Language of document : ECLI:EU:C:2017:632

Rechtssache C413/14 P

Intel Corp. Inc.

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Treuerabatte – Zuständigkeit der Kommission – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 19“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. September 2017

1.        Wettbewerb – Regeln der Union – Räumlicher Geltungsbereich – Zuständigkeit der Kommission – Zulässigkeit im Hinblick auf das Völkerrecht – Durchführung oder qualifizierte Auswirkungen der missbräuchlichen Verhaltensweisen im EWR – Alternative Möglichkeiten – Kriterium der unmittelbaren, wesentlichen und vorhersehbaren Wirkung – Bedeutung

(Art. 101 AEUV und 102 AEUV)

2.        Rechtsmittel – Gründe – Gegen einen nichttragenden Urteilsgrund vorgebrachter Rechtsmittelgrund – Ins Leere gehender Rechtsmittelgrund – Zurückweisung

(Art. 256 Abs. 1 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

3.        Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Befugnisse der Kommission – Befugnis zur Entgegennahme von Erklärungen – Erklärungen, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung beziehen – Unterscheidung zwischen förmlichen Befragungen und informellen Gesprächen – Unzulässigkeit

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Erwägungsgrund 25 und Art. 19 Abs. 1; Verordnung Nr. 773/2004 der Kommission, Art. 3)

4.        Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Befugnisse der Kommission – Befugnis zur Entgegennahme von Erklärungen – Erklärungen, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung beziehen – Pflicht der Kommission, jede von ihr durchgeführte Befragung in der von ihr gewählten Form in vollem Umfang aufzuzeichnen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 19 Abs. 1; Verordnung Nr. 773/2004 der Kommission, Art. 3 Abs. 1 und 3)

5.        Rechtsmittel – Gründe – Urteilsgründe, die gegen das Unionsrecht verstoßen – Urteilsformel, die aus anderen Rechtsgründen richtig ist – Zurückweisung

(Art. 256 Abs. 1 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

6.        Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht – Umfang – Weigerung, ein Dokument zu übermitteln – Folgen – Notwendigkeit, bei der dem betroffenen Unternehmen obliegenden Beweislast zwischen belastenden und entlastenden Schriftstücken zu unterscheiden

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 2)

7.        Beherrschende Stellung – Missbrauch – Missbräuchliche Verdrängungspraxis – Begriff – Preisdiskriminierung – Praxis, die allein nicht den Schluss auf das Vorliegen einer missbräuchlichen Verdrängungspraxis zulässt

(Art. 102 AEUV)

8.        Beherrschende Stellung – Missbrauch – Ausschließlichkeits- oder Treuerabatt – Eignung den Wettbewerb zu beschränken und Verdrängungswirkung – As-Efficient-Competitor-Test – Beurteilungskriterien

(Art. 102 AEUV)

9.        Rechtsmittel – Als begründet erachtetes Rechtsmittel – Entscheidung des Rechtsstreits in der Sache durch das Rechtsmittelgericht – Voraussetzung – Entscheidungsreifer Rechtsstreit – Fehlen – Zurückverweisung der Sache an das Gericht

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 61 Abs. 1)

1.      Die in den Art. 101 und 102 AEUV aufgestellten Wettbewerbsregeln der Union – kollektive wie einseitige – sollen Verhaltensweisen der Unternehmen erfassen, die den Wettbewerb im Binnenmarkt einschränken. Denn Art. 101 AEUV verbietet Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs „innerhalb des Binnenmarkts“ bezwecken oder bewirken, während Art. 102 AEUV die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung „auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben“ untersagt. Wenn außerdem die Anwendbarkeit der wettbewerbsrechtlichen Verbote vom Ort der Bildung des Kartells abhängig gemacht würde, liefe dies offensichtlich darauf hinaus, dass den Unternehmen ein einfaches Mittel an die Hand gegeben würde, sich diesen Verboten zu entziehen. Das Kriterium der qualifizierten Auswirkungen verfolgt denselben Zweck, nämlich Verhaltensweisen zu erfassen, die zwar nicht im Gebiet der Union stattgefunden haben, deren wettbewerbswidrige Auswirkungen aber auf dem Unionsmarkt zu spüren sein können. Das Kriterium der qualifizierten Auswirkungen kann daher zur Begründung der Zuständigkeit der Kommission herangezogen werden.

