Language of document : ECLI:EU:T:2022:44

URTEIL DES GERICHTS (Achte erweiterte Kammer)

2. Februar 2022(*)

„Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Gasmärkte in Mittel- und Osteuropa – Beschluss, mit dem eine Beschwerde abgewiesen wird – Fehlendes Interesse der Union – Einwand staatlichen Handelns – Pflicht zur sorgfältigen Prüfung – Verfahrensrechte nach der Verordnung (EG) Nr. 773/2004“

In der Rechtssache T‑399/19,

Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo S.A. mit Sitz in Warschau (Polen), Prozessbevollmächtigte: K. Karasiewicz, radca prawny, sowie Rechtsanwälte T. Kaźmierczak, K. Kicun und P. Moskwa,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch B. Ernst, G. Meessen und J. Szczodrowski als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Gazprom PJSC mit Sitz in Moskau (Russland)

und

Gazprom export LLC mit Sitz in Sankt Petersburg (Russland),

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte J. Karenfort, J. Hainz und B. Evtimov, Rechtsanwältin N. Tuominen, Rechtsanwalt J. Heithecker sowie D. O’Keeffe, Solicitor,

Streithelferinnen,

betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2019) 3003 final der Kommission vom 17. April 2019 über die Abweisung einer Beschwerde (Sache AT.40497 – Polnischer Gaspreis)

erlässt

DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. van der Woude, der Richter J. Svenningsen (Berichterstatter), R. Barents und C. Mac Eochaidh sowie der Richterin T. Pynnä,

Kanzler: M. Zwozdziak-Carbonne, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Mai 2021

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Die Klägerin, die Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo S.A., ist die Muttergesellschaft der PGNiG-Gruppe, die im Erdgas- und Erdölsektor, hauptsächlich in Polen, tätig ist. Die Tätigkeiten dieser Gruppe bestehen u. a. in der Exploration und Gewinnung von Gas und Rohöl sowie im Import, Verkauf und Vertrieb von Gas.

2        Die Klägerin beantragt die Nichtigerklärung des Beschlusses C(2019) 3003 final der Kommission vom 17. April 2019 über die Abweisung einer Beschwerde (Sache AT.40497 – Polnischer Gaspreis) (im Folgenden: angefochtener Beschluss), der nach der Beschwerde ergangen ist, die sie gegen die Gazprom PJSC und deren Tochtergesellschaften, darunter die Gazprom export LLC (im Folgenden zusammen: Gazprom), eingelegt hatte.

 Zu den Verfahren in den Sachen AT.39816 und AT.40497

3        In den Jahren 2011 bis 2015 traf die Kommission mehrere Maßnahmen, um das Funktionieren der Gasmärkte Mittel- und Osteuropas zu untersuchen und – insbesondere im Hinblick auf das Verbot des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV – die Wettbewerbskonformität bestimmter Praktiken von Gazprom, die sich auf diese Märkte auswirken, konkret die Märkte Bulgariens, der Tschechischen Republik, Estlands, Lettlands, Litauens, Ungarns, Polens und der Slowakei (im Folgenden zusammen: betroffene MOEL), zu prüfen. In diesem Zusammenhang richtete die Kommission u. a. Auskunftsverlangen an die Klägerin. Das dieser Untersuchung entsprechende Verwaltungsverfahren wurde unter dem Aktenzeichen „Sache AT.39816 – Vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa“ (im Folgenden: Sache AT.39816) registriert.

4        Im Rahmen dieser Sache übersandte die Kommission, nachdem sie das Verfahren gemäß Art. 11 Abs. 6 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101] und [102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) eingeleitet hatte, am 22. April 2015 gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 773/2004 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an Gazprom (im Folgenden: MB). In dieser Mitteilung stellte die Kommission einleitend fest, dass Gazprom auf den vorgelagerten nationalen Märkten für die Lieferung von Gas auf Großhandelsebene in den betroffenen MOEL eine beherrschende Stellung eingenommen und diese unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV missbraucht habe, indem sie eine wettbewerbswidrige Strategie angewandt habe, um diese Märkte zu fragmentieren und zu isolieren und so einen ungehinderten Gastransport in diesen Ländern zu verhindern.

5        Die Kommission war der Ansicht, dass diese Strategie von Gazprom drei Gruppen wettbewerbswidriger Praktiken umfasst habe, die die Kunden von Gazprom in den betroffenen MOEL beeinträchtigt hätten, nämlich Praktiken, die darauf beruht hätten, dass erstens Gazprom im Rahmen seiner Gaslieferverträge mit Großhändlern sowie mit bestimmten Industriekunden in den betroffenen MOEL territoriale Beschränkungen auferlegt habe, zweitens diese territorialen Beschränkungen es Gazprom ermöglicht hätten, in fünf der betroffenen MOEL, nämlich Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen und Polen, eine unlautere Preispolitik zu betreiben, und drittens Gazprom, was Bulgarien und Polen anbelange, ihre Gaslieferungen davon abhängig gemacht habe, dass Großhändler bestimmte Zusicherungen in Bezug auf die Gastransportinfrastruktur gegeben hätten. Was insbesondere Polen betreffe, hätten sich diese Zusicherungen auf die Zustimmung des polnischen Großhändlers, d. h. der Klägerin, zu einer verstärkten Kontrolle Gazproms über die Verwaltung des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung, einer der wichtigsten Transit-Gasfernleitungen in Polen, bezogen (im Folgenden: Jamal-Beschwerdepunkte).

6        Am 29. September 2015 antwortete Gazprom auf die MB und wandte sich gegen die wettbewerbsrechtlichen Bedenken der Kommission. Am 14. Februar 2017 legte sie, obwohl sie sich weiterhin gegen diese Bedenken wandte, gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 einen Entwurf für Verpflichtungszusagen vor.

7        Am 16. März 2017, ebenfalls in der Sache AT.39816, veröffentlichte die Kommission, um die Stellungnahmen interessierter Parteien zu diesem Entwurf für Verpflichtungszusagen einzuholen, im Amtsblatt der Europäischen Union eine Mitteilung nach Art. 27 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2017, C 81, S. 9), die eine Zusammenfassung der Sache AT.39816 sowie den wesentlichen Inhalt dieses Entwurfs für Verpflichtungszusagen enthielt und mit der diesen Parteien eine Frist von sieben Wochen ab dem genannten Datum zur Übermittlung ihrer Stellungnahmen eingeräumt wurde (im Folgenden: Marktbefragung). In der Folge reichten u. a. die Klägerin, der Präsident des Urząd Regulacji Energetyki (polnische Energieregulierungsbehörde, im Folgenden: polnische Regulierungsbehörde) und die Gaz-System S.A., die Betreiberin des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung, Stellungnahmen ein.

8        Am 9. März 2017 reichte die Klägerin parallel zu dem von der Kommission in der Sache AT.39816 eingeleiteten Verwaltungsverfahren gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 773/2004 eine Beschwerde ein, in der sie diese Sache AT.39816 anführte und missbräuchliche Praktiken von Gazprom beanstandete (im Folgenden: Beschwerde).

9        Am 29. März 2017 bestätigte die Kommission den Eingang der Beschwerde, die anschließend im Rahmen eines gesonderten Verfahrens unter dem Aktenzeichen „AT.40497 – Polnischer Gaspreis“ (im Folgenden: Sache AT.40497) registriert wurde.

10      Mit Schreiben an die Klägerin vom 31. März 2017 wies die Kommission darauf hin, dass sich die in der Beschwerde dargelegten und die vom Entwurf für Verpflichtungszusagen erfassten Praktiken zu überschneiden schienen, und forderte die Klägerin auf, im Rahmen der Marktbefragung eine Stellungnahme abzugeben. Nachdem der Klägerin eine Verlängerung der geltenden Frist gewährt worden war, reichte sie, wie oben in Rn. 7 erwähnt, am 19. Mai 2017 ihre Stellungnahme zu diesem Entwurf ein.

11      Am 15. Mai 2017 übermittelte Gazprom der Kommission in der Sache AT.40497 ihre Stellungnahme zu der Beschwerde.

12      Am 23. Januar 2018 teilte die Kommission der Klägerin gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 schriftlich mit, dass sie beabsichtige, die Beschwerde abzuweisen, und forderte sie auf, binnen vier Wochen Stellung zu nehmen (im Folgenden: Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung). In diesem Rahmen übermittelte die Kommission der Klägerin auch eine nicht vertrauliche Fassung der MB in der Sache AT.39816 sowie eine nicht vertrauliche Fassung der Stellungnahme von Gazprom zu dieser Beschwerde.

13      Am 2. März 2018 reichte die Klägerin in Beantwortung des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung eine Stellungnahme ein. Abgesehen davon, dass sie ihre Unzufriedenheit mit den in diesem Schreiben enthaltenen vorläufigen Schlussfolgerungen zum Ausdruck brachte, machte die Klägerin insbesondere geltend, dass sie ihrer Ansicht nach nicht alle Dokumente erhalten habe, auf denen der Standpunkt der Kommission beruhe, und dass die ihr übermittelte nicht vertrauliche Fassung der MB in der Sache AT.39816 bestimmte unentbehrlichen Passagen nicht enthalten habe.

