Language of document : ECLI:EU:T:2021:44

URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)

27. Januar 2021(*)

„Umwelt – Richtlinie 2010/75/EU – Industrieemissionen – Durchführungsbeschluss (EU) 2017/1442 – Großfeuerungsanlagen – Schlussfolgerungen zu den besten verfügbaren Techniken (BVT) – Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV – Art. 3 Abs. 2 und 3 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen – Zeitliche Anwendung des Gesetzes – Komitologie“

In der Rechtssache T‑699/17,

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna und D. Krawczyk als Bevollmächtigte,

Klägerin,

unterstützt durch

Republik Bulgarien, vertreten durch E. Petranova und T. Mitova als Bevollmächtigte,

und durch

Ungarn, vertreten durch  M. Fehér als Bevollmächtigten,

Streithelfer,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch Ł. Habiak, K. Herrmann und R. Tricot als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Königreich Belgien, vertreten durch M. Jacobs als Bevollmächtigte,

durch

Französische Republik, vertreten durch J. Traband und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte,

und durch

Königreich Schweden, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev, L. Zettergren und A. Alriksson als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

wegen einer Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2017/1442 der Kommission vom 31. Juli 2017 über Schlussfolgerungen zu den besten verfügbaren Techniken (BVT) gemäß der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates für Großfeuerungsanlagen (ABl. 2017, L 212, S. 1)

erlässt

DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer),

unter Mitwirkung des Präsidenten A. M. Collins, der Richter V. Kreuschitz (Berichterstatter), Z. Csehi und G. De Baere sowie der Richterin G. Steinfatt,

Kanzler: R. Ūkelytė, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. September 2020

folgendes

Urteil

 Rechtlicher Rahmen

 Zum Verfahren zur Annahme der Schlussfolgerungen zu den besten verfügbaren Techniken (BVT)

1        Die Schlussfolgerungen zu den besten verfügbaren Techniken (BVT) dienen gemäß Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (ABl. 2010, L 334, S. 17) als Referenzdokument für die Festlegung der Genehmigungsauflagen für den Betrieb von Feuerungsanlagen.

2        Die Schlussfolgerungen zu den BVT werden gemäß Art. 13 der Richtlinie 2010/75 und dem Anhang des Durchführungsbeschlusses 2012/119/EU der Kommission vom 10. Februar 2012 mit Leitlinien für die Erhebung von Daten sowie für die Ausarbeitung der BVT‑Merkblätter und die entsprechenden Qualitätssicherungsmaßnahmen gemäß der Richtlinie 2010/75 (ABl. 2012, L 63, S. 1) in zwei Schritten angenommen.

3        Der erste Schritt besteht in der Erstellung eines technischen BVT‑Merkblatts (im Folgenden: BVT‑Merkblatt), der ein Informationsaustausch unter Beteiligung der Europäischen Kommission, der Mitgliedstaaten, der betroffenen Industriezweige und der Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Umweltschutz einsetzen, vorausgeht. In diesem Rahmen arbeitet eine technische Arbeitsgruppe die Dokumente zu dem BVT‑Merkblatt aus, wobei sie die Ergebnisse des Informationsaustauschs für den jeweiligen Industriezweig berücksichtigt. Der endgültige Entwurf des BVT‑Merkblatts wird an das gemäß Art. 13 Abs. 3 der Richtlinie 2010/75 eingerichtete Forum übermittelt, das nach Abschluss der Arbeiten auf technischer Ebene seine Stellungnahme zu dem vorgeschlagenen Inhalt des BVT‑Merkblatts abgibt.

4        In einem zweiten Schritt legt die Kommission gemäß Art. 13 Abs. 5 und Art. 75 Abs. 2 der Richtlinie 2010/75 dem nach Art. 75 der Richtlinie 2010/75 eingesetzten und aus den Vertretern der Mitgliedstaaten bestehenden Ausschuss (im Folgenden: Ausschuss) einen Entwurf des Durchführungsbeschlusses über die Schlussfolgerungen zu den BVT vor. Der Ausschuss gibt unter Anwendung des Prüfverfahrens gemäß Art. 5 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren (ABl. 2011, L 55, S. 13) seine Stellungnahme zu dem Entwurf des Durchführungsbeschlusses der Kommission mit der qualifizierten Mehrheit gemäß Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV ab. Wird eine befürwortende Stellungnahme abgegeben, so erlässt die Kommission den Durchführungsbeschluss, mit dem die Schlussfolgerungen zu den BVT festgelegt werden.

 Zu den anwendbaren Bestimmungen über die qualifizierte Mehrheit

5        Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV bestimmt:

„(4)      Ab dem 1. November 2014 gilt als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 55 % der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmachen.

Für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder des Rates erforderlich, andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht.

Die übrigen Modalitäten für die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit sind in Artikel 238 Absatz 2 [AEUV] festgelegt.

(5)      Die Übergangsbestimmungen für die Definition der qualifizierten Mehrheit, die bis zum 31. Oktober 2014 gelten, sowie die Übergangsbestimmungen, die zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 gelten, sind im Protokoll über die Übergangsbestimmungen festgelegt.“

6        Art. 3 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen (ABl. 2016, C 202, S. 321, im Folgenden: Protokoll Nr. 36) sieht vor:

„(1)      Nach Artikel 16 Absatz 4 [EUV] treten die Bestimmungen dieses Absatzes und die Bestimmungen des Artikels 238 Absatz 2 [AEUV] zur Definition der qualifizierten Mehrheit im Europäischen Rat und im Rat am 1. November 2014 in Kraft.

