Language of document : ECLI:EU:T:2022:739

URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)

30. November 2022(*)

„Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsverfahren – Eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster, das ein Zubehör für kabellose Fernbedienungen darstellt – Nichtigkeitsgrund – Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind – Art. 8 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Tatsachen oder Beweismittel, die zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebracht werden – Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 – Begründungspflicht – Art. 41 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte“

In der Rechtssache T‑611/21,

ADS L. Kowalik, B. Włodarczyk s.c. mit Sitz in Sosnowiec (Polen), vertreten durch Rechtsanwalt M. Oleksyn,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch M. Chylińska und J. Ivanauskas als Bevollmächtigte,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO:

ESSAtech mit Sitz in Přistoupim (Tschechische Republik),

erlässt

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tomljenović sowie der Richter I. Nõmm und D. Kukovec (Berichterstatter),

Kanzler: M. Zwozdziak-Carbonne, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2022

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV begehrt die Klägerin, die ADS L. Kowalik, B. Włodarczyk s.c., die Aufhebung der Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 5. Juli 2021 (Sache R 1070/2020‑3) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Am 7. Dezember 2017 meldete die Klägerin beim EUIPO nach der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster an.

3        Das angemeldete und im vorliegenden Fall angegriffene Gemeinschaftsgeschmacksmuster wird in folgender Ansicht wiedergegeben:

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4        Das Geschmacksmuster soll für folgende Erzeugnisse der Klasse 14.03 des Abkommens von Locarno zur Errichtung einer Internationalen Klassifikation für gewerbliche Muster und Modelle vom 8. Oktober 1968 in geänderter Fassung verwendet werden: „Fernbedienungen [kabellos] (Zubehör für –)“.

5        Das angegriffene Geschmacksmuster wurde am 7. Dezember 2017 unter der Nr. 4 539 302‑0001 als Gemeinschaftsgeschmacksmuster eingetragen und im Blatt für Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 2018/044 vom 5. März 2018 veröffentlicht.

6        Am 20. Mai 2019 beantragte die andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO, ESSAtech, gemäß Art. 52 der Verordnung Nr. 6/2002 die Nichtigerklärung des angegriffenen Geschmacksmusters.

7        Der Antrag auf Nichtigerklärung wurde auf Art. 25 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 6/2002 gestützt.

8        Am 6. April 2020 wies die Nichtigkeitsabteilung den Antrag auf Nichtigerklärung zurück.

9        Am 27. Mai 2020 legte die andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO beim EUIPO eine Beschwerde gemäß den Art. 55 bis 60 der Verordnung Nr. 6/2002 gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung ein.

10      Mit der angefochtenen Entscheidung gab die Dritte Beschwerdekammer des EUIPO der Beschwerde statt, hob die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung auf und erklärte das angegriffene Geschmacksmuster für nichtig.

11      Die Beschwerdekammer wies insoweit erstens darauf hin, dass die technische Funktion des betreffenden Erzeugnisses, d. h. eines Geräts, das zum Auflegen auf die Batterie einer Fernbedienung für batteriebetriebene Elektrogeräte bestimmt sei, darin bestehe, die durch die Batterie gewährleistete Stromversorgung unterbrechen zu können, solange das Gerät nicht benutzt werde. Zweitens stellte sie fest, dass das fragliche Erzeugnis folgende Erscheinungsmerkmale habe: zwei kreisrunde, golden und kastanienbraun gefärbte Platten, ein diese beiden Platten verbindendes Band und eine Platine auf einer Seite von einer der aus elektronischen Bauteilen bestehenden Platten. Drittens ging die Beschwerdekammer davon aus, dass diese Merkmale ausschließlich durch die technische Funktion des in Rede stehenden Erzeugnisses bedingt seien und dass das angegriffene Geschmacksmuster daher gemäß Art. 25 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 für nichtig erklärt werden müsse.

 Anträge der Parteien

12      Die Klägerin beantragt im Wesentlichen,

–        die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–        dem EUIPO und der anderen Beteiligten im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens vor dem EUIPO aufzuerlegen.