14      Am 24. Mai 2018 erließ die Kommission in der Sache AT.39816, nachdem Gazprom im Anschluss an die Marktbefragung einen geänderten Entwurf für Verpflichtungszusagen vorgelegt hatte, den Beschluss C(2018) 3106 final in einem Verfahren nach Artikel 102 AEUV und Artikel 54 des EWR-Abkommens (Sache AT.39816 – Vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa), mit dem sie die von Gazprom abgegebenen Verpflichtungszusagen billigte und für bindend erklärte und das Verwaltungsverfahren in dieser Sache mit der Feststellung abschloss, dass kein Anlass mehr bestehe, ihrerseits bezüglich der in der MB genannten Praktiken tätig zu werden. Am 15. Oktober 2018 erhob die Klägerin beim Gericht gegen diesen Beschluss eine Klage, die unter der Rechtssachennummer T‑616/18 in das Register eingetragen wurde.

15      Am 5. September 2018 wandte sich die Klägerin in der Sache AT.40497 an den Anhörungsbeauftragten, um bestimmte Unterlagen dieser Sache im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Buchst. b des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (ABl. 2011, L 275, S. 29) zu erhalten. Am 17. September 2018 teilte der Anhörungsbeauftragte ihr mit, dass er ihren Antrag an die für die Bescheidung zuständige Generaldirektion (GD) Wettbewerb weiterleite. Am 25. September 2018 teilte die Kommission der Klägerin mit, dass sie ihren Standpunkt auf der Grundlage der ihr bereits übermittelten Unterlagen festgelegt habe, und verweigerte ihr den Zugang zu anderen Passagen der MB.

16      Am 17. April 2019 schloss die Kommission das Verfahren in der Sache AT.40497 mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses ab.

 Zum angefochtenen Beschluss

17      Im angefochtenen Beschluss unterschied die Kommission zwischen den Behauptungen in der Beschwerde, die den wettbewerbsrechtlichen Bedenken entsprachen, die von den Verpflichtungszusagen erfasst wurden, die durch den am Ende des Verfahrens in der Sache AT.39816 erlassenen Beschluss für bindend erklärt worden sind, und den weiteren in dieser Beschwerde gegen Gazprom vorgebrachten Behauptungen.

18      So war die Kommission hinsichtlich der erstgenannten Behauptungen im Wesentlichen der Ansicht, dass die betreffenden Verhaltensweisen in den genannten Verpflichtungszusagen angemessen berücksichtigt worden seien (vgl. Abschnitte 2.2 und 2.3 des angefochtenen Beschlusses). Die übrigen Behauptungen prüfte die Kommission nacheinander in Abschnitt 2.4 („Von den Verpflichtungen nicht erfasste Themen“ [Matters not covered by the commitments]) des angefochtenen Beschlusses.

19      Im Rahmen von Abschnitt 2.4.1 („Beschwerdepunkt betreffend die Jamal-Gasfernleitung“ [The Objection concerning the Yamal Pipeline]) befasste sich die Kommission mit den Behauptungen in der Beschwerde, wonach Gazprom im Zusammenhang mit Lieferengpässen, die die Klägerin 2009 und 2010 infolge eines Ausfalls der Gazprom-RosUkrEnergo AG (im Folgenden: RUE), einer ukrainischen Tochtergesellschaft von Gazprom, erfahren habe, den Abschluss eines Vertrags über die kurzfristige Lieferung zusätzlicher Gasmengen von Bedingungen abhängig gemacht habe, die mit dem Gegenstand dieses Vertrags nichts zu tun gehabt hätten (im Folgenden: Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen). Diese Bedingungen werden zusammenfassend dargestellt als: erstens der Verzicht auf eine Forderung gegen diese Tochtergesellschaft von Gazprom, zweitens die Zustimmung der Klägerin, dass die System Gazociągów Tranzytowych EuRoPol Gaz S.A. (im Folgenden: EuRoPol), die Gesellschaft, die Eigentümerin der Infrastruktur des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung sei und der Klägerin sowie Gazprom gehöre, auf eine Forderung gegen Letztgenannte in Höhe von [vertraulich](1) US-Dollar (USD) verzichte, drittens, die Änderung der Satzung von EuRoPol, durch die Gazprom ein Vetorecht in Bezug auf bestimmte von EuRoPol getroffene Entscheidungen eingeräumt werde, sowie viertens die Aufnahme bestimmter Klauseln in den Vertrag zwischen EuRoPol und Gaz-System über die Verwaltung des genannten Abschnitts durch Gaz-System (vgl. 18. Erwägungsgrund dritter und siebter Gedankenstrich des angefochtenen Beschlusses).

20      Ebenfalls in Bezug auf die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen wies die Kommission zunächst auf den von der Klägerin vertretenen Standpunkt hin und legte sodann ihre Beurteilung dar, und zwar jeweils in Bezug auf zwei Themen, nämlich erstens die Entscheidung der polnischen Regulierungsbehörde vom 19. Mai 2015, die durch deren Präsidenten erlassen wurde und mit der Gaz-System als unabhängiger Netzbetreiber für den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung zertifiziert wurde (im Folgenden: Zertifizierungsentscheidung), und zweitens die Verpflichtung der Klägerin zur Erteilung von Zusicherungen bezüglich der Infrastruktur.

21      Im Rahmen ihrer Prüfung dieses zweiten Themenbereichs vertrat die Kommission unter der Angabe „Staatlicher Zwang konnte nicht ausgeschlossen werden“ (State compulsion defence could not be excluded) die Auffassung, dass nicht habe ausgeschlossen werden können, dass der Einwand staatlichen Handelns in Bezug auf die mit den fraglichen Behauptungen genannten Praktiken anwendbar sei, da im Wesentlichen nicht habe ausgeschlossen werden können, dass das Verhalten von Gazprom dieser durch das russische Recht oder durch übermächtigen Druck der russischen Behörden aufgezwungen worden sei, so dass dieses Verhalten möglicherweise nicht autonom im Sinne von Art. 102 AEUV gewesen sei und die in Rede stehende etwaige Wettbewerbsbeschränkung möglicherweise nicht diesem Unternehmen habe zugerechnet werden können. Hierzu führte die Kommission u. a. aus, dass der Bau und der Betrieb des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung durch ein 1993 zwischen der Republik Polen und der Russischen Föderation geschlossenes zwischenstaatliches Übereinkommen sowie durch spätere Zusatzprotokolle (im Folgenden zusammen: Übereinkommen zwischen Polen und Russland) geregelt worden seien.

22      In Abschnitt 2.4.2 („Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015“ [Supply Restrictions in the Winter Season 2014/2015]) befasste sich die Kommission mit den Behauptungen in der Beschwerde, wonach Gazprom ihre Gaslieferungen im Winter 2014/2015 mit dem Ziel, mögliche Wiederausfuhren von Gas in die Ukraine zu verhindern, missbräuchlich verringert habe (im Folgenden: Behauptungen bezüglich Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015). Aufgrund dieser Beschränkungen hätten die von Gazprom an die Klägerin gelieferten Mengen unter den vertraglich vereinbarten Mengen gelegen, wodurch der Klägerin ein finanzieller Schaden entstanden sei, insbesondere angesichts der hohen Verbindungsentgelte, die sie für die Einfuhr von Gas aus Westeuropa habe tragen müssen (vgl. 18. Erwägungsgrund fünfter Gedankenstrich des angefochtenen Beschlusses).

23      Die Abschnitte 2.4.3 und 2.4.4 des angefochtenen Beschlusses betreffen Behauptungen, die sich auf die Übertragung des Eigentums am belarussischen Gasfernleitungsnetz bzw. auf angebliche Verletzungen der Verfahrensrechte der Klägerin als Beschwerdeführerin beziehen.

24      Die Kommission wies aus verschiedenen Gründen sämtliche von Abschnitt 2.4 des angefochtenen Beschlusses erfassten Behauptungen zurück und wies die Beschwerde nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 ab, wobei sie der Ansicht war, dass es keinen hinreichenden Grund für eine Fortsetzung der Untersuchung gebe.

 Verfahren und Anträge der Parteien

25      Mit Klageschrift, die am 25. Juni 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. Die Klagebeantwortung, die Erwiderung und die Gegenerwiderung sind am 20. September 2019 bzw. 6. November 2019 und 9. Januar 2020 eingereicht worden.

26      Mit der Klageschrift beigefügtem gesonderten Schriftsatz hat die Klägerin gemäß Art. 152 der Verfahrensordnung des Gerichts beantragt, über diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren zu entscheiden. Mit Entscheidung vom 2. August 2019 hat das Gericht diesen Antrag zurückgewiesen.

27      Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter am 4. Oktober 2019 der Achten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.

28      Mit Schriftsatz, der am 7. Oktober 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Gazprom beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 5. Dezember 2019 hat der Präsident der Achten Kammer des Gerichts diesem Antrag nach Anhörung der Hauptparteien stattgegeben. Am 17. Januar 2020 hat Gazprom einen Streithilfeschriftsatz eingereicht, und die Klägerin hat am 21. Februar 2020 eine Stellungnahme zu diesem Schriftsatz eingereicht.

29      Mit Beschluss vom 28. Mai 2020 hat der Präsident der Achten Kammer gemäß Art. 67 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Verfahrensordnung entschieden, die vorliegende Rechtssache in Anbetracht ihrer besonderen Umstände mit Vorrang zu entscheiden.

