Language of document : ECLI:EU:C:2021:759

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 23. September 2021(1)

Rechtssache C205/20

NE

gegen

Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld,

Beteiligte:

Finanzpolizei Team 91

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark, Österreich)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU – Sanktionen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Unmittelbare Wirkung – Befugnisse der nationalen Gerichte – Mitgliedstaatliches Gesetz, das die Kumulation von Verwaltungsstrafen für jede begangene Zuwiderhandlung sowie Mindeststrafen vorsieht, ohne Obergrenzen für die Gesamtstrafe festzulegen“






I.      Einleitung

1.        Hat das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen unmittelbare Wirkung? Wenn dem so ist, aber gleichermaßen wenn nicht, stellt sich die Frage, was dies für ein nationales Gericht bedeutet, das mit einem Rechtsstreit befasst ist, in dem es um die Anwendung nationaler Sanktionsregelungen geht, die der Gerichtshof bereits für unverhältnismäßig erklärt hat.

2.        In einer Reihe früherer Entscheidungen, beginnend mit dem Urteil Maksimovic(2), hat der Gerichtshof verschiedene Teile des österreichischen Systems für die Sanktionierung von Zuwiderhandlungen – im Wesentlichen die Verletzung administrativer Pflichten bezüglich bestimmter Unterlagen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern – für unverhältnismäßig befunden. Allerdings ist der nationale Gesetzgeber nach diesen Entscheidungen des Gerichtshofs nicht tätig geworden. Das vorlegende Gericht ist unsicher, wie es sich unter diesen Umständen verhalten soll. Es nimmt Bezug auf die unlängst ergangene Entscheidung in der Rechtssache Link Logistik(3), in der der Gerichtshof für eine fast gleichlautende Unionsvorschrift unmittelbare Wirkung verneint und eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts als ausgeschlossen angesehen hat. Im Weiteren hat der Gerichtshof jedoch daran erinnert, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen.

3.        Meines Erachtens geht es im vorliegenden Fall weniger darum, was das nationale Gericht tun sollte, sondern vielmehr darum, was der Gerichtshof tun sollte. Damit werden die Bedeutung der Sache im Ausgangsverfahren und die letztendliche Verantwortung, die das nationale Gericht für die Entscheidung im Einzelfall stets trägt, keinesfalls verkannt. Vielmehr wird damit anerkannt, dass die im Vorlagebeschluss aufgeworfenen Probleme größtenteils darauf zurückzuführen sind, dass die Hinweise, die der Gerichtshof selbst gegeben hat, unklar sind.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Der 44. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems(4) lautet wie folgt: „Ungeachtet der Festlegung einheitlicherer Vorschriften für die grenzüberschreitende Durchsetzung von Verwaltungssanktionen und/oder Geldbußen und der Notwendigkeit einer größeren Zahl gemeinsamer Kriterien, um Folgemaßnahmen in Fällen der Nichtbezahlung derselben wirksamer zu gestalten, sollte dies nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Bestimmung ihrer Systeme hinsichtlich Sanktionen und Geldbußen oder Beitreibungsmaßnahmen gemäß ihre[m] nationalen [Recht] berühren. Daher kann das Instrument für den Vollzug oder die Vollstreckung für solche Sanktionen und/oder Geldbußen unter Berücksichtigung des nationalen Rechts und/oder nationaler Gepflogenheiten in dem ersuchten Mitgliedstaat gegebenenfalls durch einen Vollzugs- oder Vollstreckungstitel im ersuchten Mitgliedstaat ergänzt, begleitet oder ersetzt werden.“

5.        Art. 20 der Richtlinie 2014/67 („Sanktionen“) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Bestimmungen anzuwenden sind, und ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen, um die Durchführung und Einhaltung dieser Vorschriften zu gewährleisten. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden Bestimmungen spätestens bis zum 18. Juni 2016 mit. Sie teilen etwaige spätere Änderungen der Bestimmungen unverzüglich mit.“

B.      Nationales Recht

6.        § 16 Abs. 1 und 2 des Verwaltungsstrafgesetzes(5) sieht die Möglichkeit vor, für den Fall der Uneinbringlichkeit einer verhängten Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe festzusetzen.

7.        § 52 Abs. 1 und 2 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes(6) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung lautet:

„(1)      In jedem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes, mit dem ein Straferkenntnis bestätigt wird, ist auszusprechen, dass der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat.

(2)      Dieser Beitrag ist für das Beschwerdeverfahren mit 20 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch mit zehn Euro zu bemessen; bei Freiheitsstrafen ist zur Berechnung der Kosten ein Tag Freiheitsstrafe gleich 100 Euro anzurechnen. …“

8.        § 26 Abs. 1 des Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes (im Folgenden: LSD-BG)(7) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„Wer als Arbeitgeber oder Überlasser im Sinne des § 19 Abs. 1

1.      die Meldung oder die Meldung über nachträgliche Änderungen bei den Angaben (Änderungsmeldung) entgegen § 19 nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vollständig erstattet oder

3.      die erforderlichen Unterlagen entgegen § 21 Abs. 1 oder Abs. 2 nicht bereithält oder den Abgabebehörden … vor Ort nicht unmittelbar in elektronischer Form zugänglich macht,

begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jeden Arbeitnehmer mit Geldstrafe von 1 000 Euro bis 10 000 Euro, im Wiederholungsfall von 2 000 Euro bis 20 000 Euro zu bestrafen.“

9.        § 27 Abs. 1 LSD-BG bestimmt:

„Wer die erforderlichen Unterlagen entgegen den §§ 12 Abs. 1 Z 3 nicht übermittelt, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jeden Arbeitnehmer mit Geldstrafe von 500 Euro bis 5 000 Euro, im Wiederholungsfall von 1 000 Euro bis 10 000 Euro zu bestrafen. …“

10.      § 28 LSD-BG lautet:

„Wer als

1.      Arbeitgeber entgegen § 22 Abs. 1 oder Abs. 1a die Lohnunterlagen nicht bereithält, …

begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jeden Arbeitnehmer mit einer Geldstrafe von 1 000 Euro bis 10 000 Euro, im Wiederholungsfall von 2 000 Euro bis 20 000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer betroffen, für jeden Arbeitnehmer mit einer Geldstrafe von 2 000 Euro bis 20 000 Euro, im Wiederholungsfall von 4 000 Euro bis 50 000 Euro zu bestrafen.“

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

11.      Die CONVOI s.r.o. ist eine Gesellschaft mit Sitz in der Slowakei. Sie hat ihre Mitarbeiter an die Niedec Global Appliance Austria GmbH (im Folgenden: Niedec), eine Gesellschaft mit Sitz in Fürstenfeld (Österreich), entsandt. Am 24. Januar 2018 führte die Verwaltungsbehörde des Bezirks Hartberg-Fürstenfeld (Österreich) eine Kontrolle bei Niedec durch. Mit Straferkenntnis vom 14. Juni 2018 verhängte die Verwaltungsbehörde gegen den Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens in seiner Eigenschaft als Vertreter von CONVOI eine Geldstrafe in Höhe von insgesamt 54 000 Euro wegen der Nichteinhaltung mehrerer Verpflichtungen nach dem LSD-BG, die insbesondere die Bereitstellung von Lohnunterlagen und Sozialversicherungsunterlagen betreffen(8).

12.      Mit Beschluss vom 9. Oktober 2018 ersuchte das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Vereinbarkeit der im betreffenden nationalen Gesetz vorgesehenen Sanktionen mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

13.      Diese Frage hat der Gerichtshof in der Rechtssache Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Nr. I) mit einem mit Gründen versehenen Beschluss gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung beantwortet(9). Dabei hat er sich auf sein kurz zuvor ergangenes Urteil in der Rechtssache Maksimovic(10) gestützt, in der er auf der Grundlage von Art. 56 AEUV um Entscheidung über sehr ähnliche Fragen ersucht worden war.

14.      Mit dem früher zu (demselben) Ausgangsverfahren ergangenen Beschluss hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 20 der Richtlinie 2014/67 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für den Fall der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Meldung von Arbeitnehmern und die Bereithaltung von Lohnunterlagen die Verhängung hoher Geldstrafen vorsieht, die einen im Vorhinein festgelegten Betrag nicht unterschreiten dürfen, die je betroffenem Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung verhängt werden und zu denen im Fall der Abweisung einer gegen das Straferkenntnis erhobenen Beschwerde ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Strafe hinzutritt(11).

15.      Zu demselben Schluss ist der Gerichtshof (ebenfalls nach Art. 99 der Verfahrensordnung) auch in den verbundenen Rechtssachen C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19(12) gelangt, die auf Ersuchen desselben vorlegenden Gerichts in anderen Rechtssachen zurückgingen, jedoch auf recht ähnlichen Sachverhalten beruhten. Auch in jenen Rechtssachen hat sich der Gerichtshof auf seine Ausführungen im Urteil Maksimovic gestützt.

16.      In der vorliegenden Rechtssache weist das vorlegende Gericht unter Hinweis auf die frühere Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Nr. I) gleichwohl darauf hin, dass der nationale Gesetzgeber die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschriften noch nicht geändert hat. Das vorlegende Gericht hat daher Zweifel, inwieweit es diese Vorschriften anwenden kann. Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in Rede stehenden Verwaltungsstrafvorschriften, die weiterhin in Kraft sind, noch anwendbar sind und, falls ja, inwieweit.

17.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass es zu dieser Frage divergierende Rechtsprechungslinien der österreichischen Obergerichte gebe. Auf der einen Seite habe der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) entschieden, dass er, um das Unionsrecht einzuhalten, verpflichtet sei, die Wortfolge „für jede/n Arbeitnehmer/in“(13) unangewendet zu lassen. Tatsächlich habe der Verwaltungsgerichtshof damit den Gesamtbetrag der Geldstrafen, die verhängt werden könnten, gesenkt und eine Höchstgrenze gesetzt, die Verhängung von Geldstrafen sei jedoch weiterhin gestattet(14).

18.      Auf der anderen Seite habe der Verfassungsgerichtshof (Österreich) die auf der Grundlage der fraglichen Bestimmungen verhängten Geldstrafen in mehreren Erkenntnissen (vollumfänglich) aufgehoben(15). Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs seien von einigen nationalen Gerichten dahin ausgelegt worden, dass die in Rede stehenden Geldstrafen überhaupt nicht mehr angewandt werden dürften. Dies würde bedeuten, dass es bis zum Erlass neuer Rechtsvorschriften nicht möglich wäre, auf der Grundlage der vom Gerichtshof für unverhältnismäßig erklärten Bestimmungen Geldstrafen zu verhängen.

19.      Mehrheitlich seien die Verwaltungsgerichte jedoch dem Standpunkt des Verwaltungsgerichtshofs gefolgt. Allerdings seien sie zu recht unterschiedlichen Ergebnissen gelangt: Einige Gerichte setzten den Betrag der Geldstrafe in Höhe der Mindeststrafe fest. In anderen Fällen werde der Gesamtbetrag der Strafe so bemessen, dass er nahezu der Summe der Einzelstrafen entspreche, die für jeden Verstoß zu verhängen gewesen wären. Überdies verhängten einige Verwaltungsrichter in eigener Auslegung des Urteils Maksimovic weiterhin kumulative Geldstrafen.

20.      Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU festgelegte und in den Beschlüssen des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108), sowie vom 19. Dezember 2019, EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103), ausgelegte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung?

2.      Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird:

Ermöglicht und erfordert die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts im Einklang mit dem Unionsrecht, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden die im vorliegenden Fall anzuwendenden innerstaatlichen Straftatbestände um die in den Beschlüssen des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108), sowie vom 19. Dezember 2019, EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103), festgelegten Kriterien der Verhältnismäßigkeit ergänzen, ohne dass eine neue innerstaatliche Rechtsvorschrift erlassen worden ist?

21.      Die tschechische, die österreichische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

22.      Diese Schlussanträge sind wie folgt gegliedert. Ich beginne mit der ersten Frage: Hat Art. 20 der Richtlinie 2014/67 oder, genauer gesagt, das darin niedergelegte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen unmittelbare Wirkung (A)? Sodann wende ich mich den Folgen zu, die sich im vorliegenden Fall dadurch ergeben, dass dieses Erfordernis unmittelbare Wirkung hat (oder nicht) (B). Meines Erachtens entfaltet das Verhältnismäßigkeitserfordernis, das in der Bestimmung enthalten ist, die die Mitgliedstaaten zum Erlass von Vorschriften über Sanktionen, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen, verpflichtet, unmittelbare Wirkung. Da jedoch diese Auffassung und die Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil Link Logistik, milde gesagt, in einem Spannungsverhältnis stehen, werde ich mit einem Vorschlag für das weitere Vorgehen schließen (C).

A.      Hat das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen unmittelbare Wirkung?

23.      Nach Art. 20 der Richtlinie 2014/67 müssen die Mitgliedstaaten „Vorschriften über die Sanktionen [festlegen], die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Bestimmungen anzuwenden sind, und … alle erforderlichen Maßnahmen [ergreifen], um die Durchführung und Einhaltung dieser Vorschriften zu gewährleisten“. Nach dieser Vorschrift müssen die Sanktionen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein.

24.      In seinem Beschluss in der Rechtssache Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Nr. I)(16) hat der Gerichtshof in Bezug auf das Ausgangsverfahren in der vorliegenden Rechtssache entschieden, dass die in Rede stehenden österreichischen Bestimmungen gegen Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verstoßen, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitserfordernis(17).

25.      Das vorlegende Gericht bittet nunmehr um Klärung der praktischen Folgen dieser ersten Entscheidung. Es fragt sich insbesondere, wie genau es im Ausgangsverfahren vorgehen soll, da die in Rede stehenden nationalen Vorschriften weiterhin in Kraft sind. Das vorlegende Gericht kennt die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Link Logistik durchaus und weiß, dass der Gerichtshof die Frage nach der unmittelbaren Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses nach Art. 9a der Richtlinie 1999/62/EG(18), einer mit Art. 20 der Richtlinie 2014/67 fast gleichlautenden Bestimmung, verneint hat. Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch im Hinblick auf die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits, ob dieselbe Schlussfolgerung auch hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung von Art. 20 der Richtlinie 2014/67 gerechtfertigt ist.

26.      In diesem Abschnitt werde ich die Grundzüge des Urteils Link Logistik des Gerichtshofs wiedergeben (1). Anschließend werde ich erklären, warum das Verhältnismäßigkeitserfordernis in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 meines Erachtens (weiterhin) unmittelbare Wirkung hat, wobei ich nicht nur die bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Link Logistik(19) (2) vorgebrachten Argumente wiederholen, sondern zusätzlich auch einige weitere Erwägungen, insbesondere systematischer Art, anführen werde (3).