13      Das EUIPO beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

 Zur Zulässigkeit der zum ersten Mal vor dem Gericht vorgelegten Unterlagen

14      Die Klägerin beantragt, die der Klageschrift als Anlagen A.4 bis A.6 beigefügten Bildschirmkopien einer Website als Beweismittel zuzulassen. Nach ihrer Auffassung belegen diese Dokumente, dass es Alternativen zu den von dem betreffenden Geschmacksmuster erfassten Erzeugnissen gibt und dass die Gestaltungsfreiheit erheblich beschränkt wird.

15      Das EUIPO hält die Anlagen A.4 bis A.6 zur Klageschrift für unzulässig, weil die darin enthaltenen Dokumente zum ersten Mal vor dem Gericht vorgelegt worden seien.

16      Wie sich aus den Akten ergibt, wurden die Dokumente in den Anlagen A.4 bis A.6 zur Klageschrift nicht beim EUIPO, sondern zum ersten Mal vor dem Gericht vorgelegt.

17      Aus der Rechtsprechung geht jedoch hervor, dass die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Beschwerdekammer durch das Gericht in Anbetracht von Art. 61 der Verordnung Nr. 6/2002 im Hinblick auf die Rechtsfragen zu erfolgen hat, mit denen die Beschwerdekammer befasst wurde. Es ist darum nicht Sache des Gerichts, den Sachverhalt im Licht von zum ersten Mal vor ihm vorgelegten Beweisen zu überprüfen. Der Zulassung solcher Beweise stünde nämlich Art. 188 der Verfahrensordnung des Gerichts entgegen, wonach die Schriftsätze der Parteien den vor der Beschwerdekammer verhandelten Streitgegenstand nicht ändern können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2013, Viejo Valle/HABM – Établissements Coquet [Tasse und Untertasse mit Rillen sowie tiefer Teller mit Rillen], T‑566/11 und T‑567/11, EU:T:2013:549, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18      Daher sind die zum ersten Mal vor dem Gericht vorgelegten Unterlagen zurückzuweisen, ohne dass ihre Beweiskraft geprüft zu werden braucht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. März 2010, Grupo Promer Mon Graphic/HABM – PepsiCo [Wiedergabe eines runden Werbeträgers], T‑9/07, EU:T:2010:96, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Folglich können die in den Anlagen A.4 bis A.6 zur Klageschrift enthaltenen Dokumente nicht berücksichtigt werden und sind als unzulässig anzusehen.

 Zur Begründetheit der Klagegründe

20      Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf zwei Gründe. Mit dem ersten Klagegrund macht sie eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung sowie eine Verletzung von Art. 41 Abs. 2 Buchst. c in Verbindung mit Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) geltend. Mit dem zweiten Klagegrund rügt sie eine Verletzung von Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit Art. 63 Abs. 2 dieser Verordnung sowie eine Verletzung von Art. 41 Abs. 2 Buchst. c in Verbindung mit Art. 41 Abs. 1 der Charta.

21      Die Prüfung der Klage ist mit der Untersuchung des zweiten Klagegrundes zu beginnen.

22      Im Rahmen des zweiten Klagegrundes wirft die Klägerin der Beschwerdekammer vor, sie sei mit den von der Antragstellerin im Nichtigkeitsverfahren zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Beweismitteln und Argumenten nicht ordnungsgemäß verfahren; dies betreffe die Anlagen 1 bis 4 zur Beschwerdebegründung.

23      Erstens habe die Beschwerdekammer u. a. Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit Art. 63 Abs. 2 dieser Verordnung verletzt. Zweitens sei Art. 41 Abs. 2 Buchst. c in Verbindung mit Art. 41 Abs. 1 der Charta verletzt worden.

24      Das EUIPO tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

25      Das EUIPO macht erstens geltend, die Beschwerdekammer habe ihr Ermessen in Bezug auf die Zulassung der von der anderen Beteiligten im Verfahren vor der Beschwerdekammer vorgelegten Beweise ordnungsgemäß ausgeübt, da die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung (EU) 2018/625 der Kommission vom 5. März 2018 zur Ergänzung der Verordnung 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Unionsmarke und zur Aufhebung der Delegierten Verordnung (EU) 2017/1430 (ABl. 2018, L 104, S. 1) im vorliegenden Fall erfüllt gewesen seien. Zweitens sei die Beschwerdekammer, da die Klägerin die Zulassung nicht beanstandet habe, nicht verpflichtet gewesen, diese Zulassung ausdrücklich zu begründen.