(2)      Für den Zeitraum vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 gilt Folgendes: Ist für eine Beschlussfassung eine qualifizierte Mehrheit erforderlich, kann ein Mitglied des Rates beantragen, dass die Beschlussfassung mit der qualifizierten Mehrheit nach Absatz 3 erfolgt. In diesem Fall finden die Absätze 3 und 4 Anwendung.

(3)      Bis zum 31. Oktober 2014 gelten unbeschadet des Artikels 235 Absatz 1 Unterabsatz 2 [AEUV] die nachstehenden Bestimmungen:

Ist für die Beschlussfassung im Europäischen Rat und im Rat eine qualifizierte Mehrheit erforderlich, so werden die Stimmen der Mitglieder wie folgt gewichtet:

Belgien

12

Bulgarien

10

Tschechische Republik

12

Dänemark

7

Deutschland

29

Estland

4

Irland

7

Griechenland

12

Spanien

27

Frankreich

29

Kroatien

7

Italien

29

Zypern

4

Lettland

4

Litauen

7

Luxemburg

4

Ungarn

12

Malta

3

Niederlande

13

Österreich

10

Polen

27

Portugal

12

Rumänien

14

Slowenien

4

Slowakei

7

Finnland

7

Schweden

10

Vereinigtes Königreich

29


In den Fällen, in denen Beschlüsse nach den Verträgen auf Vorschlag der Kommission zu fassen sind, kommen diese Beschlüsse mit einer Mindestzahl von 260 Stimmen zustande, die die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder umfasst. In den anderen Fällen kommen die Beschlüsse mit einer Mindestzahl von 260 Stimmen zustande, die die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder umfasst.

Ein Mitglied des Europäischen Rates oder des Rates kann beantragen, dass beim Erlass eines Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob die Mitgliedstaaten, die diese qualifizierte Mehrheit bilden, mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung der Union ausmachen. Falls sich erweist, dass diese Bedingung nicht erfüllt ist, wird der betreffende Rechtsakt nicht erlassen.

(4)      Bis zum 31. Oktober 2014 gilt in den Fällen, in denen in Anwendung der Verträge nicht alle Mitglieder des Rates stimmberechtigt sind, das heißt in den Fällen, in denen auf die qualifizierte Mehrheit nach Artikel 238 Absatz 3 [AEUV] Bezug genommen wird, als qualifizierte Mehrheit derselbe Anteil der gewogenen Stimmen und derselbe Anteil der Anzahl der Mitglieder des Rates sowie gegebenenfalls derselbe Prozentsatz der Bevölkerung der betreffenden Mitgliedstaaten wie in Absatz 3 dieses Artikels festgelegt.“

7        Art. 5 der Verordnung Nr. 182/2011 sieht insbesondere vor:

„(1)      Findet das Prüfverfahren Anwendung, so gibt der Ausschuss seine Stellungnahme mit der Mehrheit nach Artikel 16 Absätze 4 und 5 [EUV] und gegebenenfalls nach Artikel 238 Absatz 3 AEUV bei Rechtsakten, die auf Vorschlag der Kommission zu erlassen sind, ab. Die Stimmen der Vertreter der Mitgliedstaaten im Ausschuss werden gemäß den vorgenannten Artikeln gewichtet.

(2)      Gibt der Ausschuss eine befürwortende Stellungnahme ab, so erlässt die Kommission den im Entwurf vorgesehenen Durchführungsrechtsakt.

…“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

8        Am 9. März 2017 legte die Kommission als Vorsitzende des Ausschusses dem Ausschuss einen Entwurf eines Durchführungsbeschlusses über Schlussfolgerungen zu den BVT gemäß der Richtlinie 2010/75 für Großfeuerungsanlagen vor.

9        Mit Schreiben vom 23. März 2017 lud die Kommission die Mitglieder des Ausschusses zu einer Sitzung ein, die am 28. April 2017 stattfinden sollte. In dieser Sitzung sollte über die Stellungnahme zu diesem Entwurf eines Durchführungsbeschlusses abgestimmt werden. Diesem Schreiben war ein Entwurf der Tagesordnung beigefügt.

10      Am 30. März 2017 beantragte die Republik Polen, dass der Ausschuss über die Stellungnahme zu diesem Entwurf eines Durchführungsbeschlusses nach den Abstimmungsregeln gemäß Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 abstimmen solle.

11      Am 4. April 2017 übermittelte der Juristische Dienst des Rates der Europäischen Union dem Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten eine Stellungnahme, worin er im Wesentlichen ausführte, dass der Mitgliedstaat, damit eine Abstimmung über einen Entwurf eines Rechtsakts gemäß den vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Regeln erfolge, spätestens bis zum 31. März 2017 einen entsprechenden Antrag stellen müsse und dass die Abstimmung, die Gegenstand des Antrags sei, ebenfalls vor diesem Zeitpunkt erfolgen müsse.