Mit dem Kriterium der qualifizierten Auswirkungen lässt sich somit die Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union völkerrechtlich rechtfertigen, wenn vorhersehbar ist, dass das fragliche Verhalten in der Union unmittelbare und wesentliche Auswirkungen haben wird.

Ob die Kommission über die erforderliche Zuständigkeit zur Anwendung des Wettbewerbsrechts im Einzelfall verfügt, ist anhand einer Gesamtbetrachtung des fraglichen Verhaltens des oder der Unternehmen zu bestimmen. Hierzu reicht es aus, die wahrscheinlichen Auswirkungen eines Verhaltens auf den Wettbewerb zu berücksichtigen, damit das Erfordernis der Vorhersehbarkeit erfüllt ist. Wenn das Verhalten des Unternehmen in beherrschender Stellung gegenüber einem Computerhersteller Teil einer Gesamtstrategie mit dem Ziel war, dass kein Notebook des Computerherstellers, das mit dem Erzeugnis eines Wettbewerbers bestückt ist, im Handel verfügbar ist, auch nicht im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), konnte es unmittelbare Auswirkungen im EWR hervorrufen. Zudem ist bei einer Strategie, wie sie von diesem Unternehmen gegenüber einem Computerhersteller mit dem Ziel entwickelt worden war, dem Wettbewerber den Zugang zu den wichtigsten Vertriebskanälen zu versperren, dessen gesamtes Verhalten zu berücksichtigen, um zu beurteilen, ob seine Auswirkungen auf den Markt der Union und des EWR wesentlich sind.

Eine andere Herangehensweise würde dazu führen, dass ein globales wettbewerbswidriges Verhalten, das geeignet ist, sich auf die Struktur des Marktes innerhalb des EWR auszuwirken, künstlich in eine Reihe unterschiedlicher Verhaltensweisen aufgespalten würde, bei denen die Gefahr besteht, dass sie nicht mehr in die Zuständigkeit der Union fallen.

(vgl. Rn. 42-46, 49-52, 55-57)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 63, 64, 105, 106)

3.      Im Rahmen eines wettbewerbsrechtlichen Verwaltungsverfahrens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 selbst, dass diese Bestimmung auf jedes Gespräch anwendbar sein soll, das die Einholung von Informationen zum Gegenstand einer Untersuchung bezweckt. Der 25. Erwägungsgrund dieser Verordnung stellt insoweit klar, dass die Verordnung die Ermittlungsbefugnisse der Kommission dadurch stärken soll, dass sie es dieser insbesondere ermöglicht, alle Personen, die eventuell über sachdienliche Informationen verfügen, zu befragen und deren Aussagen zu Protokoll zu nehmen.

Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 stellt somit eine Rechtsgrundlage dar, die die Kommission ermächtigt, im Rahmen einer Ermittlung Gespräche mit einer Person zu führen, was die Vorarbeiten zu dieser Verordnung bestätigen.

Weder der Wortlaut dieser Vorschrift noch das mit ihr verfolgte Ziel bietet einen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber eine Unterscheidung zwischen zwei Kategorien von Befragungen zum Gegenstand einer Untersuchung einführen oder einzelne dieser Gespräche vom Anwendungsbereich der Bestimmung ausnehmen wollte.

Das Gericht hat daher zu Unrecht angenommen, dass bei den Gesprächen, die die Kommission im Rahmen einer Ermittlung vornehme, zwischen förmlichen Befragungen, für die Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 [EG] durch die Kommission gelte, und informellen Gesprächen, die nicht in den Anwendungsbereich dieser Vorschriften fielen, zu unterscheiden sei.