26      Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin im Nichtigkeitsverfahren, wie aus den Akten der Rechtssache hervorgeht, im Rahmen der gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung eingelegten Beschwerde eine Beschwerdebegründung mitsamt den Anlagen 1 bis 4 eingereicht. Diese Anlagen enthielten folgende Beweismittel:

–        Bilder von integrierten Schaltungen in kreisrunder Form und Hyperlinks zu den entsprechenden Fundstellen (Anlage 1);

–        einen Hyperlink zu einem YouTube-Video sowie Bilder, die die Benutzung des Erzeugnisses zeigen (Anlage 2);

–        Bilder älterer Geschmacksmuster und Hyperlinks zu den entsprechenden Fundstellen (Anlage 3);

–        eine Produktbeschreibung (Anlage 4).

27      Wie aus den Akten hervorgeht und von den Parteien anerkannt wird, enthalten die Anlagen 1 bis 4 der bei der Beschwerdekammer eingereichten Beschwerdebegründung Tatsachen und Beweismittel, die zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebracht wurden. Die Antragstellerin im Nichtigkeitsverfahren machte in diesem Schriftsatz insoweit auch ergänzende Ausführungen, die im Antrag auf Nichtigerklärung nicht enthalten waren.

28      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es in Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 heißt: „In dem Verfahren vor dem [EUIPO] ermittelt [dieses] den Sachverhalt von Amts wegen. Soweit es sich jedoch um Verfahren bezüglich einer Nichtigerklärung handelt, ist [es] bei dieser Ermittlung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt.“ Zudem bestimmt Art. 63 Abs. 2 der Verordnung, dass „[d]as [EUIPO] … Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen [braucht]“.

29      Aus dem Wortlaut von Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 ergibt sich, dass die Beteiligten als allgemeine Regel und vorbehaltlich einer gegenteiligen Vorschrift Tatsachen und Beweismittel auch dann noch vorbringen können, wenn die für dieses Vorbringen nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 6/2002 geltenden Fristen abgelaufen sind, und dass es dem EUIPO keineswegs untersagt ist, solche verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2017, Gamet/EUIPO – „Metal‑Bud II“ Robert Gubała [Türgriff], T‑306/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:466, Rn. 15; vgl. entsprechend auch Urteil vom 13. März 2007, HABM/Kaul, C‑29/05 P, EU:C:2007:162, Rn. 42).

30      Mit der Klarstellung, dass das Amt in einem solchen Fall die fraglichen Beweismittel nicht zu berücksichtigen „braucht“, räumt die genannte Bestimmung dem EUIPO nämlich ein weites Ermessen ein, um unter entsprechender Begründung seiner Entscheidung darüber zu befinden, ob die Beweismittel zu berücksichtigen sind oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2017, Türgriff, T‑306/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:466, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Zur Ausübung des Ermessens der Beschwerdekammer im Hinblick auf die etwaige Berücksichtigung der Tatsachen und Beweismittel, die zum ersten Mal vor ihr vorgebracht werden, ist festzustellen, dass eine solche Berücksichtigung gerechtfertigt sein kann, wenn die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 erfüllt sind.

32      Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 bestimmt insbesondere:

„Gemäß Artikel 95 Absatz 2 der Verordnung … 2017/1001 darf die Beschwerdekammer Tatsachen oder Beweismittel, die ihr zum ersten Mal vorgelegt werden, nur dann berücksichtigen, wenn diese Tatsachen oder Beweismittel die folgenden Erfordernisse erfüllen:

a)      Sie erscheinen auf den ersten Blick für den Ausgang des Falls von Relevanz, und

b)      sie wurden aus berechtigten Gründen nicht fristgemäß vorgelegt, insbesondere wenn sie bereits fristgemäß vorgelegte einschlägige Tatsachen und Beweismittel lediglich ergänzen oder wenn sie der Anfechtung von Feststellungen dienen, die von der ersten Instanz von Amts wegen in der Entscheidung, gegen die sich die Beschwerde richtet, ermittelt oder untersucht wurden.“

33      Die Delegierte Verordnung 2018/625 gilt im Bereich der Gemeinschaftsgeschmacksmuster, weil nach Art. 108 der Verordnung Nr. 6/2002 die Vorschriften dieser Delegierten Verordnung über das Beschwerdeverfahren auch auf Beschwerden gegen die in Art. 55 der Verordnung Nr. 6/2002 genannten Entscheidungen anwendbar sind (Urteil vom 24. März 2021, Lego/EUIPO – Delta Sport Handelskontor [Baustein eines Spielbaukastens], T‑515/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:155, Rn. 44). In der letztgenannten Bestimmung werden insbesondere die Entscheidungen der Nichtigkeitsabteilungen – wie die im vorliegenden Fall – genannt.