1.      Auffassung des Gerichtshofs im Urteil Link Logistik

27.      Die Rechtssache Link Logistik und der vorliegende Fall sind sich äußerst ähnlich. Zunächst hatte der Gerichtshof in seiner Entscheidung in der Rechtssache Euro-Team und Spirál-Gép festgestellt, dass die ungarischen Rechtsvorschriften, die die Ahndung der Nichtentrichtung von Mautgebühren mit einer Geldbuße in pauschaler Höhe, unabhängig von der Art und Schwere des Verstoßes, vorsehen, gegen das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 genannte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verstoßen(20).

28.      In der Rechtssache Link Logistik legte dann ein anderes ungarisches Gericht angesichts dieser Feststellung der Unvereinbarkeit dem Gerichtshof konkrete Fragen zu den praktischen Auswirkungen des Urteils Euro-Team und Spirál-Gép vor. Wie war diese Feststellung der Unvereinbarkeit vom nationalen Gericht zu berücksichtigen und im Einzelfall anzuwenden? Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, ob Art. 9a der Richtlinie 1999/62(21) – eine in ihrem Wortlaut Art. 20 der Richtlinie 2014/67 sehr ähnliche Bestimmung – unmittelbare Wirkung hat, und wie die Justiz- und Verwaltungsbehörden in dem betreffenden Fall vorgehen könnten oder sollten.

29.      In seinem Urteil in der Rechtssache Link Logistik hat der Gerichtshof in erster Linie festgestellt, dass Art. 9a der Richtlinie 1999/62 keine unmittelbare Wirkung hat. Er hat zunächst erklärt: „Die Mitgliedstaaten sind daher zur Umsetzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Richtlinie 1999/62 verpflichtet, die nach ihrem innerstaatlichen Recht erforderlichen Rechtsakte zu erlassen. Damit stellt Art. 9a der Richtlinie eine Verpflichtung auf, die ihrem Wesen nach eine Maßnahme der Mitgliedstaaten erfordert, die bei der Erfüllung dieser Verpflichtung über einen großen Ermessensspielraum verfügen.“(22) Der Gerichtshof hat im Weiteren darauf hingewiesen, „dass die Richtlinie nicht näher regelt, wie die innerstaatlichen Sanktionen festzulegen sind, und insbesondere kein ausdrückliches Kriterium für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit solcher Sanktionen enthält“(23). Daraus hat der Gerichtshof folgenden Schluss gezogen: „Da Art. 9a der Richtlinie 1999/62 ein Eingreifen der Mitgliedstaaten erfordert und ihnen einen beträchtlichen Ermessensspielraum verleiht, kann er somit nicht als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau angesehen werden und hat daher keine unmittelbare Wirkung“(24).

30.      Der Gerichtshof hat hinzugefügt, dass „[e]ine gegenteilige Auslegung … in der Praxis zu einem Verlust des Ermessensspielraums führen [würde], der allein den nationalen Gesetzgebern verliehen wurde, denen in dem von Art. 9a der Richtlinie 1999/62 definierten Rahmen die Schaffung einer geeigneten Sanktionsregelung obliegt“(25). Daraus hat der Gerichtshof, was die Frage der unmittelbaren Wirkung angeht, den Schluss gezogen, dass „das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht dahin ausgelegt werden kann, dass es den nationalen Richter verpflichtet, sich an die Stelle des nationalen Gesetzgebers zu setzen“(26).

2.      Gründe für die unmittelbare Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses

31.      Was die Prüfung der unmittelbaren Wirkung anbelangt, komme ich, im Einklang mit der in solchen Fällen anzuwendenden ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, nicht umhin, die bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Link Logistik dargelegten Argumente zusammenzufassen(27). Ich werde diese Gelegenheit auch dazu nutzen, im folgenden Teil der Schlussanträge einige dieser Argumente zu verdeutlichen und einige weitere Erwägungen eher systematischer Art hinzuzufügen.

32.      Unmittelbare Wirkung bedeutet, dass eine Bestimmung des Unionsrechts auf nationaler Ebene unmittelbar vor dem nationalen Richter justiziabel ist, ohne dass es eines weiteren „zwischengeschalteten“ Vollzugsakts des nationalen Rechts bedarf. Im Ergebnis bedeutet dies die tatsächliche Verschmelzung zweier auf den Fall anzuwendender Normensysteme: des nationalen und des unionsrechtlichen. Ob unmittelbare Wirkung gegeben ist, ist im Hinblick auf die einzelne vor der nationalen Behörde anzuwendende Rechtsvorschrift oder den relevanten Teil derselben zu beurteilen. Dabei ist auf die Rechtsnatur, die Systematik und den Wortlaut der betreffenden Bestimmung abzustellen. Ist die in Rede stehende Bestimmung inhaltlich hinreichend klar, bestimmt und unbedingt, um sich vor Gericht darauf berufen zu können(28)?

33.      Nach Auffassung der Kommission hat das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verankerte Verhältnismäßigkeitserfordernis unmittelbare Wirkung. Es sei hinreichend klar, bestimmt und unbedingt. Dagegen sind die österreichische und die polnische Regierung unter Berufung auf den vom Gerichtshof im Urteil Link Logistik eingenommenen Standpunkt der Ansicht, dass Art. 20 der Richtlinie 2014/67 den Anforderungen an eine hinreichende Klarheit und Bestimmtheit nicht genüge, da er ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten erfordere und ihnen einen beträchtlichen Ermessensspielraum belasse. Die tschechische Regierung ist der Meinung, dass die Frage, ob Art. 20 der Richtlinie 2014/67 unbedingt und hinreichend bestimmt sei, dahingestellt bleiben könne, da es nach dem Unionsrecht absolut ausgeschlossen sei, nicht ordnungsgemäß umgesetzte Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber den Einzelnen anzuwenden. Dies scheine im Ausgangsverfahren der Fall zu sein, da die in Rede stehenden Bestimmungen des österreichischen Rechts vom Gerichtshof für unionsrechtswidrig erklärt worden seien.

34.      Ich teile die Auffassung der Kommission. Meines Erachtens ist das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verankerte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit der Sanktionen hinreichend klar, bestimmt und unbedingt. In Bezug auf diese konkrete Anforderung sind die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllt.

35.      Erstens sind die Kriterien der Klarheit und Bestimmtheit erfüllt.

36.      Das Verhältnismäßigkeitserfordernis mag auf den ersten Blick vage erscheinen. In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof jedoch bestätigt, dass „klar und bestimmt“, was den Charakter einer Bestimmung angeht, eher dehnbare Begriffe sind: Eine Bestimmung kann diese Voraussetzungen erfüllen, auch wenn sie nicht definierte – oder gar vage – Begriffe oder unbestimmte Rechtsbegriffe enthält(29).

37.      Im vorliegenden Fall sind die Bedeutung und die genauen Folgen des Verhältnismäßigkeitserfordernisses im Zusammenhang mit Sanktionen leicht zu verstehen: Die verhängten Sanktionen dürfen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zum Erreichen der in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist. Es ist auch recht klar, in Bezug worauf die Sanktionen verhältnismäßig sein müssen: Sie müssen der Schwere des mit ihnen geahndeten Verstoßes entsprechen(30). Kurz gesagt, im Bereich der Sanktionen verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „zum einen, dass die verhängte Sanktion der Schwere der Straftat entspricht, und zum anderen, dass die individuellen Umstände des Einzelfalls sowohl bei der Bestimmung der Sanktion als auch bei der Festlegung der Höhe der Geldbuße berücksichtigt werden“(31). Im vorliegenden Fall bedeutet dies insbesondere, dass die Beurteilung im spezifischen Kontext der Richtlinie 2014/67 zu erfolgen hat, in der die Ziele und der Rahmen für die Anwendung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen festgelegt sind.

38.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bietet reichlich Hinweise zum Inhalt der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Allerdings impliziert diese Prüfung eine Beurteilung durch das Gericht bzw. die Verwaltung und somit einen gewissen Ermessensspielraum. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass die Klarheit einer Vorschrift nicht mit der Klarheit des Ergebnisses der Anwendung dieser Vorschrift in jedem Einzelfall verwechselt werden darf(32). Am Beispiel der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen wird dies besonders deutlich. Ganz gleich, wie viele Leitlinien oder Urteile es zur Auslegung dieses Begriffs geben mag, wird bei seiner Anwendung stets eine gewisse Unbestimmtheit bleiben, die durch die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls bedingt ist(33). Es wird immer ein gewisses Maß an Ungewissheit über das Ergebnis geben, aber das bedeutet nicht, dass es auf allgemeiner Ebene Ungewissheit darüber gibt, was die Vorschrift verlangt(34).

39.      Überdies ist das Verhältnismäßigkeitserfordernis offenkundig auch aus Sicht der Behörden, die es regelmäßig anzuwenden haben, nämlich der nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden, klar und bestimmt, da diese mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung im besonderen Kontext der Sanktionen vertraut und gut dafür gerüstet sind (oder sein sollten). Unabhängig davon, ob sie nach nationalem Recht zu dieser Art Prüfung befugt sind, ist es auch üblich, dass der Gerichtshof die Aufgabe, die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme, einschließlich der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen, zu beurteilen, den nationalen Gerichten überlässt(35).

40.      Zweitens erfüllt das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verankerte Verhältnismäßigkeitserfordernis auch die Voraussetzung der Unbedingtheit.

41.      Dieses Kriterium bedeutet, dass die unionsrechtliche Bestimmung kein Ergreifen weiterer Maßnahmen erfordert. Den Mitgliedstaaten sollte keinerlei Ermessensspielraum für die Umsetzung der Vorschrift verbleiben. Die Rechtsprechung zeigt allerdings, dass die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung auch dann noch erfüllt sein können, wenn den Mitgliedstaaten Ermessen eingeräumt ist, wenn nämlich die Frage, ob die nationalen Behörden ihr Ermessen überschritten haben, gerichtlich überprüfbar ist(36). Dies wird der Fall sein, wenn ein Mindestmaß an Garantie oder Schutz feststellbar ist(37) und durch gerichtliche Überprüfung geklärt werden kann, ob der Mitgliedstaat dieses Mindestmaß gewahrt hat(38).

42.      Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen ist zum unbedingten Charakter des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen anzumerken, dass die Anwendbarkeit dieses Erfordernisses an keinerlei Vorbedingungen geknüpft ist. Die Rolle, die dem Verhältnismäßigkeitserfordernis im Bereich der Sanktionen als einer spezifischen Ausprägung des dem Behördenhandeln Grenzen setzenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zukommt, deutet klar auf einen „Mindest-“Inhalt oder Schutz hin. Wie die Kommission zu Recht hervorhebt, überlässt das Gebot der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 20 der Richtlinie 2014/67 den Mitgliedstaaten zwar einen Wertungsspielraum, es zieht ihnen aber auch hinreichend klare Grenzen: Die Sanktionen dürfen nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist.

43.      Im Urteil Link Logistik wurde die unmittelbare Wirkung des in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 aufgestellten Verhältnismäßigkeitserfordernisses auf der Grundlage eines sehr strengen Begriffs der Klarheit, Bestimmtheit und Unbedingtheit ausgeschlossen. Der in Rn. 51 des Urteils Link Logistik hervorgehobene Umstand, dass eine Richtlinienbestimmung durch den Erlass eines innerstaatlichen Rechtsakts umgesetzt werden muss(39), kann nicht per se die unmittelbare Wirkung einer in einer Richtlinie enthaltenen Bestimmung ausschließen. Wenn dem so wäre, könnten Richtlinien, wenn sie vom nationalen Gesetzgeber verspätet, gar nicht oder sogar fehlerhaft umgesetzt werden, niemals unmittelbare Wirkung entfalten.

44.      Es trifft zu, dass die Bestimmungen über Sanktionen in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 und in dem in der vorliegenden Sache in Rede stehenden Art. 20 der Richtlinie 2014/67 nicht näher regeln, wie die innerstaatlichen Sanktionen festzulegen sind, worauf in Rn. 52 des Urteils Link Logistik hingewiesen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass deshalb die Klarheit, Bestimmtheit und Unbedingtheit des Verhältnismäßigkeitserfordernisses oder das damit verbundene Verbot des Erlasses unverhältnismäßiger Sanktionen ausgeschlossen wären. Mit anderen Worten: Die Erforderlichkeit eines Eingreifens der Mitgliedstaaten und der ihnen verliehene Ermessensspielraum betreffen allgemein die Schaffung einer vollständigen Sanktionsregelung(40), nicht jedoch den materiell-rechtlichen Inhalt des Verhältnismäßigkeitserfordernisses und die damit einhergehenden Verpflichtungen.

45.      Zusammenfassend ist zu sagen, dass ich natürlich mit dem Gerichtshof darin übereinstimme, dass die ursprüngliche Entscheidung über Charakter, Art und Strafrahmen der Sanktionen dem nationalen Gesetzgeber, der das in Rede stehende Unionsrecht, etwa Art. 9a der Richtlinie 1999/62 oder Art. 20 der Richtlinie 2014/67, ordnungsgemäß umsetzt, obliegt und obliegen sollte. Aus den in diesem Abschnitt dargelegten Gründen schließt dies jedoch keineswegs aus, dass es unter der Vielzahl der unionsrechtlichen Bestimmungen, die vom nationalen Gesetzgeber umzusetzen sind, einige gibt, die – wie etwa das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen – bereits für sich genommen unmittelbare Wirkung haben und damit erforderlichenfalls von den nationalen Gerichten überprüft werden können.

3.      Weitere Argumente für die unmittelbare Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses

46.      Es gibt eine Reihe weiterer Erwägungen, die für die Entscheidung über das Verhältnismäßigkeitserfordernis nach Art. 20 der Richtlinie 2014/67 berücksichtigt werden sollten. So versteht es sich – aus einem weiter gefassten, systematischen Blickwinkel – von selbst, dass die Ausprägung, die das Verhältnismäßigkeitserfordernis in dieser Bestimmung angenommen hat, alles andere als eine vereinzelte, isolierte Bestimmung ist; dies gilt sowohl für ihre vertikale Dimension (ihre Beziehung zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta], den Verträgen und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen) als auch für die horizontale Dimension (mit einer Vielzahl fast gleichlautender Bestimmungen in etlichen anderen Sekundärrechtsakten). Wie der vorliegende Fall und die darin aufgeworfenen Fragen deutlich zeigen, schlägt die im Urteil Link Logistik getroffene Wahl auf das gesamte Unionsrecht durch.