12      Am 10. April 2017 wies die Generaldirektion Umwelt der Kommission den Antrag der Republik Polen vom 30. März 2017 mit der Begründung zurück, dass die Abstimmung über die Stellungnahme für den 28. April 2017 vorgesehen sei, d. h. für einen Zeitpunkt nach dem 31. März 2017, dem Enddatum gemäß Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36.

13      Am 28. April 2017 fand eine Sitzung des Ausschusses statt, in der die Mitglieder abstimmten, um eine Stellungnahme zu einem geänderten Entwurf eines Durchführungsbeschlusses anzunehmen. Die Abstimmung erfolgte nach den Abstimmungsregeln gemäß Art. 16 Abs. 4 EUV und nicht nach jenen gemäß Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36. Die Abstimmung führte zu einer den Entwurf befürwortenden Stellungnahme des Ausschusses, und zwar infolge einer Zustimmung von 20 Mitgliedstaaten, die 65,14 % der Bevölkerung und 71,43 % der Mitglieder dieses Ausschusses ausmachten. Acht Mitgliedstaaten, darunter die Republik Polen, gaben ein ablehnendes Votum ab.

14      Am 31. Juli 2017 – nach dieser Abstimmung – erließ die Kommission den Durchführungsbeschluss (EU) 2017/1442 über Schlussfolgerungen zu den besten verfügbaren Techniken (BVT) gemäß der Richtlinie 2010/75 für Großfeuerungsanlagen (ABl. 2017, L 212, S. 1, im Folgenden: angefochtener Beschluss).

15      Der angefochtene Beschluss legt u. a. die mit den besten verfügbaren Techniken assoziierten Emissionswerte (im Folgenden: BVT‑assoziierte Emissionswerte) hinsichtlich der Emissionen von Stickoxiden (NOx), Quecksilber (Hg) und Chlorwasserstoff (HCl) für Großfeuerungsanlagen, d. h. Anlagen mit einer Feuerungswärmeleistung von mindestens 50 Megawatt (MW) unabhängig vom verwendeten Brennstofftyp fest.

 Verfahren und Anträge der Parteien

16      Mit Klageschrift, die am 11. Oktober 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Republik Polen die vorliegende Klage erhoben.

17      Mit Schriftsätzen, die am 4. bzw. am 15. Januar 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben Ungarn und die Republik Bulgarien beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Polen zugelassen zu werden. Mit Entscheidung vom 19. Februar 2018 hat der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts (frühere Besetzung) diese Streitbeitritte zugelassen.

18      Mit am 16. bzw. am 25. Januar 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schriftsätzen haben das Königreich Belgien, die Französische Republik und das Königreich Schweden beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Mit Beschlüssen vom 19. bzw. vom 21. Februar 2018 hat der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts (frühere Besetzung) diese Streitbeitritte zugelassen.

19      Die Streithelfer haben ihre Schriftsätze und die Hauptparteien ihre Stellungnahmen hierzu innerhalb der ihnen gesetzten Fristen eingereicht.

20      Mit Entscheidung vom 11. März 2019 hat der Präsident des Gerichts gemäß Art. 27 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts die Rechtssache einem anderen, der Dritten Kammer (frühere Besetzung) zugeteilten Berichterstatter zugewiesen.

21      Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts gemäß Art. 27 Abs. 5 der Verfahrensordnung ist der Berichterstatter der Dritten Kammer (neue Besetzung) zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache daher zugewiesen worden ist.

22      Auf Vorschlag der Dritten Kammer (neue Besetzung) hat das Gericht gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung entschieden, die Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper zu verweisen.

23      Auf Vorschlag des Berichterstatters hat das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) entschieden, das mündliche Verfahren zu eröffnen, und den Hauptparteien im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 Abs. 3 Buchst. a und b der Verfahrensordnung schriftliche Fragen gestellt und diese Parteien aufgefordert, schriftlich zu bestimmten Aspekten des Rechtsstreits Stellung zu nehmen. Die Hauptparteien haben diese Fragen fristgemäß beantwortet.

24      Die Parteien haben in der Sitzung vom 17. September 2020 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.

25      Die Republik Polen, unterstützt durch die Republik Bulgarien und Ungarn, beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

26      Die Kommission, unterstützt durch das Königreich Belgien, die Französische Republik und das Königreich Schweden, beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

27      Zur Stützung ihrer Klage macht die Republik Polen fünf Klagegründe geltend.

28      Der erste Klagegrund stützt sich auf eine Verletzung der Vorschriften über die qualifizierte Mehrheit. Die Republik Polen vertritt die Auffassung, der angefochtene Beschluss hätte auf ihren entsprechenden Antrag hin gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 des Protokolls Nr. 36 nach den im Vertrag von Nizza festgelegten Regeln über die qualifizierte Mehrheit erlassen werden müssen und nicht nach den im Vertrag von Lissabon vorgesehenen.

29      Im Rahmen des zweiten und des dritten Klagegrundes vertritt die Republik Polen die Ansicht, dass die durch den angefochtenen Beschluss auferlegten BVT‑assoziierten Emissionswerte für Emissionen von Stickoxiden (NOx), Quecksilber (Hg) und Chlorwasserstoff (HCl) von Großfeuerungsanlagen sowie bestimmte BVT‑assoziierte Emissionswerte für Großfeuerungsanlagen, deren jährliche Betriebsdauer unter 1 500 Stunden liege, auf der Grundlage fehlerhafter und nicht repräsentativer Daten festgelegt worden seien und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzten.