34      Ebenso ist festzustellen, dass der Inhalt von Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 identisch mit dem von Art. 95 Abs. 2 der Verordnung 2017/1001 ist, der in Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 ausdrücklich genannt wird.

35      Folglich finden die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 entsprechende Anwendung auf Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002. Die Möglichkeit der Beschwerdekammer, zum ersten Mal vor ihr vorgebrachte Tatsachen oder Beweismittel nach Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 zu berücksichtigen, wird somit durch Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung geregelt (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, Kondyterska korporatsiia „Roshen“/EUIPO – Krasnyj Octyabr [Darstellung eines Hummers], T‑254/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:650, Rn. 55 und 56).

36      Nach der Rechtsprechung ist es Sache des Gerichts, zu beurteilen, ob die Beschwerdekammer das ihr eingeräumte weite Ermessen tatsächlich ausgeübt hat, um unter Angabe von Gründen und unter gebührender Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu entscheiden, dass die zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel bei der Entscheidung, die sie zu erlassen hatte, zu berücksichtigen waren oder nicht. Darüber hinaus hat das Gericht zu prüfen, ob die Beschwerdekammer das ihr durch Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 eingeräumte Ermessen in angemessener Weise ausgeübt hat (vgl. Urteil vom 5. Juli 2017, Türgriff, T‑306/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:466, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). Angesichts der Ausführungen oben in Rn. 35 ist die letztgenannte Vorschrift in Verbindung mit Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 anzuwenden.

37      Der oben in den Rn. 30 und 36 angeführten Rechtsprechung zu Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 ist zu entnehmen, dass die Beschwerdekammer ihr in dieser Bestimmung vorgesehenes Ermessen ausüben muss, um unter entsprechender Begründung ihrer Entscheidung darüber zu befinden, ob die zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zu berücksichtigen sind oder nicht. Diese Verpflichtung sieht auch die Rechtsprechung zu Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 vor, wonach die Beschwerdekammer, wenn sie solches Vorbringen zulässt und sich darauf stützt, gemäß Art. 62 der Verordnung Nr. 6/2002 unbedingt angeben muss, aus welchen Gründen sie davon ausgegangen ist, dass die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung erfüllt waren (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 30. Juni 2021, Skyliners/EUIPO – Sky [SKYLINERS], T‑15/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:401, Rn. 80).

38      Insoweit ist festzustellen, dass die Verpflichtung der Beschwerdekammer, ihr Ermessen nach Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 auszuüben, um eine – mit einer entsprechenden Begründung versehene – Entscheidung darüber zu treffen, ob die zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zu berücksichtigen sind, auf die Verpflichtung der Verwaltung zurückgeht, ihre Entscheidungen zu begründen.

39      Im Übrigen hat die von der Beschwerdekammer vorzunehmende Prüfung der Frage, ob die zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zugelassen werden, zwingend vor der etwaigen Untersuchung dieses Vorbringens im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der Beschwerde zu erfolgen.

40      Somit muss die angefochtene Entscheidung sowohl in Bezug auf die Untersuchung der Frage der Zulassung von zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismitteln als auch in Bezug auf die Prüfung der Frage der Begründetheit den Anforderungen der u. a. in Art. 41 („Recht auf eine gute Verwaltung“) der Charta vorgesehenen Begründungspflicht und insbesondere Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. c dieser Bestimmung genügen, deren Verletzung die Klägerin ebenfalls geltend macht.

41      Insoweit sieht Art. 41 Abs. 1 der Charta vor, dass „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“. Weiter heißt es in Abs. 2 Buchst. c dieser Vorschrift, dass „[d]ieses Recht … insbesondere … die Verpflichtung der Verwaltung [umfasst], ihre Entscheidungen zu begründen“.