30      Auf Vorschlag der Achten Kammer hat das Gericht gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung die Rechtssache am 8. Juni 2020 an die Achte erweiterte Kammer verwiesen. Da ein Mitglied dieser erweiterten Kammer an der weiteren Mitwirkung am Verfahren gehindert war, ist der Präsident des Gerichts mit Beschluss vom 15. Juni 2020 dazu bestimmt worden, die Kammer zu ergänzen.

31      Auf Vorschlag des Berichterstatters hat das Gericht beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen. Im Hinblick auf dieses Verfahren sind die Klägerin und die Kommission im Rahmen prozessleitender Maßnahmen aufgefordert worden, schriftlich auf Fragen des Gerichts zu antworten, und die Kommission ist außerdem aufgefordert worden, Unterlagen vorzulegen. Die Klägerin und die Kommission haben ihre Antworten auf diese Fragen am 3. Dezember bzw. 8. Dezember 2020 eingereicht, und die Kommission hat als Anlage zu ihren Antworten die angeforderten Unterlagen vorgelegt.

32      Aus Gründen, die mit der durch Covid‑19 verursachten Gesundheitskrise zusammenhängen, und auf Antrag mehrerer Parteien hat der Präsident der Achten erweiterten Kammer beschlossen, die ursprünglich für den 22. Januar 2021 anberaumte mündliche Verhandlung zu vertragen.

33      Die Parteien haben in der Sitzung vom 20. Mai 2021 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. Bei dieser Gelegenheit hat das Gericht auch darauf hingewiesen, dass es die Stellungnahme der Kommission vom 27. April 2021 zum Sitzungsbericht zur Kenntnis genommen hat.

34      Die Klägerin beantragt,

–        der Kommission aufzugeben, sämtliche Unterlagen betreffend die Sache AT.40497 vorzulegen, die nicht in der Anlage zur Klage vorgelegt worden sind;

–        den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig zu erklären, soweit er die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen und die Behauptungen bezüglich Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015 betrifft, hilfsweise, den angefochtenen Beschluss insgesamt für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

35      Die Kommission, unterstützt durch Gazprom, beantragt,

–        den Antrag auf Erlass prozessleitender Maßnahmen zurückzuweisen;

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

36      Die Klägerin stützt ihre Klage auf fünf Gründe, mit denen sie geltend macht:

–        erstens einen Befugnismissbrauch, da die Kommission zum einen den angefochtenen Beschluss, soweit er auf die mögliche Anwendung des sogenannten Einwands staatlichen Handelns in Bezug auf die Gazprom vorgeworfenen Handlungen gestützt sei, auf einer falschen Rechtsgrundlage, nämlich Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 anstatt Art. 10 der Verordnung Nr. 1/2003, erlassen habe und zum anderen beschlossen habe, die Beschwerde mit dem Ziel in einem neuen Verfahren (Sache AT.40497) zu prüfen, das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör in der Sache AT.39816 zu beschränken;

–        zweitens einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV, da die Kommission staatlichen Zwang durch einen Drittstaat als entlastendes Element bezüglich des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung zugelassen habe;

–        drittens einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004, Art. 296 AEUV sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), weil im Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung nicht alle relevanten Informationen mitgeteilt worden seien und die der vorläufigen Beurteilung der Kommission zugrunde liegenden Unterlagen nicht mit diesem Schreiben übermittelt worden seien;

–        viertens einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 und Art. 296 AEUV wegen Verletzung der Pflicht zur sorgfältigen Prüfung aller in der Beschwerde dargelegten tatsächlichen und rechtlichen Umstände und der Begründungspflicht;

–        fünftens einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 in Verbindung mit Art. 102 AEUV aufgrund offensichtlicher Beurteilungsfehler zum einen in Bezug auf die Zertifizierungsentscheidung und zum anderen in Bezug auf die Behauptungen bezüglich Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015.

37      Die vorliegende Klage betrifft in ihren verschiedenen Klagegründen im Wesentlichen die Abschnitte 2.4.1 und 2.4.2 des angefochtenen Beschlusses, die sich zum einen auf die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen und zum anderen auf die Behauptungen bezüglich Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015 beziehen.

38      Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst den dritten Klagegrund zu prüfen.

 Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004, Art. 296 AEUV sowie Art. 47 der Charta

39      Die Klägerin wirft der Kommission vor, sie habe zum einen im Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung relevante Informationen nicht erwähnt und ihr zum anderen nicht alle Unterlagen übermittelt, auf denen die vorläufige Beurteilung in diesem Schreiben und die Beurteilung im angefochtenen Beschluss beruhten. Damit habe die Kommission die in Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004, Art. 296 AEUV sowie Art. 47 der Charta verankerten Rechte der Klägerin auf rechtliches Gehör und auf Information verletzt.

40      Zu einem Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 trägt die Klägerin vor, dass die Kommission nach dieser Bestimmung dem Beschwerdeführer alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, auf die sie sich stütze, mitteilen müsse, so dass dieser sachgerecht reagieren könne.

41      Die Kommission habe aber im Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung nicht klar zum Ausdruck gebracht, dass die Zurückweisung der (in der vorstehenden Rn. 19 wiedergegebenen) Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen in Anbetracht des Vorliegens eines sich aus dem russischen Recht ergebenden staatlichen Zwangs auf die mögliche Anwendung des Einwands staatlichen Handelns gestützt sei. In den Rn. 96 bis 106 dieses Schreibens habe sie lediglich auf die Bedeutung des „zwischenstaatlichen Charakters“ der Beziehungen im Gassektor hingewiesen, der das Verhalten von Gazprom habe bestimmen können, und vage Verweise auf Bestimmungen der Übereinkommen zwischen Polen und Russland gemacht, ohne jedoch deren Inhalt mit diesem Verhalten in Bezug zu setzen. Die einzige Bezugnahme auf das russische Recht finde sich in Rn. 102 dieses Schreibens, wo eine reine Spekulation ohne Verweis auf irgendein Dokument enthalten sei, das es der Klägerin ermöglicht hätte, die Überlegungen der Kommission nachzuvollziehen und somit darauf zu antworten.

42      Die Kommission ist der Ansicht, dass der Inhalt der Übereinkommen zwischen Polen und Russland, bestimmte in der Beschwerde enthaltene Behauptungen und der Inhalt eines Schreibens des russischen Energieministers vom 30. August 2016 an seinen polnischen Amtskollegen (im Folgenden: Schreiben vom 30. August 2016) genügt hätten, um ihr vorläufiges Ergebnis hinsichtlich der Jamal-Beschwerdepunkte zu rechtfertigen.

43      So macht die Kommission geltend, sie habe in Rn. 102 des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung dargelegt, dass ihre Zweifel auf etwaigen Verpflichtungen beruht hätten, die Gazprom durch das russische Recht oder durch den Status der Übereinkommen zwischen Polen und Russland nach diesem Recht auferlegt worden seien. Außerdem habe die Kommission in diesem Schreiben erläutert, welche Bestimmungen dieser Übereinkommen die Fragen betreffend den Bau und den Betrieb des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung regelten und die Grundlage für den Abschluss der Gaslieferverträge zwischen Gazprom und der Klägerin bildeten. Schließlich habe die Kommission in diesem Schreiben auch darauf hingewiesen, dass bestimmte Teile der Beschwerde es nahelegten, dass die Russische Föderation und nicht Gazprom den Abschluss von Gaslieferverträgen von der Erlangung von Zusicherungen abhängig gemacht habe, die in keinem Zusammenhang mit diesen Verträgen stünden, und dass die Fragen bezüglich der Gaslieferungen zwischenstaatlicher Natur seien.

44      Soweit die Klägerin geltend mache, dass die Kommission auf Gesetzgebungsakte oder andere Dokumente hätte Bezug nehmen müssen, beruhe dieser Standpunkt im Übrigen auf der unzutreffenden Überzeugung, dass die Kommission Feststellungen treffen müsse, die sicher oder zumindest sehr wahrscheinlich seien, während eine solche Verpflichtung im Rahmen der Abweisung einer Beschwerde nicht bestehe.

45      Nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 teilt die Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass die ihr vorliegenden Angaben es nicht rechtfertigen, einer Beschwerde nachzugehen, dem Beschwerdeführer die Gründe hierfür mit und setzt ihm eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme.

46      Nach ständiger Rechtsprechung steht der Kommission bei der Behandlung von Beschwerden ein Ermessen zu, so dass sie den ihr vorliegenden Beschwerden unterschiedliche Priorität zuweisen darf, was die Möglichkeit einschließt, eine Beschwerde mangels hinreichenden Interesses der Europäischen Union an der Fortführung der Untersuchung der Sache abzuweisen (vgl. Urteil vom 16. Mai 2017, Agria Polska u. a./Kommission, T‑480/15, EU:T:2017:339, Rn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Da bei dieser Einschätzung des durch eine Beschwerde wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht begründeten Unionsinteresses auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen ist, ist es nicht angebracht, die Zahl der Beurteilungskriterien, die die Kommission heranziehen kann, einzuschränken oder ihr umgekehrt die ausschließliche Anwendung bestimmter Kriterien vorzuschreiben. Jedenfalls ist die Kommission, wenn sie beschließt, keine Untersuchung einzuleiten, nicht verpflichtet, zur Untermauerung einer solchen Entscheidung festzustellen, dass keine Zuwiderhandlung vorliegt (vgl. Urteil vom 16. Mai 2017, Agria Polska u. a./Kommission, T‑480/15, EU:T:2017:339, Rn. 35 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Das Ermessen der Kommission ist jedoch nicht unbegrenzt. Wenn die Organe der Union über ein weites Ermessen verfügen, kommt der Beachtung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt, eine umso grundlegendere Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört insbesondere die Pflicht, alle erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, insbesondere diejenigen, die ihr der Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht hat, aufmerksam zu prüfen (vgl. Urteile vom 16. Oktober 2013, Vivendi/Kommission, T‑432/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:538, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 16. Mai 2017, Agria Polska u. a./Kommission, T‑480/15, EU:T:2017:339, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung), und die Verpflichtung, den Beschwerdeführer sachdienlich anzuhören, um darüber zu entscheiden, wie die ihr gegenüber vorgebrachte Beschwerde zu behandeln ist.

