die Kommission zu berücksichtigen hat.

Wegen des weiten Ermessens, über das der Mitgliedstaat bei der Definition einer DAWI und der Festlegung der Bedingungen für ihre Durchführung verfügt, einerseits, und der auf offenkundige Fehler beschränkten Kontrolle, zu der die Kommission ermächtigt ist, andererseits, kann das Gericht die diesbezügliche Beurteilung der Kommission auch nur bis zu dieser Grenze überprüfen und darf daher nur untersuchen, ob die Kommission das Vorliegen eines offenkundigen Fehlers des Mitgliedstaats zu Recht bejaht oder verneint hat.

(vgl. Rn. 81, 82, 98)

8.      Die Überprüfung bestehender Beihilfen durch die Kommission kann nur zu einer Entscheidung führen, die Wirkungen für die Zukunft erzeugt. Die Kommission kann also nur dann veranlasst sein, zweckdienliche Maßnahmen vorzuschlagen, wenn sie der Meinung ist, dass mit der betreffenden Finanzierungsregelung eine Gefahr der Überkompensierung für die Zukunft verbunden ist.

Unter diesen Umständen ist es möglich, dass eine im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung einer bestehenden Beihilfe für die Vergangenheit vorgenommene Untersuchung einer etwaigen Überkompensierung im Einzelfall von Interesse für die Beurteilung der Vereinbarkeit dieser bestehenden Beihilfe mit dem Binnenmarkt sein kann. Eine derartige Untersuchung ist jedoch als solche nicht unerlässlich, um ordnungsgemäß zu beurteilen, ob es erforderlich ist, zweckdienliche Maßnahmen für die Zukunft vorzuschlagen, und um diese Maßnahmen festzulegen. Die Gefahr einer künftigen Überkompensierung hängt letztlich im Wesentlichen von den konkreten Modalitäten der Finanzierungsregelung selbst ab und nicht davon, dass diese Regelung in der Praxis eine Überkompensierung in der Vergangenheit verursacht haben soll.

In einem Schreiben nach Art. 17 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV, das eine vorläufige Beurteilung der Kommission enthält, hat diese insoweit nicht nachzuweisen, dass die Nebentätigkeiten der fraglichen Gesellschaften tatsächlich staatliche Beihilfen erhalten oder dass tatsächlich Quersubventionen stattgefunden haben.

(vgl. Rn. 120, 154-156)

9.      Eine klare Definition einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI) ist erforderlich, um die Einhaltung der Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit der Beihilfe zu gewährleisten, nämlich um sicherzustellen, dass der gewährte Ausgleich nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Gemeinwohlaufgabe zu erfüllen.

Insoweit fordert die Kommission, wenn sie nationale Behörden darum ersucht, die DAWI auf dem Gebiet des sozialen Wohnungsbaus anhand einer Zielgruppe sozial schwacher Haushalte zu definieren, diese Behörden dazu auf, eindeutig zu bestimmen, für welche Gemeinwohlaufgaben der Ausgleich gewährt wird. Diese genaue Definition lässt es mithin zu, die mit der Erbringung der DAWI verbundenen Ausgaben zu bestimmen sowie einerseits Überkompensierungen zu vermeiden und andererseits zu verhindern, dass die von den Wohnungsbaugesellschaften außerhalb der DAWI ausgeübten Tätigkeiten staatliche Beihilfen erhalten, und so Quersubventionen auszuschließen.

(vgl. Rn. 148, 149)