42      Die Begründungspflicht, die sich auch aus Art. 62 der Verordnung Nr. 6/2002 ergibt, dient gemäß der Rechtsprechung dem doppelten Ziel, es zum einen den Betroffenen zu ermöglichen, die Gründe für die erlassene Maßnahme kennenzulernen, damit sie ihre Rechte verteidigen können, und zum anderen den Unionsrichter in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen (Urteil vom 16. Februar 2017, Antrax It/EUIPO – Vasco Group [Thermosiphons für Heizkörper], T‑828/14 und T‑829/14, EU:T:2017:87, Rn. 82).

43      Die Frage, ob die Begründung einer Entscheidung diesen Erfordernissen genügt, ist nicht nur im Hinblick auf ihren Wortlaut zu beurteilen, sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln (Urteil vom 9. Februar 2017, Mast-Jägermeister/EUIPO [Becher], T‑16/16, EU:T:2017:68, Rn. 58).

44      Zu betonen ist, dass durch die Begründungspflicht auch der Erlass willkürlicher Entscheidungen verhindert werden soll. Sie führt so zu einer Selbstdisziplinierung in dem Sinne, dass der Urheber einer Entscheidung, indem er verpflichtet ist, die Gründe für diese anzugeben, auch sicherstellen muss, dass diese Gründe sachdienlich, in sich widerspruchsfrei und hinreichend genau sind.

45      Folglich ist die Beschwerdekammer gehalten, bei der Ausübung des ihr durch Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 eingeräumten Ermessens ihre Entscheidung über die Zulassung der zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zu begründen und u. a. anzugeben, ob dieses Vorbringen im Hinblick auf die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 zugelassen werden kann. Somit ist im vorliegenden Fall zu überprüfen, ob die Beschwerdekammer dieser Verpflichtung nachgekommen ist.

46      Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung zwar nicht ausdrücklich festgestellt, dass die mit den Anlagen 1 bis 4 der Beschwerdebegründung vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zugelassen werden, doch ist davon auszugehen, dass dieses Vorbringen von der Kammer implizit, aber notwendigerweise berücksichtigt wurde. Zum einen wurden mehrere in diesen Anlagen vorgelegte Beweise nicht nur in Rn. 15 der angefochtenen Entscheidung in der Darstellung der Klagegründe und Argumente der Beteiligten erwähnt, sondern ihre Berücksichtigung lässt sich auch daraus entnehmen, dass in den Gründen der Entscheidung auf alle vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen, Argumente und Beweismittel verwiesen wird. Zum anderen sind sich die Klägerin und das EUIPO in ihren Schriftsätzen hinsichtlich der Zulassung einig.

47      Allerdings ist festzustellen, dass die Begründung der angefochtenen Entscheidung keine Angaben dazu enthält, weswegen die Beschwerdekammer die von der Antragstellerin im Nichtigkeitsverfahren zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zugelassen hat.

48      Somit ist das Gericht nicht in der Lage, zu prüfen, ob die Beschwerdekammer Art. 27 Abs. 4 der Verordnung 2018/625 angewandt hat und ob die beiden Erfordernisse dieser Bestimmung erfüllt waren, bevor die zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zugelassen wurden. Insbesondere kann es nicht überprüfen, ob die Beschwerdekammer zum einen ihre auf den ersten Blick als gegeben oder nicht gegeben erscheinende Relevanz für den Rechtsstreit und zum anderen die etwaigen berechtigten Gründe für ihr verspätetes Vorbringen geprüft hat. Daher kann das Gericht keine Kenntnis von den Gründen für die Zulassung nehmen und die Begründetheit der angefochtenen Entscheidung insoweit nicht beurteilen.

49      Da zudem die angefochtene Entscheidung die Gründe für die Zulassung der zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel nicht angibt, ist es den Beteiligten nicht möglich, ihr die Gründe für diese Zulassung zu entnehmen, um ihre Rechte zu verteidigen.

50      Folglich hat die Beschwerdekammer, da die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die Zulassung der zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel einen Begründungsmangel aufweist, die Anforderungen von Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 und von Art. 41 Abs. 2 Buchst. c in Verbindung mit Art. 41 Abs. 1 der Charta nicht beachtet.