47.      Erstens: Wenn man der in dieser Sache in Rede stehenden Bestimmung, in der das Verhältnismäßigkeitserfordernis in Bezug auf Sanktionen in einem bestimmten Bereich niedergelegt ist, die unmittelbare Wirkung abspricht, wird dies wahrscheinlich auch dazu führen, Art. 49 Abs. 3 der Charta und dem Verbot unverhältnismäßiger Strafen die unmittelbare Wirkung abzusprechen.

48.      Es stimmt, dass sich der Gerichtshof noch nicht ausdrücklich zu genau diesem Recht der Charta geäußert hat. In Anbetracht der allgemeinen Richtung der jüngsten Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung der Bestimmungen der Charta wäre es jedoch ein eher überraschendes Ergebnis, wenn Art. 49 Abs. 3 der Charta die unmittelbare Wirkung abgesprochen würde. So ist in jüngerer Zeit entschieden worden, dass Bestimmungen oder Grundsätze, die mindestens genauso vage sind (etwa das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz(41), das Verbot jeder Art von Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung(42), der Grundsatz ne bis in idem(43) oder das Recht auf bezahlten Jahresurlaub(44)), unmittelbare Wirkung haben(45). Bei ordnungsgemäßer Berücksichtigung der Bestimmtheit, Klarheit und Unbedingtheit der in Rede stehenden Vorschrift erweist sich das Verbot unverhältnismäßiger Sanktionen meines Erachtens als ein weitaus geeigneterer Kandidat für unmittelbare Wirkung.

49.      Zweitens wohnt allen Grundfreiheiten ein Element der Verhältnismäßigkeit inne. Auch wenn das Verhältnismäßigkeitserfordernis in den Vertragsbestimmungen, in denen eine Grundfreiheit niedergelegt ist, vielleicht nicht immer ausdrücklich erwähnt wird, wird es in der Rechtsprechung zumeist berücksichtigt und bei der Prüfung herangezogen, ob Beschränkungen oder mittelbar diskriminierende Vorschriften oder Praktiken gerechtfertigt sind(46).

50.      Besonders deutlich wird dies in Bezug auf den rechtlichen Rahmen, der in der vorliegenden Sache Anwendung findet. In der Rechtssache Maksimovic hat der Gerichtshof nationale Bestimmungen mit fast gleichlautendem Inhalt unter dem Blickwinkel des freien Dienstleistungsverkehrs geprüft. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen gegen Art. 56 AEUV verstießen, weil sie unverhältnismäßig waren(47). Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass Art. 56 AEUV unmittelbare Wirkung hat(48).

51.      Vor diesem Hintergrund wäre es, gelinde gesagt, paradox, die Auffassung zu vertreten, dass die nationalen Bestimmungen über Sanktionen unangewendet zu lassen sind, weil sie gegen das allgemeine Verbot der unverhältnismäßigen Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs verstoßen, das sich aus dem unmittelbare Wirkung entfaltenden Art. 56 AEUV ergibt, jedoch zu dem Schluss zu gelangen, dass der spezielleren Bestimmung über die Verhältnismäßigkeit von Sanktionen in der spezielleren Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern keine unmittelbare Wirkung zukommt.

52.      Überdies bleibt der Inhalt des Verhältnismäßigkeitserfordernisses offenkundig derselbe, unabhängig davon, ob er im Rahmen von Art. 20 der Richtlinie 2014/67 oder im Rahmen der allgemeineren Bestimmung des Art. 56 AEUV geprüft wird. In den beiden später ergangenen Beschlüssen, die sich auf die Auslegung der Richtlinie 2014/67 beziehen(49), wird bei der Auslegung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses nach Art. 20 der genannten Richtlinie die Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Maksimovic zum Verhältnismäßigkeitserfordernis nach Art. 56 AEUV fast wörtlich wiederholt. Diese Ähnlichkeit mit der Rechtssache Maksimovic war auch einer der Gründe dafür, dass die mit Gründen versehenen Beschlüsse gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung erlassen wurden.

53.      Drittens hat der Gerichtshof implizit festgestellt, dass die Bestimmung des AEUV, nach der die Mitgliedstaaten zum Schutz der finanziellen Interessen der Union Maßnahmen ergreifen müssen, die einen effektiven Schutz bewirken, nämlich Art. 325 AEUV, unmittelbare Wirkung hat. Der Gerichtshof hat auch ausdrücklich die Pflicht der Mitgliedstaaten anerkannt, nationale Rechtsvorschriften, die diesem Erfordernis zuwiderlaufen, unangewendet zu lassen(50). In der zu dieser Bestimmung ergangenen Rechtsprechung lag der Schwerpunkt jedoch nicht auf der Verhältnismäßigkeit, sondern auf dem Erfordernis der Wirksamkeit bzw. Effektivität.

54.      Es lässt sich allerdings kaum behaupten, dass das in der genannten Bestimmung enthaltene Wirksamkeitserfordernis tatsächlich hinreichend klar, bestimmt und unbedingt ist, das Verhältnismäßigkeitserfordernis jedoch nicht. Abgesehen davon, dass sich die Inkohärenz einer solchen Auffassung kaum rechtfertigen lässt, führt eine solche Unterscheidung auch zu einem moralisch eher fragwürdigen Ergebnis. Nur das Erfordernis der Wirksamkeit, das zur Nichtanwendung nationaler Vorschriften führt, die die Wirksamkeit von Sanktionen beeinträchtigen, also einer den Bürger letztlich stärker belastenden Situation, kann unmittelbare Wirkung entfalten. Wenn es um die Nichtanwendung nationaler Vorschriften geht, die gegen das Verhältnismäßigkeitserfordernis verstoßen, also in einer den sanktionierten Bürger entlastenden Situation, kann es keine unmittelbare Wirkung geben.

55.      Viertens und letztens: Wie der vorliegende Fall zeigt, dürfte eine Entscheidung des Gerichtshofs zur Frage der unmittelbaren Wirkung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen horizontale Auswirkungen auf eine Reihe anderer sekundärrechtlicher Regelungen haben, noch über die Richtlinie 2014/67 oder die Richtlinie 1999/62 hinaus. In verschiedenen Bereichen des Unionsrechts gibt es eine Vielzahl von Richtlinien, die eine fast gleichlautende Standardbestimmung über Sanktionen enthalten, nach der die von den Mitgliedstaaten vorzusehenden Sanktionen oder Strafen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ bzw. „wirksam, angemessen und abschreckend“ sein müssen.

56.      Zweifellos regelt jede einzelne Richtlinie unterschiedliche Tatbestände, Probleme oder Rechtsgebiete. Ich bin mir jedoch nicht sicher, wie dieser Umstand dazu beitragen könnte, Unterscheidungen hinsichtlich der Bestimmtheit, Klarheit oder Bedingtheit des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen vorzunehmen, das ja in all diesen Rechtsakten nahezu gleichlautend formuliert ist. Im Hinblick auf den Regelungsgegenstand und die Art der zu ahndenden Zuwiderhandlungen wird die konkrete Bandbreite angemessener Sanktionen wahrscheinlich unterschiedlich ausfallen. Es liegt auf der Hand, dass die Art und Schwere der Zuwiderhandlung und damit auch die Sanktionen, die angemessenerweise verhängt werden könnten, bei Nichtzahlung einer Autobahnmaut andere sein dürften als beispielsweise bei einem unterlassenen Pflichtangebot nach dem Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung an einem Unternehmen oder bei tonnenweiser Entsorgung giftiger Abfälle in einem Fluss.

57.      Meines Erachtens sind jedoch in all diesen Fällen Art und Inhalt des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen (das unmittelbare Wirkung hat) unabhängig vom jeweiligen Regelungsbereich dieselben. Das Rechtsgebiet und die Art der zu ahndenden Zuwiderhandlungen sind lediglich eines der zu berücksichtigenden tatsächlichen Elemente, das in die ansonsten identische Beurteilung der Zweck-Mittel-Relation einzustellen ist(51).

58.      Alle diese Erwägungen führen meines Erachtens zu dem Schluss, dass das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen im Sinne von Art. 20 der Richtlinie 2014/67 entgegen den Feststellungen im Urteil Link Logistik unmittelbare Wirkung hat.

B.      Besondere Folgen der unmittelbaren Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses

59.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung es angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers ermöglicht (oder sogar erfordert), dass die mitgliedstaatlichen Gerichte die österreichischen Rechtsvorschriften, bis diese vom Gesetzgeber geändert werden, ergänzen, um dem in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 niedergelegten Verhältnismäßigkeitserfordernis Rechnung zu tragen.

60.      Zu den Annahmen, auf denen diese Frage offenbar beruht, sind zwei Klarstellungen vorzunehmen. Diese Klarstellungen führen letztlich zur Umformulierung der Frage.

61.      Erstens wird durch die Ausführungen, mit denen das vorlegende Gericht seine zweite Frage begründet, und insbesondere durch seine Zweifel am Urteil des Verwaltungsgerichtshofs die Verwirrung deutlich, die durch das Urteil Link Logistik des Gerichtshofs entstanden ist. So stützt das vorlegende Gericht, unter Bezugnahme auf die genannte Entscheidung, seine zweite Frage auf die Prämisse, dass mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften in einem Fall unangewendet gelassen werden können, in dem einer Vorschrift die unmittelbare Wirkung abgesprochen worden ist.

62.      Allerdings hat der Gerichtshof aus den Gründen, die in diesem Abschnitt der vorliegenden Schlussanträge dargelegt werden, kürzlich bestätigt, dass nationale Vorschriften nur dann unangewendet gelassen werden können, wenn die geltend gemachte unionsrechtliche Norm unmittelbare Wirkung entfaltet. In Wirklichkeit geht es in der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts also um die Möglichkeit, nationale Bestimmungen zum Teil unangewendet zu lassen oder sogar um einschlägige Regeln des Unionsrechts zu „ergänzen“, und nicht um einen Fall der unionsrechtskonformen Auslegung. „Ergänzung“(52) kann ich nur so verstehen, dass das Verhältnismäßigkeitserfordernis unmittelbar angewendet wird, um die nationalen Vorschriften zu ergänzen und insbesondere die Lücke zu schließen, die sich dadurch ergibt, dass Teile des nationalen Gesetzes unangewendet gelassen werden.

63.      Zweitens hat das vorlegende Gericht seine zweite Frage nur für den Fall gestellt, dass die erste Frage verneint werden sollte, d. h. für den Fall, dass der Gerichtshof feststellen sollte, dass Art. 20 der Richtlinie 2014/67 keine unmittelbare Wirkung entfaltet. Ich habe jedoch vorgeschlagen, die erste Frage zu bejahen, d. h. die unmittelbare Wirkung des Art. 20 der Richtlinie 2014/67 anzuerkennen. Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts bleibt jedoch auch, oder sogar insbesondere, für den Fall relevant, dass die in Rede stehende Bestimmung des Unionsrechts unmittelbare Wirkung hat. Gegenstandslos würde sie vielmehr in der umgekehrten Situation, wenn das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen keine unmittelbare Wirkung entfaltete(53).

64.      Die zweite Vorlagefrage ist daher wie folgt umzuformulieren: Ermöglicht oder erfordert es das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verankerte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen, dass mitgliedstaatliche Gerichte und Verwaltungsbehörden – in Ermangelung einer neuen Regelung auf nationaler Ebene – die im vorliegenden Verfahren anwendbaren nationalen Verwaltungsstrafvorschriften ergänzen?

65.      Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zuerst an die Auffassung erinnern, die der Gerichtshof im Urteil Link Logistik zum Unangewendetlassen nationaler Rechtsvorschriften, die mit Unionsvorschriften, die keine unmittelbare Wirkung haben, in Konflikt stehen, vertreten hat (1), sowie an die spätere diesbezügliche Klarstellung durch die Große Kammer des Gerichtshofs im Urteil Popławski II(54) (2). Sodann werde ich kurz die verschiedenen Auffassungen darlegen, die von österreichischen Obergerichten (Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof) in Reaktion auf das Urteil Maksimovic vertreten wurden (3). Anschließend werde ich mich den Auswirkungen der unmittelbaren Wirkung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen und den möglichen Schranken, die speziell im Bereich der Sanktionen bestehen, zuwenden (4). Schließen werde ich mit einer letzten, eher allgemeinen Bemerkung zur Terminologie und zum recht intuitiven Erfordernis der Verhältnismäßigkeit, wenn eine Bestimmung aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unangewendet gelassen wird (5).

1.      Auffassung des Gerichtshofs im Urteil Link Logistik

66.      Wie bereits erwähnt, ist der Gerichtshof im Urteil Link Logistik zu dem Schluss gelangt, dass Art. 9a der Richtlinie 1999/62 keine unmittelbare Wirkung hat(55).

67.      Im Weiteren hat der Gerichtshof dann an die Pflicht der Mitgliedstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie an den Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung und dessen Schranken erinnert. Der Gerichtshof hat jedoch eingeräumt, dass eine konforme Auslegung in dem ihm vorliegenden Fall nicht möglich war(56).

68.      Nachdem er sowohl eine unmittelbare Wirkung als auch eine unionsrechtskonforme Auslegung ausgeschlossen hatte, ist der Gerichtshof indessen zu dem Schluss gelangt, dass „das nationale Gericht, wenn eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, verpflichtet [ist], das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem es notfalls jede Bestimmung unangewendet lässt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde“(57).

69.      Dies wird im Urteilstenor wiederholt, wo es heißt, dass „[d]as in Art. 9a der Richtlinie 1999/62/EG … vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit … keine unmittelbare Wirkung [hat]“ und dass „[d]as nationale Gericht … aufgrund seiner Verpflichtung, alle zur Umsetzung dieser Bestimmung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, das nationale Recht im Einklang mit dieser Bestimmung auszulegen oder, falls eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen [hat], deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde“(58).

2.      Spätere Klarstellung im Urteil Popławski II

70.      Kurz nach der Entscheidung in der Rechtssache Link Logistik hat die Große Kammer des Gerichtshofs ihr Urteil Popławski II verkündet. In jener Rechtssache ging es um die Möglichkeit, nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, die mit einer Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI(59) unvereinbar waren, eines Rechtsinstruments, das gemäß dem EU-Vertrag keine unmittelbare Wirkung hat(60). Somit stellte sich konkret die Frage, ob ein nationales Gericht schon allein nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts befugt ist, nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen, die im Widerspruch zu Bestimmungen des Unionsrechts stehen, die keine unmittelbare Wirkung haben.

