Language of document : ECLI:EU:C:2020:793

Rechtssache C134/19 P

Bank Refah Kargaran

gegen

Rat der Europäischen Union

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. Oktober 2020

„Rechtsmittel – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – Art. 29 EUV – Art. 215 AEUV – Restriktive Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran – Schaden, der der Rechtsmittelführerin durch die Aufnahme in die Liste der Personen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden, und durch den Verbleib auf diesen Listen entstanden sein soll – Schadensersatzklage – Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über den Antrag auf Ersatz des Schadens, der durch restriktive Maßnahmen entstanden sein soll, die in unter die GASP fallenden Beschlüssen vorgesehen waren – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen – Unzureichende Begründung von Rechtsakten, mit denen restriktive Maßnahmen verhängt werden“

1.        Nichtigkeitsklage – Zulässigkeitsvoraussetzungen – Zuständigkeit der Unionsgerichte – Prüfung von Amts wegen durch den Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens

(Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 und 263 AEUV)

(vgl. Rn. 23-25)

2.        Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Zuständigkeit der Unionsgerichte – Schadensersatzklage – Klage auf Ersatz des Schadens, der durch die fehlerhafte Aufnahme in eine Liste von Personen, gegen die restriktive Maßnahmen verhängt werden, und durch die Durchführung dieser Maßnahmen entstanden ist – Einbeziehung

(Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 und 40 EUV; Art. 215, 263 Abs. 4 und 275 AEUV)

(vgl. Rn. 26-49)

3.        Rechtsmittel – Gründe – Urteilsgründe, die gegen das Unionsrecht verstoßen – Urteilsformel, die aus anderen Rechtsgründen richtig ist – Zurückweisung

(Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

(vgl. Rn. 50-52, 106)

4.        Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Unzureichende Begründung eines Rechtsakts, mit dem restriktive Maßnahmen mit individueller Geltung verhängt werden – Nichteinbeziehung

(Art. 296 und 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 59-63)

5.        Nichtigkeitsklage – Gründe – Fehlende oder unzureichende Begründung – Klagegrund, der sich von dem die materielle Rechtmäßigkeit betreffenden Klagegrund unterscheidet

(Art. 263 und 296 AEUV)

(vgl. Rn. 64, 65, 103, 104)

6.        Gerichtliches Verfahren – Vorbringen neuer Klage- und Verteidigungsgründe im Laufe des Verfahrens – Voraussetzungen – Erweiterung eines bereits vorgetragenen Angriffs- oder Verteidigungsmittels – Keine Erweiterung – Unzulässigkeit

(vgl. Rn. 84-88)

Zusammenfassung

Der Gerichtshof bestätigt das Urteil des Gerichts, mit dem die Klage der Bank Refah Kargaran auf Ersatz der Schäden, die ihr durch die gegen sie verhängten restriktiven Maßnahmen entstanden sein sollen, abgewiesen wurde

2010 und 2011 wurden die Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen der iranischen Bank Refah Kargaran (im Folgenden: Rechtsmittelführerin) im Rahmen der restriktiven Maßnahmen, die von der Europäischen Union eingeführt wurden, um die Islamische Republik Iran zu zwingen, proliferationsrelevante nukleare Tätigkeiten und die Entwicklung von Trägersystemen für Kernwaffen einzustellen, eingefroren. Dieses Einfrieren der Gelder erfolgte durch die Aufnahme der Bank in die Liste der an der nuklearen Proliferation beteiligten Einrichtungen, die sich im Anhang mehrerer Beschlüsse befindet, die der Rat im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gemäß Art. 29 EUV schrittweise erließ. Diese GASP-Beschlüsse wurden in der Folge durch mehrere Verordnungen umgesetzt, die der Rat auf der Grundlage von Art. 215 AEUV erließ.

Die Rechtsmittelführerin erwirkte die Nichtigerklärung aller dieser Rechtsakte, soweit sie sie betrafen, wegen unzureichender Begründung(1). Später, im November 2013, wurde sie auf der Grundlage einer angepassten Begründung erneut in die Liste im Anhang mehrerer vom Rat gemäß Art. 29 EUV und Art. 215 AEUV erlassener Beschlüsse und Verordnungen aufgenommen. Das Gericht gab jedoch der Klage der Bank u. a. auf Nichtigerklärung dieser Rechtsakte, soweit sie sie betrafen, nicht statt.