51      An diesem Ergebnis vermag das Vorbringen des EUIPO nichts zu ändern.

52      Als Erstes ist das Argument des EUIPO zurückzuweisen, wonach die Beschwerdekammer nicht verpflichtet gewesen sei, die Zulassung der zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel ausdrücklich zu begründen, da die Klägerin diese vor der Beschwerdekammer nicht beanstandet habe.

53      Erstens geht nämlich aus der Rechtsprechung hervor, dass die Begründung auch implizit erfolgen kann, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe für die Entscheidung der Beschwerdekammer zu erfahren, und dem zuständigen Gericht ausreichende Angaben an die Hand gibt, damit es seine Kontrolle wahrnehmen kann (Urteil vom 25. April 2013, Bell & Ross/HABM – KIN [Gehäuse einer Armbanduhr], T‑80/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:214, Rn. 37). Wie jedoch oben in den Rn. 48 und 49 festgestellt wurde, ist dies vorliegend nicht der Fall.

54      Zweitens ist die Beschwerdekammer – wie oben in Rn. 45 ausgeführt – gehalten, bei der Ausübung des ihr durch Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 eingeräumten Ermessens ihre Entscheidung über die Zulassung der zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zu begründen und u. a. anzugeben, ob sie im Hinblick auf die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 zugelassen werden können.

55      Folglich ist das oben in Rn. 52 angeführte Vorbringen des EUIPO im Licht der für die Beschwerdekammer bestehenden Verpflichtung zu prüfen, u. a. anzugeben, ob im Hinblick auf die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 zum ersten Mal vor ihr vorgebrachte Tatsachen oder Beweismittel zugelassen werden können.

56      Zwar beschränkt sich die Prüfung des Sachverhalts durch das EUIPO gemäß Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 bei einer Nichtigkeitsklage wie im vorliegenden Fall auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten.

57      Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 befreit eine Beschwerdekammer jedoch nicht deshalb davon, die Zulassung von zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismitteln nach Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 zu prüfen und zu begründen, weil die Klägerin ihre Zulässigkeit nicht bestritten hat.

58      Gemäß Art. 27 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625 muss die Beschwerdekammer nämlich die Rechtsgründe, die nicht von den Beteiligten erhoben wurden, von Amts wegen prüfen, wenn sie grundlegende Verfahrenserfordernisse betreffen oder eine Klärung nötig ist, um eine fehlerfreie Anwendung der Verordnung Nr. 6/2002 im Hinblick auf von den Beteiligten vorgelegte Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 10. Juni 2020, L. Oliva Torras/EUIPO – Mecánica del Frío [Anhängevorrichtungen für Fahrzeuge], T‑100/19, EU:T:2020:255, Rn. 70 bis 72, und vom 13. Oktober 2021, Škoda Investment/EUIPO – Škoda Auto [Darstellung eines Pfeils mit Flügel], T‑712/20, EU:T:2021:700, Rn. 24).

59      Vorliegend betrifft die Frage, ob die zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel nach Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 zugelassen werden können, die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung Nr. 6/2002 in Bezug auf die von den Beteiligten vorgelegten Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen im Sinne von Abs. 2 dieser Bestimmung. Also muss die Beschwerdekammer diese Frage von Amts wegen prüfen und ihre Antwort begründen.

60      Entgegen den Ausführungen des EUIPO ist die Beschwerdekammer somit von der Prüfung der Zulassung der zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel nach Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 – mit Angabe der entsprechenden Gründe in der angefochtenen Entscheidung – nicht allein deshalb enthoben, weil die Klägerin diese Zulassung während des Beschwerdeverfahrens nicht beanstandet hat.

61      Drittens wird diese Schlussfolgerung durch das mit Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 verfolgte Ziel bestätigt.

62      Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 soll nämlich u. a. den sachgerechten Ablauf und die Effizienz der Verfahren vor dem EUIPO gewährleisten, indem die Beteiligten veranlasst werden, die ihnen gesetzten Fristen einzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Januar 2022, Masterbuilders, Heiermann, Schmidtmann/EUIPO – Cirillo [POMODORO], T‑76/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:16, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Mit Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 wird somit ein Ziel von allgemeinem Interesse verfolgt. Unter diesen Umständen – und da diese Vorschrift sich nicht darauf beschränkt, allein das Interesse der in Rede stehenden Beteiligten zu schützen – steht die Prüfung der Einhaltung der die Zulassung von Beweismitteln betreffenden Regeln nicht zur Disposition dieser Beteiligten.

