Language of document : ECLI:EU:C:2017:603

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NILS WAHL

vom 26. Juli 2017(1)

Rechtssache C230/16

Coty Germany GmbH

gegen

Parfümerie Akzente GmbH

(Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Kartelle – Art. 101 Abs. 1 AEUV – Selektiver Vertrieb – Klausel, die es Einzelhändlern verbietet, bei Internetverkäufen einen nicht autorisierten Dritten einzuschalten – Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung nach der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 – Art. 4 Buchst. b und c“






1.        Die zunehmende Nutzung von Marktplätzen („marketplaces“) oder von gegenüber den Herstellern unabhängigen elektronischen Plattformen(2) durch bestimmte Händler hat naturgemäß einige nationale Behörden und Gerichte(3) zu der Frage veranlasst, ob ein Anbieter autorisierten Einzelhändlern eines selektiven Vertriebsnetzes verbieten kann, nicht autorisierte Drittunternehmen einzuschalten.

2.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, das dazu einlädt, die Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme am Maßstab der neueren Entwicklungen im Sektor des elektronischen Handels, deren mögliche wirtschaftliche Folgen nicht unterschätzt werden dürfen(4), zu „überdenken“, illustriert dies deutlich.

3.        Mit diesem Ersuchen befragt das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) den Gerichtshof zur Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV und von Art. 4 Buchst. b und c der Verordnung (EU) Nr. 330/2010(5).

4.        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Coty Germany GmbH, einem führenden Anbieter von Luxuskosmetika in Deutschland und der Parfümerie Akzente GmbH, einem autorisierten Einzelhändler dieser Produkte, wegen des der Parfümerie Akzente GmbH auferlegten Verbots, für den Verkauf der Vertragswaren im Internet nach außen erkennbar nicht autorisierte Drittunternehmen einzuschalten.

5.        Der Gerichtshof wird insbesondere dazu befragt, ob und inwieweit selektive Vertriebssysteme, die auf Luxus- und Prestigewaren gerichtet sind und primär der Sicherstellung eines „Luxusimages“ der Waren dienen, mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbare Bestandteile des Wettbewerbs darstellen können. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof zu entscheiden, ob es mit dieser Bestimmung vereinbar ist, wenn den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems pauschal verboten wird, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, ohne dass es darauf ankommt, ob im konkreten Fall die legitimen Qualitätsanforderungen des Herstellers verfehlt werden. Außerdem wird der Gerichtshof gebeten, zu bestimmen, ob Art. 4 Buchst. b und c der Verordnung Nr. 330/2010 dahin auszulegen ist, dass ein solches Verbot eine sogenannte „bezweckte“ Beschränkung der Kundengruppe des Einzelhändlers und/oder des passiven Verkaufs an Endverbraucher darstellt.

6.        In dieser Hinsicht bietet die vorliegende Rechtssache dem Gerichtshof die Gelegenheit, klarzustellen, ob das Urteil Pierre Fabre Dermo-Cosmétique(6), das, wie das vorlegende Gericht hervorgehoben hat, von den nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichten unterschiedlich interpretiert worden ist, das Verständnis der auf qualitativen Kriterien beruhenden Beschränkungen, die jedes selektive Vertriebssystem kennzeichnen, im Hinblick auf die Wettbewerbsregeln der Union tiefgreifend geändert hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung Nr. 330/2010

7.        In den Erwägungsgründen 3 bis 5 der Verordnung Nr. 330/2010 heißt es:

„(3)      Die Gruppe von Vereinbarungen, die in der Regel die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen, umfasst vertikale Vereinbarungen über den Bezug oder Verkauf von Waren oder Dienstleistungen, die zwischen nicht miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen, zwischen bestimmten Wettbewerbern sowie von bestimmten Vereinigungen des Wareneinzelhandels geschlossen werden; diese Gruppe umfasst ferner vertikale Vereinbarungen, die Nebenabreden über die Übertragung oder Nutzung von Rechten des geistigen Eigentums enthalten. Der Begriff ‚vertikale Vereinbarungen‘ sollte entsprechende abgestimmte Verhaltensweisen umfassen.

(4)      Für die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 AEUV durch Verordnung ist es nicht erforderlich, die vertikalen Vereinbarungen zu definieren, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen können. Bei der Prüfung einzelner Vereinbarungen nach Artikel 101 Absatz 1 AEUV sind mehrere Faktoren, insbesondere die Marktstruktur auf der Angebots- und Nachfrageseite, zu berücksichtigen.

(5)      Die durch diese Verordnung bewirkte Gruppenfreistellung sollte nur vertikalen Vereinbarungen zugutekommen, von denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, dass sie die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen.“

8.        Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 330/2010 sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)      ‚vertikale Vereinbarung‘ ist eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise, die zwischen zwei oder mehr Unternehmen, von denen jedes für die Zwecke der Vereinbarung oder der abgestimmten Verhaltensweise auf einer anderen Ebene der Produktions- oder Vertriebskette tätig ist, geschlossen wird und die die Bedingungen betrifft, zu denen die beteiligten Unternehmen Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen dürfen;

b)      ‚vertikale Beschränkung‘ ist eine Wettbewerbsbeschränkung in einer vertikalen Vereinbarung, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fällt;

e)      ‚selektive Vertriebssysteme‘ sind Vertriebssysteme, in denen sich der Anbieter verpflichtet, die Vertragswaren oder ‑dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind;

…“

9.        Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Nach Artikel 101 Absatz 3 AEUV und nach Maßgabe dieser Verordnung gilt Artikel 101 Absatz 1 AEUV nicht für vertikale Vereinbarungen.

Diese Freistellung gilt, soweit solche Vereinbarungen vertikale Beschränkungen enthalten.“

10.      Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 330/2010 sieht vor:

„Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nur, wenn der Anteil des Anbieters an dem relevanten Markt, auf dem er die Vertragswaren oder ‑dienstleistungen anbietet, und der Anteil des Abnehmers an dem relevanten Markt, auf dem er die Vertragswaren oder ‑dienstleistungen bezieht, jeweils nicht mehr als 30 % beträgt.“

11.      In Art. 4 („Beschränkungen, die zum Ausschluss des Rechtsvorteils der Gruppenfreistellung führen – Kernbeschränkungen“) der Verordnung Nr. 330/2010 heißt es:

„Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nicht für vertikale Vereinbarungen, die unmittelbar oder mittelbar, für sich allein oder in Verbindung mit anderen Umständen unter der Kontrolle der Vertragsparteien Folgendes bezwecken:

b)      die Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die ein an der Vereinbarung beteiligter Abnehmer, vorbehaltlich einer etwaigen Beschränkung in Bezug auf den Ort seiner Niederlassung, Vertragswaren oder ‑dienstleistungen verkaufen darf, mit Ausnahme

iii)      der Beschränkung des Verkaufs an nicht zugelassene Händler durch die Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets

c)      die Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, Mitgliedern des Systems zu untersagen, Geschäfte von nicht zugelassenen Niederlassungen aus zu betreiben;

…“

 Leitlinien für vertikale Beschränkungen

12.      Gemäß Rn. 51 der Leitlinien für vertikale Beschränkungen(7), die von der Kommission parallel zum Erlass der Verordnung Nr. 330/2010 veröffentlicht wurden, bedeutet „passiver“ Verkauf die Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden, d. h. das Liefern von Waren an bzw. das Erbringen von Dienstleistungen für solche Kunden.

13.      Nach Rn. 52 der Leitlinien werden, da im Vergleich zu den bisherigen Verkaufsmethoden über das Internet mehr oder andere Kunden schnell und effektiv angesprochen werden können, bestimmte Beschränkungen über die Nutzung des Internets als (Weiter‑)Verkaufsbeschränkungen behandelt. Nach Satz 3 dieser Randnummer wird eine eigene Website in der Regel als Form des passiven Verkaufs angesehen, da damit den Kunden ein angemessenes Mittel zur Verfügung gestellt wird, den Händler zu erreichen.