30      Mit dem vierten und dem fünften Klagegrund stellt die Republik Polen die Rechtmäßigkeit der Ausnahme in Abrede, die der angefochtene Beschluss bestimmten Inselregionen bei der Anwendung von bestimmten BVT‑assoziierten Emissionswerten auf Motoren, die Schweröl oder Gasöl verbrennen, gewährt.

 Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 und 3 des Protokolls Nr. 36

31      Die Republik Polen, unterstützt durch Ungarn, vertritt die Auffassung, dass der angefochtene Beschluss unter Verstoß gegen die in Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV und Art. 3 Abs. 2 und 3 des Protokolls Nr. 36 festgelegten Regeln über die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit erlassen worden sei.  Im Wesentlichen führt sie aus, dass es für die Anwendung der Regeln über die qualifizierte Mehrheit des Art. 3 Abs. 3 dieses Protokolls ausreiche, wenn ein Mitgliedstaat einen entsprechenden Antrag innerhalb der in Art. 3 Abs. 2 dieses Protokolls festgelegten Frist, d. h. zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017, stelle. Da die Republik Polen einen solchen Antrag am 30. März 2017 gestellt habe, hätten diese Regeln über die qualifizierte Mehrheit bei der am 28. April 2017 im Ausschuss erfolgten Abstimmung über den Entwurf des angefochtenen Beschlusses angewendet werden müssen.  Ungarn fügt hinzu, dass bei Anwendung dieser Regeln die für die Annahme dieses Entwurfs erforderliche Stimmenzahl nicht hätte erreicht werden können und die Abstimmung daher zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.

32      Die Kommission, unterstützt durch das Königreich Belgien, die Französische Republik und das Königreich Schweden, erwidert im Wesentlichen, dass der von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 festgelegte Zeitraum sowohl den Zeitpunkt umfasse, an dem das Mitglied des Rates seinen Antrag stelle, als auch den Zeitpunkt, an dem die Abstimmung stattfinde. Sie vertritt die Ansicht, dass diese Bestimmung eine Ausnahme von der allgemeinen in Art. 16 Abs. 4 EUV niedergelegten Regel vorsehe und daher eng ausgelegt werden müsse. Art. 16 Abs. 5 EUV lege maßgeblich den materiellen Anwendungsbereich der im Protokoll Nr. 36 enthaltenen Übergangsbestimmungen fest, und es gehe klar aus seinem Wortlaut sowie aus dem des Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 hervor, dass die qualifizierte Mehrheit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 nur für zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 stattfindende Abstimmungen gelte. Der Ansatz der Republik Polen laufe darauf hinaus, dass die Übergangsbestimmungen über die Definition der qualifizierten Mehrheit ausschließlich von der einseitigen Entscheidung eines einzigen Mitgliedstaats abhingen und dass diese Bestimmungen auf unbestimmte Zeit angewendet werden könnten, was Art. 16 Abs. 4 EUV und dem Ausschussverfahren ihre praktische Wirksamkeit nehmen und zu einer Verletzung des Rechtssicherheitsgrundsatzes führen würde. Die Dauer des Übergangszeitraums müsse im Voraus bekannt sein, und sie sei von den Verfassern des Vertrags eindeutig bestimmt worden.

33      Das Gericht soll sich im Rahmen der Prüfung des vorliegenden Klagegrundes zur Tragweite von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 und konkret zu der Frage äußern, ob es, um in den Genuss der Regeln über die qualifizierte Mehrheit gemäß Abs. 3 dieses Artikels, die der qualifizierten Mehrheit des Vertrags von Nizza entsprechen, kommen zu können, genügt, wenn ein Mitgliedstaat den entsprechenden Antrag zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 stellt, oder ob es erforderlich ist, dass auch die Entscheidung innerhalb dieses Zeitraums getroffen wird.

34      Insoweit ist daran zu erinnern, dass bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (Urteil vom 25. Juni 2020, A u. a. [Windkraftanlagen in Aalter und Nevele], C‑24/19, EU:C:2020:503, Rn. 37). Es ist daher eine grammatikalische, systematische, teleologische und historische Auslegung von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 vorzunehmen. Dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Vorschriften des Unionsrechts in mehreren Sprachen abgefasst sind und die verschiedenen Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind, was einen Vergleich der Sprachfassungen erforderlich machen kann (vgl. Urteil vom 14. Juli 2016, Lettland/Kommission, T‑661/14, EU:T:2016:412, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Was erstens die grammatikalische Auslegung angeht, sind sich die Parteien darüber einig, dass der Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 Zweifel hinsichtlich der genauen Tragweite dieser Bestimmung nicht beseitigen kann. Denn aus diesem Wortlaut, wonach „[f]ür den Zeitraum vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 … Folgendes [gilt]: Ist für eine Beschlussfassung eine qualifizierte Mehrheit erforderlich, kann ein Mitglied des Rates beantragen, dass die Beschlussfassung mit der qualifizierten Mehrheit nach Absatz 3 erfolgt“, geht nicht hervor, ob auch diese Beschlussfassung innerhalb dieses Zeitraums stattfinden muss.