64      Nach dem oben in Rn. 52 angeführten Vorbringen des EUIPO würde aber, da es die Begründung der angefochten Entscheidung in Bezug auf die Prüfung von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 inhaltlich von der Frage abhängig macht, ob die Zulassung von zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismitteln im Beschwerdeverfahren beanstandet wurde, den Parteien die Verfügungsgewalt über die Prüfung der Einhaltung der in dieser Vorschrift vorgesehenen Regeln betreffend die Zulassung von Beweismitteln eingeräumt. Die Verpflichtung der Beschwerdekammer, sich rechtstreu zu verhalten, u. a. im Rahmen der Kontrolle der Zulassung von Beweismitteln im Hinblick auf die rechtlichen Anforderungen und die Begründungserfordernisse, darf jedoch nicht davon abhängen, dass die Beteiligten eine solche Kontrolle von ihr verlangen.

65      Viertens ist, wie aus der Rechtsprechung zu Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 hervorgeht, von dem Beteiligten, der die Beweismittel vorbringt, zu begründen, warum sie in diesem Stadium des Verfahrens vorgelegt werden, und nachzuweisen, dass es nicht möglich war, sie im Verfahren vor der Nichtigkeitsabteilung vorzulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung eines Hummers, T‑254/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:650, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Mit seinem oben in Rn. 52 wiedergegebenen Vorbringen versucht das EUIPO, die Beweislastverteilung, wie sie sich aus der oben in Rn. 65 angeführten Rechtsprechung ergibt, in Frage zu stellen, indem es den Inhalt der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der nach Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 vorgenommenen Prüfung von der Frage abhängig machen möchte, ob die Zulassung der zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel im Beschwerdeverfahren beanstandet wurde. Die Verpflichtung der Beschwerdekammer, sich rechtstreu zu verhalten, u. a. im Rahmen der Kontrolle der Zulassung von Beweismitteln im Hinblick auf die rechtlichen Anforderungen und die Begründungserfordernisse, darf jedoch nicht davon abhängen, dass die Beteiligten eine solche Kontrolle von ihr verlangen.

67      Zudem wären nach der vom EUIPO vertretenen These die Beteiligten des Beschwerdeverfahrens gezwungen, darauf zu achten, dass sich die Beschwerdekammer an die ihr gemäß Art. 27 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625 obliegenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen hält, die zwingend sind und von Amts wegen geprüft werden.

68      Folglich ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer unabhängig davon, dass die Klägerin die Zulassung der zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel nicht beanstandet hat, gemäß Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 auf jeden Fall verpflichtet war, diese Zulassung zu prüfen und die Gründe anzugeben, die sie dazu bewogen haben, dieses Vorbringen zuzulassen.

69      Als Zweites kann auch das Vorbringen des EUIPO, das belegen soll, dass die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 im vorliegenden Fall erfüllt waren, keinen Erfolg haben.

70      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Begründung einer Entscheidung in der Entscheidung selbst enthalten sein muss und nachträgliche Erläuterungen des EUIPO nur unter außergewöhnlichen Umständen berücksichtigt werden können, die bei fehlender Dringlichkeit nicht vorliegen. Folglich muss eine Entscheidung grundsätzlich aus sich heraus verständlich sein und ihre Begründung darf nicht erst später, wenn die fragliche Entscheidung bereits Gegenstand einer Klage vor dem Unionsrichter ist, schriftlich oder mündlich nachgeholt werden (vgl. Urteil vom 12. Dezember 2017, Sony Computer Entertainment Europe/EUIPO – Vieta Audio [Vita], T‑35/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:886, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 14. März 2018, Gifi Diffusion/EUIPO – Crocs (Fußbekleidung), T‑424/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:136, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71      Im vorliegenden Fall sind mangels Dringlichkeit die außergewöhnlichen Umstände nicht gegeben, die dem EUIPO nachträgliche, die Begründung der angefochtenen Entscheidung ergänzende Erläuterungen erlauben würden. Jedenfalls können die Erläuterungen im vorliegenden Fall nicht als Ergänzung zu einer bestehenden Begründung angesehen werden, da sie eine vollkommen neue Begründung darstellen.