14.      Rn. 54 der Leitlinien sieht vor:

„Jedoch kann der Anbieter nach der [Verordnung Nr. 330/2010] Qualitätsanforderungen an die Verwendung des Internets zum Weiterverkauf seiner Waren stellen, genauso wie er Qualitätsanforderungen an Geschäfte, den Versandhandel oder Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen im Allgemeinen stellen kann. Dies kann insbesondere für den selektiven Vertrieb von Bedeutung sein. Nach der [Gruppenfreistellung] kann der Anbieter zum Beispiel von seinen Händlern verlangen, dass sie über einen oder mehrere physische Verkaufspunkte oder Ausstellungsräume verfügen, wenn sie Mitglied des Vertriebssystems werden wollen … Ebenso darf ein Anbieter verlangen, dass seine Händler für den Online-Vertrieb der Vertragsprodukte nur im Einklang mit den Normen und Voraussetzungen, die zwischen dem Anbieter und seinen Händlern für deren Nutzung des Internets vereinbart wurden, Plattformen Dritter nutzen. Befindet sich die Website des Händlers zum Beispiel auf der Plattform eines Dritten, könnte der Anbieter verlangen, dass Kunden die Website des Händlers nicht über eine Website aufrufen, die den Namen oder das Logo dieser Plattform tragen.“

15.      In Rn. 56 der Leitlinien ist erläutert, dass die unter Art. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 330/2010 beschriebene Kernbeschränkung die Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an gewerbliche oder sonstige Endverbraucher durch Mitglieder eines selektiven Vertriebsnetzes ausschließt; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, einem Mitglied des Netzes den Verkauf von einer nicht zugelassenen Niederlassung aus zu untersagen. Nach Satz 3 dieser Randnummer steht es den Händlern innerhalb eines selektiven Vertriebssystems frei, sowohl aktiv als auch passiv und auch mit Hilfe des Internets an alle Endverbraucher zu verkaufen. Die Kommission sieht daher jede Verpflichtung als Kernbeschränkung an, die die Vertragshändler davon abhält, das Internet zu benutzen, um mehr und andere Kunden zu erreichen, indem ihnen Kriterien für Online-Verkäufe auferlegt werden, die insgesamt den Kriterien für Verkäufe im physischen Verkaufspunkt nicht gleichwertig sind.

16.      In Rn. 176 der Leitlinien wird schließlich ausgeführt, dass sowohl Vereinbarungen über qualitativen Selektivvertrieb als auch Vereinbarungen über quantitativen Selektivvertrieb nach der Verordnung Nr. 330/2010 freigestellt sind und dass diese Freistellung „unabhängig von der Art des Produkts und der Art der Auswahlkriterien“ gilt. Erfordert das betreffende Produkt aufgrund seiner Beschaffenheit aber keinen selektiven Vertrieb oder nicht die Anwendung der gewählten Auswahlkriterien (wie z. B. der Bedingung, dass der Händler über einen oder mehrere physische Verkaufspunkte verfügen oder bestimmte Dienstleistungen erbringen muss), so hat ein solches Vertriebssystem in der Regel keine effizienzsteigernde Wirkung, die ausreichen würde, um einen erheblichen Verlust an markeninternem Wettbewerb aufzuwiegen. Treten spürbare wettbewerbswidrige Auswirkungen auf, wird der Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung wahrscheinlich entzogen.

 Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

17.      Coty Germany ist einer der führenden Anbieter von Luxuskosmetik in Deutschland. Sie vertreibt bestimmte Marken dieses Sektors im selektiven Vertrieb auf der Grundlage eines Depotvertrags, den sie bzw. mit ihr verbundene Gesellschaften in Europa einheitlich verwenden. Dieser Vertrag wird um verschiedene Spezialverträge ergänzt, die dazu bestimmt sind, diesen Vertrieb zu organisieren.

18.      Parfümerie Akzente vertreibt seit vielen Jahren als autorisierter Einzelhändler die Produkte von Coty Germany sowohl in physischen Verkaufsstätten als auch im Internet. Der Internetverkauf erfolgt zum Teil über ihren eigenen Internet-Shop und zum Teil über die Plattform „amazon.de“.

19.      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Coty Germany ihr selektives Vertriebssystem in der Präambel des Depotvertrags wie folgt begründet: „Der Charakter der Coty Prestige-Marken verlangt nach einem selektiven Vertrieb zur Unterstützung des Luxus-Images dieser Marken“.

20.      Hinsichtlich der physischen Absatzstätten sieht der Depotvertrag vor, dass jede konkrete Absatzstätte des Händlers von Coty Germany autorisiert werden muss, wobei jede Absatzstätte bestimmten, in Art. 2 des Vertrags näher aufgeführten Anforderungen hinsichtlich Umgebung, Ausstattung und Einrichtung genügen muss.

21.      Insbesondere sieht Art. 2.1.3 des Depotvertrags vor: „Die Ausstattung und Einrichtung der Absatzstätte, das Warenangebot, die Werbung und die Verkaufspräsentation müssen den Luxus-Charakter der Coty Prestige-Marken herausstellen und unterstützen. Bei der Beurteilung dieses Kriteriums werden insbesondere die Fassade sowie die Innenausstattung, die Bodenbeläge, Art der Mauern, Decken, das Mobiliar sowie die Verkaufsfläche, ferner die Beleuchtung sowie ein sauberer und ordentlicher Gesamteindruck berücksichtigt“.

22.      Art. 2.1.6 des Depotvertrags bestimmt: „Die Kennzeichnung der Absatzstätte, sei es durch den Namen des Unternehmens, sei es durch Zusätze oder Firmenslogans, darf nicht den Eindruck einer eingeschränkten Warenauswahl, minderwertigen Ausstattung oder mangelhaften Beratung erwecken und muss im Übrigen so angebracht sein, dass Dekorationen und Schauflächen des Depositärs nicht verdeckt sind“.

23.      Außerdem ist Teil des zwischen den Parteien abgeschlossenen Vertragswerks eine Zusatzvereinbarung über den Internetvertrieb, deren Ziff. 1. Abs. 3 vorsieht: „Die Führung eines anderen Namens oder die Einschaltung eines Drittunternehmens, für welches die Autorisierung nicht erteilt wurde, ist dem Depositär nicht gestattet“.

24.      Im März 2012 überarbeitete Coty Germany die Verträge ihres selektiven Vertriebsnetzes sowie diese Zusatzvereinbarung und sah in Klausel I.1.1 dieser Zusatzvereinbarung vor, dass „der Depositär dazu berechtigt [ist], die Produkte im Internet anzubieten und zu verkaufen. Dies gilt jedoch nur unter der Bedingung dass der Depositär sein Internet-Geschäft als ‚elektronisches Schaufester‘ des autorisierten Ladengeschäfts führt und dass hierbei der Luxuscharakter der Produkte gewahrt bleibt“. Ferner verbietet Klausel I.1.3 der Zusatzvereinbarung ausdrücklich den Gebrauch einer anderen Geschäftsbezeichnung sowie die erkennbare Einschaltung eines Drittunternehmens, das nicht ein autorisierter Depositär von Coty Prestige ist. In einer Fußnote zu dieser Klausel heißt es: „Entsprechend ist es dem Depositär untersagt, mit Dritten eine Kooperation einzugehen, soweit diese Kooperation sich auf den Betrieb der Website richtet und soweit diese Kooperation nach außen sichtbar wird“.

25.      Da Parfümerie Akzente diesen Änderungen des Depotvertrags nicht zustimmte, erhob Coty Germany Klage bei einem erstinstanzlichen nationalen Gericht und beantragte unter Berufung auf die genannte Klausel I.1.3, Parfümerie Akzente zu untersagen, die Produkte der streitigen Marke über die Plattform „amazon.de“ zu vertreiben.

26.      Mit Urteil vom 31. Juli 2014 wies das zuständige erstinstanzliche nationale Gericht, das Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland), die Klage mit der Begründung ab, die fragliche Vertragsklausel verstoße gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen.

27.      Es führte u. a. aus, dass gemäß dem Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), das Ziel der Aufrechterhaltung eines prestigeträchtigen Markenimages die Einführung eines selektiven Vertriebssystems, das grundsätzlich wettbewerbsbeschränkend sei, nicht rechtfertigen könne. Die streitige Vertragsklausel stelle auch eine unzulässige Kernbeschränkung gemäß Art. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 330/2010 dar und könne daher nicht in den Genuss einer Gruppenfreistellung auf der Grundlage dieser Verordnung kommen.

28.      Außerdem liegen nach Ansicht des erstinstanzlichen nationalen Gerichts auch die Voraussetzungen einer Einzelfreistellung nicht vor, weil nicht dargetan sei, dass der pauschale Ausschluss des Internetvertriebs über Drittplattformen mit Effizienzvorteilen verbunden sei, die die sich aus der streitigen Klausel ergebenden Nachteile für den Wettbewerb überwögen. Das nach dieser Klausel vorgesehene pauschale Verbot sei nicht unerlässlich, weil es ebenso geeignete, aber weniger wettbewerbsbeschränkende Mittel gebe, wie z. B. die Anwendung spezifischer Qualitätskriterien für Drittplattformen.

29.      Vor diesem Hintergrund hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main im Rahmen der von Coty Germany gegen die Entscheidung des erstinstanzlichen nationalen Gerichts eingelegten Berufung beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Können selektive Vertriebssysteme, die auf den Vertrieb von Luxus- und Prestigewaren gerichtet sind und primär der Sicherstellung eines „Luxusimages“ der Waren dienen, einen mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbaren Bestandteil des Wettbewerbs darstellen?