36      Auch die anderen Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 können Zweifel hinsichtlich der genauen Tragweite dieser Bestimmung nicht beseitigen.

37      Zweitens ermöglicht auch eine historische Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung keine klärenden Feststellungen zu ihrem Wortlaut. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Vertrag von Lissabon, mit dem die Regeln für Berechnung der qualifizierten Mehrheit geändert wurden, nach Erteilung eines Mandats an die Regierungskonferenz geschlossen wurde, die mit dem Ziel einberufen worden war, einen Entwurf eines Vertrags zur Änderung des EU‑Vertrags und des EG‑Vertrags auszuarbeiten. Nach den Bestimmungen dieses Mandats „… kann während eines Übergangszeitraums bis zum 31. März 2017 ein Mitglied des Rates bei der Annahme eines Beschlusses mit qualifizierter Mehrheit beantragen, dass der Beschluss mit der qualifizierten Mehrheit gemäß Artikel 205 Absatz 2 des geltenden EG-Vertrags angenommen wird“ (Nr. 13 des in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 21. und 22. Juni 2007, 11177/1/07 REV 1, Anlage I, S. 18, angeführten Mandats). Da die Formulierung in diesem Mandat der Formulierung in Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 sehr nahekommt, kann auf ihrer Grundlage, wie die Kommission zu Recht ausführt, die oben in Rn. 35 dargestellte Uneindeutigkeit nicht behoben werden. Daher folgt aus diesem Dokument nicht, wie von der Republik Polen geltend gemacht, dass die Abstimmung nach den Regeln des Vertrags von Nizza vor dem 1. April 2017 erfolgen musste.

38      Drittens ist im Rahmen einer teleologischen Auslegung daran zu erinnern, dass das Ziel des Protokolls Nr. 36 gemäß seinem einzigen Erwägungsgrund in der „Regelung des Übergangs von den institutionellen Bestimmungen der Verträge, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbar sind, zu den Bestimmungen des genannten Vertrags“ besteht.

39      Zu diesem Zweck ist ein Mitgliedstaat nach Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 berechtigt, im Zeitraum vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 die Anwendung der qualifizierten Mehrheit nach Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36, die der Regelung im Vertrag von Nizza entspricht, zu beantragen, was im Übrigen zwischen den Parteien unstreitig zu sein scheint.

40      Dagegen sind sich die Parteien uneins in der Frage, ob auch die Abstimmung in diesem Zeitraum erfolgen muss. Das den Mitgliedstaaten von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 eingeräumte Recht, eine Abstimmung mit einer qualifizierten Mehrheit im Sinne der Regeln des Vertrags von Nizza in dem in diesem Artikel festgelegten Zeitraum zu beantragen, bedeutet notwendigerweise, dass nach der Stellung eines solchen Antrags durch einen Mitgliedstaat die Abstimmung nach eben diesen Regeln stattfinden muss, auch wenn diese Abstimmung nach dem 31. März 2017 erfolgt. Denn nur eine solche Auslegung kann gewährleisten, dass ein Mitgliedstaat dieses Recht während dieses gesamten Zeitraums – und zwar bis zum letzten Tag der vorgesehenen Frist – wirksam ausüben kann.

41      Jede gegenteilige Auslegung würde der ausdrücklichen Festlegung des Zeitraums vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 für die Ausübung des in Rede stehenden Vorrechts ihre praktische Wirksamkeit nehmen und die Frist, innerhalb deren ein Mitgliedstaat eine Abstimmung nach den Regeln des Vertrags von Nizza wirksam beantragen könnte, erheblich verkürzen. Denn sie würde dazu führen, dass ein zum Ende dieses Zeitraums eingereichter Antrag praktisch zu spät gestellt wäre, um die Anwendung der Regeln des Vertrags von Nizza zu ermöglichen. Bei einer solchen gegenteiligen Auslegung sähen sich die Mitgliedstaaten genötigt, ihren Antrag gegebenenfalls wesentlich früher zu stellen, je nachdem, für welchen – nicht voraussehbaren – Zeitpunkt die Abstimmung vorgesehen ist. Ein solches Ergebnis stünde im Widerspruch zum Recht der Mitgliedstaaten, eine Abstimmung nach den Regeln des Vertrags von Nizza bis zum letzten Tag des in Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 vorgesehenen Zeitraums zu beantragen.

42      Daher folgt aus einer teleologischen Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung, dass die in Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 enthaltene Definition der qualifizierten Mehrheit auf eine Abstimmung Anwendung finden kann, auch wenn diese nach dem 31. März 2017 erfolgt, sofern ein Mitgliedstaat ihre Anwendung vor diesem Zeitpunkt beantragt.

43      Viertens kann diese Schlussfolgerung auch auf eine systematische Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung gestützt werden. Insoweit ist anzumerken, dass sich Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 in den Rahmen der drei Übergangsphasen hinsichtlich des Inkrafttretens der im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Regeln über die qualifizierte Mehrheit einfügt.

44      Denn während der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, ist die Definition der qualifizierten Mehrheit in Art. 16 Abs. 4 EUV erst am 1. November 2014 wirksam geworden. Gemäß Art. 16 Abs. 5 EUV galten Übergangsbestimmungen zum einen bis zum 31. Oktober 2014 und zum anderen zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017, wie im Protokoll über die Übergangsbestimmungen, dem Protokoll Nr. 36, festgelegt.