72      Überdies reichen gemäß der Rechtsprechung Begründungsmängel für sich allein aus, um die Aufhebung der streitigen Entscheidung zu begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, EU:C:1998:154, Rn. 78). Somit ist festzustellen, dass der von der Beschwerdekammer begangene, oben in Rn. 50 aufgezeigte Fehler zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führt.

73      Im Übrigen wird dieses Ergebnis nicht durch die Rechtsprechung in Frage gestellt, wonach eine klagende Partei kein berechtigtes Interesse an der Geltendmachung einer Verletzung der Begründungspflicht hat, wenn bereits feststeht, dass im Anschluss an die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung eine identische Entscheidung ergehen müsste (Urteile vom 29. September 1976, Morello/Kommission, 9/76, EU:C:1976:129, Rn. 11, und vom 3. Dezember 2003, Audi/HABM [TDI], T‑16/02, EU:T:2003:327, Rn. 97 und 98).

74      Zum einen kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass die Prüfung der Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 durch die Beschwerdekammer dazu führen könnte, dass sie die zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel nicht zulässt. Insoweit ist es indessen nicht Sache des Gerichts, sich bei der Beurteilung des fraglichen Vorbringens an die Stelle des EUIPO zu setzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. September 2016, European Food/EUIPO – Société des produits Nestlé [FITNESS], T‑476/15, EU:T:2016:568, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75      Zum anderen kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung ein anderes wäre, wenn die Beschwerdekammer die zum ersten Mal vor ihr vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel nicht zulassen sollte. Insoweit räumt das EUIPO in der Klagebeantwortung ein, dass dieses Vorbringen dazu gedient habe, die von der Beschwerdekammer in Bezug auf die Beurteilung der technischen Funktion der Erscheinungsmerkmale des fraglichen Erzeugnisses gezogenen Schlussfolgerungen zu stützen.

76      Folglich wird im Anschluss an die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nicht zwangsläufig eine identische Entscheidung zu erlassen sein.

77      Demnach ist dem zweiten Klagegrund stattzugeben, ohne dass die anderen von der Klägerin zur Stützung dieses Klagegrundes angeführten Argumente geprüft zu werden brauchen, mit denen u. a. eine Verletzung von Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend gemacht wird.

78      Nach alledem ist der Klage stattzugeben und somit die angefochtene Entscheidung aufzuheben, ohne dass es einer Prüfung des ersten Klagegrundes bedarf.

 Kosten

79      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

80      Die Klägerin hat beantragt, dass das EUIPO zur Tragung der Kosten in den Verfahren vor dem Gericht und vor dem EUIPO verurteilt wird.

81      Da das EUIPO unterlegen ist, sind ihm neben seinen eigenen Kosten die der Klägerin im Verfahren vor dem Gericht entstandenen Kosten aufzuerlegen.

82      Was die im Verfahren vor der Nichtigkeitsabteilung und im Verfahren vor der Beschwerdekammer entstandenen Kosten angeht, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 190 Abs. 2 der Verfahrensordnung die Aufwendungen der Parteien, die für das Verfahren vor der Beschwerdekammer notwendig waren, als erstattungsfähige Kosten gelten. Dies gilt jedoch nicht für die Aufwendungen für das Verfahren vor der Nichtigkeitsabteilung.

83      Folglich kann dem Antrag der Klägerin, der darauf gerichtet ist, dem EUIPO die Kosten für die Verfahren vor der Nichtigkeitsabteilung und vor der Beschwerdekammer aufzuerlegen, nur hinsichtlich ihrer für das Verfahren vor der Beschwerdekammer notwendigen Aufwendungen stattgegeben werden. Somit werden dem EUIPO die im Rahmen des Beschwerdeverfahrens entstandenen Kosten sowie die Kosten des Verfahrens vor dem Gericht auferlegt.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 5. Juli 2021 (Sache R 1070/20203) wird aufgehoben.

2.      Das EUIPO trägt die im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO und im Verfahren vor dem Gericht entstandenen Kosten.

Tomljenović

Nõmm

Kukovec

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. November 2022.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.