Language of document : ECLI:EU:T:2017:392

Rechtssache T262/15

Dmitrii Konstantinovich Kiselev

gegen

Rat der Europäischen Union

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die Ukraine gefährden oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Beschränkungen der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Natürliche Person, die die Ukraine gefährdende oder bedrohende Handlungen aktiv unterstützt oder ausführt – Begründungspflicht – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Meinungsfreiheit – Verhältnismäßigkeit – Verteidigungsrechte“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 15. Juni 2017

1.      Völkerrechtliche Verträge – Partnerschaftsabkommen Gemeinschaften‑Russland – Zum Schutz der wesentlichen Sicherheitsinteressen einer Partei erforderliche Maßnahmen – Kriegsfall oder ernste, eine Kriegsgefahr darstellende internationale Spannung – Begriff – Handlungen der Russischen Föderation, die die Lage in der Ukraine 2015 und 2016 betreffen – Einbeziehung – Pflicht zur vorherigen Information oder Konsultation – Fehlen

(Partnerschaftsabkommen Gemeinschaften–Russland, Art. 99 Nr. 1 Buchst. d)

2.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Verbot der Ein- und Durchreise sowie Einfrieren von Geldern – Pflicht, dem Betroffenen die Begründung gleichzeitig mit dem Erlass des ihn beschwerenden Rechtsakts oder alsbald danach mitzuteilen – Grenzen – Sicherheit der Union und der Mitgliedstaaten oder Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen – Beschluss, der in einem Kontext ergeht, der dem Betroffenen bekannt ist und der es ihm ermöglicht, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen – Zulässigkeit einer summarischen Begründung

(Art. 296 Abs. 2 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2; Beschlüsse [GASP] 2015/432, 2015/1524 und 2016/359 des Rates; Verordnungen 2015/427, 2015/1514 und 2016/353 des Rates)

3.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine – Verbot der Ein- und Durchreise sowie Einfrieren von Geldern – Aktive Unterstützung von Handlungen oder politischen Maßnahmen, die die territoriale Unversehrtheit, die Souveränität und die Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Begriff – Medienkampagne durch den Direktor einer als „Einheitsunternehmen“ des russischen Staates bezeichneten Nachrichtenagentur – Einbeziehung

(Beschlüsse [GASP] 2014/145, Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, 2015/432, 2015/1524 und 2016/359 des Rates; Verordnungen 269/2014, Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, 2015/427, 2015/1514 und 2016/353 des Rates)

4.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Fehlende oder unzureichende Begründung – Klagegrund, der sich von dem die materielle Rechtmäßigkeit betreffenden Klagegrund unterscheidet

(Art. 263 AEUV und 296 AEUV)

5.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Umfang der Kontrolle – Beweis für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme – Pflicht der zuständigen Unionsbehörde, im Streitfall die Stichhaltigkeit der gegen die betroffenen Personen oder Organisationen angeführten Begründung zu nachzuweisen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Beschlüsse [GASP] 2015/432, 2015/1524 und 2016/359 des Rates; Verordnungen 2015/427, 2015/1514 und 2016/353 des Rates)

6.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern einer natürlichen Person, die die Ukraine gefährdende oder bedrohende Handlungen oder politische Maßnahmen aktiv unterstützt – Einschränkung der Meinungsfreiheit – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 11 und 52 Abs. 1; Beschlüsse [GASP] 2015/432, 2015/1524 und 2016/359 des Rates; Verordnungen 2015/427, 2015/1514 und 2016/353 des Rates)

7.      Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Bestimmung des Streitgegenstands – Kurze Darstellung der Klagegründe – Entsprechende Erfordernisse für die zur Stützung eines Klagegrundes vorgebrachten Rügen – Zwingendes Recht – Prüfung durch den Unionsrichter von Amts wegen

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 76 Buchst. d)

8.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Verteidigungsrechte – Mitteilung der zur Last gelegten Umstände – Folgebeschluss über den Verbleib des Namens des Klägers in der Liste der Personen, die von diesen Maßnahmen betroffen sind – Keine neuen Gründe – Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a; Beschluss [GASP] 2015/432 des Rates; Verordnung 2015/427 des Rates)