71.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass „eine Bestimmung des Unionsrechts, die keine unmittelbare Wirkung hat, als solche im Rahmen eines dem Unionsrecht unterliegenden Rechtsstreits nicht geltend gemacht werden [kann], um die Anwendung einer ihr entgegenstehenden Bestimmung des nationalen Rechts auszuschließen“(61). Des Weiteren hat er klargestellt, dass „die Verpflichtung eines nationalen Gerichts, eine Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewandt zu lassen, dann, wenn sie sich aus dem der letztgenannten Bestimmung zuerkannten Vorrang ergibt, jedoch dadurch bedingt [ist], dass diese Bestimmung in dem bei diesem Gericht anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat. Daher ist ein nationales Gericht nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine Bestimmung seines nationalen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewandt zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat“(62).

72.      Die Kernaussage dieser Entscheidung ist in der Folge mehrfach für eine Reihe anderer unionsrechtlicher Vorschriften in anderen Rechtsakten als Rahmenbeschlüssen bestätigt worden(63).

73.      Die Frage, ob das Unangewendetlassen nationalen Rechts allein auf den Vorrang des Unionsrechts gestützt werden kann oder nur auf den Vorrang des Unionsrechts in Verbindung mit der unmittelbaren Wirkung der anzuwendenden unionsrechtlichen Bestimmung, ist somit durch das Urteil Popławski II und die daran anschließende Rechtsprechung, die eine Reihe ebenfalls von der Großen Kammer des Gerichtshofs erlassene Urteile umfasst, verbindlich beantwortet worden.

74.      Die Tatsache, dass genau diese Frage schon geraume Zeit diskutiert worden war(64) und verschiedene Lösungsmöglichkeiten und Vorstellungen dazu vorgelegt worden waren(65), soll damit nicht ignoriert werden. Angesichts der wiederholten autoritativen Entscheidungen, mit denen der Gerichtshof in seiner erweiterten Besetzung diese Frage geklärt hat, halte ich diese Diskussion jedoch nunmehr für abgeschlossen, jedenfalls in der Rechtsprechung.

3.      Auswirkungen auf den vorliegenden Fall: konkurrierende Auffassungen auf nationaler Ebene

75.      Auf der nationalen Ebene sind verschiedene Gerichte unterschiedlicher Auffassung darüber, was die Unvereinbarkeitsentscheidungen, die der Gerichtshof in Bezug auf mehrere Elemente der in Rede stehenden Sanktionsregelung erlassen hat, für anhängige Verfahren praktisch bedeuten. Die zweite Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts ist vor dem Hintergrund dieser konkurrierenden Auffassungen zu sehen.

76.      Auf der einen Seite steht der in einem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vertretene Ansatz(66). Im Rahmen eines ähnlichen Falls und nach der Verkündung des Urteils Maksimovic stellte der Verwaltungsgerichtshof fest, dass zur Herstellung der Unionsrechtskonformität nur einige Elemente der in Rede stehenden nationalen Bestimmung unangewendet zu bleiben hätten. Nach diesem Erkenntnis ist es immer noch möglich, Sanktionen zu verhängen, die nach Ansicht des Gerichts den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit entsprechen.

77.      Erstens entschied der Verwaltungsgerichtshof, dass zur Herstellung der Unionsrechtskonformität die Wortfolge „für jede/n Arbeitnehmer/in“ unangewendet bleiben müsse. Diese seinerzeit in § 7i Abs. 4 AVRAG enthaltene Wendung entspricht im Wesentlichen den im vorliegenden Fall einschlägigen Bestimmungen von § 26 Abs. 1 und § 28 LSD-BG(67).

78.      Wenn ich es richtig verstehe, werden, indem die Wendung „für jeden Arbeitnehmer“ unangewendet bleibt, die in den nationalen Bestimmungen für jeden einzelnen Arbeitnehmer vorgesehenen Grenzen allgemein für die Gesamtheit der betroffenen Arbeitnehmer anwendbar. Wenn die Wörter „für jeden Arbeitnehmer“ unangewendet bleiben, bedeutet das nicht nur eine wesentliche Reduzierung der potenziellen Höhe der Geldstrafen und die Einführung eines klaren Rahmens für deren zulässige Höhe, sondern auch die Einführung einer Gesamthöchstgrenze, die bisher im Gesetz fehlte, was einer der Gründe dafür war, dass die einschlägigen Bestimmungen des österreichischen Rechts vom hiesigen Gerichtshof für unverhältnismäßig befunden worden sind(68).

79.      Zweitens entschied der Verwaltungsgerichtshof außerdem, dass die im Gesetz vorgesehenen Mindestgeldstrafen nicht mehr anzuwenden seien. Drittens stellte er fest, dass keine Ersatzfreiheitsstrafen bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe gemäß § 16 des Verwaltungsstrafgesetzes verhängt werden dürften. Die vorgesehenen Mindestgeldstrafen sowie die Möglichkeit der Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen zählten auch zu den Elementen, derentwegen der Gerichtshof in der Rechtssache Maksimovic die Unverhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Sanktionen festgestellt hat(69). Viertens hielt es der Verwaltungsgerichtshof für nicht erforderlich, die Bestimmung über den Verfahrenskostenbeitrag unangewendet zu lassen(70).

80.      Nach dem vom Verwaltungsgerichtshof vertretenen Ansatz ist es den Verwaltungsbehörden also immer noch, wenngleich in wesentlich geringerem Umfang, möglich, eine Strafe zu verhängen, die jetzt allerdings unionsrechtskonform sein sollte.

81.      Ausgehend von der Antwort, die der Gerichtshof in der Rechtssache Link Logistik gegeben hat, sieht das vorlegende Gericht das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs als einen Fall der unionsrechtskonformen Auslegung, wozu es zutreffend anmerkt, dass, wenn man der Lösung des Verwaltungsgerichtshofs folgte, die Auslegung contra legem wäre(71). Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die vom Verwaltungsgerichtshof vorgeschlagene Lösung unionsrechtskonform ist. Konkret möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es befugt ist, die vom Verwaltungsgerichtshof entwickelte Lösung anzuwenden, oder ob ihm nach dem Tenor des Urteils Link Logistik nur die Möglichkeit bleibt, die in Konflikt stehenden nationalen Vorschriften gänzlich unangewendet zu lassen.

82.      Auf der anderen Seite wurde vom Verfassungsgerichtshof, wie das vorlegende Gericht ebenfalls dargelegt hat, offenkundig eine andere Auffassung vertreten. In einer Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil eines unteren Verwaltungsgerichts über auf der Grundlage der in Rede stehenden nationalen Vorschriften verhängte Sanktionen stellte der Verfassungsgerichtshof unter Berücksichtigung der Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Maksimovic fest, dass das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verletzt worden sei(72). Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die nationalen Gerichte das Unionsrecht in vollem Umfang anwenden und entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts erforderlichenfalls unangewendet lassen müssen, hob der Verfassungsgerichtshof die verhängten Strafaussprüche auf. Zu diesem Ergebnis gelangte der Verfassungsgerichtshof aufgrund der Erwägung, dass die Anwendung einer nationalen Strafvorschrift, die den unmittelbar anwendbaren Normen des Unionsrechts widerspreche, einer Verhängung von Sanktionen ohne ordnungsgemäße Rechtsgrundlage gleichkomme(73).

83.      Das vorlegende Gericht erklärt dazu, dass diese verfassungsgerichtlichen Entscheidungen von einigen nationalen Gerichten dahin ausgelegt worden seien, dass die in Rede stehenden Sanktionen überhaupt nicht weiter verhängt werden dürften. Solange keine neuen Rechtsvorschriften erlassen worden seien, könnten keinerlei Sanktionen mehr verhängt werden. Die vom Verfassungsgerichtshof bzw. vom Verwaltungsgerichtshof vertretenen Auffassungen werden vom vorlegenden Gericht deshalb als gegensätzlich dargestellt.

84.      Nach Ansicht der österreichischen Regierung gibt es keine Judikaturdivergenz zwischen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs und der des Verwaltungsgerichtshofs.

85.      Es ist sicherlich nicht Sache des hiesigen Gerichtshofs, zum nationalen Recht Stellung zu nehmen, und erst recht nicht, in Fragen des nationalen Rechts als Schiedsrichter zwischen nationalen Gerichten aufzutreten. Soweit es jedoch um die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Folgen geht, veranschaulichen die Zweifel des vorlegenden Gerichts ein altbekanntes Dilemma: Besteht für den Fall, dass eine nationale Vorschrift mit einer unionsrechtlichen Vorschrift, die unmittelbare Wirkung hat, unvereinbar ist, keine andere Möglichkeit, als die nationale Vorschrift in ihrer Gesamtheit unangewendet zu lassen, oder ist es möglich, das nationale Gesetz partiell oder selektiv unangewendet zu lassen oder sogar zu ergänzen? Während die vom Verfassungsgerichtshof gewählte Lösung dem ersten Weg zu folgen scheint, ist die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ein Beispiel für den zweiten Weg. Einfach gefragt: Was genau bedeutet „unangewendet lassen“?

4.      Konkrete Auswirkungen der unmittelbaren Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses

86.      Die Beteiligten, die schriftliche Erklärungen abgegeben haben, vertreten unterschiedliche Auffassungen zu den Folgen, die sich aus der unmittelbaren Wirkung des in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verankerten Verhältnismäßigkeitserfordernisses ergeben.

87.      Nach Ansicht der Kommission kann der Richter die Sanktionen auf der Grundlage dieser Bestimmung gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anpassen. Erstens gebiete Art. 20 der Richtlinie 2014/67, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen für Verstöße gegen die Richtlinie vorsähen; gar keine Sanktionen vorzusehen, wäre auch ein Verstoß gegen das Unionsrecht. Zweitens sei, wie der Gerichtshof in seinen Beschlüssen festgestellt habe, eine nationale Regelung, die Sanktionen für Verstöße gegen arbeitsrechtliche Verpflichtungen vorsehe, zum Erreichen der mit der Richtlinie zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet(74). Drittens sei bei einem Widerspruch zwischen dem Recht der Union und dem nationalen Recht nicht schlechthin davon auszugehen, dass das letztere ganz und gar beiseitezulassen sei. Das Unionsrecht verdränge das nationale Recht bloß in einem Ausmaß, das hinreiche, eine mit dem Verhältnismäßigkeitserfordernis konforme Sanktion herbeizuführen. Die österreichischen Gerichte sollten auch weiterhin eine Kumulierung der Sanktionen vornehmen, denn entsprechende kumulierte Sanktionen seien nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(75) nicht per se unverhältnismäßig.

88.      Ähnlicher Auffassung ist die österreichische Regierung, der zufolge es zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde, wenn die nationalen Bestimmungen zur Gänze unangewendet blieben. Die bloß partielle Verdrängung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts stelle demgegenüber sicher, dass die im nationalen Recht vorgesehene Strafbestimmung von den nationalen Behörden und Gerichten im Einklang mit den Vorgaben des Unionsrechts vollzogen werden könne(76).

89.      Nach Ansicht der polnischen Regierung könnte dagegen die Verhängung von Strafsanktionen losgelöst vom Wortlaut der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften gegen das Legalitätsprinzip verstoßen; die einzig mögliche Lösung sei daher die vollständige Nichtanwendung der nationalen Vorschriften. Ähnlicher Ansicht ist die tschechische Regierung, die ausführt, dass ein Vorgehen, bei dem die Höhe der Sanktion nicht nach gesetzlichen Kriterien, mit denen sich der Adressat der Norm vorab vertraut machen könne, sondern aufgrund von Kriterien bestimmt würde, die von den jeweiligen Gerichten oder Behörden ex post aufgestellt würden, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe.

90.      Ich teile die Auffassung der Kommission, dass die unmittelbare Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht notwendigerweise dazu führen sollte, dass die nationalen Strafbestimmungen ganz und gar unangewendet zu lassen sind. Meines Erachtens ist der entscheidende Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang der Umstand, dass der Gerichtshof bestimmte übermäßige Aspekte der nationalen Sanktionsregelung für unvereinbar mit dem Unionsrecht erklärt hat. Der Gerichtshof hat nicht festgestellt, dass Sanktionen an sich unvereinbar sind, und schon gar nicht, dass das rechtswidrige Verhalten, das zu diesen Sanktionen geführt hat, nicht sanktioniert werden kann. Mit anderen Worten: Das Erfordernis, dass Sanktionen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen müssen, kann wohl kaum einem Erfordernis, dass es keine Sanktionen geben darf, gleichgesetzt werden. Eine solche Auffassung ist wohl, jedenfalls abstrakt betrachtet, etwas unverhältnismäßig.

91.      Die Bedenken des vorlegenden Gerichts im besonderen Kontext strafrechtlicher Sanktionen, die wiederum Bedenken im Hinblick auf den Legalitätsgrundsatz sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gleichheit vor dem Gesetz aufwerfen, kann ich jedoch nachvollziehen, und diesen wende ich mich nun zu.

a)      Legalitätsprinzip, Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz bei der Verhängung von Sanktionen

92.      Das vorlegende Gericht sieht bei der sich aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs ergebenden Lösung mögliche Probleme im Hinblick auf das Legalitätsprinzip. Dieses Prinzip werde vom Verfassungsgerichtshof gerade im Bereich des Strafrechts sehr streng ausgelegt. Überdies seien die Urteile der österreichischen Höchstgerichte von verschiedenen Verwaltungsgerichten in Österreich unterschiedlich ausgelegt worden. Angesichts der divergierenden Auffassungen sei die aktuelle Situation durch eine uneinheitliche Rechtsprechung und Rechtsunsicherheit gekennzeichnet. Auch im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz sei die derzeit uneinheitliche Spruchpraxis bedenklich. Die Strafbemessung auf der Grundlage eines einzelfallbezogenen Systems sei der österreichischen Rechtsordnung allgemein und insbesondere im Bereich der Strafrechtspflege fremd.

93.      Die tschechische Regierung hat darauf hingewiesen, dass es jedenfalls nicht möglich sei, sich gegenüber dem Einzelnen auf die unmittelbare Wirkung von Art. 20 der Richtlinie 2014/67 zu berufen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei es einem Mitgliedstaat verwehrt, sich auf die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie gegenüber dem Einzelnen zu berufen, um auf der Grundlage von Richtlinienbestimmungen Sanktionen zu verhängen. Wenn es jedem Gericht und jeder Verwaltungsbehörde erlaubt wäre, nationale Rechtsvorschriften kreativ zu modulieren, würde dies unvermeidlich zu Unterschieden bei der Höhe der auferlegten Sanktionen führen, ohne dass es eine objektive Rechtfertigung dafür gäbe.

94.      Ähnlicher Ansicht ist die polnische Regierung, die ausführt, dass die Erfordernisse des Legalitätsprinzips verletzt würden, wenn es den einzelnen Gerichten oder Behörden überlassen bliebe, die Sanktionen abweichend von den Rechtsvorschriften festzulegen. Die unterschiedlichen Auslegungen, zu denen die verschiedenen Gerichte gelangt seien, zeigten, dass Art. 20 keine unmittelbare Wirkung entfalte.