49      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen im Rahmen von Abschnitt 2.4.1 („Beschwerdepunkt betreffend die Jamal-Gasfernleitung“ [The Objection concerning the Yamal Pipeline]) und insbesondere in den Erwägungsgründen 99 bis 110 dieses Beschlusses behandelt hat. Aus diesem Beschluss und dem Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung geht hervor und wird durch die Antworten der Kommission auf die Fragen des Gerichts bestätigt, dass diese Behauptungen mit der Begründung der begrenzten Wahrscheinlichkeit der Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV zurückgewiesen wurden, was auf zwei Rechtfertigungen gestützt wurde, von denen eine die mögliche Anwendung des Einwands staatlichen Handelns (state action doctrine bzw., nach dem Wortlaut des angefochtenen Beschlusses, state compulsion defence) betrifft und die andere die Zertifizierungsentscheidung der polnischen Regulierungsbehörde.

50      Zuvor, vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses, hatte die Kommission im Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung ebenfalls die Auffassung vertreten, dass wegen der begrenzten Wahrscheinlichkeit der Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV keine hinreichenden Gründe bestünden, die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen weiter zu prüfen (vgl. Rn. 107 und 108 des genannten Schreibens). Dieses vorläufige Ergebnis beruhte ebenfalls auf zwei Rechtfertigungen, nämlich zum einen auf der Zertifizierungsentscheidung und zum anderen auf dem zwischenstaatlichen Kontext der Beziehungen zwischen der Republik Polen und der Russischen Föderation im Gasbereich (diese Rechtfertigungen wurden in den Rn. 92 bis 95 bzw. 96 bis 106 des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung geprüft).

51      Der behauptete Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 betrifft die zweite Rechtfertigung, die sich auf den zwischenstaatlichen Kontext der Beziehungen zwischen der Republik Polen und der Russischen Föderation im Gasbereich bezieht.

52      Insoweit hatte die Kommission im Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung in Anbetracht des zwischenstaatlichen Kontexts, der die Beziehungen im Erdgassektor in Polen und Russland kennzeichnet, erstens einige Bestimmungen der Übereinkommen zwischen Polen und Russland und den Umstand angeführt, dass diese Übereinkommen ein abschließendes Regelwerk für den Bau und die Verwaltung der Jamal-Gasfernleitung aufstellten und den Abschluss des Gasliefervertrags zwischen der Klägerin und Gazprom vorsähen. Zweitens hatte sie darauf hingewiesen, dass auch die Schlüsselrolle der polnischen und der russischen Regierung aus der von der Klägerin eingereichten Beschwerde hervorgehe. Drittens hatte sich die Kommission auf die etwaige Rolle der Russischen Föderation und auf spezifische Bestimmungen der Übereinkommen zwischen Polen und Russland bezogen, um zu erläutern, dass der behauptete, Gazprom zur Last gelegte Sachverhalt nicht zwingend diesem Unternehmen zurechenbar sei.

53      Der Begriff des Einwands staatlichen Handelns erscheint jedoch nirgends in den maßgeblichen Erwägungen des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung.

54      Der Einwand staatlichen Handelns erlaubt es aber, ein wettbewerbswidriges Verhalten vom Anwendungsbereich der Art. 101 und 102 AEUV auszunehmen und damit Unternehmen von ihrer Haftung für dieses Verhalten zu befreien, wenn dieses Verhalten ihnen durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen durch solche Rechtsvorschriften geschaffenen rechtlichen Rahmen oder durch einen von nationalen Behörden ausgeübten übermächtigen Druck vorgeschrieben bzw. aufgezwungen wird. Dagegen sind die Art. 101 und 102 AEUV anwendbar, wenn sich herausstellt, dass die Möglichkeit eines Wettbewerbs bestehen bleibt, der durch selbständige Verhaltensweisen der Unternehmen verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann (vgl. Urteile vom 11. November 1997, Kommission und Frankreich/Ladbroke Racing, C‑359/95 P und C‑379/95 P, EU:C:1997:531, Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, vom 18. September 1996, Asia Motor France u. a./Kommission, T‑387/94, EU:T:1996:120, Rn. 60 und 65 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. Dezember 2003, Strintzis Lines Shipping/Kommission, T‑65/99, EU:T:2003:336, Rn. 119 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Außerdem ist dieser Einwand nach der Rechtsprechung restriktiv anzuwenden (vgl. Urteile vom 30. März 2000, Consiglio Nazionale degli Spedizionieri Doganali/Kommission, T‑513/93, EU:T:2000:91, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. Dezember 2003, Strintzis Lines Shipping/Kommission, T‑65/99, EU:T:2003:336, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung). So hat der Unionsrichter u. a. entschieden, dass die Kommission Beschwerden nur dann wegen fehlender Handlungsfreiheit der betroffenen Unternehmen zurückweisen konnte, wenn sich aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien ergab, dass diesen ihr Verhalten von den nationalen Behörden einseitig durch die Ausübung übermächtigen Drucks, etwa die Drohung mit dem Erlass staatlicher Maßnahmen, aufgezwungen wurde, die ihnen erhebliche Verluste verursachen könnten (vgl. Urteil vom 18. September 1996, Asia Motor France u. a./Kommission, T‑387/94, EU:T:1996:120, Rn. 60 und 65 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Angesichts der besonderen, haftungsbefreienden Natur des Einwands staatlichen Handelns und des Umstands, dass die Rechtsprechung seine Anwendung im Fall staatlichen Zwangs, der von einem Drittstaat ausgeübt wird, nicht anerkannt hat, hätte die Kommission somit, um es der Klägerin zu ermöglichen, sachdienlich zu den Gründen für die Abweisung der Beschwerde gehört zu werden, im Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung ausdrücklich darauf hinweisen müssen, dass die vorläufige Beurteilung in Bezug auf die begrenzte Wahrscheinlichkeit der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV auf einem möglichen Fall der Anwendung dieses Einwands beruhte. Die Kommission konnte von der Klägerin nicht erwarten, dass sie diese implizite Begründung aus den in diesem Schreiben angeführten Argumenten herausliest.

57      Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen der Kommission in Frage gestellt, sie habe in Rn. 102 des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung angemerkt, dass sich die fehlende Ratifizierung der Übereinkommen zwischen Polen und Russland durch die Republik Polen nicht zwangsläufig auf die Verpflichtungen, die Gazprom nach russischem Recht auferlegt seien, und auf die Anerkennung dieser Übereinkommen nach diesem Recht auswirke.

58      Diese Andeutung kann nämlich nicht als hinreichend genau angesehen werden, und die Kommission kann ihre Informationspflicht nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht durch die Übermittlung eines Hinweises darauf erfüllen, dass im Wesentlichen der Einwand staatlichen Handelns geltend gemacht werde. Dies gilt umso mehr, als aus dem Wortlaut von Rn. 102 des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung im Licht von Rn. 99 dieses Schreibens hervorgeht, dass die Kommission in erster Linie auf einen Einwand eingehen wollte, den die Klägerin in ihrer Stellungnahme im Rahmen der Marktbefragung in der Sache AT.39816 erhoben hatte.

59      Im Übrigen bestätigt der Inhalt ihrer Stellungnahme in Beantwortung des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung, dass der Klägerin nicht klar war, dass die Kommission mit dem Verweis auf die Übereinkommen zwischen Polen und Russland und die russische Rechtsordnung auf die mögliche Anwendung des Einwands staatlichen Handelns Bezug nahm. In dieser Stellungnahme betonte die Klägerin, dass diese Übereinkommen ihres Erachtens das Verhalten von Gazprom nicht in einer Weise regelten, die die diesem Unternehmen vorgeworfenen wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen erklärt hätte, ohne jemals den genannten Einwand anzuführen.

60      Daher ist festzustellen, dass die Kommission gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 verstoßen hat.

61      Nach ständiger Rechtsprechung kann ein solcher Verstoß jedoch nur dann zur teilweisen oder vollständigen Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen, wenn nachgewiesen wird, dass das Verfahren in der Sache AT.40497 ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen und der angefochtene Beschluss daher einen anderen Inhalt hätte haben können (vgl. Urteile vom 11. März 2020, Kommission/Gmina Miasto Gdynia und Port Lotniczy Gdynia Kosakowo, C‑56/18 P, EU:C:2020:192, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. September 2014, Gold East Paper und Gold Huasheng Paper/Rat, T‑443/11, EU:T:2014:774, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 29. Oktober 1980, van Landewyck u. a./Kommission, 209/78 bis 215/78 und 218/78, nicht veröffentlicht, EU:C:1980:248, Rn. 47).

