Language of document : ECLI:EU:T:2018:940

Rechtssache T-167/13

(Auszugsweise Veröffentlichung)

Comune di Milano

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Bodenabfertigungsdienste – Kapitaleinlagen der SEA zugunsten der SEA Handling – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Begriff der Beihilfe – Zurechenbarkeit zum Staat – Kriterium des privaten Kapitalgebers – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens – Verteidigungsrechte – Recht auf eine geordnete Verwaltung – Berechtigtes Vertrauen“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 13. Dezember 2018

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Individuelle Betroffenheit – Kriterien – Beschluss der Kommission, mit dem eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Klage eines Trägers öffentlicher Gewalt, der die Eigenschaft als Beihilfegeber besitzt – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsschutzinteresse – Erfordernis eines bestehenden und gegenwärtigen Interesses

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

3.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beihilfen aus staatlichen Mitteln – Beihilfen eines öffentlichen Unternehmens – Mittel des Unternehmens, die ständiger öffentlicher Kontrolle unterliegen – Einbeziehung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

4.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Aufeinanderfolgende Maßnahmen des Staates, die untrennbar miteinander verknüpft sind – Beurteilungskriterien

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beihilfen eines öffentlichen Unternehmens – Staatlich kontrolliertes Unternehmen – Zurechenbarkeit der Beihilfemaßnahme an den Staat – Einbeziehung – Komplex der zu berücksichtigenden Indizien

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Kriterium des privaten Kapitalgebers – Beurteilung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte des streitigen Vorgangs und seines Kontexts – Berücksichtigung der im Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses über die fragliche Maßnahme verfügbaren Informationen und vorhersehbaren Entwicklungen

(Art. 107 und 108 Abs. 1 und 3 AEUV)

7.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Kriterium des privaten Kapitalgebers – Beurteilung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte des streitigen Vorgangs und seines Kontexts – Der Kommission obliegende Beweislast – Umfang – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

1.      Die Rechtsstellung einer Einheit, die kein Mitgliedstaat ist, aber Rechtspersönlichkeit besitzt und eine von der Kommission in einer endgültigen Entscheidung als staatliche Beihilfe eingestufte Maßnahme getroffen hat, kann durch die Entscheidung individuell betroffen sein, wenn sie sie daran hindert, ihre eigenen Befugnisse, die insbesondere in der Gewährung der betreffenden Beihilfe bestehen, in der von ihr gewünschten Weise auszuüben.

Als Beihilfegeber ist insoweit eine staatliche Stelle anzusehen, die am Erlass der in Rede stehenden Maßnahmen in dem Maße beteiligt war, dass ihr diese gemäß den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Kriterien zuzurechnen sind.

(vgl. Rn. 34, 41)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 45, 46)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 60-62)

4.      Da die staatlichen Maßnahmen unterschiedliche Formen annehmen und nach ihren Wirkungen zu untersuchen sind, kann nicht ausgeschlossen werden, dass mehrere aufeinanderfolgende Maßnahmen des Staates für die Zwecke der Anwendung von Art. 107 Abs. 1 AEUV als eine einzige Maßnahme zu betrachten sind. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn aufeinanderfolgende Maßnahmen in Anbetracht ihrer zeitlichen Abfolge, ihres Zwecks und der Lage des Unternehmens zum Zeitpunkt dieser Maßnahmen derart eng miteinander verknüpft sind, dass sie sich unmöglich voneinander trennen lassen.

(vgl. Rn. 71)

5.      Die Zurechenbarkeit einer Maßnahme zum Staat kann nicht allein daraus abgeleitet werden, dass die in Rede stehende Maßnahme von einem öffentlichen Unternehmen getroffen wurde. Auch wenn der Staat in der Lage ist, ein öffentliches Unternehmen zu kontrollieren und einen beherrschenden Einfluss auf dessen Tätigkeiten auszuüben, kann nicht ohne weiteres vermutet werden, dass diese Kontrolle in einem konkreten Fall tatsächlich ausgeübt wird. Ein öffentliches Unternehmen kann je nach dem Maß an Selbständigkeit, das ihm der Staat belässt, mehr oder weniger unabhängig handeln.