95.      Aus folgenden Gründen finde ich diese Argumente nicht überzeugend.

96.      Das Legalitätsprinzip setzt voraus, dass die Straftatbestände und die Sanktionen, die zum Zeitpunkt der strafbaren Handlung oder Unterlassung gelten, eindeutig im Gesetz bestimmt sind. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Rechtsunterworfenen anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen können, welche Handlungen oder Unterlassungen ihre strafrechtliche Verantwortung begründen(77). Durch diese Anforderungen wird jedoch die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Auslegung seitens der Gerichte nicht untersagt, sofern die Auslegung hinreichend vorhersehbar ist(78). Überdies ist es nach dem in Art. 49 der Charta enthaltenen Grundsatz der lex mitior lediglich ausgeschlossen, eine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung der Straftat angedrohte Strafe zu verhängen.

97.      Meines Erachtens verstößt die Möglichkeit, nationale Vorschriften, soweit sie gegen EU-Recht verstoßen, partiell unangewendet zu lassen und unter unmittelbarer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu vervollständigen oder zu ergänzen, nicht gegen das in Art. 49 der Charta verankerte Legalitätsprinzip.

98.      Erstens waren die Straftatbestände und Strafen zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung festgelegt, so dass die Einzelnen die Folgen ihres Verhaltens abschätzen konnten. Die unmittelbare Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes führt nicht dazu, dass die Verhängung von Sanktionen auf eine nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie gestützt wird. Die Sanktionen beruhen eindeutig auf dem nationalen Recht, so wie es rechtsgültig verkündet und den Adressaten bekannt gegeben wurde, und nicht auf der Richtlinie. Aus diesem Grund ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der Richtlinien nicht unmittelbar angewendet werden können, um die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Einzelpersonen festzulegen oder zu verschärfen(79), im vorliegenden Fall einfach nicht relevant.

99.      Zweitens bildet das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verankerte Verhältnismäßigkeitserfordernis die Grundlage dafür, die nationalen Vorschriften durch die unmittelbare Wirkung dieses Erfordernisses abzuschwächen und zu korrigieren. Mit anderen Worten: Das Verhältnismäßigkeitserfordernis ist nicht die Grundlage für die Verhängung oder Verschärfung von Sanktionen, sondern die Grundlage dafür, rechtmäßig verhängte Sanktionen herabzusetzen, um sie mit dem EU-Recht in Einklang zu bringen.

100. Drittens sei nochmals wiederholt, dass das Urteil Maksimovic, in dem die Unverhältnismäßigkeit der Strafen festgestellt wurde, und die beiden nachfolgenden Beschlüsse des Gerichtshofs die Gültigkeit der anwendbaren nationalen Bestimmungen, in denen die Straftatbestände festgelegt sind, unberührt lassen. Die Unterstrafestellung und Bestrafung dieser Zuwiderhandlungen sind nach wie vor eindeutig rechtmäßig. Die Entscheidungen des Gerichtshofs betreffen nur bestimmte Aspekte der nationalen Sanktionsregelung, die wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit für unvereinbar erklärt worden sind.

101. Sodann gibt es die vom vorlegenden Gericht geäußerten Bedenken wegen der uneinheitlichen Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte und der negativen Folgen, die sich daraus im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Rechtssicherheit ergeben können. Diese Bedenken teile ich voll und ganz, doch kann man wohl nicht behaupten, dass diese ihre Ursache allein oder auch nur hauptsächlich in der unmittelbaren Wirkung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen hätten.

102. Was die richtige Anwendung der nationalen Vorschriften angeht, die für mit dem Unionsrecht unvereinbar befunden worden sind, ist wegen der Funktionsweise des diffusen und dezentralisierten Justizsystems der Union zeitweise ein gewisses Maß an Unsicherheit wohl unvermeidbar. Anders als beispielsweise in einer Reihe der nationalen Rechtsordnungen, wo die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das (eine) nationale Verfassungsgericht dazu führt, dass die nationalen Vorschriften mit Wirkung erga omnes für nichtig erklärt werden, kann das mangels Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht erfolgende Unangewendetlassen einer Vorschrift durch (irgend)ein nationales Gericht für eine gewisse Zeit den im nationalen Recht vorgesehenen üblichen Verfahrensregelungen und Instanzen unterliegen. Wenn die Frage also nicht abschließend durch den hiesigen Gerichtshof, der für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts zuständig ist, geklärt wird, kann es dazu kommen, dass die verschiedenen nationalen Gerichte, solange nicht das Höchstgericht auf nationaler Ebene für Vereinheitlichung gesorgt hat, in ein und derselben Frage konkurrierende Auffassungen vertreten.

103. Allerdings kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass die Rechtsunsicherheit und die Uneinheitlichkeit in der Anwendung auf nationaler Ebene im vorliegenden Fall weitgehend auf zwei Umstände zurückzuführen sind, die sich beide aus nationalen Aspekten ergeben. Erstens ist der nationale Gesetzgeber, wie das vorlegende Gericht wiederholt betont hat, untätig geblieben. Man sollte jedoch annehmen, dass es naturgemäß Sache des nationalen Gesetzgebers wäre, die Rechtsunsicherheit bezüglich des Anwendungsbereichs von nationalen Sanktionen zu beseitigen, um so die zeitweise Rechtsunsicherheit, die nach der Feststellung der Unvereinbarkeit eintritt, möglichst gering zu halten.

104. Zweitens sollte, selbst wenn der nationale Gesetzgeber nicht eingreift, die einheitliche Anwendung des nationalen Rechts letztlich im Rahmen des typischerweise hierarchisch gegliederten nationalen Gerichtssystems sichergestellt werden, jedenfalls im Rahmen der kontinentaleuropäischen Rechtstradition. Üblicherweise ist es die Aufgabe der Höchstgerichte, die Rechtsprechung in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen zu vereinheitlichen. Allerdings gibt es, was die Zuständigkeitsregelungen in diesem Bereich angeht, offensichtlich nationale Vorschriften, die im Wesentlichen die Wahl lassen, sich gegen die Entscheidung eines unteren Verwaltungsgerichts zu wehren, indem man entweder den Verwaltungsgerichtshof oder aber den Verfassungsgerichtshof anruft(80).

105. Ich möchte deutlich hervorheben, dass dies, was das Unionsrecht angeht, auch möglich ist. Wie der nationale Gerichtsaufbau und die Verfahren gestaltet werden, entscheiden nach wie vor in erster Linie die Mitgliedstaaten nach eigener Wahl(81). Etwas problematischer wäre es aber, wenn man die Folgen einer solchen auf nationaler Ebene getroffenen Wahl (z. B. Untätigkeit des Gesetzgebers und tatsächliches Fehlen eines für die Vereinheitlichung der Rechtsprechung zuständigen Gerichts) als Folgen der potenziellen unmittelbaren Wirkung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen nach dem Unionsrecht darstellen würde.

106. Schließlich bleibt, über die strukturellen Aspekte hinaus, noch der Aspekt der potenziellen Unsicherheit in Bezug auf die genaue Höhe der Geldstrafe in jedem einzelnen Fall. Was die Sanktionsverhängung angeht, bleibt, selbst wenn man den vom Verwaltungsgerichtshof gewählten Ansatz zum Ausgangspunkt nimmt, noch ein Strafrahmen zwischen 1 000 Euro und 10 000 Euro oder, wenn die Untergrenze gestrichen würde, zwischen faktisch 0 Euro und 10 000 Euro. Es ist daher denkbar, dass in einem Fall einem Zuwiderhandelnden eine Sanktion in Höhe von insgesamt 100 Euro auferlegt würde, einem anderen dagegen eine Sanktion in Höhe von 5 000 Euro. Dies wiederum könnte durchaus die Frage der Gleichheit vor dem Gesetz aufwerfen.

107. Allerdings könnte sich ein Gleichbehandlungsproblem nur dann stellen, wenn sich die beiden Zuwiderhandelnden in einer identischen Situation befänden. Es dürfte also keinerlei Aspekte geben, in denen sich die beiden Fälle unterscheiden. Das Leben ist jedoch in der Regel unendlich vielfältig. Deshalb ist es sowohl im Verwaltungs- als auch im Strafrecht, zumindest im modernen Recht(82), bei der Festlegung von Strafen oder Sanktionen im Allgemeinen nicht üblich, Einheitsstrafen festzulegen; stattdessen wird ein zulässiger Strafrahmen aufgestellt, innerhalb dessen das behördliche oder gerichtliche Ermessen auszuüben ist.

108. Wie bereits in Bezug auf den unbedingten Kern des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen angemerkt wurde, bedeutet „klar, bestimmt und unbedingt“ nicht, dass jeder einzelne Aspekt ausdrücklich vorab gesetzlich geregelt ist. Ein solches Szenario ist einfach nicht realistisch. Was nicht genau festgelegt ist, muss jedoch wenigstens einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein(83).

109. Zusammenfassend ist zu sagen, dass ich nicht zu erkennen vermag, dass im vorliegenden Fall Fragen, sei es in Bezug auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Sanktionen gemäß Art. 49 der Charta oder in Bezug auf das Gebot der Rechtssicherheit und der Gleichheit vor dem Gesetz, aufgeworfen werden, die das Unionsrecht betreffen.

110. Nichtsdestoweniger trifft es zu, dass die gesetzliche Regelung der Geldstrafen im Bereich der Richtlinie 2014/67 nicht vollständig durch Unionsrecht harmonisiert ist. Die in diesem Bereich anwendbaren Sanktionen verbleiben somit im Ermessen der Mitgliedstaaten. Dass es sie gibt, wird allgemein durch Unionsrecht vorgeschrieben (es muss Sanktionen geben); die im Einzelnen problematischen Aspekte bezüglich (der Unverhältnismäßigkeit) ihres Umfangs und ihrer Verhängung sind jedoch Sache der Mitgliedstaaten.

111. Daher sollte es – insoweit ist an den vom Gerichtshof in der Rechtssache M.A.S. und M.B. vertretenen Ansatz zu erinnern(84) – den nationalen Behörden und Gerichten in dieser Situation grundsätzlich freistehen, andere (höhere) Standards für den Schutz der Grundrechte anzuwenden. Dazu kann potenziell auch ein strengeres Verständnis des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit von Strafen zählen, falls ein solches Erfordernis im nationalen Recht vorgesehen ist und im Fall von Sanktionen angewandt wird, die auf dem nationalen Recht beruhen und nicht abschließend durch das Unionsrecht vorgegeben werden(85).

b)      Verhältnismäßigkeit durch Nichtanwendung unverhältnismäßiger nationaler Vorschriften?

112. Im Urteil Maksimovic und in den darauffolgenden Beschlüssen hat der Gerichtshof seine Feststellung, dass die in den österreichischen Vorschriften vorgesehenen Sanktionen unverhältnismäßig sind, auf das Zusammenspiel mehrerer Faktoren gestützt: i) die Höhe der Geldstrafen, ii) die unbeschränkte Kumulierung der betreffenden Geldstrafen, iii) den Umstand, dass eine Mindesthöhe festgelegt ist, die die Geldstrafe nicht unterschreiten darf, selbst wenn sich eine Zuwiderhandlung als nicht besonders schwer erweist, iv) den Umstand, dass im Fall der Abweisung einer Beschwerde der Beschwerdeführer einen Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der Geldstrafe leisten muss, sowie v) den Umstand, dass im Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe die Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe möglich ist(86).

113. Vor diesem Hintergrund halte ich die vom Verwaltungsgerichtshof gefundene Lösung für pragmatisch und zugleich sehr elegant. Mit nur einem Federstrich hat er mehrere Aspekte der einschlägigen nationalen Vorschriften unangewendet gelassen. Mit dieser Lösung wird eine Höchstgrenze eingeführt, aber zugleich eine Bandbreite eröffnet, innerhalb deren Sanktionen zulässig sind. Außerdem entfallen der Mindestbetrag sowie die Möglichkeit der Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe im Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe. Damit hat der Verwaltungsgerichtshof verschiedene Elemente der österreichischen Sanktionsregelung unangewendet gelassen, jedoch dafür gesorgt, dass bis zur Änderung der einschlägigen Rechtsvorschriften durch den Gesetzgeber weiterhin Sanktionen verhängt werden können.

114. Ich komme nicht umhin, nochmals zu betonen, dass das Unionsrecht die Verhängung von Sanktionen für die in Rede stehenden Zuwiderhandlungen nicht ausschließt, ganz im Gegenteil. Art. 20 der Richtlinie 2014/67 verpflichtet zum Erlass derartiger Sanktionen, die zugegebenermaßen verhältnismäßig, aber auch abschreckend und wirksam sein müssen. Was Art. 20 der Richtlinie angeht, steht überdies die Möglichkeit, die nationalen Vorschriften zu ergänzen, mit den Zielen der Richtlinie in Einklang, da auf diese Weise ein angemessener Ausgleich zwischen dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit und dem Erfordernis wirksamer und abschreckender Sanktionen erreicht werden könnte.

115. In diesem Zusammenhang kann das Gebot der Verhältnismäßigkeit von Strafen, das auch in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankert ist, kaum auf Straflosigkeit hinauslaufen, sofern eine angemessene, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Anpassung der nationalen Rechtsordnung möglich ist. Würde man sich allein auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stützen, um die Möglichkeit der Verhängung jeglicher Art von Sanktionen auszuschließen, ließe dies den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2014/67 erklärten Zweck, ein angemessenes Schutzniveau hinsichtlich der Rechte entsandter Arbeitnehmer zu gewährleisten, völlig außer Acht.

116. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es zumindest aus der Sicht des Unionsrechts etwas paradox wäre, im Namen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in unverhältnismäßiger Weise die in Rede stehenden nationalen Verwaltungsstrafbestimmungen allesamt, einschließlich der nicht beanstandeten, unangewendet zu lassen. Das schließt es wiederum nicht aus, dass diese anderen Bestimmungen des nationalen Rechts später einer dem strengeren nationalen Verständnis des Legalitätsprinzips geschuldeten Änderung zum Opfer fallen oder dass sie in anderen Fällen einfach wegfallen, weil sie sich nicht unabhängig anwenden lassen.

117. Hier wird einfach die Ansicht vertreten, dass die unmittelbare Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses es nicht erfordert, die nationalen Vorschriften in unverhältnismäßiger Weise allesamt unangewendet zu lassen. Bildlich gesprochen, erfordert das Unionsrecht einen der minimal-invasiven Chirurgie vergleichbaren Eingriff, kein Flächenbombardement.

5.      Abschließende Bemerkungen zu den Dichotomien im Bereich der unmittelbaren Wirkung: Ausschluss, Ersetzung … oder einfach Integration?