62      Für die Beurteilung, ob das Verfahren ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können und ob der angefochtene Beschluss einen anderen Inhalt hätte haben können, ist festzustellen, dass die Klägerin zur Stützung des ersten, des zweiten und des vierten Klagegrundes im Rahmen des Verfahrens vor dem Gericht u. a. Argumente vorgebracht hat, mit denen die Anwendung des Einwands staatlichen Handelns im vorliegenden Fall grundsätzlich in Abrede gestellt wird, die sorgfältige Prüfung der Beschwerde durch die Kommission in Frage gestellt wird und die konkret vorgebrachten Beurteilungen und konkret vorgebrachte Begründung dafür, dass nicht habe ausgeschlossen werden können, dass dieser Einwand auf die Verhaltensweisen von Gazprom anwendbar sei, gerügt werden.

63      Was zunächst den Grundsatz der Anwendung des Einwands staatlichen Handelns anbelangt, so hat die Klägerin im Rahmen des zweiten Klagegrundes geltend gemacht, dass dieser Einwand in einem Fall wie dem vorliegenden, d. h. in einem Fall, in dem zum einen der staatliche Zwang von einem Drittstaat, hier der Russischen Föderation, und nicht von einem Mitgliedstaat ausgeübt werde und zum anderen das betroffene Unternehmen, hier Gazprom, von diesem Drittstaat kontrolliert werde und um Ausübung dieses Zwangs selbst ersucht haben könnte, keine Anwendung finden könne.

64      Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der staatliche Zwang, auf den sich der Einwand staatlichen Handelns bezieht, von einem Drittstaat ausgeübt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Atlantic Container Line u. a./Kommission, T‑191/98 und T‑212/98 bis T‑214/98, EU:T:2003:245, Rn. 1128 bis 1150). Gleichwohl muss die Kommission aber, in Anbetracht insbesondere der restriktiven Anwendung dieses Einwands, im Rahmen ihrer Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände im Zusammenhang mit einer Beschwerde und speziell des Grads der Autonomie eines Unternehmens einem etwaigen Verschwimmen der Grenzen zwischen diesem Unternehmen und den staatlichen Strukturen, von denen der betreffende Zwang ausgeht, Rechnung tragen.

65      Insoweit geht aus der Klageschrift gerade hervor, dass die Klägerin im Verwaltungsverfahren in Anbetracht der Beurteilung des Vorliegens und der Auswirkungen eines solchen Verschwimmens der Grenzen im vorliegenden Fall relevante Umstände hätte geltend machen können, insbesondere unter Berücksichtigung der in der Beschwerde angeführten Eingriffe der Russischen Föderation oder der behaupteten Kontrolle der Russischen Föderation über Gazprom [vertraulich].

66      Sodann ist festzustellen, dass der Kommission mit dem Vorbringen im Rahmen des ersten und des vierten Klagegrundes eine unzureichende Begründung des angefochtenen Beschlusses sowie eine Verletzung ihrer Pflicht zur sorgfältigen Prüfung der in der Beschwerde dargelegten tatsächlichen und rechtlichen Umstände vorgeworfen wird. Die Klägerin weist nämlich darauf hin, dass die Kommission keine konkrete Bestimmung des russischen Rechts angeführt und sich auf allgemeine Verweise auf einige Bestimmungen der Übereinkommen zwischen Polen und Russland beschränkt habe, was nicht genüge, um eine Abweisung der Beschwerde zu rechtfertigen. Diese Verweise seien umso fragwürdiger, als bestimmte Anforderungen Gazproms vor dem Abschluss des Zusatzprotokolls vom 29. Oktober 2010 auferlegt worden seien und dieses Protokoll gerade aufgrund von Druck seitens dieses Unternehmens geschlossen worden sei.

67      Zur Frage der Begründung weist das Gericht außerdem darauf hin, dass der Wortlaut des 110. Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses Zweifel aufkommen lässt hinsichtlich des genauen Inhalts des in diesem Erwägungsgrund enthaltenen Gesamtergebnisses und damit bezüglich eines der für die Zurückweisung der Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen angeführten Gründe. Die Kommission scheint sich nämlich in diesem Erwägungsgrund zum einen auf die mögliche Anwendung des Einwands staatlichen Handelns zu beziehen, wie sich aus den ersten beiden Sätzen dieses Erwägungsgrundes ergibt, aber zum anderen, separat, auch darauf, dass die Übereinkommen zwischen Polen und Russland den Inhalt des zwischen EuRoPol und Gaz-System geschlossenen Verwaltungsvertrags weitgehend bestimmt haben könnten, wie sich aus dem dritten Satz dieses Erwägungsgrundes und der Verwendung des Begriffs „furthermore“ (außerdem) ergibt.

68      Im Übrigen ist über das Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung und den angefochtenen Beschluss hinaus festzustellen, dass die Kommission in ihren schriftlichen Antworten auf die Fragen des Gerichts darauf hingewiesen hat, dass, selbst wenn man annähme, dass anhand des Inhalts der Übereinkommen zwischen Polen und Russland und des angeführten zwischenstaatlichen Kontexts in rechtlich hinreichender Weise nachgewiesen worden sei, dass die Voraussetzungen für den Einwand staatlichen Handelns streng genommen nicht vorlägen, diese Übereinkommen gleichwohl ein politisches Signal eines Drittlandes darstellten, das nach dem Grundsatz der gegenseitigen Achtung (comity) bei der Beurteilung des Interesses der Union an der weiteren Prüfung der Behauptungen in der Beschwerde berücksichtigt werden könne.

69      Daraus folgt somit eine – zumindest scheinbare – Verwirrung hinsichtlich der Rechtfertigungen für den Grund, wonach eine begrenzte Wahrscheinlichkeit für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV bestanden habe, und sogar hinsichtlich etwaiger anderer Gründe, die es der Kommission ermöglichten, auf das Fehlen eines hinreichenden Interesses der Union an der Fortführung der Prüfung der Sache AT.40497 zu schließen.

70      Der Kommission stand es zwar frei, als Kriterien für die Beurteilung des Unionsinteresses die begrenzte Wahrscheinlichkeit der Feststellung einer Zuwiderhandlung oder Erwägungen bezüglich des Einflusses zwischenstaatlicher Übereinkommen auf einen bestimmten Sektor oder gar bezüglich der Berücksichtigung von Erwägungen im Zusammenhang mit der internationalen Wettbewerbspolitik der Union heranzuziehen, jedoch war sie verpflichtet, sicherzustellen, dass die Klägerin insoweit sachdienlich angehört wird, und den angefochtenen Beschluss klar zu begründen, wobei diesen Verpflichtungen eine umso größere Bedeutung zukommt, wenn sie über ein weites Ermessen verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2013, Vivendi/Kommission, T‑432/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:538, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Verfahren in der Sache AT.40497 ohne den vom Gericht festgestellten Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 zu einem anderen Ergebnis hätte führen können und der angefochtene Beschluss einen anderen Inhalt hätte haben können, was die Rechtfertigung im Zusammenhang mit dem Einwand staatlichen Handelns anbelangt.

72      Da jedoch die Zurückweisung der Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen, wie oben in Rn. 49 dargelegt, auch auf eine mit der Zertifizierungsentscheidung zusammenhängende Rechtfertigung gestützt wird, ist der angefochtene Beschluss nur dann für nichtig zu erklären, wenn auch diese zweite Rechtfertigung von der Klägerin beanstandet wird. Genau auf diese zweite Rechtfertigung bezieht sich aber der erste Teil des fünften Klagegrundes.

73      Wenn sich also der erste Teil des fünften Klagegrundes, der diese zweite Rechtfertigung betrifft, als begründet erweist, ist dem vorliegenden Klagegrund, soweit mit ihm ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 gerügt wird, stattzugeben, ohne dass der behauptete Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung, Art. 296 AEUV und Art. 47 der Charta geprüft zu werden bräuchte.

 Zum ersten Teil des fünften Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 in Verbindung mit Art. 102 AEUV, da die Kommission in Bezug auf die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe

74      Die Klägerin wirft der Kommission vor, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, indem sie festgestellt habe, dass die Zertifizierungsentscheidung belege, dass Gaz-System die Kontrolle über die Investitionen bezüglich des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung gehabt habe, so dass es nicht erforderlich gewesen sei, weitere Gesichtspunkte zu den (oben in Rn. 19 angeführten und im Rahmen von Abschnitt 2.4.1 des angefochtenen Beschlusses behandelten) Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen zu prüfen. Insbesondere könne sich die Kommission nicht mit Erfolg darauf berufen, dass diese Entscheidung eine wesentliche Rechtfertigung für die Abweisung der Beschwerde darstelle, und dabei den Umstand, dass diese Entscheidung nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei, herunterspielen.

75      Der verfügende Teil der Zertifizierungsentscheidung habe nämlich zwei Nummern enthalten. Während in Nr. 1 des verfügenden Teils dieser Entscheidung Gaz-System als vom polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung unabhängiger Betreiber zertifiziert worden sei, sei in Nr. 2 empfohlen worden, dass Gaz-System innerhalb einer Frist von 24 Monaten den täglichen Betrieb der Gasverdichter- und Gasmessstationen dieses Abschnitts sicherstelle. Diese Nr. 2 sei jedoch aufgrund der Behinderung durch EuRoPol als Eigentümerin der Infrastruktur des genannten Abschnitts und mittelbar durch Gazprom in ihrer Eigenschaft als Aktionärin von EuRoPol (wie oben in Rn. 19 dargelegt), u. a. durch Nutzung der Änderung der Satzung dieses Gemeinschaftsunternehmens und des Vetorechts, das Gazprom durch Missbrauch seiner marktbeherrschenden Stellung erlangt habe, nicht umgesetzt worden.