(vgl. Rn. 84-88)

4.      Im Rahmen eines wettbewerbsrechtlichen Verwaltungsverfahrens ist Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 [EG] durch die Kommission, wonach die Kommission dem Befragten ferner ihre Absicht mitteilt, die Befragung aufzuzeichnen, nicht so zu verstehen, dass die Aufzeichnung der Befragung fakultativ wäre, sondern dahin, dass die Kommission verpflichtet ist, den Betroffenen auf die beabsichtigte Aufzeichnung hinzuweisen. Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2003, der klarstellt, dass die Kommission die Aussagen des Befragten auf einen beliebigen Träger aufzeichnen kann, bedeutet, dass die Kommission, wenn sie sich mit der Zustimmung des Befragten dafür entscheidet, eine Befragung auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 vorzunehmen, verpflichtet ist, die Befragung in vollem Umfang aufzuzeichnen, unbeschadet der ihr überlassenen Wahl der Form dieser Aufzeichnung.

Daraus folgt, dass für die Kommission eine Pflicht besteht, jede Befragung, die sie nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 durchführt, um Informationen einzuholen, die sich auf den Gegenstand ihrer Untersuchung beziehen, in der von ihr gewählten Form aufzuzeichnen.

(vgl. Rn. 89-91)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 94)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 96-101)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 133-137)

8.      Im Bereich des Wettbewerbs hat Art. 102 AEUV keineswegs zum Ziel, zu verhindern, dass ein Unternehmen auf einem Markt aus eigener Kraft eine beherrschende Stellung einnimmt. Ebenso wenig soll diese Vorschrift gewährleisten, dass sich Wettbewerber, die weniger effizient als das Unternehmen in beherrschender Stellung sind, weiterhin auf dem Markt halten. Der Wettbewerb wird also nicht unbedingt durch jede Verdrängungswirkung verzerrt. Leistungswettbewerb kann definitionsgemäß dazu führen, dass Wettbewerber, die weniger leistungsfähig und daher für die Verbraucher im Hinblick insbesondere auf Preise, Auswahl, Qualität oder Innovation weniger interessant sind, vom Markt verschwinden oder bedeutungslos werden. Das Unternehmen, das eine beherrschende Stellung innehat, trägt jedoch eine besondere Verantwortung dafür, dass es durch sein Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf dem Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt. Deshalb verbietet Art. 102 AEUV einem Unternehmen in beherrschender Stellung insbesondere die Anwendung von Praktiken, die für seine als ebenso effizient geltenden Wettbewerber eine Verdrängungswirkung entfalten und damit seine Stellung stärken, indem andere Mittel als diejenigen eines Leistungswettbewerbs herangezogen werden. Unter diesem Blickwinkel kann nicht jeder Preiswettbewerb als zulässig angesehen werden. Insoweit ist bereits entschieden worden, dass ein Unternehmen, das auf einem Markt eine beherrschende Stellung einnimmt und Abnehmer, sei es auch auf deren Wunsch, durch die Verpflichtung oder Zusage, ihren gesamten Bedarf oder einen beträchtlichen Teil desselben ausschließlich bei ihm zu beziehen, an sich bindet, seine Stellung im Sinne des Art. 102 AEUV missbräuchlich ausnützt, ohne dass es darauf ankäme, ob die Verpflichtung ohne Weiteres oder gegen Gewährung eines Rabatts eingegangen worden ist. Das Gleiche gilt, wenn ein solches Unternehmen, ohne die Abnehmer durch eine förmliche Verpflichtung zu binden, kraft Vereinbarung mit ihnen oder aber einseitig ein System von Treuerabatten anwendet, also Nachlässe, die daran gebunden sind, dass der Abnehmer, unabhängig im Übrigen vom Umfang seiner Käufe, seinen Gesamtbedarf oder einen wesentlichen Teil hiervon ausschließlich bei dem Unternehmen in beherrschender Stellung deckt.