118. Im Laufe der Jahre ist in der Literatur viel Tinte zu Haarspaltereien darüber vergossen worden, wie sich die vom Gerichtshof in der einen oder anderen Sache eingeführten oder möglicherweise beabsichtigten verschiedenen Arten unmittelbarer Wirkung unterscheiden und systematisch einordnen lassen. Insbesondere die Unterscheidung zwischen der Ausschluss- und der Ersetzungswirkung unionsrechtlicher Vorschriften(87) gegenüber ihnen zuwiderlaufenden nationalen Vorschriften ist nach wie vor Gegenstand hitziger Diskussionen(88). Überdies bleibt, selbst wenn mit dem Urteil Popławski II die vorgelagerte Frage (Unangewendetlassen schon allein wegen des Vorrangs oder nur bei Vorrang und unmittelbarer Wirkung?) geklärt wurde, die nachgelagerte Frage nach der genauen Art und Anzahl der sich daraus ergebenden Konfigurationen weiterhin weit offen.

119. Ich habe nicht die Absicht, hier einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten. Ich möchte diesen Fall vielmehr einfach zum Anlass nehmen, die begrenzte praktische Relevanz solcher systematischen Einordnungen hervorzuheben. Der vorliegende Fall zeigt, dass, was die Folgen der unmittelbaren Wirkung angeht, beispielsweise die Abgrenzung zwischen Ausschluss und Ersetzung in vielen Fällen nach wie vor eher unscharf ist. Die Abgrenzung wird in hohem Maße vom Einzelfall abhängen und sich eher daraus ergeben, wo das zuständige Gericht selbst die Grenze zieht, als aus einem offenkundigen Unterschied.

120. Der vom Verwaltungsgerichtshof gewählte Ansatz, der im vorangegangenen Abschnitt zusammengefasst wurde, ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Der Umstand, dass von der Rechtstechnik des „Unangewendetlassens“ Gebrauch gemacht wurde, ist vom Wortlaut und der Gliederung der nationalen Rechtsvorschriften abhängig – und nicht etwa eine unausweichliche Folge, die sich aus dem „Wesen“ der unionsrechtlichen Bestimmung ergibt, in der das Verhältnismäßigkeitserfordernis niedergelegt ist.

121. Zu ähnlichen Ergebnissen käme man auch, indem man den positiven Gehalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „integrierte“, um solchermaßen durch Ersetzung statt durch Ausschluss zur rechtlichen Lösung zu gelangen. Genau das habe ich in der Rechtssache Link Logistik vorgeschlagen, wo es dem nationalen Gericht wegen der Gestaltung der nationalen Vorschrift (von den Umständen des Einzelfalls unabhängige Geldbuße in pauschaler Höhe) nicht möglich gewesen wäre, zu einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügenden Lösung zu gelangen, indem es einfach Teile der nationalen Vorschrift unangewendet gelassen hätte. Es war daher erforderlich, auf die entsprechende Prüfung zurückgehende und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz innewohnende normative Elemente einzufügen(89).

122. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass die Art der unmittelbaren Wirkung ein und derselben Bestimmung des Unionsrechts logischerweise von der nationalen Rechtslage abhängen wird. Während eine unmittelbare Wirkung entfaltende Bestimmung in einigen Fällen die „verdrängte“ zuwiderlaufende nationale Bestimmung vollständig ersetzen wird, wird es in anderen Fällen keine Alternative zum vollständigen Unangewendetlassen geben. In einem Großteil der dazwischenliegenden Fälle lässt sich die Unionsrechtskonformität vielleicht bereits dadurch erreichen, dass die nationale Vorschrift partiell unangewendet gelassen wird oder aber Tatbestandsmerkmale der nationalen Vorschrift nur insoweit unangewendet gelassen werden, als sie mit dem Unionsrecht in Konflikt stehen. Letztendlich wäre bei vollständiger oder partieller Nichtanwendung auch noch die unionsrechtskonforme Auslegung der „verbleibenden“ einschlägigen Bestimmungen oder Tatbestandsmerkmale erforderlich.

123. Kurzum, wie die unmittelbare Wirkung in einer Rechtssache systematisch einzuordnen ist, wird vom nationalen Recht abhängen, von der Systematik im Einzelfall und von der gewählten Abstraktionsebene. Oft lässt sich in der nationalen Rechtsordnung dasselbe Ergebnis genauso gut durch den Ausschluss einer übergeordneten Regel erzielen wie durch die Ersetzung oder Integration einer spezielleren Regel.

124. Deshalb ist die Frage, ob das aufgrund einer unionsrechtlichen Bestimmung mit potenziell unmittelbarer Wirkung gebotene Vorgehen genau auf einen Ausschluss, eine Ersetzung oder etwas Anderes hinausläuft, meines Erachtens eher von pädagogischem oder akademischem Interesse. Jedenfalls sollte es nicht von derartigen systematischen Einordnungen abhängen, ob eine bestimmte Vorschrift des Unionsrechts unmittelbare Wirkung entfalten kann oder nicht. Vielmehr sollte es, wenn festgestellt wird, dass die in Rede stehende Unionsvorschrift ohne Weiteres gerichtlich überprüfbar ist, vor allem um die potenziellen Folgen der unmittelbaren Wirkung im Einzelfall und den Schutz der Rechte des Einzelnen in dem Fall gehen.

C.      Änderung der Link-Logistik-Rechtsprechung

125. Sollte sich der Gerichtshof den Erwägungen in den Abschnitten A und B der vorliegenden Schlussanträge anschließen, käme er nicht umhin, seine Feststellungen im Urteil Link Logistik zu überprüfen.

126. Wie in Abschnitt B dieser Schlussanträge ausgeführt wurde, wurde die Link-Logistik-Rechtsprechung des Gerichtshofs durch das Urteil Popławski II implizit teilweise aufgegeben. Nur nationale Bestimmungen, die gegen unionsrechtliche Bestimmungen mit unmittelbarer Wirkung verstoßen, können von nationalen Gerichten und anderen Stellen unangewendet gelassen werden.

127. Wie aber steht es um die vom Gerichtshof im Urteil Link Logistik vertretene Auffassung zur unmittelbaren Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses? Wie in Abschnitt A dieser Schlussanträge ausführlich dargelegt, sprechen mehrere Gründe dafür, dass das Verhältnismäßigkeitserfordernis nach Art. 20 der Richtlinie 2014/67 unmittelbare Wirkung entfaltet.

128. Überdies berührt die sehr wichtige Korrektur, die das Urteil Popławski II bezüglich des Unangewendetlassens unionsrechtswidrigen nationalen Rechts gebracht hat, auch die Abwägung, auf der die gesamte vom Gerichtshof im Urteil Link Logistik gegebene Begründung beruht. Die Korrektur berührt auch die Feststellungen des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses. In der Rechtssache Link Logistik hat der Gerichtshof eine unmittelbare Wirkung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses nach Art. 9a der Richtlinie 1999/62 abgelehnt. Die zu diesem Ergebnis führenden Erwägungen beruhten jedoch zum Teil vielleicht auf der unzutreffenden Prämisse, dass es möglich wäre, unionsrechtswidriges nationales Recht unangewendet zu lassen, wenn es um Vorschriften ohne unmittelbare Wirkung geht. Genau dazu hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht aufgefordert(90).

129. Wie ist vor diesem Hintergrund im vorliegenden Fall zu verfahren? Meines Erachtens sollte die Link-Logistik-Rechtsprechung von der Großen Kammer des Gerichtshofs ausdrücklich und offen aufgegeben werden.

130. Der Gerichtshof hat nie verkündet, formell an die Stare-decisis-Doktrin gebunden zu sein. In der Praxis folgt er jedoch dieser Doktrin(91). Wegen des Erfordernisses, kohärent auf seine eigenen Entscheidungen zu verweisen und den autoritativen Charakter seiner Rechtsprechung sicherzustellen, weicht der Gerichtshof nur selten ausdrücklich von früheren Entscheidungen ab. Häufiger kommt es vor, dass der Gerichtshof auf die Unterschiede im gegebenen Fall abstellt oder seine eigene Rechtsprechung nachträglich erklärt, damit die verschiedenen Teile des Puzzles „zusammenpassen“ und „klargestellt“ werden(92).

131. In der Vergangenheit ist der Gerichtshof bei der Überprüfung früherer Entscheidungen unterschiedlich vorgegangen(93). Es kommt nach wie vor selten vor, dass eine Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben wird. Selbst in diesen seltenen Fällen sind die Erklärungen, die der Gerichtshof zur Begründung der Rechtsprechungsänderung abgibt, recht knapp gehalten. In einigen Fällen beschränkt sich der Gerichtshof darauf, den abweichenden Präzedenzfall anzuerkennen und zu signalisieren, dass er einer anderen Auslegung folgt(94). In anderen Fällen wird ersichtlich, dass der Gerichtshof seine Auffassung angesichts der in einem späteren Fall vorgebrachten Umstände und Ausführungen geändert hat(95) oder dass der Gerichtshof seine frühere Auffassung wegen neu hinzugekommener Erwägungen klarstellt(96).

132. Angesichts verfassungsrechtlicher Entwicklungen oder Änderungen des Vertrags weicht der Gerichtshof offener von seiner früheren Rechtsprechung ab(97). Allerdings gibt es eine Reihe von Fällen, in denen der Gerichtshof frühere Urteile weiterhin als „geltende Rechtsprechung“ anführt, obwohl die neue Entscheidung zu einem anderen Schluss gelangt(98). Nur in sehr seltenen Ausnahmefällen kommt es vor, dass der Gerichtshof seine frühere Auslegung ausdrücklich überprüft, sich mit seiner früheren Entscheidung auseinandersetzt und die Gründe für das abweichende Ergebnis erklärt(99).

133. Meines Erachtens sollte der vorliegende Fall einer dieser seltenen Fälle sein. Der Gerichtshof sollte den vorliegenden Fall zum Anlass nehmen, den Wert seiner Feststellung im Urteil Link Logistik insbesondere aus folgenden Gründen ausdrücklich zu überprüfen.

134. Erstens ist es, zumindest für diesen Generalanwalt, einfach nicht möglich, den vorliegenden Fall, was eine kohärente Auslegung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses sowohl nach Art. 9a der Richtlinie 1999/62 als auch nach Art. 20 der Richtlinie 2014/67 angeht, von dem Fall Link Logistik zu unterscheiden.

135. Das vorlegende Gericht hat sich bemüht, die Unterschiede zwischen dem vorliegenden Fall und der Rechtssache Link Logistik herauszustellen. Angesichts des Wortlauts, des Zwecks und des Kontexts von sowohl Art. 9a der Richtlinie 1999/62 als auch Art. 20 der Richtlinie 2014/67 ist es jedoch meines Erachtens unmöglich, erhebliche Unterschiede festzustellen, derentwegen der Gerichtshof hinsichtlich letzterer Bestimmung zu einem anderen Schluss gelangen und dennoch die Entscheidung in der Rechtssache Link Logistik unberührt lassen könnte(100). Auch bei einer nachträglichen „Klarstellung“ dessen, was der Gerichtshof im Urteil Link Logistik eigentlich sagen wollte, gäbe man Anlass zu weiterer Verwirrung, zumal bereits das Urteil Popławski II eine wichtige Abweichung vom Urteil Link Logistik gebracht hat.

136. Zweitens läuft man mit jeder solchen weiteren „Klarstellung“ der im Urteil Link Logistik vertretenen Auffassung Gefahr, Verwirrung in einem besonders sensiblen und komplexen Rechtsbereich zu stiften, der einige der Grundprinzipien der Unionsrechtsordnung berührt, etwa die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts, die Abhilfe des Unangewendetlassens sowie die konkreten rechtlichen Wirkungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Weil die Link-Logistik-Rechtsprechung im Widerspruch zum Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache Popławski II steht, ist es umso notwendiger, sie im vorliegenden Fall ausdrücklich aufzugeben; erst recht im Hinblick darauf, dass die Urteile gerade in der Auslegung wesentlicher Grundsätze, die das Verhältnis zwischen den nationalen Rechtsordnungen und der Unionsrechtsordnung betreffen, divergieren. In einer solchen Situation, in der ein eindeutiger Widerspruch zu einer früheren Entscheidung besteht, sollte sich der Gerichtshof offen mit seiner eigenen Rechtsprechung auseinandersetzen und klar angeben, ob und inwieweit er seine frühere Rechtsauffassung revidiert.

137. Drittens mag die Tatsache, dass der Präzedenzfall, von dem abgewichen werden soll, erst recht kürzlich entschieden worden ist, bedauerlich sein, doch sollte dies letztlich keine Rolle spielen. Die richtige Auslegung des Unionsrechts überwiegt derartige Bedenken. In der Tat sind einige der bekanntesten Beispiele für Entscheidungen, in denen der Gerichtshof von seiner Rechtsprechung abgewichen ist, vergleichsweise kurz nach der Verkündung des Urteils, von dem abgewichen wurde, ergangen(101). Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass ein Urteil des Gerichtshofs häufig Diskussionen auslöst, die dazu führen, dass nationale Gerichte im Nachgang weitere Vorlagefragen stellen, die dem Gerichtshof zusätzliche Informationen oder Argumente liefern. In einigen dieser Fälle aus jüngerer Zeit hat der Gerichtshof, als er ausdrücklich aufgefordert wurde, seinen Standpunkt zu überdenken, die Rechtssachen der Großen Kammer zugewiesen(102). Die Abweichung von einem Präzedenzfall, der schon viele Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt, ist weniger problematisch. Sie lässt sich mit dem Argument der Weiterentwicklung der Unionsrechtsordnung begründen(103).

138. Viertens und letztens: Wer sollte nach der derzeitigen Verfassung des Gerichtshofs zu Änderungen der Rechtsprechung berufen sein? Auch hier gilt, dass es keine formale Regel der stare decisis gibt. Es steht den verschiedenen Kammern des Gerichtshofs somit frei, frühere Präzedenzfälle zu überdenken. Überdies ist der Unterschied zwischen einer im Auslegungswege erfolgenden Überprüfung früherer Urteile, einer Weiterentwicklung der Rechtsprechung und einer stillschweigenden Abweichung ein sehr feiner, weshalb es recht schwierig ist, für die Fälle, in denen eine Abweichung von der Rechtsprechung in Rede steht, eine förmliche Regel für ihre Zuweisung an die Große Kammer zu formulieren und in Kraft zu setzen.