76      Drei Aspekte würden insoweit die Bedeutung von Nr. 2 des verfügenden Teils der Zertifizierungsentscheidung verdeutlichen. Erstens habe der Präsident der polnischen Regulierungsbehörde im Rahmen der während des Verfahrens in der Sache AT.39816 durchgeführten Marktbefragung darauf hingewiesen, dass die mit dieser Nummer verlangte Übertragung nicht erfolgt sei. Zweitens habe der russische Energieminister mit Schreiben vom 30. August 2016 gedroht, die Gaslieferungen von Gazprom im Fall der vollständigen Durchführung dieser Entscheidung zu verringern oder auszusetzen. Drittens habe die Kommission selbst in zwei Stellungnahmen aus den Jahren 2014 und 2015 zu zwei Entscheidungsentwürfen, die der Zertifizierungsentscheidung vorausgegangen seien, auf die Relevanz einer Übertragung des täglichen Betriebs der Verdichter- und Messstationen auf Gaz-System hingewiesen. Insbesondere habe sie auf die Gefahr hingewiesen, dass EuRoPol ohne diese Übertragung ungerechtfertigten Zugang zu vertraulichen Informationen habe und die Mitbewerber ihrer Aktionäre, d. h. der Klägerin und von Gazprom, diskriminieren könnte. Folglich könne die Zertifizierungsentscheidung nicht unabhängig von den in diesen Stellungnahmen geäußerten Vorbehalten betrachtet werden.

77      Somit könne aus der Zertifizierungsentscheidung nicht eine absolute Bestätigung oder ein unbestreitbarer Beweis des Fehlens einer wettbewerbsbeschränkenden Praxis in Bezug auf die Jamal-Gasfernleitung seitens Gazprom abgeleitet werden, zumal die Nichtdurchführung von Nr. 2 der Entscheidung Gazprom zuzurechnen sei, die mithin weiterhin einen rechtswidrigen Einfluss auf diese Gasfernleitung ausübe.

78      Die Kommission, unterstützt durch Gazprom, betont, dass der angefochtene Beschluss ausschließlich die Wahrscheinlichkeit der Feststellung eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln betreffe. Die Zertifizierungsentscheidung sei aber ein Indiz dafür gewesen, dass diese Wahrscheinlichkeit gering gewesen sei. Während nämlich die ursprüngliche Meinung der Kommission dahin gegangen sei, dass Gazprom eine Kontrolle über die Investitionen bezüglich des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung ausgeübt habe, enthalte diese Entscheidung Feststellungen, wonach sich die Situation insoweit geändert habe.

79      In Bezug auf die in Nr. 2 der Zertifizierungsentscheidung enthaltene Empfehlung der Übertragung des Betriebs weist die Kommission darauf hin, dass Gaz-System mit dieser Entscheidung vorbehaltlos und damit endgültig als unabhängiger Netzbetreiber zertifiziert worden sei. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin habe eine solche Entscheidung eine tatsächliche rechtliche Bedeutung in Bezug auf die Unabhängigkeit des betreffenden Betreibers und sei nicht bloß deklaratorisch. Außerdem habe die fehlende Durchführung dieser Empfehlung keine Auswirkungen auf die Feststellungen und Beurteilungen der polnischen Regulierungsbehörde in Bezug auf die Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung.

80      Was die beiden Stellungnahmen anbelange, die die Kommission im Rahmen des Verfahrens zur Zertifizierung von Gaz-System abgegeben habe, so seien diese zum einen nicht bindend gewesen. Zum anderen hätten diese Stellungnahmen bezweckt, die vollständige Anwendung der Vorschriften des Unionsrechts im Energiebereich zu gewährleisten, hätten aber im Rahmen der Prüfung der Beschwerde keinen Einfluss auf die Zweifel der Kommission hinsichtlich der Möglichkeit gehabt, in Bezug auf die in Rede stehenden Behauptungen einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln als solche festzustellen.

81      Gazprom macht geltend, die Zertifizierungsentscheidung stelle einen wichtigen Hinweis für die geringe Wahrscheinlichkeit dar, dass sie einen Einfluss hinsichtlich der Investitionen betreffend den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung ausübe, und damit für eine geringe Wahrscheinlichkeit, eine Zuwiderhandlung feststellen zu können.

82      Was die Nichtdurchführung der in dieser Entscheidung enthaltenen Empfehlung anbelange, so habe die Beschwerde keinen Beweis dafür enthalten, dass diese Nichtdurchführung auf ein Blockieren durch Gazprom zurückzuführen sei, die dafür nicht verantwortlich sei. Zur Stützung dieses Vorbringens weist Gazprom erstens darauf hin, dass die Zertifizierungsentscheidung nach polnischem Recht bestandskräftig sei und Gaz-System Vorrechte einräume, deren Ausübung sie nicht verhindern könne, zweitens darauf, dass Gaz-System einziger Adressat der Zertifizierungsentscheidung sei und daher nur Gaz-System zu deren Durchführung verpflichtet sei, während es hingegen keinen Grund gebe, von EuRoPol (oder von ihr selbst) zu verlangen, diese Entscheidung durchzuführen, und drittens darauf, dass im Fall der Nichtdurchführung die polnische Regulierungsbehörde die Vollziehung der Entscheidung fortsetzen könne und sogar müsse, insbesondere durch Verhängung finanzieller Sanktionen oder gar durch Widerruf der Entscheidung.

83      Das Gericht weist darauf hin, dass die Kommission, wie bereits oben in Rn. 49 dargelegt, im angefochtenen Beschluss die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen mit der Begründung der begrenzten Wahrscheinlichkeit der Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV zurückwies, was auf zwei Rechtfertigungen gestützt wurde, von denen die eine die mögliche Anwendung des Einwands staatlichen Handelns betrifft und die andere die Zertifizierungsentscheidung, wobei die letztgenannte Rechtfertigung in den Erwägungsgründen 99 bis 102 und 109 des angefochtenen Beschlusses dargelegt wird.

84      Insoweit ist erstens zwischen den Parteien unstreitig, dass der Präsident der polnischen Regulierungsbehörde mit der Zertifizierungsentscheidung Gaz-System eine Unabhängigkeitsbescheinigung erteilt und insbesondere verschiedene Feststellungen zur Kontrolle – durch Gaz-System – der Investitionen betreffend den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung sowie zur Durchführung bestimmter Investitionen in diesen Abschnitt getroffen hat.

85      Allerdings triff es zu, dass die Zertifizierungsentscheidung in ihrem verfügenden Teil auch eine Nummer betreffend die Übertragung des täglichen Betriebs der Verdichter- und Messstationen auf dem polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung auf Gaz-System enthält. Die Frage dieser Übertragung impliziert aber ungeachtet dessen, was die Kommission andeutet, und trotz des Umstands, dass sie unter die Unionsvorschriften im Bereich Gas fällt, Wettbewerbsaspekte, die unter die Wettbewerbsregeln der Union fallen können.

86      Die zuständigen Dienststellen der Kommission, auch wenn sie von der GD Wettbewerb verschieden sind, hatten nämlich in jeder ihrer beiden Stellungnahmen, die am 9. September 2014 und am 19. März 2015 im Rahmen des Verfahrens zur Zertifizierung von Gaz-System abgegeben worden waren, auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Übertragung des Betriebs der Verdichter- und Messstationen sicherzustellen. Insbesondere hatten diese Dienststellen in der Stellungnahme vom 9. September 2014 darauf hingewiesen, dass der Betrieb dieser Stationen eine der wesentlichen Aufgaben eines Fernleitungsnetzbetreibers sei, und die wettbewerbliche Problematik betont, die sich aus dem Betrieb der genannten Stationen durch EuRoPol, d. h. die Eigentümerin des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung, in Anbetracht dessen ergebe, dass EuRoPol aufgrund der Kontrolle durch Gazprom und die Klägerin Teil eines vertikal integrierten Unternehmens sei. Insbesondere erhöhe der Betrieb der genannten Stationen durch EuRoPol die Gefahr eines diskriminierenden Verhaltens und ermögliche es diesem Unternehmen, über vertrauliche Informationen zu verfügen, die seinen Aktionären, darunter Gazprom, einen Wettbewerbsvorteil verschaffen könnten.

87      Allgemein ist festzustellen, dass die Unionsvorschriften im Bereich Gas zweifellos Wettbewerbsfragen betreffen und dass insbesondere die Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94), wie sich aus ihren Erwägungsgründen 4 bis 17 ergibt, insbesondere auf die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Gaslieferanten abzielt, indem ein diskriminierungsfreier Zugang zu den Fernleitungsnetzen durch die Einführung einer Entflechtung zwischen dem Betreiber eines Netzes und dem vertikal integrierten Unternehmen, das Eigentümer dieses Netzes ist, geschaffen wird.