2.      Falls die Frage zu 1 bejaht wird:

Kann es einen mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbaren Bestandteil des Wettbewerbs darstellen, wenn den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems pauschal verboten wird, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, ohne dass es darauf ankommt, ob im konkreten Fall die legitimen Qualitätsanforderungen des Herstellers verfehlt werden?

3.      Ist Art. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 330/2010 dahin auszulegen, dass ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, eine bezweckte Beschränkung der Kundengruppe des Einzelhändlers darstellt?

4.      Ist Art. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 330/2010 dahin auszulegen, dass ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, eine bezweckte Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher darstellt?

30.      Coty Germany, Parfümerie Akzente, die deutsche, die französische, die italienische, die luxemburgische, die niederländische und die österreichische Regierung sowie die Kommission haben beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht.

31.      Eine mündliche Verhandlung hat am 30. März 2017 stattgefunden. Daran haben Coty Germany, Parfümerie Akzente, die deutsche, die französische, die italienische, die luxemburgische, die niederländische und die schwedische Regierung sowie die Kommission teilgenommen.

 Analyse

 Einleitende Ausführungen und allgemeine Erwägungen zu den Grundsätzen, nach denen sich die Anwendung von Art. 101 AEUV auf selektive Vertriebssysteme richten muss

32.      Allgemein bezwecken die Wettbewerbsregeln – insbesondere Art. 101 AEUV –, Verzerrungen des „Wettbewerbs“ zu verhindern. Der Wettbewerb, der die wirtschaftliche Effizienz und letztlich das Wohl der Verbraucher fördern soll, muss nicht nur die Einführung möglichst niedriger Preise ermöglichen, sondern auch eine treibende Kraft für die Diversität des Produktangebots, die Optimierung der Qualität von Produkten und Dienstleistungen sowie die Stimulierung der Innovation sein. Das europäische Wettbewerbsrecht sieht den Preiswettbewerb nicht als einziges mögliches Modell vor.

33.      Hierzu hat der Gerichtshof bereits sehr früh entschieden, dass der Preiswettbewerb, so wichtig er sein mag – weshalb er niemals ganz beseitigt werden darf –, nicht die einzige wirksame Form des Wettbewerbs ist und auch nicht diejenige Form, die unter allen Umständen absoluten Vorrang erhalten müsste(8). Es gibt somit legitime Bedürfnisse – wie z. B. die Aufrechterhaltung eines Fachhandels, der in der Lage ist, bestimmte Dienstleistungen für hochwertige und technisch hoch entwickelte Erzeugnisse zu erbringen –, die eine Einschränkung des Preiswettbewerbs zugunsten eines Wettbewerbs rechtfertigen, der sich auf andere Faktoren als die Preise bezieht(9).

34.      Ausgehend von dieser Prämisse sind selektive Vertriebssysteme zu betrachten.

35.      Diese sind definiert als Vertriebssysteme, in denen sich der Anbieter (oft als „Spitze des Vertriebsnetzes“ bezeichnet) verpflichtet, die Vertragswaren oder ‑dienstleistungen nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind(10).

36.      Seit dem Urteil Consten und Grundig/Kommission(11) ist anerkannt, dass eine vertikale Vereinbarung zwischen Unternehmen, die sich nicht auf gleicher Ebene gegenüberstehen, den Wettbewerb zwischen ihnen oder zwischen einem von ihnen und Dritten beeinträchtigen kann. Es kann also nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass Klauseln in selektiven Vertriebsverträgen Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die u. a. unter das Verbot wettbewerbswidriger Absprachen fallen können. Hinsichtlich der Anwendbarkeit des Kartellrechts auf die Festlegung der im Rahmen von Vertriebsnetzen aufgestellten Auswahlkriterien steht fest, dass diese Auswahl, da sie sich aus Klauseln von Verträgen zwischen dem Anbieter und seinen zugelassenen Händlern ergibt, unter das Kartellverbot fallen kann(12).

37.      Doch hat der Gerichtshof selektive Vertriebssysteme, die auf qualitativen Kriterien beruhen, stets mit Zurückhaltung geprüft(13). So hat er die Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme, die auf qualitativen Kriterien beruhen, seit seinem bekannten Urteil in der Rechtssache Metro SB-Großmärkte/Kommission(14) klar anerkannt.

38.      In diesem Zusammenhang hat er darauf hingewiesen, dass das Erfordernis eines unverfälschten Wettbewerbs es zulässt, dass Art und Intensität des Wettbewerbs je nach den in Betracht kommenden Waren oder Dienstleistungen und der wirtschaftlichen Struktur des betroffenen Marktsektors verschieden sein können. Insbesondere steht die Marktstruktur unterschiedlichen, den Eigenheiten der verschiedenen Hersteller und den Bedürfnissen der verschiedenen Verbrauchergruppen angepassten Vertriebswegen nicht entgegen. Durch seine Erwägungen hat der Gerichtshof implizit, aber notwendigerweise anerkannt, dass eine Verringerung des markeninternen Wettbewerbs („intra-brand competition“) zugelassen werden kann, wenn sie unerlässlich ist, um den Wettbewerb zwischen den Marken („inter-brand competition“) zu stimulieren.

39.      Er hat daher wiederholt entschieden, dass diese Systeme für mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar erklärt werden können, sofern die Auswahl der Wiederverkäufer aufgrund objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die einheitlich festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden.

40.      Außerdem hat sich, in Fortsetzung bestimmter Tendenzen in der Lehre(15), in die ihrerseits Analysen der Ökonomen eingegangen waren(16), insbesondere bei der Erarbeitung einer neuen Generation von Gruppenfreistellungsverordnungen nach und nach durchgesetzt, dass derartige Systeme in der Regel positive Effekte aus Sicht des Wettbewerbs bringen.

41.      Diese Entwicklung, die nicht nur das Wettbewerbsrecht der Union kennzeichnet(17), beruht u. a. auf folgenden Feststellungen.

42.      Erstens fördern und schützen selektive Vertriebssysteme die Entwicklung des Markenimages („brand image“), da sie die Händler bestimmter Produkte nach qualitativen Kriterien, die sich nach den Anforderungen dieser Produkte richten, autorisieren. Sie stellen einen Faktor der Stimulierung des Wettbewerbs zwischen den Anbietern von Markenprodukten, d. h. des Wettbewerbs zwischen Marken dar, da sie den Herstellern erlauben, den Vertrieb ihrer Produkte effizient zu organisieren und die Verbraucher zufriedenzustellen.

43.      Selektive Vertriebssysteme fördern insbesondere bei Produkten mit besonderen Eigenschaften die Marktdurchdringung. Marken, insbesondere Luxusmarken, beziehen ihren Mehrwert nämlich aus einer beständigen Wahrnehmung ihrer hohen Qualität und Exklusivität durch die Verbraucher in ihrer Darbietung und ihrer Vermarktung. Diese Beständigkeit kann jedoch nicht gewährleistet werden, wenn nicht ein und dasselbe Unternehmen den Vertrieb der Produkte sicherstellt. Selektive Vertriebssysteme finden ihre Berechtigung darin, dass sie es erlauben, den Vertrieb bestimmter Produkte auch auf von ihrem Herstellungsort weit entfernt gelegene Gebiete auszudehnen und dabei diese Beständigkeit durch eine Auswahl von zum Vertrieb der Vertragswaren zugelassenen Unternehmen zu wahren.

44.      Zweitens kann der selektive Vertrieb aus Sicht des markeninternen Wettbewerbs aufgrund der gleichberechtigten Stellung der autorisierten Händler, die sich aus der grundsätzlich objektiven und diskriminierungsfreien Anwendung qualitativer Auswahlkriterien ergibt, zwar bewirken, dass sämtliche Mitgliedsunternehmen ähnlichen Wettbewerbsbedingungen des selektiven Vertriebsnetzes unterworfen werden, und damit zu einem potenziellen Rückgang der Zahl der Händler der Vertragswaren und des markeninternen Wettbewerbs insbesondere hinsichtlich der Preise führen. Doch je strenger die vom Anbieter vorgegebenen Auswahlkriterien sind, desto mehr setzt sich dieser paradoxerweise aufgrund des sich daraus ergebenden Rückgangs des Vertriebs der Produkte einem Verlust von Marktanteilen und Kunden aus. Daher ist der Anbieter, sofern er nicht über eine bedeutende „Marktmacht“ verfügt, grundsätzlich veranlasst, sein Verhalten in mit den Wettbewerbsregeln vereinbarer Weise zu „autoregulieren“.

45.      Folglich kann davon ausgegangen werden, dass selektive Vertriebssysteme in der Regel neutrale oder sogar günstige Auswirkungen auf den Wettbewerb haben.