139. Da die Große Kammer nach der derzeitigen Verfassung des Gerichtshofs einen besonderen konstitutionellen Status innerhalb des Gerichtshofs genießt, aufgrund dessen ihr höhere Autorität inner- und außerhalb des Gerichtshofs zukommt, sollte indessen die absichtliche Abweichung von Präzedenzurteilen eine ihrer Prärogativen und Funktionen sein. Dies sollte insbesondere in Situationen wie der vorliegenden gelten, in denen der Fall einfach keinen Raum für eine rationale „Unterscheidung“ oder „Klärung“ lässt.

140. Im Hinblick auf die zu wahrende Autorität der Rechtsprechung des Gerichtshofs wäre es ratsam, Fälle, in denen die Abweichung von einer als problematisch erkannten Entscheidung erwogen werden sollte, vorzugsweise der Großen Kammer des Gerichtshofs zuzuweisen(104). Damit wird natürlich nicht ausgeschlossen, dass parallel dazu weiterhin auch andere Besetzungen des Gerichtshofs eigene Überlegungen anstellen. In der Tat sind größere, mit einer hervorgehobenen Stellung ausgestattete Spruchkörper selten gut darin, neue Richtungen zu finden. In der Regel sind sie jedoch recht gut darin, eine autoritative Auswahl aus einer Reihe von Optionen zu treffen.

141. Abschließend ist zu fragen, ob eine absichtliche Abweichung von der Rechtsprechung ausdrücklich erfolgen sollte? Meines Erachtens auf jeden Fall. Ich möchte hier nicht ausufernd auf alle in Betracht kommenden Argumente zu den Vorzügen eines offenen Rechtsdiskurses und das Gebot der ordnungsgemäßen Begründung gerichtlicher Entscheidungen eingehen. Stattdessen möchte ich abschließend nur noch anmerken, dass jedes höchste Gericht auf seinen Ruf und seine Bedeutung bedacht ist.  Beide sind für seine Rolle und seine allgemeine Stellung unerlässlich. Schon allein deshalb ist es unwahrscheinlich, dass es ihm ein Anlass zur Freude ist, Fehler einzuräumen, wenn denn eine solche Situation überhaupt jemals eintreten kann(105). In einem System, das sich selbst als auf dem gerichtlichen Dialog beruhend definiert, einen Gesprächspartner vor sich zu haben, der niemals im Unrecht ist, ist indessen vielleicht etwas überraschend und zuweilen frustrierend. Jedenfalls ist aber die Unfähigkeit, Fehler einzuräumen, insoweit weder ein Zeichen für Dialog noch für echtes Selbstvertrauen oder Autorität.

V.      Ergebnis

142. Ich schlage dem Gerichtshof vor, die vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems festgelegte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen hat unmittelbare Wirkung.

2.      Auf der Grundlage des in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 festgelegten Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen müssen die nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden aufgrund ihrer Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Durchführung dieser Bestimmung zu gewährleisten, jede nationale Bestimmung unangewendet lassen, soweit deren Anwendung zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde, und erforderlichenfalls die anwendbaren innerstaatlichen Vorschriften um die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien des Verhältnismäßigkeitserfordernisses ergänzen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a. (C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, im Folgenden: Urteil Maksimovic); Beschlüsse vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108), sowie EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103).


3      Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:810, im Folgenden: Urteil Link Logistik).


4      ABl. 2014, L 159, S. 11.


5      BGBl. 52/1991.


6      BGBl. I, 33/2013.


7      BGBl. I, 44/2016.


8      Vgl. die Sachverhaltsdarstellung im Beschluss des Gerichtshofs vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 10 und 11).


9      Beschluss vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108).


10      Jene Rechtssache betraf andere nationale Vorschriften (das Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz, BGBl. 459/1993, im Folgenden: AVRAG). Allerdings ging es um ein Sanktionssystem und Sanktionsbeträge, die denen in der vorliegenden Rechtssache sehr ähnlich waren.


11      Beschluss vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 43).


12      Beschluss vom 19. Dezember 2019, EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103).


13      Diese Begriffe waren in § 7i Abs. 4 AVRAG enthalten, entsprechen aber im Wesentlichen jenen von § 26 Abs. 1, § 27 Abs. 1 und § 28 LSD-BG.


14      Urteil Ra 2019/11/0033 vom 15. Oktober 2019.


15      E 3530/2019 u. a., E 2893/2019 u. a., E 2047/2019 u. a., E 3530/2019 u. a. sowie E 2893/2019 u. a. vom 27. November 2019.


16      Beschluss vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108).


17      Zu demselben Ergebnis ist der Gerichtshof in seinem Beschluss vom 19. Dezember 2019, EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103), gelangt, der auf Vorlagen desselben vorlegenden Gerichts in anderen Rechtssachen mit recht ähnlichem Sachverhalt zurückgeht.


18      Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge (ABl. 1999, L 187, S. 42) in ihrer durch die Richtlinie 2011/76/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 (ABl. 2011, L 269, S. 1) geänderten Fassung.


19      Schlussanträge in der Rechtssache Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:494).


20      Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229).


21      Die Bestimmung lautet: „Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Kontrollen vor und legen Sanktionen zur Ahndung von Verstößen gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften fest. Sie treffen die zur Anwendung dieser Vorschriften erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein.“ Hervorhebung nur hier.


22      Urteil Link Logistik, Rn. 51.


23      Ebd., Rn. 52, unter Bezugnahme auf das Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229, Rn. 38).


24      Ebd., Rn. 53.


25      Ebd., Rn. 54.


26      Ebd., Rn. 55.


27      Schlussanträge in der Rechtssache Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:494, Nrn. 63 bis 69) sowie meine Schlussanträge in der Rechtssache Klohn (C‑167/17, EU:C:2018:387, Nrn. 38 bis 46).


28      Um es mit den Worten des Generalanwalts Van Gerven zu sagen, der auf den außerordentlich praktischen Charakter des Kriteriums für die „unmittelbare Wirkung“ hingewiesen hat: „Sofern und soweit eine [unionsrechtliche Bestimmung] für sich allein hinreichend brauchbar für die Anwendung durch das Gericht ist, entfaltet sie unmittelbare Wirkung. Die Deutlichkeit, Genauigkeit, Unbedingtheit, Vollständigkeit oder Perfektion der Norm und der Gesichtspunkt, dass diese keiner im Ermessen stehenden Durchführungsmaßnahme bedarf, sind in dieser Hinsicht nur Facetten ein und desselben Merkmals, das die Regelung aufweisen muss, nämlich, dass sie geeignet sein muss, vom Gericht auf einen Einzelfall angewandt zu werden.“ Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven in der Rechtssache Banks (C‑128/92, EU:C:1993:860, Nr. 27).


29      Um nur ein hervorstechendes Beispiel zu nennen: In seinen Urteilen vom 5. Februar 1963, van Gend & Loos (26/62, EU:C:1963:1), und vom 19. Dezember 1968, Salgoil (13/68, EU:C:1968:54), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bestimmung über Zölle und mengenmäßige Beschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung hinreichend klar und bestimmt war, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und doch ist der Gerichtshof seit einem halben Jahrhundert mit der Auslegung des Begriffs „Maßnahmen gleicher Wirkung“ beschäftigt.


30      Urteil Maksimovic, Rn. 39. Vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 26. September 2018, Van Gennip u. a. (C‑137/17, EU:C:2018:771, Rn. 99), und vom 9. Februar 2012, Urbán (C‑210/10, EU:C:2012:64, Rn. 41 und 44).


31      Urteil Link Logistik, Rn. 45.


32      Als praktisches Beispiel für diese Situation vgl. Urteil vom 19. Juni 2014, Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 88 bis 97), wo deutlich wurde, dass das auferlegte Diskriminierungsverbot hinreichend bestimmt und unbedingt war, auch wenn seine Anwendbarkeit durch das nationale Gericht zu keinem konkreten Ergebnis führen konnte.


33      Zum Beispiel könnte es für eine bestimmte Art von Zuwiderhandlungen ganz klar sein, dass es völlig unverhältnismäßig wäre, Sanktionen im Bereich von Zehn- oder Hundertausenden Euro zu verhängen. Insoweit besteht also keinerlei Zweifel daran, was mit Klarheit und Bestimmtheit des Begriffs der Verhältnismäßigkeit der Sanktionen gemeint ist. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sich vorab naturgemäß nicht bestimmen lässt, wie hoch genau die innerhalb des verhältnismäßigen Sanktionsrahmens liegende konkrete Sanktion, die angesichts der Umstände des Einzelfalls verhängt wird, letztendlich sein wird (wird sie im konkreten Fall 1 000 Euro oder 5 000 Euro betragen?).


34      Vgl. bereits meine Schlussanträge in der Rechtssache Klohn (C‑167/17, EU:C:2018:387, Nr. 49) zu einer anderen Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Bezug auf die Verfahrenskosten in einem umweltrechtlichen Überprüfungsverfahren, die danach nicht übermäßig teuer sein dürfen.


35      Als Beispiel aus jüngerer Zeit vgl. Urteil vom 14. Mai 2020, T‑Systems Magyarország (C‑263/19, EU:C:2020:373, Rn. 71 und 72).


36      Urteil vom 4. Dezember 1974, Van Duyn (41/74, EU:C:1974:133, Rn. 7 und 13). Vgl. auch Urteile vom 24. Oktober 1996, Kraaijeveld u. a. (C‑72/95, EU:C:1996:404, Rn. 59), vom 15. April 2008, Impact (C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 64), und vom 21. März 2013, Salzburger Flughafen (C‑244/12, EU:C:2013:203, Rn. 29 und 31). Für eine Anwendung in jüngerer Zeit vgl. Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a. (C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass ein Antragsteller selbst dann, wenn der Wortlaut einer unionsrechtlichen Vorschrift „nicht so bestimmt ist, dass [er] sich … unmittelbar auf diese Bestimmung berufen könnte, um Beurteilungskriterien geltend zu machen, die seiner Auffassung nach auf seinen Antrag anzuwenden sind[,] … das Recht [hat], durch ein Gericht überprüfen zu lassen, ob sich die nationale Regelung und deren Anwendung in den Grenzen des von der Richtlinie definierten Ermessensspielraums halten“.


37      Vgl. z. B. Urteile vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428, Rn. 19), vom 14. Juli 1994, Faccini Dori (C‑91/92, EU:C:1994:292, Rn. 17), und vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 35).


38      Vgl. insoweit Urteil vom 19. September 2000, Linster (C‑287/98, EU:C:2000:468, Rn. 37): „Dieser Entscheidungsspielraum, der dem Mitgliedstaat bei der Umsetzung dieser Bestimmung in nationales Recht zur Verfügung steht, schließt jedoch nicht aus, dass gerichtlich überprüft werden kann, ob er diesen Spielraum überschritten hat“ (Hervorhebung nur hier).


39      Am Rande sei bemerkt, dass eine solche Feststellung in einer Situation wie in der Rechtssache Link Logistik oder auch in der vorliegenden Rechtssache nicht einmal sachlich zutreffend zu sein scheint. In diesen Fällen hat der nationale Gesetzgeber sein Umsetzungswahlrecht bereits ausgeübt. Jedoch hat er dies in deutlich exzessiver und damit fehlerhafter Weise getan, so dass das Unionsrecht auf nationaler Ebene fehlerhaft umgesetzt wurde. Interessanterweise war das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen für den Gerichtshof klar und unbedingt genug, um auf der Grundlage des Einzelfalls die nationale Regelung für mit dieser Vorschrift unvereinbar erklären zu können; und doch soll es nicht klar und unbedingt genug sein, um vom nationalen Richter in demselben Einzelfall unmittelbar angewandt zu werden?


40      Vgl. Rn. 54 des Urteils Link Logistik, in dem betont wird, dass es allein Sache des nationalen Gesetzgebers ist, eine angemessene Sanktionsregelung zu schaffen.


41      Vgl. z. B. Urteile vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78), vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 56), vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 162), vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 145), oder vom 15. April 2021, Braathens Regional Aviation (C‑30/19, EU:C:2021:269, Rn. 57).


42      Vgl. Urteile vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 76), vom 11. September 2018, IR (C‑68/17, EU:C:2018:696, Rn. 69), und vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation (C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 76).


43      Vgl. z. B. Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 66).


44      Urteile vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 85), und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 74).


45      Dies gilt auch für Art. 19 EUV – vgl. Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 250 bis 252).


46      Vgl. z. B. Urteile vom 19. April 2007, Stamatelaki (C‑444/05, EU:C:2007:231), vom 13. November 2018, Čepelnik (C‑33/17, EU:C:2018:896, Rn. 46 bis 50), oder vom 3. März 2020, Google Ireland (C‑482/18, EU:C:2020:141, Rn. 44 bis 54).


47      Urteil Maksimovic, Rn. 46 bis 50. Jene Rechtssache wurde ausschließlich auf der Grundlage von Art. 56 AEUV entschieden. Die Richtlinie 2014/67 war in zeitlicher Hinsicht nicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar.


48      Vgl. z. B. Urteile vom 3. Dezember 1974, van Binsbergen (33/74, EU:C:1974:131, Rn. 26), vom 17. Dezember 1981, Webb (279/80, EU:C:1981:314, Rn. 13 und 14), vom 29. April 1999, Ciola (C‑224/97, EU:C:1999:212, Rn. 27), vom 18. Dezember 2007, Laval un Partneri (C‑341/05, EU:C:2007:809, Rn. 97), oder vom 13. April 2010, Wall (C‑91/08, EU:C:2010:182, Rn. 68).


49      Vgl. Beschlüsse vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 32 bis 41), und EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103, Rn. 34 bis 43).


50      Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 52), wo es heißt, dass „[d]ie Bestimmungen des Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV … gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in ihrem Verhältnis zum innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten zur Folge [haben], dass allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar wird“. Vgl. auch Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 39).


51      Wie bereits oben in Nr. 37 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt. Vgl. hinsichtlich der Anwendung derselben Logik auf Art und Umfang von Rechtsschutz im Allgemeinen meine Schlussanträge in der Rechtssache An tAire Talmhaíochta Bia agus Mara, Éire agus an tArd-Aighne (C‑64/20, EU:C:2021:14, insbesondere Nrn. 54 bis 62).


52      Im deutschen Original wird das Verb „ergänzen“ verwendet.


53      Alternativ wäre die zweite Frage dann dahin gehend umzuformulieren, dass damit nach den Schranken einer konformen Auslegung in solchen Fällen gefragt wird, und zwangsläufig zu verneinen. Teile nationaler Vorschriften, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, zu streichen und das nationale Recht anschließend (oder gleichzeitig) durch Bestimmungen des Unionsrechts, die der nationale Gesetzgeber zuvor nicht vorgesehen hatte, zu ergänzen und dadurch den Inhalt der nationalen Vorschriften eindeutig zu verändern, kann zumindest meiner Ansicht nach kaum als ein Fall konformer Auslegung angesehen werden. Vgl. z. B. Urteile vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale (C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 39), vom 7. August 2018, Smith (C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 40), oder vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 76 ff.).