88      Diese Erwägungen zu den Stellungnahmen der zuständigen Dienststellen der Kommission im Rahmen des Verfahrens zur Zertifizierung von Gaz-System können nicht durch das Argument in Frage gestellt werden, dass diese Stellungnahmen nicht verbindlich seien, da die GD Wettbewerb im Rahmen ihrer Beurteilung bezüglich der Zertifizierungsentscheidung unabhängig von der Rechtsverbindlichkeit dieser Stellungnahmen deren Inhalt, insbesondere hinsichtlich der darin festgestellten potenziellen Wettbewerbsprobleme, hätte berücksichtigen müssen.

89      Außerdem ist festzustellen, dass diese Übertragung des Betriebs der Verdichter- und Messstationen weder bei Ablauf der in Nr. 2 der Zertifizierungsentscheidung vorgesehenen Frist von 24 Monaten, d. h. am 19. Mai 2017, noch zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses, d. h. am 17. April 2019, erfolgt war. Insoweit ist das Vorbringen zurückzuweisen, wonach die Verantwortlichkeit für diesen Mangel bei Gaz-System als Adressatin der Zertifizierungsentscheidung liege oder sogar bei der Klägerin als Aktionärin, die EuRoPol gemeinsam mit Gazprom kontrolliere, liegen könnte.

90      Aus dem Schreiben des russischen Energieministers vom 30. August 2016 geht nämlich hervor, dass das Blockieren im Zusammenhang mit der Übertragung des Betriebs wahrscheinlich von Gazprom und nicht von der Klägerin oder Gaz-System ausging, und zwar unabhängig von etwaigen Zweifeln hinsichtlich der Frage, ob dieses Schreiben ein Indiz für Druck der Russischen Föderation auf Gazprom war oder eine von Gazprom erbetene Intervention zur Wahrung ihrer eigenen Interessen darstellen konnte. Jedenfalls ist die Frage nach dem Ursprung dieses Blockierens geeignet, die Relevanz des Fehlens der Übertragung des Betriebs der Verdichter- und Messstationen zu erhöhen.

91      Daraus folgt, dass die Kommission der Zertifizierungsentscheidung keine entscheidende Bedeutung beimessen konnte, ohne Nr. 2 des verfügenden Teils dieser Entscheidung und ganz allgemein die Umstände um das Fehlen der Übertragung des Betriebs der Verdichter- und Messstationen zu berücksichtigen.

92      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss die Auffassung vertreten hat, dass sie aufgrund der in der Zertifizierungsentscheidung enthaltenen Feststellungen und Beurteilungen bezüglich der Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung zu dem Schluss habe gelangen können, dass ihre in der MB in der Sache AT.39816 festgestellten vorläufigen wettbewerbsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Jamal-Beschwerdepunkte nicht bestätigt worden seien und dass daher insoweit keine Verpflichtungszusage erforderlich gewesen sei.

93      Wie die Klägerin ausgeführt hat, ging der Inhalt ihrer Beschwerde jedoch über die von der MB erfassten Beschwerdepunkte hinaus, und insbesondere betrafen die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen Praktiken, die über die bloße Frage der Kontrolle der Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung hinausgingen. Wie nämlich oben in Rn. 19 ausgeführt worden ist, betrafen diese parallel in der Beschwerde vorgetragenen Behauptungen allgemein die Praktiken, mit denen Gazprom verschiedene Bedingungen auferlegt haben soll, nämlich dass sie Änderungen der Satzung von EuRoPol verlangt haben soll, die es ihr ermöglichen würden, jede Aktivität von EuRoPol zu blockieren, die sie als ihren Interessen zuwiderlaufend ansehen würde, dass sie bestimmte Klauseln in dem von EuRoPol und Gaz-System abzuschließenden Verwaltungsvertrag durchgesetzt haben soll und dass sie verlangt haben soll, dass die Klägerin, auch als Aktionärin von EuRoPol, zustimmte, auf bestimmte von RUE und Gazprom geschuldete Forderungen zu verzichten.

94      Folglich hat die Kommission, indem sie sich auf die in der Zertifizierungsentscheidung enthaltenen Feststellungen und Beurteilungen bezüglich der Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung stützte, die in der Beschwerde dargelegten Behauptungen auf die bloße Tragweite der in der MB dargelegten Jamal-Beschwerdepunkte reduziert.

95      Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann dieser Ansatz jedoch nicht mit dem Umstand, der aus der Beschwerde selbst hervorgehen soll, gerechtfertigt werden, dass Gazprom die Bedingungen, von denen der Abschluss eines Vertrags über die Lieferung zusätzlicher Gasmengen abhängig gewesen sei, als Gesamtheit behandelt habe, so dass die Feststellungen und Beurteilungen bezüglich der Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung die Gesamtbeurteilung dieser Bedingungen beeinflusst hätten. Wie aus der vorstehenden Randnummer hervorgeht, waren die betreffenden Praktiken nämlich unterschiedlicher Art, insbesondere, da sie auch den Verzicht auf Forderungen gegen RUE und Gazprom betrafen, und gingen über diese Frage der Investitionen hinaus.

96      Im Übrigen ist, soweit die Kommission die Prämisse der Klägerin in Abrede stellt, wonach es angemessener wäre, Schwierigkeiten, die gleichwohl mit der Durchführung der Unionsvorschriften im Bereich Gas verbunden seien, im Rahmen eines Wettbewerbsverfahrens zu lösen, darauf hinzuweisen, dass es der Kommission gegebenenfalls freistand, sich nach Kriterien für die Beurteilung des Unionsinteresses auf einen Grund für die Abweisung der Beschwerde zu berufen, der damit zusammenhing, dass es andere Kanäle gab, um die betreffenden Praktiken oder zumindest einige davon abzustellen, wie z. B. die Überprüfung der Einhaltung dieser Vorschriften durch die polnischen Behörden. Jedoch war die Kommission verpflichtet, sicherzustellen, dass die Klägerin insoweit sachdienlich angehört wird, und den angefochtenen Beschluss klar zu begründen, wobei diesen Verpflichtungen eine umso größere Bedeutung zukommt, wenn sie über ein weites Ermessen verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2013, Vivendi/Kommission, T‑432/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:538, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97      Folglich hat die Kommission, was die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen anbelangt, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie davon ausging, dass die in der Zertifizierungsentscheidung enthaltenen Feststellungen und Beurteilungen bezüglich der Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung den Schluss rechtfertigten, dass es nur eine begrenzte Wahrscheinlichkeit gebe, einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV festzustellen.

98      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass, was den oben in Rn. 60 dargelegten Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 anbelangt, im Einklang mit den oben in den Rn. 71 bis 73 dargelegten Schlussfolgerungen festzustellen ist, dass – auch unter Berücksichtigung der zweiten Rechtfertigung betreffend die Zertifizierungsentscheidung – das Verfahren in der Sache AT.40497 zu einem anderen Ergebnis hätte führen können und dass der angefochtene Beschluss einen anderen Inhalt hätte haben können, und dieser Verstoß folglich die Nichtigerklärung dieses Beschlusses zur Folge hat.

99      Das Gericht hält es gleichwohl für zweckmäßig, den zweiten Teil des fünften Klagegrundes zu prüfen.

 Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 in Verbindung mit Art. 102 AEUV, da die Kommission offensichtliche Beurteilungsfehler in Bezug auf die Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015 begangen habe

100    Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler begangen, als sie die oben in Rn. 19 wiedergegebenen und im Rahmen von Abschnitt 2.4.2 des angefochtenen Beschlusses behandelten Behauptungen bezüglich Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015 zurückgewiesen habe; ohne diese Fehler hätte sie feststellen können, dass das Unionsinteresse darin bestanden habe, die Gefahr zu beseitigen, dass Gazprom Lieferbeschränkungen erneut dazu nutzen könnte, Wiederausfuhren von Gas zu verhindern.

101    Erstens sei die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Gefahr von Auswirkungen, die sich aus Störungen der Gaslieferungen ergäben, aufgrund der Verbesserung der Verbindung des polnischen Marktes mit dem deutschen Markt nunmehr geringer sei. Die Einrichtung von Gastransporten in Gegenflussrichtung auf der Jamal-Gasfernleitung sei nämlich vor dem beanstandeten Vorfall erfolgt, da sie auf April 2014 zurückgehe. Außerdem sei diese Verbesserung für andere von den in Rede stehenden Beschränkungen betroffene Mitgliedstaaten nutzlos.

102    Zweitens habe die Kommission zu Unrecht festgestellt, dass sie über keinen Beweis dafür verfüge, dass dieser Vorfall einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstelle, obwohl sie es unterlassen habe, die ihr zur Verfügung stehenden Beweismittel ordnungsgemäß zu prüfen. Das Ziel der Beschränkungen von Wiederausfuhren von Gas in die Ukraine werde nämlich durch eine öffentliche Erklärung des russischen Energieministers vom 25. September 2014, die sowohl in der Beschwerde als auch in der Antwort auf das Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung erwähnt werde, belegt. Es seien weitere übereinstimmende Anhaltspunkte vorgebracht worden, die belegten, dass diese Beschränkungen Ungarn, Österreich und die Slowakei betroffen hätten und dass Ungarn die Wiederausfuhren in die Ukraine unterbrochen habe. Über die im Schreiben vom 30. August 2016 enthaltenen Drohungen hinaus seien solche Beschränkungen später noch im Jahr 2018 in Rumänien und in der Ukraine erfolgt.