46.      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarkeit selektiver Vertriebssysteme mit Art. 101 Abs. 1 AEUV letztlich auf dem Gedanken beruht, dass es legitim sein kann, sich nicht auf den „Preiswettbewerb“ zu fokussieren, sondern einem Wettbewerb den Vorzug zu geben, der auf andere, qualitative Elemente abstellt. Die Anerkennung dieser Vereinbarkeit kann somit nicht auf Waren beschränkt werden, die besondere materielle Eigenschaften aufweisen. Entscheidend für die Feststellung, ob eine Wettbewerbsbeschränkung besteht, sind nicht so sehr die spezifischen Eigenschaften der betreffenden Waren, sondern die Erforderlichkeit, um das reibungslose Funktionieren des Vertriebssystems aufrechtzuerhalten, das gerade dazu bestimmt ist, das Marken- oder Qualitätsimage der Vertragswaren zu bewahren.

47.      Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich zwar einige vertragliche Verpflichtungen, die den Einzelhändlern im Rahmen selektiver Vertriebssysteme auferlegt werden, nach einer oberflächlichen und formalistischen Prüfung ohne Weiteres potenziellen Wettbewerbsbeschränkungen gleichstellen ließen, da sie die unternehmerische Freiheit der betreffenden Händler beschränken, doch hat sich sowohl in der seit dem Urteil Metro SB-Großmärkte/Kommission(18) entwickelten Rechtsprechung als auch in den Vorschriften zur Gruppenfreistellung sehr schnell die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein auf qualitativen Kriterien beruhendes selektives Vertriebssystem unter bestimmten Bedingungen wettbewerbsfördernde Wirkungen erzeugen kann und somit gegebenenfalls nicht unter das in Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgesehene Kartellverbot fällt.

48.      In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Art. 101 AEUV nicht darauf abzielt, freiwillig eingegangene vertragliche Verpflichtungen, wie sie sich aus einem Vertrag zwischen einem Händler und seinem Lieferanten ergeben, zu beschränken oder zu verbieten, sondern im Wesentlichen an die wirtschaftlichen Auswirkungen der betrachteten Verhaltensweisen aus Sicht des Wettbewerbs anknüpft. Auch die Tatsache, dass eine selektive Vertriebsvereinbarung möglicherweise ein vertragliches Ungleichgewicht zwischen den Parteien, insbesondere zum Nachteil des autorisierten Händlers, mit sich bringt, ist kein Umstand, der im Rahmen der Prüfung der wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen dieser Vereinbarung relevant ist(19).

49.      Wie sieht nun der genaue Prüfungsrahmen für Maßnahmen, die im Rahmen selektiver Vertriebssysteme getroffen werden, im Hinblick auf das Kartellrecht aus?

50.      Die Prüfung der im Rahmen des selektiven Vertriebs festgelegten und vorgeschriebenen Verhaltensweisen von Unternehmen anhand von Art. 101 AEUV muss schematisch in zwei Schritten erfolgen. Zuerst ist – wie das vorlegende Gericht mit der ersten und der zweiten Vorlagefrage anregt – zu prüfen, ob diese Verhaltensweisen grundsätzlich geeignet sind, unter das in Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgesehene Kartellverbot zu fallen. Wird dies bejaht, also entschieden, dass die streitigen Beschränkungen von dieser Bestimmung erfasst werden, ist anschließend zu bestimmen, ob die streitigen Verhaltensweisen in den Genuss einer Ausnahme nach Art. 101 Abs. 3 AEUV kommen können – was schließlich Gegenstand der dritten und der vierten Frage ist.

51.      Was erstens die Frage betrifft, ob die Bedingungen, die Händlern von der Spitze des Vertriebsnetzes auferlegt werden, von vorneherein vom Kartellverbot ausgenommen werden können, hat der Gerichtshof anerkannt, dass bei qualitativ hochwertigen Verbrauchsgütern unterschiedliche, den Eigenheiten der verschiedenen Hersteller und den Bedürfnissen der Verbraucher angepasste Vertriebswege mit Art. 101 Abs. 1 AEUV im Einklang stehen können(20).

52.      Wie der Gerichtshof zudem in seiner neueren Rechtsprechung ausgeführt hat, fällt die Organisation eines selektiven Vertriebssystems nicht unter das Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV, sofern die Auswahl der Wiederverkäufer anhand objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden, sofern die Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs ein solches Vertriebsnetz erfordern und sofern die festgelegten Kriterien schließlich nicht über das erforderliche Maß hinausgehen(21).

53.      Zweitens ist für den Fall, dass der Richter zu dem Schluss gelangt, dass die beanstandete Maßnahme, die im Rahmen eines selektiven Vertriebsnetzes erfolgt, nicht von vorneherein von der Anwendung von Art. 101 AEUV ausgenommen sein kann, zu bestimmen, ob diese Maßnahme zu denen gehört, die insbesondere nach der anwendbaren Gruppenfreistellungsverordnung, hier der Verordnung Nr. 330/2010, in den Genuss einer Freistellung kommen können.

54.      Hierzu sei darauf hingewiesen, dass diese Freistellungsverordnung nicht bezweckt, eine Reihe von Verhaltensweisen, die unter das Verbot von Art. 101 AEUV fallen können, oder die Verhaltensweisen, die der Anwendung dieser Vorschrift von vorneherein entzogen sind, aufzulisten. Wie im vierten Erwägungsgrund dieser Verordnung hervorgehoben ist, „[sind] [b]ei der Prüfung einzelner Vereinbarungen nach Artikel 101 Absatz 1 AEUV … mehrere Faktoren, insbesondere die Marktstruktur auf der Angebots- und Nachfrageseite, zu berücksichtigen“.

55.      Die genannte Verordnung nennt jedoch, um den betroffenen Unternehmen eine gewisse Rechtssicherheit zu bieten (vgl. in diesem Sinne fünfter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 330/2010), Maßnahmen, die nicht von vorneherein in den Genuss einer Freistellung nach dieser Verordnung kommen können, was nicht ausschließt, dass diese Maßnahmen in den Genuss einer Einzelfreistellung kommen können. Vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter Schwellen bezüglich des Marktanteils des Anbieters wie auch seiner Händler handelt es sich um Maßnahmen, die „Kernbeschränkungen“ im Sinne von Art. 4 dieser Verordnung beinhalten.

56.      Auch wenn diese beiden Prüfungsschritte unabhängig voneinander sind, können sie einige begriffliche Überschneidungen aufweisen. Sowohl unter dem Blickwinkel von Art. 101 Abs. 1 als auch von Art. 101 Abs. 3 AEUV beruht die Bewertung der streitigen Maßnahme nämlich auf einer Prüfung des vermuteten oder erwiesenen Grads der Schädlichkeit dieser Maßnahme. So kann eine Beschränkung der passiven Verkäufe der Händler nicht nur als „bezweckte“ Beschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV angesehen werden, sondern auch als Kernbeschränkung, die nicht in den Genuss einer Gruppenfreistellung kommen kann. Dessen ungeachtet ist die Einstufung einer „bezweckten“ Beschränkung im Hinblick auf die Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV vom Bestehen einer „Kernbeschränkung“ im Hinblick auf die Anwendbarkeit einer etwaigen Freistellung nach der Verordnung Nr. 330/2010 zu unterscheiden. Ich werde im Folgenden darauf zurückkommen.

57.      Wichtig ist meines Erachtens schließlich, dass die von der Kommission insbesondere zu den vertikalen Beschränkungen aufgestellten Leitlinien, die hier unbestreitbar von großem Interesse sind, für sich genommen nicht die Richtung der Prüfung vorgeben können. Sie sind nämlich für die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht verbindlich, sondern weisen lediglich darauf hin, wie die Kommission selbst als Wettbewerbsbehörde der Union Art. 101 AEUV anwenden wird(22). Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Gerichtshof im Rahmen seiner Aufgabe der Auslegung des Unionsrechts die in diesen Leitlinien enthaltenen Orientierungspunkte und rechtlichen Einschätzungen zu eigen macht.

58.      Nach diesen allgemeinen Ausführungen werde ich auf die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen einzeln eingehen.

 Zur ersten Frage: Vereinbarkeit selektiver Vertriebssysteme von Luxus- und Prestigewaren, die primär der Sicherstellung eines „Luxusimages“ dieser Waren dienen

59.      Mit der ersten Frage, die die unterschiedlichen Auslegungen des Urteils vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), unmittelbar aufgreift, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob selektive Vertriebsnetze für Luxus- und Prestigewaren, die primär der Sicherstellung eines „Luxusimages“ dieser Waren dienen, unter das in Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgesehene Verbot fallen.