54      Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, im Folgenden: Urteil Popławski II).


55      Urteil Link Logistik, Rn. 56. Siehe auch oben, Nrn. 28 bis 30 dieser Schlussanträge.


56      Ebd., Rn. 60.


57      Ebd., Rn. 61.


58      Ebd., Rn. 62 und Urteilstenor. Hervorhebung nur hier.


59      Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27).


60      (Früherer) Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EUV. Urteil Popławski II, Rn. 69 bis 71.


61      Urteil Popławski II, Rn. 62.


62      Ebd., Rn. 68.


63      Vgl. z. B. Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 161), vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe (C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 42), vom 14. Mai 2020, Staatsanwaltschaft Offenburg (C‑615/18, EU:C:2020:376, Rn. 69), vom 30. September 2020, CPAS Liège (C‑233/19, EU:C:2020:757, Rn. 54), vom 15. April 2021, Braathens Regional Aviation (C‑30/19, EU:C:2021:269, Rn. 58), und vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 248).


64      Zu den verschiedenen Positionen, die in der Wissenschaft in dieser Debatte vertreten werden, siehe z. B.: Lenaerts, K., und Corthaut, T., „Of Birds and Hedges: The Role of Primacy in Invoking Norms of EU Law“, European Law Review, Bd. 31, 2006, S. 287 bis 315, S. 301 bis 311, Prechal, S., „Direct Effect, Indirect Effect, Supremacy and the Evolving Constitution of the European Union“, in Barnard, C. (Hrsg.), The Fundamentals of EU Law Revisited: Assessing the Impact of the Constitutional Debate, Oxford University Press, 2007, S. 35 bis 69, Muir, E., „Of Ages in – and Edges of – EU Law“, Common Market Law Review, Bd. 48, 2011, S. 39 bis 62, oder Dougan, M., „Primacy and the Remedy of Disapplication“, Common Market Law Review, Bd. 56, 2019, S. 1459 bis 1508.


65      Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona vertrat in seinen Schlussanträgen die gegenteilige Auffassung und sprach sich dafür aus, dass auch unionsrechtliche Bestimmungen, die keine unmittelbare Wirkung im Sinne des Urteils Link Logistik haben, geltend gemacht werden können, um die Anwendung ihnen entgegenstehender nationaler Vorschriften auszuschließen: Vgl. seine Schlussanträge in der Rechtssache Popławski (C‑573/17, EU:C:2018:957, Nr. 117). Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Cresco Investigation (C‑193/17, EU:C:2018:614, Nrn. 114 bis 149), in denen ich im Wesentlichen einen ähnlichen Ansatz in Bezug auf die Nichtanwendung (lediglich) mit den Bestimmungen der Charta unvereinbarer nationaler Rechtsvorschriften vorgeschlagen habe.


66      Ra 2019/11/0033 vom 15. Oktober 2019.


67      Die österreichische Regierung hat in ihrem Vorbringen darauf hingewiesen, dass der Verwaltungsgerichtshof seine Erwägungen zu § 7i AVRAG auf die §§ 26 und 28 LSD-BG übertragen habe (Erkenntnisse vom 25. Februar 2020, Ra 2018/11/0110, vom 26. Februar 2020, Ra 2020/11/0004, und vom 27. April 2020, Ra 2019/11/0171).


68      Urteil Maksimovic, Rn. 42; Beschlüsse vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 36), und EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103, Rn. 38).


69      Urteil Maksimovic, Rn. 43 und 45; Beschlüsse vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 37), und EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103, Rn. 39). In den beiden Beschlüssen wurde der Aspekt der Ersatzfreiheitsstrafen allerdings nicht berücksichtigt.


70      Der Gerichtshof hatte in Verbindung mit den anderen Elementen bereits festgestellt, dass dieses eines der Elemente war, derentwegen das System unverhältnismäßig war. Urteil Maksimovic, Rn. 44; Beschlüsse vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 38), und EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103, Rn. 40).


71      Vgl. bereits oben, Fn. 53 der vorliegenden Schlussanträge.


72      Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 27. November 2019, E 2047/2019 – 2049/2019.


73      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wurden die Strafaussprüche auch in mehreren anderen Verfahren (u. a. E 3530/2019 u. a., E 2893/2019 u. a., E 3530/2019 u. a. und E 2893/2019 u. a.) vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben.


74      Beschlüsse vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 32), und EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103, Rn. 34).


75      Urteil Maksimovic, Rn. 41; vgl. auch Beschlüsse vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108, Rn. 35), und EX u. a. (C‑140/19, C‑141/19 und C‑492/19 bis C‑494/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1103, Rn. 37).


76      Die zu diesem Punkt vertretene Auffassung der österreichischen Regierung ist etwas rätselhaft, zumal die Regierung zur Beantwortung der ersten Frage vorschlägt, dem Verhältnismäßigkeitserfordernis die unmittelbare Wirkung abzusprechen, und ihre Antwort auf die zweite Frage nicht lediglich hilfsweise formuliert, sondern die partielle Nichtanwendung vielmehr als konforme Auslegung darstellt. Allerdings ist zu vermuten, dass die österreichische Regierung diesbezüglich, ähnlich wie das vorlegende Gericht, die problematische Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Link Logistik zum Ausgangspunkt genommen hat.


77      Vgl. z. B. Urteile vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 50), vom 31. März 2011, Aurubis Balgaria (C‑546/09, EU:C:2011:199, Rn. 42), und vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 162).


78      Vgl. Urteil vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 167 und die dort angeführte Rechtsprechung).


79      Zum Beispiel Urteile vom 11. Juni 1987, Pretore di Salò (C‑14/86, EU:C:1987:275, Rn. 20), vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen (C‑80/86, EU:C:1987:431, Rn. 13), vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 74), oder vom 20. Dezember 2017, Vaditrans (C‑102/16, EU:C:2017:1012, Rn. 56).


80      Die Erfahrungen in einigen europäischen Rechtsordnungen, in denen versucht wurde, im Hinblick auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen Fragen der Verfassungsmäßigkeit auf der einen Seite und Fragen der (einfachen oder bloßen) Rechtmäßigkeit auf der anderen Seite zu unterscheiden, zeigt, dass die Grenzlinie sehr schwer greifbar und eine Abgrenzung in der Praxis unmöglich ist. Der vorliegende Fall bietet hierfür ein anschauliches Beispiel. Ein und dasselbe Rechtsproblem kann sich frei zwischen beiden Bereichen bewegen und entweder als Frage der Verfassungsmäßigkeit (Verletzung des Rechts auf Unversehrtheit des Eigentums) oder als Frage der Rechtmäßigkeit (Vereinbarkeit der nationalen Entscheidung über die Verhängung der Geldstrafe mit nationalem Recht und Unionsrecht) formuliert werden. Vgl. für eine vergleichende Darstellung mit Beispielen aus Deutschland, Spanien, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Slowenien den vom Ústavní soud (Verfassungsgericht, Tschechische Republik) herausgegebenen Band mit dem Titel The Limits of the Constitutional Review of the Ordinary Courts’ Decisions in the Proceedings on the Constitutional Complaint, Linde, Prag, 2005. Vgl. z. B. auch Bundesministerium der Justiz, Entlastung des Bundesverfassungsgerichts: Bericht der Kommission, Moser, Bonn, 1998, S. 62 bis 66.


81      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 52), und vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 115).


82      Anders als in der Vergangenheit, als es die „gebundene Verurteilung“ gab, die für das völlige Missverhältnis zwischen Tat und Strafe bekannt ist, das entstand, weil für bestimmte Zuwiderhandlungen nur eine einzige Sanktion vorgesehen war, ohne jegliche Möglichkeit, den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen oder die Sanktion anzupassen – vgl. z. B. meine Schlussanträge in der Rechtssache An tAire Talmhaíochta Bia agus Mara, Éire agus an tArd-Aighne (C‑64/20, EU:C:2021:14, Nr. 56).


83      Siehe oben, Nrn. 41 und 42 dieser Schlussanträge.


84      Vgl. Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47 bis 62).


85      Mehr zu den Grenzen dieser Möglichkeit und zur Auslegung des sich aus der Rechtsprechung ergebenden Vorbehalts des „Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts“ in meinen kürzlich vorgelegten Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen Ministerul Public – Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie u. a. (C‑357/19 und C‑547/19, EU:C:2021:170, Nrn. 145 bis 156).


86      Urteil Maksimovic, Rn. 42 bis 45.


87      Vgl. zur ursprünglichen Unterscheidung Galmot, Y., und Bonichot, J‑C., „La Cour de justice des Communautés européennes et la transposition des directives en droit national“ 4(1), Revue française de droit administratif, 1988, S. 1 bis 23.


88      Vgl. z. B. Schlussanträge des Generalanwalts Saggio in den verbundenen Rechtssachen Océano Grupo Editorial und Salvat Editores (C‑240/98 bis C‑244/98, EU:C:1999:620), und Schlussanträge des Generalanwalts Léger in der Rechtssache Linster (C‑287/98, EU:C:2000:3). Vgl. auch u. a. Dougan, M., „When Worlds Collide! Competing Visions of the Relationship between Direct Effect and Supremacy“, Common Market Law Review, 2007, Bd. 44, S. 931 bis 963, Wathelet, M., „Du concept de l'effet direct à celui de l'invocabilité au regard de la jurisprudence récente de la Cour de Justice“, in Hoskins, M., und Robinson, W. (Hrsg.), A True European: Essays for Judge David Edward, Hart Publishing, Oxford, 2004, S. 367 bis 389.


89      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:494, Nrn. 84 ff.).


90      Urteil Link Logistik, Rn. 62 und Tenor des Urteils.


91      Vgl. bereits Slynn, G., „The Court of Justice of the European Communities“, International and Comparative Law Quarterly, 1984, Bd. 33, S. 409, 423.


92      Um ein berühmtes Beispiel zu nennen: Urteil vom 8. Oktober 1996, Dillenkofer u. a. (C‑178/94, C‑179/94 und C‑188/94 bis C‑190/94, EU:C:1996:375, Rn. 20 ff.), wo die frühere Rechtsprechung zur Staatshaftung für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, erklärt wird.


93      Zu den frühen Diskussionen vgl. insbesondere Schlussanträge des Generalanwalts Roemer in der Rechtssache Niederlande/Hohe Behörde (9/61, nicht veröffentlicht, EU:C:1962:20, S. 492), Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange in den verbundenen Rechtssachen Da Costa u. a. (28/62 bis 30/62, nicht veröffentlicht, EU:C:1963:2), oder Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola in der Rechtssache Sürül (C‑262/96, EU:C:1998:610).


94      Vgl. z. B. Urteile vom 3. April 1968, Molkerei Zentrale Westfalen-Lippe (28/67, EU:C:1968:17), in Bezug auf das Urteil vom 16. Juni 1966, Lütticke (57/65, EU:C:1966:34), und vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449), in Bezug auf das Urteil vom 23. September 2003, Akrich (C‑109/01, EU:C:2003:491).


95      Vgl. z. B. Urteil vom 22. Mai 1990, Parlament/Rat – Tschernobyl (C‑70/88, EU:C:1990:217, Rn. 16), in Bezug auf das Urteil vom 27. September 1988, Parlament/Rat – Komitologie (302/87, EU:C:1988:461), oder Urteil vom 24. November 1993, Keck und Mithouard (C‑267/91 und C‑268/91, EU:C:1993:905), in Bezug auf das Urteil vom 20. Februar 1979, Rewe-Zentral (Cassis de Dijon) (120/78, EU:C:1979:42).


96      Vgl. z. B. Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 28), in Bezug auf das Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555).


97      Vgl. z. B. Urteil vom 15. März 2005, Bidar (C‑209/03, EU:C:2005:169), in Bezug auf die Urteile vom 21. Juni 1988, Lair (39/86, EU:C:1988:322), und vom 21. Juni 1988, Brown (197/86, EU:C:1988:323).


98      Vgl. z. B. Urteile vom 5. Juni 2018, Grupo Norte Facility (C‑574/16, EU:C:2018:390), und Montero Mateos (C‑677/16, EU:C:2018:393), in Bezug auf das Urteil vom 14. September 2016, de Diego Porras (C‑596/14, EU:C:2016:683).


99      Vgl. Urteil vom 17. Oktober 1990, HAG GF (C‑10/89, EU:C:1990:359, Rn. 10 ff.), und insbesondere Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in jener Rechtssache (EU:C:1990:112) in Bezug auf das Urteil vom 3. Juli 1974, Van Zuylen (HAG I) (192/73, EU:C:1974:72).


100      Siehe auch oben, Nrn. 55 bis 57 dieser Schlussanträge.


101      Vgl. z. B. Urteil vom 22. Mai 1990, Parlament/Rat – Tschernobyl (C‑70/88, EU:C:1990:217), in Bezug auf das Urteil vom 27. September 1988, Parlament/Rat – Komitologie (302/87, EU:C:1988:461), wo die beiden Urteile nur 20 Monate auseinanderliegen.


102      Vgl. z. B. Urteile vom 5. Juni 2018, Grupo Norte Facility (C‑574/16, EU:C:2018:390), und Montero Mateos (C‑677/16, EU:C:2018:393), in Bezug auf das Urteil vom 14. September 2016, de Diego Porras (C‑596/14, EU:C:2016:683).


103      So z. B. jüngst das Urteil vom 18. November 2020, Syndicat CFTC (C‑463/19, EU:C:2020:932), in Bezug auf das Urteil (des Plenums) vom 12. Juli 1984, Hofmann (184/83, EU:C:1984:273).


104      Mit dem Hinweis auf die Erforderlichkeit, bei einer möglichen Änderung der Rechtsprechung die Rechtssache der Großen Kammer vorzulegen, Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Puffer (C‑460/07, EU:C:2008:714, Nr. 56). Ein praktisches Beispiel aus jüngerer Zeit findet sich im Urteil vom 9. Juli 2020, Santen (C‑673/18, EU:C:2020:531), unter Bezugnahme auf das Urteil vom 19. Juli 2012, Neurim Pharmaceuticals (1991) (C‑130/11, EU:C:2012:489).


105      Denn, wie es Herr Richter Jackson einmal in seinem im Ergebnis zustimmenden Sondervotum in der Sache Brown v. Allen, 344 U.S. 443 (1953), unter 540 sarkastisch auf den Punkt gebracht hat: „Wir sind nicht die letzte Instanz, weil wir unfehlbar sind, sondern wir sind nur deshalb unfehlbar, weil wir die letzte Instanz sind“.