45      Es sind daher drei Zeiträume zu unterscheiden, nämlich erstens der Zeitraum vom 1. Dezember 2009 bis zum 31. Oktober 2014, zweitens jener vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 und drittens der Zeitraum ab dem 1. April 2017.

46      Im ersten Zeitraum fanden die Regeln über die in Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 definierte qualifizierte Mehrheit Anwendung, indem die Geltung der Regeln des Vertrags von Nizza, denen sie entsprachen, verlängert wurde. Im zweiten Zeitraum konnte ein Mitglied des Rates gemäß der streitigen Bestimmung, nämlich Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36, beantragen, dass eine Beschlussfassung nach diesen Regeln des Vertrags von Nizza erfolge. Wurde kein solcher Antrag gestellt, kam die neue Definition der qualifizierten Mehrheit in Art. 16 Abs. 4 EUV zur Anwendung, was von Art. 3 Abs. 1 des Protokolls Nr. 36 unterstrichen wird. Im dritten Zeitraum bestimmt sich die qualifizierte Mehrheit nach Art. 16 Abs. 4 EUV, ohne dass ein anderer Modus der Stimmenberechnung beantragt werden kann.

47      Daher stellt Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 entgegen der Auffassung der Kommission keine Ausnahme von der in Art. 16 Abs. 4 EUV festgelegten Regel dar, sondern es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine Übergangsbestimmung, die eine der drei Übergangsphasen regelt, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nacheinander zur Anwendung kamen. Ihr Übergangscharakter wird durch den einzigen Erwägungsgrund des Protokolls Nr. 36 bestätigt (siehe oben, Rn. 38) sowie durch den Wortlaut des Titels des Protokolls Nr. 36 („Über die Übergangsbestimmungen“) und den Wortlaut von Art. 16 Abs. 5 EUV, wonach ein Protokoll „[d]ie Übergangsbestimmungen“ für den Zeitraum zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 festlegt.

48      Die oben in Rn. 42 vorgenommene Auslegung steht im Einklang mit den Anforderungen von Art. 16 Abs. 5 EUV, auf dessen Grundlage Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 erlassen wurde. Denn nach dieser Auslegung war Art. 3 Abs. 2 dieses Protokolls zum einen zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 anwendbar, da der späteste Zeitpunkt für den Antrag auf Anwendung der qualifizierten Mehrheit im Sinne von Abs. 3 dieses Artikels der 31. März 2017 war, und zum anderen hatte er Übergangscharakter, weil die Abstimmung mit dieser qualifizierten Mehrheit nur bei den Entwürfen von Rechtsakten erfolgte, für die ein solcher Antrag während dieses Zeitraums gestellt wurde. Die Kommission vertritt daher zu Unrecht die Auffassung, dass nach Art. 16 Abs. 5 EUV die qualifizierte Mehrheit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 nur auf Abstimmungen anwendbar sei, die zwischen dem 1. Dezember 2009 und dem 31. Oktober 2014 stattfinden. Ebenso ist aber auch das Vorbringen der Republik Polen unbegründet, wonach der Anwendungsbereich von Art. 16 Abs. 5 EUV nicht die Definition der qualifizierten Mehrheit betreffe.

49      Jedenfalls ist der Wortlaut von Art. 16 Abs. 5 EUV, wie diese verschiedenen von den Parteien vorgetragenen Auslegungen deutlich machen, so uneindeutig, dass er die oben in Rn. 42 vorgenommene Auslegung nicht in Frage stellen kann.

50      Entgegen dem Vorbringen der Kommission ist die oben in Rn. 42 vorgenommene Auslegung auch mit dem aus ständiger Rechtsprechung folgenden Erfordernis vereinbar, dass eine Übergangsbestimmung eng auszulegen ist (vgl. Urteil vom 27. Februar 2019, Griechenland/Kommission, C‑670/17 P, EU:C:2019:145, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2010, Kommission/Polen, C‑49/09, EU:C:2010:644, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Denn zum einen unterliegt die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 im Rahmen dieser Auslegung einer genau definierten zeitlichen Begrenzung (sieh oben, Rn. 48) und gewährleistet somit dessen Übergangscharakter (siehe oben, Rn. 38). Zum anderen kann nur durch diese Auslegung sichergestellt werden, dass ein Mitgliedstaat sachdienlich und wirksam sein Recht bis zum letzten Tag der in Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 vorgesehenen Frist ausüben kann (siehe oben, Rn. 40 und 41), so dass sie nicht über das zur Sicherung der Ausübung dieses Rechts erforderliche Maß hinausgeht.

51      Im Übrigen ist das Vorbringen der Kommission zurückzuweisen, wonach die oben in Rn. 42 wiedergegebene Auslegung Art. 16 Abs. 4 EUV und dem Ausschussverfahren, die darauf abzielten, die demokratische Legitimierung und die Repräsentanz der Bürger zu stärken, ihre praktische Wirksamkeit nähme. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass auch Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 Teil des Primärrechts ist und dass deshalb dessen praktische Wirksamkeit von der Kommission in gleicher Weise wie die praktische Wirksamkeit der Verträge gewährleistet werden muss, so dass diese Vorschrift nicht zugunsten einer verfrühten Anwendung von Art. 16 Abs. 4 EUV vernachlässigt werden darf.