60.      Im Wesentlichen stehen sich zwei Auffassungen gegenüber.

61.      Einerseits sind Parfümerie Akzente und die luxemburgische Regierung der Ansicht, dass Verträge, durch die ein selektives Vertriebssystem für den Verkauf von Luxus- und Prestigewaren eingerichtet werde, das primär der Sicherstellung eines Luxusimages dieser Waren diene, nicht vom Anwendungsbereich des Verbots nach Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sein könnten. Diese Schlussfolgerung finde eine fundierte Stütze in der Feststellung in Rn. 46 des Urteils Pierre Fabre Dermo-Cosmétique. Ebenfalls in diesem Sinne schlägt die deutsche Regierung vor, zu antworten, dass auf Vorgaben selektiver Vertriebssysteme, die der Wahrung eines Luxus- oder Prestigeimages dienten, Art. 101 Abs. 1 AEUV Anwendung finde, ohne dass es darauf ankomme, ob die Eigenschaften des betroffenen Produkts die Einführung eines selektiven Vertriebssystems erforderten, ob die Vorgaben des Systems diskriminierungsfrei angewandt würden und ob die Vorgaben im Hinblick auf die Wahrung des Luxus- oder Prestigeimages angemessen seien.

62.      Andererseits vertreten Coty Germany, die französische, die italienische, die niederländische, die österreichische und die schwedische Regierung sowie die Kommission im Wesentlichen die Auffassung, dass Verträge, durch die ein selektives Vertriebssystem für den Verkauf von Luxus- und Prestigewaren eingerichtet werde, das primär der Sicherstellung eines Luxusimages dieser Waren diene, vom Anwendungsbereich des Verbots nach Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sein könnten. Nach der Rechtsprechung sei davon auszugehen, dass hochwertige Produkte, bei denen die Verbraucher das Luxusimage schätzten, die Einrichtung eines selektiven Vertriebssystems erfordern könnten, insbesondere um „eine anspruchsvolle Präsentation sicherzustellen“ und ihr „Luxusimage“ zu wahren. Das Urteil Pierre Fabre Dermo-Cosmétique, das nicht das selektive Vertriebssystem als solches, sondern ausschließlich die in dieser Rechtssache geprüfte Vertragsklausel betroffen habe, sei nicht dahin auszulegen, dass der Schutz eines Luxusimages künftig nicht mehr zur Rechtfertigung eines selektiven Vertriebssystems geeignet sei.

63.      Meines Erachtens kann man sich, ohne die für die Bewertung selektiver Vertriebssysteme am Maßstab der Wettbewerbsregeln geltenden Grundsätze grundlegend zu ändern, nur der zweiten Auffassung anschließen und folglich die erste Vorlagefrage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist, bejahen.

64.      An meine obigen Ausführungen anknüpfend müssen selektive Vertriebssysteme wegen der günstigen – oder zumindest neutralen – Wirkungen, die sie aus Sicht des Wettbewerbs erzeugen, als mit dem in Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Kartellverbot vereinbar angesehen werden können.

65.      Nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs(23) und des Gerichts(24), deren Erkenntnisse in Rn. 175 der Leitlinien weitgehend übernommen wurden, werden rein qualitative selektive Vertriebssysteme nicht von dem Verbot nach Art. 101 AEUV erfasst, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind (im Folgenden: Metro-Kriterien).

66.      Erstens muss nachgewiesen sein, dass die Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses ein selektives Vertriebssystem in dem Sinne bedingen, dass ein solches System unter Berücksichtigung der besonderen Natur der betreffenden Erzeugnisse, insbesondere wegen ihrer hohen Qualität oder technischen Entwicklung, ein rechtmäßiges Erfordernis darstellt, um ihre Qualität zu wahren und ihren richtigen Gebrauch zu gewährleisten. Zweitens muss die Auswahl der Wiederverkäufer aufgrund objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgen, die einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden. Drittens dürfen die festgelegten Kriterien nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist.

67.      Zwar ist die Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, in objektiver Weise vom nationalen Richter zu bewerten, doch hat der Gerichtshof einige Parameter herausgearbeitet, die bei der Beurteilung der Vereinbarkeit selektiver Vertriebssysteme mit Art. 101 Abs. 1 AEUV berücksichtigt werden können.

68.      Zum Kriterium der Erforderlichkeit eines selektiven Vertriebssystems insbesondere für Luxuswaren, um das es im vorliegenden Fall hauptsächlich geht, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass selektive Vertriebssysteme, die auf qualitativen Kriterien beruhen, im Sektor der Herstellung hochwertiger Verbrauchsgüter zugelassen werden können, ohne dass damit gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen würde, um insbesondere einen Fachhandel aufrechtzuerhalten, der in der Lage ist, bestimmte Dienstleistungen für derartige Erzeugnisse zu erbringen(25).

69.      Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die Wahrung der „Qualität“ der Ware auch unabhängig von der Einstufung der Waren als „Luxuswaren“ ein selektives Vertriebssystem erfordern kann(26).

70.      Die besonderen Merkmale oder Eigenschaften der betreffenden Waren können somit ein selektives Vertriebssystem mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar machen. Wie ich oben ausgeführt habe, können diese Eigenschaften nicht nur in materiellen Eigenschaften der betreffenden Waren (z. B. technologisch hochwertige Waren), sondern auch in ihrem „Luxusimage“ bestehen(27).

71.      Wie von einigen der Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, geltend gemacht, lässt sich diese Schlussfolgerung mit den Erwägungen in der Rechtsprechung, die zum Markenrecht entwickelt wurde, das wegen seiner spezifischen Wettbewerbsfunktion unbestreitbar mit dem Kartellverbot in Wechselwirkung steht, vergleichen. Soweit die Marke die Gewähr bietet, dass alle Waren oder Dienstleistungen, die sie kennzeichnet, unter der Kontrolle eines einzigen Unternehmens hergestellt oder erbracht worden sind, dem sich die Verantwortung für ihre Qualität zuordnen lässt, erfüllt sie nämlich eine wesentliche Aufgabe im System eines unverfälschten Wettbewerbs, das der AEU-Vertrag errichten und erhalten will(28). In einem solchen System müssen die Unternehmen in der Lage sein, die Kundschaft durch die Qualität ihrer Erzeugnisse oder ihrer Dienstleistungen an sich zu binden, was nur möglich ist, wenn es Kennzeichen gibt, mit deren Hilfe sich diese Erzeugnisse und Dienstleistungen identifizieren lassen. Damit die Marke diese Aufgabe erfüllen kann, muss sie die Gewähr bieten, dass alle Erzeugnisse, die mit ihr versehen sind, unter der Kontrolle eines einzigen Unternehmens hergestellt worden sind, das für ihre Qualität verantwortlich gemacht werden kann(29).

72.      Im Kontext des Markenrechts hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich Luxus- und Prestigewaren nicht allein nach ihren materiellen Eigenschaften bestimmen, sondern auch aufgrund der besonderen Vorstellung, die die Verbraucher mit ihnen verbinden, namentlich ihrer „Aura von Luxus“, die ihnen in den Augen der Verbraucher zukommt. Da Prestigewaren hochwertige Artikel sind, ist die luxuriöse Ausstrahlung, die von ihnen ausgeht, ein wesentliches Element dafür, dass die Verbraucher sie von anderen ähnlichen Produkten unterscheiden können. Daher ist eine Schädigung dieser luxuriösen Ausstrahlung geeignet, die Qualität der Waren selbst zu beeinträchtigen. Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Besonderheiten und Modalitäten eines selektiven Vertriebssystems an sich geeignet sind, die Qualität derartiger Produkte zu wahren und ihren richtigen Gebrauch zu gewährleisten(30).

73.      Der Gerichtshof ist zu dem Schluss gelangt, dass die Errichtung eines selektiven Vertriebssystems, das „insbesondere hinsichtlich der Bestimmung des Kundenkreises, der Werbung, der Darstellung der Waren und der Geschäftspolitik“ sicherstellen soll, dass die Waren in den Verkaufsstellen in einer ihren Wert angemessen zur Geltung bringenden Weise dargeboten werden, geeignet ist, zum Ansehen der fraglichen Waren und somit zur Wahrung ihrer luxuriösen Ausstrahlung beizutragen(31).

74.      Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass Luxuswaren in Anbetracht ihrer Eigenschaften und ihres Wesens die Einrichtung eines selektiven Vertriebssystems erfordern können, um ihre Qualität zu wahren und ihren richtigen Gebrauch zu gewährleisten. Mit anderen Worten fallen selektive Vertriebsnetze, die auf Luxus- und Prestigewaren gerichtet sind und primär der Sicherstellung des Markenimages der Waren dienen, nicht unter das Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV.

75.      Entgegen der Auslegung, die von einigen Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, vertreten wird, wird diese Schlussfolgerung durch das Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), insbesondere dessen Rn. 46, wonach „[d]as Ziel, den Prestigecharakter zu schützen, … kein legitimes Ziel zur Beschränkung des Wettbewerbs sein [kann] und … es daher nicht rechtfertigen [kann], dass eine Vertragsklausel, mit der ein solches Ziel verfolgt wird, nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt“, nicht in Frage gestellt.