103    Drittens habe die Kommission die beanstandeten Beschränkungen fälschlich als Vertragsverstöße eingestuft, für die die Klägerin eine Entschädigung nach den vertraglichen Mechanismen zur Streitbeilegung verlangen könne. Diese Einstufung ergebe sich jedoch aus der Nichtberücksichtigung des weiteren Kontexts, in den sich diese Beschränkungen einfügten, nämlich einer Strategie von Gazprom zur Beschränkung des Wettbewerbs. Im Übrigen bedeute der Umstand, dass eine Praxis sich in einen vertraglichen Kontext einfüge und ein vertraglicher Mechanismus zur Beilegung von Konflikten bestehe, für sich genommen nicht, dass ein Eingreifen der Kommission nicht gerechtfertigt wäre, da diese Umstände das Vorliegen wettbewerbswidriger Praktiken nicht ausschlössen.

104    Viertens sei die von der Klägerin gerügte Praxis entgegen der Auffassung der Kommission nicht längst vergangen und habe noch Auswirkungen auf den gegenwärtigen Stand des Wettbewerbs. Der von der Kommission vertretene Standpunkt beruhe nämlich auf der Nichtberücksichtigung anderer Gesichtspunkte, nämlich der anderen von der Klägerin angeführten Beispiele für Beschränkungen und dem Umstand, dass solche Beschränkungen als Instrument mit wettbewerbswidrigem Zweck verwendet würden, um die Märkte zu segmentieren oder den Kunden von Gazprom die Zugeständnisse vorzuschreiben, die Letztere haben möchte. Außerdem habe die Kommission außer Acht gelassen, dass die Entwicklung der von Gazprom kontrollierten Gasfernleitungsinfrastrukturen, die es ermöglichten, die mitteleuropäischen Mitgliedstaaten zu umgehen (Gasfernleitung Nord Stream 1 und Projekte der Gasfernleitungen Nord Stream 2 und TurkStream), ihre Kapazitäten zur Umsetzung solcher Praktiken verstärke, was durch die im Rahmen der Sache AT.39816 für bindend erklärten Verpflichtungszusagen Gazproms nicht gelöst worden sei.

105    Die Kommission, unterstützt durch Gazprom, bestreitet die von der Klägerin behaupteten Beurteilungsfehler und ist daher der Ansicht, dass der vorliegende Teil zurückzuweisen sei.

106    Insoweit geht aus dem angefochtenen Beschluss und dem Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung hervor, dass die Kommission aus im Wesentlichen vier Gründen der Auffassung war, dass sie die Behauptungen bezüglich Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015 nicht weiter zu untersuchen brauchte. Erstens hätten die in Rede stehenden Praktiken eine Streitigkeit vertraglicher Natur begründet, ohne dass die ihr zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte es ihr ermöglicht hätten, den Schluss zu ziehen, dass diese Praktiken missbräuchlich gewesen wären. Zweitens habe der im Vertrag zwischen Gazprom und der Klägerin vorgesehene Mechanismus zur Streitbeilegung eine Alternative zu einer Wettbewerbsuntersuchung und ein angemessenes Mittel, um diese Praktiken abzustellen, geboten. Drittens gehörten diese Verhaltensweisen der Vergangenheit an, ohne dass ersichtlich wäre, dass sie den Wettbewerb zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses beeinträchtigt hätten. Viertens schließlich habe die Verbesserung der Verbindungsleitung zwischen Deutschland und Polen die Gefahr, dass zukünftige Lieferprobleme Polen beeinträchtigen würden, erheblich verringert.

107    Was den ersten Grund betrifft, stellt das Gericht fest, dass der wichtigste Beweis, der für das Vorliegen eines potenziell missbräuchlichen Verhaltens spricht, die öffentliche Erklärung des russischen Energieministers vom 25. September 2014 ist, der sich entnehmen lässt, dass das Motiv der Lieferbeschränkungen möglicherweise darin bestand, Wiederausfuhren von Gas der betroffenen MOEL in die Ukraine zu verhindern. Wie die Kommission geltend macht, kann dieser Umstand jedoch weder für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV genügen noch für sich genommen eine weitere Untersuchung dieser Beschränkungen rechtfertigen, zumal, wie aus dem Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung hervorgeht, ein anderer Grund für diese Beschränkungen, nämlich die Bildung russischer Gasreserven, vorliegen könnte, selbst wenn man annähme, dass die Wahrscheinlichkeit dieses anderen Grundes in Abrede gestellt werden könnte.

108    Dies wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015 offenbar Teil einer allgemeinen Strategie von Gazprom waren, die in der MB in der Sache AT.39816 dokumentiert und außerdem durch die im Schreiben vom 30. August 2016 enthaltenen Drohungen bestätigt worden sein soll.

109    Obwohl eine solche Strategie in der MB angesprochen wurde, besteht diese Strategie nämlich aus verschiedenen Kategorien von Praktiken, und selbst wenn man annähme, dass das Motiv für diese Beschränkungen darin bestand, Wiederausfuhren in die Ukraine zu verhindern, unterscheiden sich solche Beschränkungen von den in der MB dargelegten Praktiken, die auf den Handel zwischen den betroffenen MOEL abzielen, und von angeblichen Drohungen im Schreiben vom 30. August 2016, die die Verwaltung des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung betreffen. Folglich konnte die Kommission diese Beschränkungen vernünftigerweise isoliert prüfen, auch in Anbetracht dessen, dass mit dem am Ende des Verfahrens in der Sache AT.39816 erlassenen Beschluss, der u. a. in den Abschnitten 2.2 und 2.3 des angefochtenen Beschlusses geprüft wurde, Verpflichtungszusagen für bindend erklärt wurden, die Gazprom gemacht hatte, um die wettbewerbsrechtlichen Bedenken der Kommission in dieser Sache auszuräumen.

110    Außerdem sind der von der Klägerin geltend gemachte Umstand eines Anstiegs der Verbindungsentgelte in der Wintersaison 2014/2015 und der ebenfalls von der Klägerin geltend gemachte Umstand, dass die Lieferbeschränkungen in dieser Saison mehrere Mitgliedstaaten und nicht nur die Republik Polen betrafen, als solche nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV zu belegen.

111    Was den zweiten Grund anbelangt, schließen zwar, wie die Klägerin geltend macht, die vertragliche Natur einer Praxis und das Vorhandensein eines vertraglichen Streitbeilegungsverfahrens nicht aus, dass diese Praxis einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln der Union darstellt. Jedoch hat die Klägerin nicht bestritten, dass ihr Gasliefervertrag mit Gazprom, wie im angefochtenen Beschluss festgestellt worden ist, ein solches Streitbeilegungsverfahren vorsieht. Die Kommission kann aber begründeterweise berücksichtigen, dass es alternative Kanäle gibt, die es grundsätzlich ermöglichen, die von einem Beschwerdeführer beanstandeten Praktiken abzustellen.

112    Hinsichtlich des dritten Grundes, d. h. des Umstands, dass die in Rede stehenden Lieferbeschränkungen der Vergangenheit angehörten, ist aus den oben in Rn. 108 dargelegten Gründen davon auszugehen, dass diese Beschränkungen von der Kommission isoliert betrachtet werden konnten. Im Übrigen sind die anderen von der Klägerin angeführten Gesichtspunkte, insbesondere die Probleme, die Gazprom 2018 in Rumänien verursacht haben soll, und die angebliche Vereinnahmung der Gastransportinfrastrukturen in Europa durch dieses Unternehmen, selbst wenn man annähme, dass sie mit diesen Beschränkungen vergleichbare Praktiken darstellen, im Verwaltungsverfahren nicht vorgebracht worden oder stellen zu allgemeine Behauptungen dar, um die Beurteilung der Kommission in Frage zu stellen.

113    Bezüglich des vierten Grundes genügt die Feststellung, dass die Klägerin nicht bestreitet, dass die Verbindungsleitung zwischen Deutschland und Polen tatsächlich verbessert wurde und dass die Gasmengen, die vom erstgenannten in das zweitgenannte Land transportiert werden, seit 2016 gestiegen sind.

114    Folglich ist festzustellen, dass die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie festgestellt hat, dass es keine ausreichenden Gründe gebe, die Behauptungen bezüglich Lieferbeschränkungen in der Wintersaison 2014/2015 weiter zu prüfen.

115    Nach alledem und insbesondere aufgrund des oben in Rn. 98 dargelegten Schlusses, dass die Kommission gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 verstoßen hat, wobei davon auszugehen ist, dass das Verfahren in der Sache AT.40497 ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können und dem angefochtenen Beschluss einen anderen Inhalt hätte haben können, ist der Klage stattzugeben. Unter diesen Umständen hält es das Gericht nicht für erforderlich, über den Antrag der Klägerin auf prozessleitende Maßnahmen zu entscheiden.

 Kosten

116    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

117    Im Übrigen kann das Gericht nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung entscheiden, dass ein anderer Streithelfer als ein Mitgliedstaat oder ein Unionsorgan seine eigenen Kosten trägt. Im vorliegenden Fall trägt Gazprom daher ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss C(2019) 3003 final der Kommission vom 17. April 2019 über die Abweisung einer Beschwerde (Sache AT.40497 – Polnischer Gaspreis) wird für nichtig erklärt.

2.      Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo S.A.

3.      Die Gazprom PJSC und die Gazprom export LLC tragen jeweils ihre eigenen Kosten.

Van der Woude

Svenningsen

Barents

Mac Eochaidh

 

      Pynnä

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 2. Februar 2022.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.


1      Nicht wiedergegebene vertrauliche Daten.