52      Daher bestätigt eine systematische Analyse die oben in Rn. 42 wiedergegebene Auslegung von Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36.

53      Fünftens ist festzustellen, dass diese Auslegung durch den Grundsatz der Rechtssicherheit untermauert wird, der gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sind und dass ihre Anwendung für den Einzelnen voraussehbar ist. Insbesondere verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (vgl. Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 127 und 128 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Insoweit kann die Kommission nicht geltend machen, dass, wenn die Anwendung der Übergangsbestimmung allein von dem einseitigen Antrag eines Mitgliedstaats abhängig gemacht werde, eine unbegrenzte Anwendung dieser Bestimmung ermöglicht werde, da ein Rechtsakt in formeller Hinsicht weiter Gegenstand von Beschlussfassungen des Rates sei, solange er von der Kommission nicht zurückgenommen worden sei. Dieses Argument lässt nicht nur den Umstand außer Acht, dass die Anwendung der Übergangsbestimmung allein von der Voraussetzung abhängt, dass der Mitgliedstaat einen entsprechenden Antrag stellt, der zeitlich begrenzt ist, da er spätestens bis zum 31. März 2017 gestellt werden muss, sondern auch die Tatsache, dass die Beratungen, die zu einer Abstimmung führen, der Anwendung dieser Übergangsbestimmung ein Ende setzen, so dass diese nicht auf unbegrenzte Zeit gilt.

55      Im Gegenteil würde die von der Kommission vertretene Auslegung, die die Anwendung der Übergangsbestimmung kumulativ den Voraussetzungen der Stellung eines Antrags eines Mitgliedstaats und der Durchführung einer Abstimmung bis spätestens 31. März 2017 unterwirft, zum Ende der Übergangszeit zu Unsicherheiten hinsichtlich der zeitlichen Anwendung der qualifizierten Mehrheit nach der in Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 vorgesehenen Definition führen. Denn da die Dauer der Arbeiten an einem Entwurf eines Rechtsakts variieren kann, hätte ein Mitgliedstaat, der von dem ihm durch diese Bestimmung gewährten Recht während der Übergangszeit Gebrauch macht, vor allem dann, wenn er seinen Antrag kurz vor dem 31. März 2017 stellt, keine Gewissheit, dass die Abstimmung tatsächlich nach diesen Regeln stattfinden kann. Wenn die Arbeiten an einem Entwurf eines Rechtsakts länger als bis zum 31. März 2017 dauern, hätte die von der Kommission vertretene Auslegung zur Folge, dass die Abstimmung mit der qualifizierten Mehrheit im Sinne von Art. 16 Abs. 4 EUV erfolgen müsste, während der Abschluss dieser Arbeiten vor diesem Zeitpunkt, der eine Abstimmung von dem 31. März 2017 möglich macht, zu einer Anwendung der qualifizierten Mehrheit nach Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 führen würde. Außerdem würde eine solche Auslegung nicht nur zu einer mangelnden Voraussehbarkeit führen, sondern sie könnte auch zur Folge haben, dass es zu einer Umgehung der in Rede stehenden Übergangsbestimmung kommt, indem für die Abstimmung ein späterer Zeitpunkt als der 31. März 2017 festgelegt wird.

56      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 dahin auszulegen, dass es für die Annahme eines Entwurfs eines Rechtsakts nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36, die denen des Vertrags von Nizza entsprechen, genügt, dass ein Mitgliedstaat die Anwendung dieser Regeln zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 beantragt, ohne dass die Abstimmung über den fraglichen Entwurf des Rechtsakts ebenfalls innerhalb dieses Zeitraums erfolgen muss.

57      Da die Republik Polen im vorliegenden Fall am 30. März 2017 einen Antrag gemäß Art. 3 Abs. 2 des Protokolls Nr. 36 gestellt hat, hätten diese Regeln bei der Abstimmung über den Entwurf des angefochtenen Beschlusses am 28. April 2017 angewendet werden müssen.

58      Nach der Rechtsprechung stellt die Nichtbeachtung der Abstimmungsmodalitäten eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne von Art. 263 AEUV dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Februar 1988, Vereinigtes Königreich/Rat, 68/86, EU:C:1988:85, Rn. 49; vom 28. April 2015, Kommission/Rat, C‑28/12, EU:C:2015:282, Rn. 55, und vom 20. September 2017, Tilly‑Sabco/Kommission, C‑183/16 P, EU:C:2017:704, Rn. 115), die zwingend zu einer Nichtigerklärung des mit einem solchen Fehler behafteten Rechtsakts führt, unabhängig davon, ob diese Verletzung demjenigen, der sie rügt, einen Schaden verursacht hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. April 2000, Kommission/ICI, C‑286/95 P, EU:C:2000:188, Rn. 52, vom 21. September 2017, Feralpi/Kommission, C‑85/15 P, EU:C:2017:709, Rn. 45 bis 47, und vom 8. September 2016, Goldfish u. a./Kommission, T‑54/14, EU:T:2016:455, Rn. 47).