76.      Wie die in der vorliegenden Rechtssache eingereichten Erklärungen, aber auch die Standpunkte zahlreicher in Wettbewerbssachen zuständiger nationaler Gerichte und Behörden zeigen(32), hat diese Feststellung Anlass zu sehr unterschiedlichen Auslegungen gegeben.

77.      Es erscheint daher durchaus geboten, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache – wie von der Mehrheit der Beteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, angeregt – die Tragweite dieses Urteils klarstellt und hierbei sowohl auf den Kontext, in dem es ergangen ist, als auch auf die genaue Begründung dieses Urteil eingeht.

78.      Was erstens den tatsächlichen Rahmen des Urteils vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), betrifft, ging es in dieser Rechtssache um die Verpflichtung, die ein Hersteller von Kosmetika und Körperpflegeprodukten seinen ausgewählten Vertriebshändlern auferlegt hatte, nachzuweisen, dass in ihren jeweiligen Verkaufsstellen mindestens ein diplomierter Pharmazeut ständig physisch anwesend ist. Diese Anforderung schließt nach Auffassung des Gerichtshofs, der sich der Bewertung durch die französische Wettbewerbsbehörde anschloss, den Verkauf der betreffenden Produkte durch zugelassene Händler im Internet de facto absolut aus(33).

79.      Wie aus der Frage, die dem Gerichtshof in jener Rechtssache zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, klar hervorgeht, war Gegenstand des Verfahrens ausschließlich eine Vertragsklausel, die ein allgemeines und absolutes Verbot enthielt, die Vertragswaren im Internet an Endkunden zu verkaufen, das zugelassenen Vertriebshändlern im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems auferlegt wurde. Es ging jedoch nicht um das selektive Vertriebssystem als Ganzes.

80.      Zweitens bezieht sich die ausdrückliche Begründung des Gerichtshofs im Urteil Pierre Fabre Dermo-Cosmétique nur auf die Vertragsklausel, die u. a. den von der Gesellschaft Pierre Fabre ins Auge gefassten Internetverkauf verbietet. Der bloße Umstand, dass die Einfügung dieser Klausel mit der Notwendigkeit begründet wurde, das Prestigeimage der betreffenden Waren zu wahren, wurde vom Gerichtshof nicht als legitimer Grund für die Beschränkung des Wettbewerbs angesehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Gerichtshof Vertriebssysteme, die gerade der Wahrung des Markenimages der betreffenden Waren dienen, von vorneherein dem in Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Kartellverbot unterstellen wollte.

81.      Insbesondere hat der Gerichtshof den Grundsatz nicht in Frage gestellt, dass es der Spitze eines selektiven Vertriebsnetzes grundsätzlich freisteht, dieses Netz zu organisieren, und somit die Bewertung, wonach autorisierten Händlern auferlegte Bedingungen als mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar anzusehen sind, wenn sie die vom Gerichtshof aufgestellten Voraussetzungen erfüllen.

82.      Grundlegender sei darauf hingewiesen, dass die vom Gerichtshof verwendete Formulierung keineswegs nahelegt, dass der Gerichtshof die Tragweite der Grundsätze, die bisher hinsichtlich der anhand von Art. 101 AEUV erfolgenden Bewertung der autorisierten Händlern eines selektiven Vertriebsnetzes auferlegten Bedingungen aufgestellt und herausgearbeitet wurden, in Frage stellen oder schmälern wollte.

83.      Mit anderen Worten darf das Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), nicht als Abkehr von der früheren Rechtsprechung verstanden werden, da die Feststellung in Rn. 46 dieses Urteils im Kontext einer Verhältnismäßigkeitsprüfung der Vertragsklausel, um die es im Ausgangsverfahren konkret ging (vgl. insbesondere Rn. 43 dieses Urteils), zu lesen ist.

84.      Alle diese Erwägungen veranlassen mich zu dem Schluss, dass selektive Vertriebssysteme, die der Wahrung des Luxusimages der Waren dienen, weiterhin mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbare Bestandteile des Wettbewerbs darstellen können. Wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, ist aus diesem Urteil allerdings zu schließen, dass es je nach Eigenschaften der betreffenden Waren oder bei besonders schwerwiegenden Beschränkungen wie etwa dem völligen Verbot des Internetverkaufs, das sich aus der im Urteil Pierre Fabre Dermo-Cosmétique streitigen Klausel ergab, möglich ist, dass der Zweck Wahrung des Luxusimages der betreffenden Waren nicht legitim ist, was zur Folge hätte, dass die Freistellung eines selektiven Vertriebssystems oder einer Klausel, mit der ein solcher Zweck verfolgt wird, nicht gerechtfertigt wäre.

85.      Ein anderes Ergebnis hätte meines Erachtens zwei erhebliche Nachteile.

86.      Zunächst müssten die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs gefestigten Grundsätze zur Bewertung selektiver Vertriebssysteme anhand der Wettbewerbsregeln zurückgenommen werden. Diese Grundsätze tragen jedoch gerade den günstigen Auswirkungen Rechnung, die solche Systeme auf einen wirksamen Wettbewerb haben.

87.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es darum geht, die Eigenschaften der betreffenden Waren – sei es in Gestalt ihrer materiellen Eigenschaften, sei es in Gestalt ihres Luxus- bzw. Prestigeimages – zu wahren. Gleich, ob die fraglichen Waren – wie etwa qualitativ hochwertige oder technologisch hochentwickelte Waren – bestimmte materielle Eigenschaften aufweisen oder mit einem Luxusimage in Verbindung gebracht werden, kann der selektive Vertrieb in Anbetracht seiner wettbewerbsfreundlichen Wirkungen als legitim angesehen werden.

88.      Ferner liefe eine Auslegung des Urteils vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), nach der ein selektives Vertriebssystem, das die Wahrung des Luxusimages der betreffenden Waren bezweckt, künftig nicht mehr von dem Verbot nach Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen werden kann, den auf dem Gebiet des geistigen Eigentums vorgegebenen Orientierungslinien, insbesondere der im Kontext des Markenrechts entwickelten Rechtsprechung, zuwider.

89.      So hat der Gerichtshof im Urteil vom 23. April 2009, Copad (C‑59/08, EU:C:2009:260), den Händler im selektiven Vertriebssystem mit einem Lizenznehmer verglichen und anerkannt, dass sich beide in der Situation des Inverkehrbringens durch Dritte mit Zustimmung des Markeninhabers befinden. Dies hat zur Folge, dass das Kartellverbot in Fällen keine Anwendung finden dürfte, in denen Maßnahmen des Herstellers/Markeninhabers gegenüber dem autorisierten Händler letztlich lediglich die Ausübung des Rechts des ersten Inverkehrbringens darstellen.

90.      Ebenso hat der Gerichtshof im Urteil vom 3. Juni 2010, Coty Prestige Lancaster Group (C‑127/09, EU:C:2010:313), hervorgehoben, dass die Ausschließlichkeit des Markenrechts zur Folge hat, dass jede Benutzung der Marke ohne die Zustimmung des Inhabers gegen das Markenrecht verstößt.

91.      Somit kann ein selektives Vertriebsnetz, wie es nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag vorgesehen ist, das auf den Vertrieb von Luxus- und Prestigewaren gerichtet ist und primär der Wahrung des „Luxusimages“ dient, einen mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbaren Bestandteil des Wettbewerbs darstellen, sofern die Metro-Kriterien erfüllt sind.

92.      Diese Schlussfolgerung gilt sowohl für sogenannte „Luxuswaren“ als auch für sogenannte „Qualitätswaren“. Was zählt, ist die Erforderlichkeit für die Spitze des Vertriebsnetzes, das Prestigeimage zu wahren.

93.      Ich schlage daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass selektive Vertriebssysteme, die auf den Vertrieb von Luxus- und Prestigewaren gerichtet sind und primär der Sicherstellung eines „Luxusimages“ der Waren dienen, einen mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbaren Bestandteil des Wettbewerbs darstellen können, sofern die Auswahl der Wiederverkäufer anhand objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden, sofern die Natur des fraglichen Erzeugnisses einschließlich des Prestigeimages zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs einen selektiven Vertrieb erfordern und sofern die festgelegten Kriterien nicht über das erforderliche Maß hinausgehen.

 Zur zweiten Frage: Vereinbarkeit des Verbots an Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems für Luxuswaren, die als autorisierte Einzelhändler auf dem Markt tätig sind, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, mit Art. 101 Abs. 1 AEUV

94.      Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und inwieweit Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem an Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems für Luxuswaren, die als zugelassene Einzelhändler auf dem Markt tätig sind, gerichteten Verbot, bei Internetverkäufen dieser Waren nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, entgegensteht.

95.      Diese Frage, die eng mit der ersten zusammenhängt, betrifft die Vereinbarkeit der besonderen Klausel des selektiven Vertriebssystems, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, mit Art. 101 Abs. 1 AEUV.