Am 25. September 2015 erhob die Rechtsmittelführerin erneut Klage, dieses Mal auf Verurteilung der Union zum Ersatz des Schadens, der aufgrund des Erlasses und der Beibehaltung der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen, die durch das Nichtigkeitsurteil für nichtig erklärt worden waren, entstanden sein soll. Mit seinem Urteil vom 10. Dezember 2018(2) hat das Gericht zum einen seine Zuständigkeit für die Entscheidung über eine Schadensersatzklage auf Ersatz des Schadens, der aufgrund von im Bereich der GASP nach Art. 29 EUV ergangenen Beschlüssen entstanden sein soll, verneint. Zum anderen hat das Gericht die Schadensersatzklage, soweit sie auf den Ersatz des Schadens gerichtet war, der aufgrund des Erlasses der Verordnungen auf der Grundlage von Art. 215 AEUV entstanden sein soll, mit der Begründung als unbegründet abgewiesen, dass kein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm nachgewiesen worden sei.

Unter diesen Umständen hat die Rechtsmittelführerin beim Gerichtshof ein Rechtsmittel eingelegt, das im Wesentlichen darauf gerichtet ist, dass der Gerichtshof die Würdigung der Begründetheit der Schadensersatzklage durch das Gericht aufhebt und unter Ausübung seiner Evokationsbefugnis selbst in der Sache entscheidet und den Anträgen der Rechtsmittelführerin stattgibt.

Der Gerichtshof weist dieses Rechtsmittel zurück, jedoch nicht ohne festzustellen, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es seine Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag auf Ersatz des Schadens, der der Rechtsmittelführerin infolge der gemäß Art. 29 EUV ergangenen GASP-Beschlüsse entstanden sein soll, verneint hat.

Als Erstes prüft der Gerichtshof die Zuständigkeit der Unionsgerichte für die Entscheidung über eine Schadensersatzklage, die auf Ersatz des Schadens gerichtet ist, der aufgrund restriktiver Maßnahmen entstanden sein soll, von Amts wegen, da diese Zuständigkeit eine unverzichtbare Prozessvoraussetzung ist. Im vorliegenden Fall entscheidet der Gerichtshof zum einen, dass das Gericht zu Recht seine Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag auf Ersatz des Schadens, der der Rechtsmittelführerin aufgrund restriktiver Maßnahmen entstanden sein soll, die mit Verordnungen auf der Grundlage von Art. 215 AEUV gegen sie verhängt wurden, bejaht hat. Zum anderen hat das Gericht hingegen einen Rechtsfehler begangen, indem es sich für die Entscheidung über diesen Antrag für unzuständig erklärt hat, soweit sich der mutmaßliche Schaden der Rechtsmittelführerin aus GASP-Beschlüssen ergeben soll, die gemäß Art. 29 EUV erlassen wurden.

Im Bereich der GASP ist die Regelung der Zuständigkeit der Unionsgerichte seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nämlich durch einen grundsätzlichen Ausschluss(3), für den zwei Ausnahmen gelten(4), gekennzeichnet, von denen eine die Würdigung der Gültigkeit der Beschlüsse des Rates über den Erlass restriktiver Maßnahmen betrifft(5). In dieser Ausnahme ist zwar die Schadensersatzklage nicht ausdrücklich genannt, doch stützt sich der Gerichtshof für die Auslegung seines Prüfungsbereichs auf die erforderliche Kohärenz des Systems des gerichtlichen Rechtsschutzes.