Diese Rechtsprechung bedarf jedoch der Konkretisierung für den Fall, dass das betroffene Unternehmen im Verwaltungsverfahren, gestützt auf Beweise, geltend macht, dass sein Verhalten nicht geeignet gewesen sei, den Wettbewerb zu beschränken und insbesondere die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu erzeugen. In diesem Fall ist die Kommission nicht nur verpflichtet, das Ausmaß der beherrschenden Stellung des Unternehmens auf dem maßgeblichen Markt und den Umfang der Markterfassung durch die beanstandete Praxis sowie die Bedingungen und Modalitäten der in Rede stehenden Rabattgewährung, die Dauer und die Höhe dieser Rabatte zu prüfen, sondern sie ist außerdem verpflichtet, das Vorliegen einer eventuellen Strategie zur Verdrängung der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerber zu prüfen.

Die Analyse der Eignung zur Verdrängung ist ebenfalls maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Rabattsystem, das grundsätzlich unter das Verbot des Art. 102 AEUV fällt, objektiv rechtfertigen lässt. Außerdem kann die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung eines Rabattsystems durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden, die auch dem Verbraucher zugutekommen. Eine solche Abwägung der für den Wettbewerb vorteilhaften und nachteiligen Auswirkungen der beanstandeten Praxis kann in der Kommissionsentscheidung nur im Anschluss an eine Analyse der dieser Praxis innewohnenden Eignung zur Verdrängung mindestens ebenso leistungsfähiger Wettbewerber vorgenommen werden. Wenn die Kommission in einer Entscheidung, mit der die Missbräuchlichkeit eines Rabattsystems festgestellt wird, eine solche Analyse vornimmt, hat das Gericht das gesamte Vorbringen des Unternehmens in beherrschender Stellung zu prüfen, mit dem die Richtigkeit der Feststellungen der Kommission zur Verdrängungsfähigkeit des betreffenden Rabattsystems in Frage gestellt werden soll.

Im vorliegenden Fall hat die Kommission in der streitigen Entscheidung, obgleich sie hervorgehoben hat, dass die fraglichen Rabatte bereits aufgrund ihres Wesens geeignet gewesen seien, den Wettbewerb zu beschränken, so dass eine Analyse sämtlicher Umstände des Einzelfalls und insbesondere ein AEC-Test („as efficient competitor test“) nicht erforderlich seien, um einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung festzustellen, eine eingehende Prüfung dieser Umstände vorgenommen, bei der sie sehr detaillierte Ausführungen zu der von ihr im Rahmen des AEC-Tests vorgenommenen Analyse gemacht hat, die sie zu der Schlussfolgerung veranlasste, dass ein ebenso leistungsfähiger Wettbewerber Preise hätte anwenden müssen, die nicht rentabel gewesen wären, und sich infolgedessen die streitige Rabattpraxis dahin hätte auswirken können, dass der Wettbewerber verdrängt werde.

Daraus folgt, dass dem AEC-Test in der streitigen Entscheidung eine tatsächliche Bedeutung für die von der Kommission vorgenommene Beurteilung der Frage zukam, ob die in Rede stehenden Rabatte geeignet waren, sich dahin auszuwirken, dass ebenso leistungsfähige Wettbewerber verdrängt werden.

Unter diesen Umständen war das Gericht verpflichtet, das gesamte Vorbringen des Unternehmens in beherrschender Stellung zu diesem Test zu prüfen.

Das Gericht hat jedoch entschieden, dass nicht geprüft zu werden brauche, ob die Kommission den AEC-Test fachgerecht und fehlerfrei durchgeführt habe, und ebenso wenig, ob die von der Klägerin vorgeschlagenen Alternativberechnungen richtig durchgeführt worden seien.

Das Gericht hat daher dem von der Kommission durchgeführten AEC-Test jede Maßgeblichkeit abgesprochen und ist infolgedessen nicht auf die von dem Unternehmen in beherrschender Stellung gegen den Test geäußerten Kritikpunkte eingegangen.

Infolgedessen hat das Gericht bei seiner Prüfung der Eignung der streitigen Rabatte, den Wettbewerb zu beschränken, zu Unrecht das Vorbringen des Unternehmens in beherrschender Stellung unberücksichtigt gelassen hat, mit dem angebliche Fehler der Kommission im Rahmen des AEC-Tests beanstandet werden sollten.

(vgl. Rn. 133-147)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 148-150)