96.      Wie ich oben in Beantwortung der ersten Vorlagefrage ausgeführt habe, bleibt es dabei, dass der selektive Vertrieb, der auf qualitativen Parametern beruht, nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, sofern die Metro-Kriterien erfüllt sind.

97.      Gemäß dem Prüfungsschema, das sich aus der Rechtsprechung Metro SB-Großmärkte/Kommission ergibt, die durch das Urteil Pierre Fabre Dermo-Cosmétique keineswegs in Frage gestellt wurde(34), ist zu prüfen, ob die Auswahl der Wiederverkäufer anhand objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden, ob die Eigenschaften des betreffenden Erzeugnisses oder der betreffenden Erzeugnisse zur Wahrung ihrer Qualität und zur Gewährleistung ihres richtigen Gebrauchs einen selektiven Vertrieb erfordern und schließlich, ob die festgelegten Bedingungen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen.

98.      Da die erste dieser Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht wirklich diskutiert wird, wird sich meine Prüfung darauf konzentrieren, ob das an die autorisierten Händler gerichtete Verbot, nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, in Anbetracht der angestrebten Qualitätsziele legitim und gegebenenfalls verhältnismäßig ist.

99.      Was erstens die Legitimität des streitigen Verbots betrifft, ist das Ziel, das Image von Luxus- und Prestigewaren zu wahren, wie ich in meinem Vorschlag zur Beantwortung der ersten Frage ausgeführt habe, weiterhin ein legitimes Ziel zur Rechtfertigung eines selektiven Vertriebssystems qualitativer Natur, wie es Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist.

100. Es ist also zu bestimmen, ob sich die streitige Klausel, die es autorisierten Händlern verbietet, nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, gerade durch die Notwendigkeit, das Luxusimage der betreffenden Waren zu erhalten, rechtfertigen kann.

101. Hierzu meine ich, dass sich das Verbot, Drittfirmen einzuschalten, durch das Ziel der Wahrung und Kontrolle von Qualitätskriterien rechtfertigen kann, das u. a. die Erbringung bestimmter Dienstleistungen beim Verkauf der Waren und eine besondere Darbietung der verkauften Waren erfordert.

102. In der Tat ist der Spitze eines selektiven Vertriebsnetzes die Möglichkeit einzuräumen, zur Wahrung des Marken- oder Prestigeimages(35) der von ihr vertriebenen Waren ihren – auch autorisierten – Händlern zu verbieten, nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten. Ein solches Verbot kann geeignet sein, die Garantien in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Herkunftskennzeichnung der Waren zu erfüllen, indem die Einzelhändler verpflichtet werden, beim Verkauf der Vertragswaren Dienstleistungen von einem gewissen Niveau zu erbringen. Dieses Verbot erlaubt es auch, den Schutz und die Positionierung der Marken gegenüber den Phänomenen der Fälschung und des Parasitismus, die wettbewerbsbeschränkende Wirkungen erzeugen können, zu erhalten.

103. Wie die Kommission in Rn. 54 der Leitlinien ausgeführt hat, kann der Anbieter Qualitätsanforderungen an die Verwendung des Internets zum Weiterverkauf seiner Waren stellen, genauso wie er Qualitätsanforderungen an Geschäfte, den Versandhandel oder Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen im Allgemeinen stellen kann.

104. Wenn die autorisierten Händler im Rahmen des Vertriebs der Waren Drittplattformen einschalten, haben sie – und vor allem die Spitze des Vertriebsnetzes – aber insbesondere die Präsentierung und das Image dieser Waren nicht mehr in der Hand, u. a. weil diese Plattformen ihre Logos häufig in allen Phasen des Kaufs der Vertragswaren sehr sichtbar anzeigen.

105. Das an die Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems gerichtete absolute Verbot, für ihre Verkäufe über das Internet nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, stellt somit eine Beschränkung dar, die ohne Weiteres derjenigen gleicht, die nach Auffassung des Gerichtshofs gerechtfertigt und notwendig ist, um das Funktionieren eines ausschließlich auf den physischen Handel gestützten selektiven Vertriebssystems zu gewährleisten, und damit nach der Rechtsprechung(36) wettbewerbsrechtlich legitim ist.

106. Folglich kann das an die autorisierten Händler gerichtete Verbot, Online-Plattformen Dritter einzuschalten, vom Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sein, da es geeignet ist, den auf qualitativen Kriterien beruhenden Wettbewerb zu verbessern. Anknüpfend an die bisher zum selektiven Vertrieb angestellten Erwägungen ist dieses Verbot geeignet, das Luxusimage der betreffenden Waren in verschiedener Hinsicht zu wahren. Es gewährleistet nämlich nicht nur, dass diese Waren in einer Umgebung verkauft werden, die den von der Spitze des Vertriebsnetzes gestellten Qualitätsanforderungen entspricht, sondern erlaubt es auch, sich gegen Phänomene des Parasitismus zu wappnen und zu verhindern, dass die vom Anbieter und anderen zugelassenen Händlern zur Verbesserung der Qualität und des Ansehens der betreffenden Waren unternommenen Investitionen und Anstrengungen anderen Unternehmen zugutekommen.

107. Dieses Verbot unterscheidet sich deutlich von der Klausel, die in der Rechtssache, in der das Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), ergangen ist, streitig war.

108. Im Urteil Pierre Fabre Dermo-Cosmétique hat der Gerichtshof entschieden, dass die Klausel eines Vertrags, die ein an die autorisierten Händler gerichtetes absolutes Verbot vorsieht, die Vertragswaren online zu verkaufen, eine bezweckte Beschränkung darstellen und damit gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen kann, wenn „eine individuelle und konkrete Prüfung des Inhalts und des Ziels dieser Vertragsklausel sowie des rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhangs, in dem sie steht, ergibt, dass diese Klausel in Anbetracht der Eigenschaften der in Rede stehenden Produkte nicht objektiv gerechtfertigt ist“.

109. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Coty Germany keineswegs ein absolutes Verbot des Online-Verkaufs vorgesehen, sondern ihren autorisierten Händlern lediglich vorgeschrieben hat, die Vertragswaren nicht über Drittplattformen zu vermarkten, da diese nach ihren Angaben nicht verpflichtet sind, die qualitativen Anforderungen zu erfüllen, die sie ihren autorisierten Händlern vorgebe.

110. Die im Ausgangsverfahren streitige Klausel erhält den autorisierten Händlern nämlich die Möglichkeit, die Vertragswaren über ihre eigenen Internetseiten zu vertreiben. Zudem verbietet sie es ihnen nicht, nach außen nicht erkennbar Drittplattformen für den Vertrieb der Vertragswaren zu nutzen.

111. Wie die Kommission, u. a. gestützt auf die Ergebnisse ihrer Sektoruntersuchung, festgestellt hat, stellen in diesem Stadium der Entwicklung des elektronischen Handels die eigenen Online-Verkaufsstellen der Vertriebshändler den bevorzugten Vertriebskanal im Internet dar. Daher ist das an die autorisierten Händler gerichtete Verbot, nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, ungeachtet der zunehmenden Bedeutung dieser Plattformen bei der Vermarktung der Waren der Einzelhändler zum gegenwärtigen Stand der Entwicklung des elektronischen Handels nicht mit einem völligen Verbot oder einer wesentlichen Beschränkung des Verkaufs über das Internet vergleichbar.

112. Zweitens lassen die dem Gerichtshof unterbreiteten Akten meines Erachtens nicht den Schluss zu, dass ein solches Verbot zum jetzigen Zeitpunkt allgemein als in einem Missverhältnis zum angestrebten Ziel stehend anzusehen ist.

113. Während der Anbieter, der an der Spitze des Vertriebsnetzes steht, seinen autorisierten Händlern aufgrund der zwischen ihnen bestehenden vertraglichen Beziehung bestimmte Pflichten auferlegen und damit eine gewisse Kontrolle über die Vertriebskanäle seiner Waren ausüben kann, ist er nicht in der Position, eine Kontrolle über den über Drittplattformen erfolgenden Vertrieb der Waren auszuüben. Deshalb kann sich die streitige Verpflichtung als adäquates Mittel zur Erreichung der von Coty Germany angestrebten Ziele erweisen.

114. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Online-Plattformen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in gleicher Weise wie autorisierte Händler in der Lage sind, eine Darstellung der Waren, die deren Wert zur Geltung bringt, zu gestalten und sicherzustellen. Doch kann die Einhaltung qualitativer Vorgaben, die im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems in legitimer Weise verlangt werden kann, nur wirksam gewährleistet werden, wenn die Umgebung des Internetverkaufs von autorisierten Händlern, die vertraglich an den Anbieter/die Spitze des Vertriebsnetzes gebunden sind, und nicht von einem Drittbetreiber, dessen Praktiken sich dem Einfluss des Anbieters entziehen, gestaltet wird.