9.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Recht auf Zugang zu Dokumenten – Rechte, die einen entsprechenden Antrag an den Rat voraussetzen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a; Beschluss [GASP] 2015/432 des Rates; Verordnung 2015/427 des Rates)

1.      Hinsichtlich der Situation in der Ukraine im März und September 2015 sowie im März 2016 kann angenommen werden, dass die Handlungen der Russischen Föderation einen „Kriegsfall [oder den Fall] einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung“ im Sinne von Art. 99 Nr. 1 Buchst. d des Abkommens über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits darstellen. Angesichts des Interesses, das die Union und ihre Mitgliedstaaten an einer stabilen Ukraine als Nachbarland haben, konnte es als notwendig erachtet werden, restriktive Maßnahmen zu erlassen, um Druck auf die Russische Föderation auszuüben, um sie dazu zu bewegen, ihre die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergrabenden oder bedrohenden Aktivitäten zu beenden. Hierzu ist festzustellen, dass das Partnerschaftsabkommen einer Partei, die Maßnahmen auf der Grundlage dieser Vorschrift ergreifen möchte, nicht vorschreibt, die andere Partei im Voraus davon in Kenntnis zu setzen, sie zu konsultieren oder ihr Gründe dafür zu liefern.

(vgl. Rn. 32, 33)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 39-41, 45, 50)

3.      Angesichts der wichtigen Rolle, die die Medien, vor allem die audiovisuellen Medien, in der modernen Gesellschaft spielen, war vorhersehbar, dass eine groß angelegte Medienkampagne zur Unterstützung der die Ukraine destabilisierenden Handlungen und politischen Maßnahmen der russischen Regierung, insbesondere in sehr beliebten Sendungen, durch eine Person, die mit Dekret von Präsident Putin zum Leiter einer als „Einheitsunternehmen“ bezeichneten Nachrichtenagentur ernannt worden war, von dem Kriterium erfasst sein kann, das sich auf natürliche Personen bezieht, die Handlungen oder politische Maßnahmen aktiv unterstützen, die die territoriale Unversehrtheit, die Souveränität und die Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen.

Der Begriff „aktive Unterstützung“ kann nämlich nicht nur in dem Sinne verstanden werden, dass damit Personen gemeint sind, die, ohne selbst für die die Ukraine destabilisierenden Handlungen und politischen Maßnahmen der russischen Regierung verantwortlich zu sein und ohne sie selbst durchzuführen, diese politischen Maßnahmen und Handlungen unterstützen. Das Kriterium erfasst nicht jede Form von Unterstützung der russischen Regierung, sondern diejenigen, die aufgrund ihrer quantitativen und qualitativen Bedeutung zur Fortführung der die Ukraine destabilisierenden Handlungen und politischen Maßnahmen dieser Regierung beitragen. Ausgelegt unter der Kontrolle des Unionsrichters im Hinblick auf den Zweck, Druck auf die russische Regierung auszuüben, um sie zu zwingen, diese Handlungen und politischen Maßnahmen einzustellen, wird mit dem einschlägigen Kriterium daher auf objektive Weise ein eng begrenzter Kreis von Personen und Einrichtungen festgelegt, gegen die Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern erlassen werden können. Bei der Auslegung dieses Kriteriums ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, der anerkennt, dass es unmöglich ist, bei der Ausarbeitung von Gesetzen, vor allem auf Gebieten, in denen sich die Lage je nach den in der Gesellschaft vorherrschenden Meinungen ändert, absolute Genauigkeit zu erreichen, und der zugesteht, dass es die Notwendigkeit, Rigidität zu vermeiden und sich geänderten Situationen anzupassen, mit sich bringt, dass sich viele Gesetze mehr oder weniger vager Formulierungen bedienen, deren Auslegung und Anwendung von der Praxis abhängen. Die Voraussetzung, dass das Gesetz Verstöße klar definieren muss, ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene aufgrund des Wortlauts der betreffenden Vorschrift – nötigenfalls anhand ihrer Auslegung durch die Gerichte – erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine Verantwortlichkeit begründen.

(vgl. Rn. 43, 73-76)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 52)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 61-63)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 66, 67, 69-72, 80-82, 84-88, 122-125)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 137, 138)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 139, 145, 146)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 139, 151)