Die bloße Tatsache, dass ein öffentliches Unternehmen unter staatlicher Kontrolle steht, genügt daher nicht, um seine Maßnahmen dem Staat zuzurechnen. Es muss außerdem geprüft werden, ob davon auszugehen ist, dass die Behörden in irgendeiner Weise am Erlass dieser Maßnahmen beteiligt waren. Insoweit kann nicht verlangt werden, dass auf der Grundlage einer genauen Anweisung nachgewiesen wird, dass die Behörden das öffentliche Unternehmen konkret veranlasst haben, die fraglichen Beihilfemaßnahmen zu treffen. Zum einen besteht angesichts der engen Beziehungen zwischen dem Staat und den öffentlichen Unternehmen die tatsächliche Gefahr, dass staatliche Beihilfen über diese Unternehmen in wenig transparenter Weise und unter Verstoß gegen die im Vertrag vorgesehene Regelung über staatliche Beihilfen gewährt werden. Zum anderen wird es im Allgemeinen gerade wegen der privilegierten Beziehungen zwischen dem Staat und einem öffentlichen Unternehmen für einen Dritten sehr schwierig sein, in einem konkreten Fall nachzuweisen, dass Beihilfemaßnahmen eines solchen Unternehmens tatsächlich auf Anweisung der Behörden erlassen wurden. Aus diesen Gründen ist festzustellen, dass die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat aus einem Komplex von Indizien abgeleitet werden kann, die sich aus den Umständen des konkreten Falles und aus dem Kontext ergeben, in dem diese Maßnahme ergangen ist.

Außerdem kann jedes andere Indiz, das im konkreten Fall auf eine Beteiligung der Behörden oder auf die Unwahrscheinlichkeit einer fehlenden Beteiligung am Erlass einer Maßnahme hinweist – wobei auch deren Umfang, ihr Inhalt oder ihre Bedingungen zu berücksichtigen sind –, gegebenenfalls von Bedeutung sein, um auf die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat schließen zu können.

(vgl. Rn. 75)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 102-105)

7.      Nach den Grundsätzen der Beweislast im Bereich staatlicher Beihilfen hat die Kommission das Vorliegen einer solchen Beihilfe zu beweisen. Insoweit hat sie das Verfahren zur Prüfung der betreffenden Maßnahmen sorgfältig und unvoreingenommen zu führen, damit sie bei Erlass der endgültigen Entscheidung, in der das Vorliegen und gegebenenfalls die Unvereinbarkeit oder Rechtswidrigkeit der Beihilfe festgestellt wird, über möglichst vollständige und verlässliche Informationen verfügt. Hinsichtlich der Beweisanforderungen ist die Art der von der Kommission zu erbringenden Nachweise weitgehend von der Art der beabsichtigten staatlichen Maßnahme abhängig.

Im Übrigen erfordert die Prüfung der Kommission, ob bestimmte Maßnahmen als staatliche Beihilfen zu qualifizieren sind, weil die Behörden nicht wie ein privater Kapitalgeber gehandelt haben, eine komplexe wirtschaftliche Beurteilung. Im Rahmen der Kontrolle, die der Unionsrichter in Bezug auf die Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten durch die Kommission im Bereich der staatlichen Beihilfen ausübt, darf dieser nicht die wirtschaftliche Beurteilung seitens der Kommission durch seine eigene ersetzen und muss seine Kontrolle auf die Prüfung beschränken, ob die Vorschriften über das Verfahren und die Begründung eingehalten wurden, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt wurde und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts oder ein Ermessensmissbrauch vorliegt.

Ein die Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung rechtfertigender offensichtlicher Irrtum der Kommission bei der Würdigung des Sachverhalts kann nur festgestellt werden, wenn die von den Klägern vorgebrachten Beweise ausreichen, um die Sachverhaltswürdigung in der Entscheidung als nicht plausibel erscheinen zu lassen.

Der Unionsrichter muss nicht nur die sachliche Richtigkeit, die Zuverlässigkeit und die Kohärenz der angeführten Beweise prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen.

Die Kommission hat bei der Anwendung des Kriteriums des privaten Kapitalgebers somit eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und dabei jeden im betreffenden Fall erheblichen Anhaltspunkt zu berücksichtigen, der es ihr ermöglicht, festzustellen, ob das begünstigte Unternehmen derartige Erleichterungen offenkundig nicht von einem privaten Gläubiger erhalten hätte. Insoweit ist zum einen jede Information als erheblich zu betrachten, die den Entscheidungsprozess eines durchschnittlich vorsichtigen und sorgfältigen privaten Gläubigers, der sich in einer möglichst ähnlichen Lage befindet wie der öffentliche Gläubiger und von einem Schuldner, der sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, die Zahlung der ihm geschuldeten Beträge zu erlangen sucht, nicht unwesentlich beeinflussen kann. Zum anderen sind für die Anwendung des Kriteriums des privaten Gläubigers nur die im Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Informationen und vorhersehbaren Entwicklungen relevant. Die Kommission ist nicht verpflichtet, eine Information zu prüfen, wenn die vorgelegten Beweise aus der Zeit nach Erlass der Entscheidung über die Vornahme der betreffenden Kapitalanlage stammen, und diese entbinden den betreffenden Mitgliedstaat nicht von der Pflicht, eine angemessene vorherige Bewertung der Rentabilität seiner Investition vorzunehmen, bevor er diese Investition tätigt.

(vgl. Rn. 106-110)