59      Daher sind die Fragen, ob die Kommission diese Abstimmung vor dem 1. April 2017 hätte durchführen können und ob die Republik Polen hätte beantragen können, dass diese Abstimmung vor diesem Zeitpunkt stattfindet, nicht relevant. Jedenfalls wäre in Anbetracht des Ergebnisses der Abstimmung, wie es oben in Rn. 13 wiedergegeben wird, bei Anwendung der Regeln über die qualifizierte Mehrheit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 die für die Annahme des Entwurfs des angefochtenen Beschlusses erforderliche Stimmenzahl nicht erreicht worden.

60      Damit ist dem ersten Klagegrund stattzugeben und der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, ohne dass die anderen von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe geprüft werden müssen.

 Zu den zeitlichen Auswirkungen der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses

61      Art. 264 Abs. 2 AEUV sieht vor, dass der Unionsrichter, wenn er eine Handlung für nichtig erklärt, diejenigen ihrer Wirkungen, die als fortgeltend zu betrachten sind, bezeichnet, falls er dies für notwendig hält. Diese Bestimmung wurde insbesondere dahin ausgelegt, dass sie es aus Gründen der Rechtssicherheit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2017, Tilly‑Sabco/Kommission, C‑183/16 P, EU:C:2017:704, Rn. 124, und vom 4. September 2018, Kommission/Rat [Abkommen mit Kasachstan], C‑244/17, EU:C:2018:662, Rn. 52), aber auch aus Gründen, die auf die Vermeidung einer Diskontinuität oder eines Rückschritts in der Umsetzung der von der Union verfolgten oder unterstützten Politiken, wie im Bereich des Umweltschutzes oder der öffentlichen Gesundheit, abzielen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 1999, Parlament/Rat, C‑164/97 und C‑165/97, EU:C:1999:99, Rn. 22 bis 24, und vom 16. April 2015, Parlament/Rat, C‑317/13 und C‑679/13, EU:C:2015:223, Rn. 72 bis 74), erlaubt, die Wirkungen einer für nichtig erklärten Handlung während eines angemessenen Zeitraums aufrechtzuerhalten.

62      Im vorliegenden Fall ist die Republik Polen einer zeitlichen Abstufung der Wirkungen einer möglichen Nichtigerklärung durch das Gericht entgegengetreten, als das Gericht sie in der mündlichen Verhandlung zu dieser Möglichkeit befragt hat, wohingegen die Kommission auf dieselbe Frage des Gerichts für den Fall einer Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses eine solche Abstufung beantragt hat.

63      In Anbetracht des Umstands, dass die durch den angefochtenen Beschluss festgelegten BVT‑assoziierten Emissionswerte, wie oben in Rn. 1 dargelegt, als Grundlage für die Festlegung der Auflagen für die Genehmigung des Betriebs der Großfeuerungsanlagen durch die nationalen Behörden dienen, könnte eine Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses mit sofortiger Wirkung die Einheitlichkeit der Genehmigungsauflagen für diese Art von Anlagen in der Union gefährden und zu einer Rechtsunsicherheit bei den beteiligten Parteien, insbesondere den Betreibern von Großfeuerungsanlagen, bis zum Inkrafttreten eines neuen Beschlusses über die Schlussfolgerungen zu den BVT führen.

64      Darüber hinaus würde eine Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses mit sofortiger Wirkung den in Art. 191 Abs. 2 AEUV, Art. 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und den Erwägungsgründen 2 und 44 sowie Art. 1 der Richtlinie 2010/75 vorgesehenen Zielen der Sicherung eines hohen Umweltschutzniveaus und der Verbesserung der Umweltqualität, zu denen der angefochtene Beschluss beiträgt, zuwiderlaufen.

65      Deshalb sind die Wirkungen des angefochtenen Beschlusses aufrechtzuerhalten, bis ein neuer Rechtsakt, der diesen Beschluss ersetzen soll und der nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 erlassen wurde, innerhalb einer angemessenen Frist, die nicht länger sein darf als zwölf Monate ab dem Zeitpunkt des Erlasses des vorliegenden Urteils, in Kraft getreten ist.

 Kosten

66      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

67      Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen. Daher tragen das Königreich Belgien, die Republik Bulgarien, die Französische Republik, Ungarn und das Königreich Schweden ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Durchführungsbeschluss (EU) 2017/1442 der Kommission vom 31. Juli 2017 über Schlussfolgerungen zu den besten verfügbaren Techniken (BVT) gemäß der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates für Großfeuerungsanlagen wird für nichtig erklärt.

2.      Die Wirkungen des nach Nr. 1 des vorliegenden Tenors für nichtig erklärten Durchführungsbeschlusses werden aufrechterhalten, bis ein neuer Rechtsakt, der diesen Beschluss ersetzen soll und der nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen erlassen wurde, innerhalb einer angemessenen Frist, die nicht länger sein darf als zwölf Monate ab dem Zeitpunkt des Erlasses des vorliegenden Urteils, in Kraft getreten ist.

3.      Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Republik Polen.

4.      Das Königreich Belgien, die Republik Bulgarien, die Französische Republik, Ungarn und das Königreich Schweden tragen ihre eigenen Kosten.

Collins

Kreuschitz

Csehi

De Baere

 

      Steinfatt

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. Januar 2021.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.