In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof zunächst aus, dass diese Regelung der Zuständigkeit des Unionsrichters im Bereich der GASP eine Ausnahme von der Hauptaufgabe des Gerichtshofs darstellt, nämlich die Wahrung des Rechts zu sichern(6). Als solche ist diese Sonderregelung eng auszulegen. Da sich die Schadensersatzklage in ein Gesamtsystem des gerichtlichen Rechtsschutzes einfügt, das verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt(7), trägt sie zur Wirksamkeit dieses Schutzes bei und erfordert daher eine Würdigung, die geeignet ist, jegliche Rechtsschutzlücke zu verhindern und somit die Kohärenz des gesamten Schutzsystems zu wahren. Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass trotz der Verbindung, die Art. 215 AEUV zwischen den auf dieser Grundlage erlassenen Verordnungen und den gemäß Art. 29 EUV erlassenen GASP-Beschlüssen herstellt, die mit solchen Rechtsakten erlassenen restriktiven Maßnahmen nicht zwangsläufig übereinstimmen, so dass durch die Unzuständigkeit des Unionsrichters für die Entscheidung über eine Schadensersatzklage im Zusammenhang mit in GASP-Beschlüssen vorgesehenen restriktiven Maßnahmen eine Rechtsschutzlücke entstehen könnte. Unter diesen Umständen hat das Gericht einen Rechtsfehler begangen, indem es angenommen hat, dass eine Schadensersatzklage, die auf Ersatz des Schadens gerichtet ist, der einer natürlichen oder juristischen Person aufgrund von in GASP-Beschlüssen vorgesehenen restriktiven Maßnahmen entstanden sein soll, nicht in seine Zuständigkeit falle.

Als Zweites prüft der Gerichtshof die Rechtsmittelgründe, die auf die Aufhebung der Würdigung der Begründetheit der Schadensersatzklage durch das Gericht gerichtet sind, soweit es einen Rechtsverstoß, der die außervertragliche Haftung der Union auslösen kann, verneint hat.

Nach Ansicht des Gerichtshofs hat das Gericht erstens zu Recht angenommen, dass die unzureichende Begründung der Rechtsakte zur Einführung der die Rechtsmittelführerin betreffenden restriktiven Maßnahmen für sich genommen nicht die Haftung der Union auslösen kann.

Nachdem er die Tragweite des auf diese Weise bekräftigten Rechtsprechungsgrundsatzes erläutert hat, weist der Gerichtshof jedoch darauf hin, dass die Begründungspflicht, die ein bloßes wesentliches Formerfordernis ist, von der Frage der sachlichen Richtigkeit der Begründung zu unterscheiden ist. Daraus folgt, dass die Haftung der Union ausgelöst werden kann, wenn es dem Rat nicht gelingt, die Gründe für die erlassenen Maßnahmen darzulegen, was die materielle Rechtmäßigkeit des Rechtsakts berührt, sofern ein entsprechender Klagegrund zur Stützung der Schadensersatzklage vorgetragen wurde.

Zweitens weist der Gerichtshof in diesem Zusammenhang die Rechtsmittelgründe zurück, mit denen die Rechtsmittelführerin dem Gericht vorgeworfen hat, nicht erkannt zu haben, dass die außervertragliche Haftung der Union dadurch habe ausgelöst werden können, dass der Rat seine sich aus dem Nichtigkeitsurteil ergebende Pflicht, ihr die belastenden Umstände mitzuteilen, nicht erfüllt habe. Dem Nichtigkeitsurteil ist nämlich zu entnehmen, dass sich dieses Vorbringen nur auf den die Begründungspflicht betreffenden Klagegrund bezogen hat.

Nachdem der Gerichtshof abschließend festgestellt hat, dass der Rechtsfehler, den die Prüfung des Gerichts hinsichtlich des Umfangs seiner Zuständigkeit aufweist, nicht die Aufhebung des angefochtenen Urteils rechtfertigen kann, da sich sein Tenor als richtig erweist, weist er das Rechtsmittel in vollem Umfang zurück.


1      Urteil des Gerichts vom 6. September 2013, Bank Refah Kargaran/Rat (T‑24/11, EU:T:2013:403) (im Folgenden: Nichtigkeitsurteil).


2      Urteil des Gerichts vom 10. Dezember 2018, Bank Refah Kargaran/Rat (T‑552/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:897).


3      Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 letzter Satz EUV und Art. 275 Abs. 1 AEUV.


4      Die erste Ausnahme betrifft die Einhaltung von Art. 40 EUV (Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 letzter Satz EUV und Art. 275 Abs. 2 AEUV).


5      Art. 275 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 letzter Satz EUV, die die unter den Voraussetzungen von Art. 263 Abs. 4 AEUV erhobenen Klagen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen betreffen, die der Rat auf der Grundlage der Bestimmungen über die GASP erlassen hat und in denen restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen vorgesehen sind.


6      Art. 19 EUV.


7      Der Gerichtshof bezieht sich auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, wie er in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigt worden ist, sowie auf den Wert der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 2 EUV und Art. 21 EUV über das auswärtige Handeln der Union, auf den Art. 23 EUV verweist.