 Zwischenergebnis

115. Daher kann die streitige Klausel als mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar angesehen werden, soweit sie in diskriminierungsfreier Weise Anwendung findet und durch die Natur der Vertragswaren objektiv gerechtfertigt ist – was im vorliegenden Fall offenbar überhaupt nicht Gegenstand der Erörterungen ist, aber vom vorlegenden Gericht in jedem Fall zu prüfen ist.

116. Auch wenn unterstellt wird, dass im vorliegenden Fall der Schluss gezogen werden kann, dass die streitige Klausel, u. a. weil die Metro-Kriterien nicht eingehalten wurden, von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst sein kann, bleibt noch zu prüfen, ob sie wettbewerbsbeschränkende Wirkung hat, und insbesondere festzustellen, ob sie eine „bezweckte“ Beschränkung im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

117. Was letzteren Punkt angeht, kann das im vorliegenden Fall streitige Verbot – anders als die Vertragsklausel, die Gegenstand der Rechtssache war, in der das Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), ergangen ist – nach meiner Ansicht keinesfalls als „bezweckte Beschränkung“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV eingestuft werden, zumal dieser Begriff eng auszulegen ist. Es ist nämlich anerkannt, dass der Begriff der „bezweckten“ Wettbewerbsbeschränkung nur auf bestimmte Arten der Koordinierung zwischen Unternehmen angewandt werden kann, die den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Prüfung ihrer Auswirkungen nicht notwendig ist(37).

118. Im Gegensatz zum absoluten Verbot an autorisierte Händler, für den Vertrieb von Vertragswaren das Internet zu nutzen, weist das Verbot, Drittplattformen einzuschalten – zumindest zu diesem Stand der Entwicklung des elektronischen Handels, der über kurz oder lang Änderungen erfahren wird –, keinen solchen Grad der Beeinträchtigung des Wettbewerbs auf.

119. Darüber hinaus ist für den Fall, dass der Schluss gezogen wird, dass die streitige Klausel unter Art. 101 AEUV fällt und außerdem wettbewerbsbeschränkend ist – wie in der dritten und der vierten Vorlagefrage angeregt – noch zu prüfen, ob sie nach Art. 101 Abs. 3 AEUV in den Genuss einer Freistellung, insbesondere einer Gruppenfreistellung gemäß der Verordnung Nr. 330/2010, kommen kann.

120. Da nämlich, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, die in Art. 3 der Verordnung Nr. 330/2010 vorgesehenen Marktanteilsschwellen nicht überschritten sind, könnte die streitige Klausel, wenn der nationale Richter zu dem Schluss gelangt, dass sie nicht mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar ist, in den Genuss einer Freistellung nach Art. 2 dieser Verordnung kommen (vgl. achter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 330/2010). Dies wäre allerdings keinesfalls möglich, wenn das streitige Verbot eine Kernbeschränkung im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 330/2010 darstellte.

121. Sollte der nationale Richter also zu dem Schluss gelangen, dass das Verbot, Drittplattformen einzuschalten, nicht von der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen und grundsätzlich wettbewerbsbeschränkend ist, könnte die streitige Klausel des selektiven Vertriebssystems noch gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV entweder auf der Grundlage der Gruppenfreistellungsverordnung oder nach einer Einzelfallprüfung, die konkret auf die in der Verordnung Nr. 330/2010 vorgesehenen Freistellungsfälle gerichtet ist, gerechtfertigt sein.

 Ergebnis

122. Folglich schlage ich vor, die zweite Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass das vorlegende Gericht zur Feststellung, ob eine Vertragsklausel, mit der autorisierten Händlern eines Vertriebsnetzes verboten wird, für Online-Verkäufe nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar ist, zu prüfen hat, ob diese Vertragsklausel durch die Natur der Ware bedingt ist, ob sie einheitlich festgelegt und unterschiedslos angewandt wird und ob sie nicht über das Erforderliche hinausgeht.

 Zur dritten und zur vierten Frage: Anwendbarkeit der Gruppenfreistellung nach Art. 4 Buchst. b und c der Verordnung Nr. 330/2010

123. Mit der dritten und der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 4 der Verordnung Nr. 330/2010 dahin auszulegen ist, dass ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, eine bezweckte Beschränkung der Kundengruppe des Einzelhändlers im Sinne von Art. 4 Buchst. b dieser Verordnung und/oder eine bezweckte Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher im Sinne von Art. 4 Buchst. c dieser Verordnung darstellt.

124. Auch wenn das vorlegende Gericht in der Formulierung der dritten und der vierten Vorlagefrage auf die Problematik der Feststellung der „bezweckten“ Beschränkungen der Kundengruppe und des passiven Verkaufs verweist, zielen seine Fragen, wie in der Vorlageentscheidung klar ausgeführt, in Wirklichkeit darauf ab, ob auf das fragliche Vertriebssystem, falls es als wettbewerbsbeschränkend im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV angesehen wird, gleichwohl die Freistellung nach der Verordnung Nr. 330/2010 Anwendung finden kann.

125. Somit stellt sich lediglich die Frage, ob die streitige Klausel als Beschränkung des Gebiets und/oder der Kundengruppe oder aber als Beschränkung des passiven Verkaufs im Sinne der Verordnung Nr. 330/2010 eingestuft werden kann.

 Einleitende Erwägungen zum Inhalt und zur ratio legis der Verordnung Nr. 330/2010

126. Nach dem fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 330/2010 ist die durch diese Verordnung bewirkte Gruppenfreistellung vertikalen Vereinbarungen vorzubehalten, „von denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, dass sie die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen“.

127. Zur Feststellung, ob eine Beschränkung in den Genuss einer „Gruppenfreistellung“ kommen kann, sind die Unternehmen zunächst aufgefordert, eine erste Bewertung der streitigen Vereinbarung u. a. anhand bestimmter nach der Verordnung Nr. 330/2010 vorgesehener Vermutungen der Unvereinbarkeit vorzunehmen.

128. Art. 4 der Verordnung Nr. 330/2010 stellt daher eine Liste offenkundiger, als „Kernbeschränkungen“ bezeichneter Beschränkungen auf, bei denen eine Gruppenfreistellung auszuschließen ist.

129. Wie der Gerichtshof entschieden hat, besteht, da einem Unternehmen stets die Möglichkeit bleibt, die Anwendbarkeit der Legalausnahme in Art. 101 Abs. 3 AEUV individuell geltend zu machen, kein Anlass, die Bestimmungen, mit denen die Vereinbarungen oder Verhaltensweisen in die Gruppenfreistellung einbezogen werden, weit auszulegen(38).

130. Im Übrigen ist der Kommission darin zuzustimmen, dass die u. a. in Art. 4 Buchst. b und c der Verordnung Nr. 330/2010 genannten Ausnahmen von der Gruppenfreistellung im Interesse der Vorhersehbarkeit und der Rechtssicherheit leicht feststellbar sein müssen und somit nicht von einer eingehenden Prüfung der Marktbedingungen und der auf einem bestimmten Markt zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachteten wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen abhängig sein dürfen.

131. Es ist nämlich im Auge zu behalten, dass der mit den auf der Grundlage der Verordnung Nr. 19/65/EWG(39) erlassenen Freistellungsverordnungen verfolgte Zweck u. a. darin besteht, den betroffenen Unternehmen zu erlauben, die Vereinbarkeit ihrer Verhaltensweisen mit den Wettbewerbsregeln selbst zu bewerten.

132. Die Verfolgung dieses Zwecks würde erschwert, wenn zur Einstufung von Maßnahmen der Unternehmen als vertikale Vereinbarungen, die im Sinne von Art. 4 Buchst. b und c der Verordnung Nr. 330/2010 die Beschränkung bestimmter Arten von Verkäufen „bezwecken“, verlangt würde, dass die Unternehmen eine umfassende und eingehende Prüfung der wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen dieser Maßnahmen unter Berücksichtigung der Marktsituation und der Position dieser Unternehmen durchführen.

133. Wie ich oben ausgeführt habe, sind die Feststellung einer „bezweckten Wettbewerbsbeschränkung“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV und die Einstufung bestimmter Verhaltensweisen als Kernbeschränkungen – hier der in Art. 4 Buchst. b und c der Verordnung Nr. 330/2010 genannten – zu Zwecken der Anwendung einer Gruppenfreistellungsverordnung klar voneinander zu unterscheiden.

134. Gleichwohl geht es in beiden Fällen darum, Verhaltensweisen festzustellen, von denen in Anbetracht der Bewertung des unmittelbaren wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs, in dem die Maßnahmen der Unternehmen stehen, angenommen wird, dass sie besonders wettbewerbsschädlich sind.

135. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung zwischen „bezweckten“ und „bewirkten“ Zuwiderhandlungen darin begründet ist, dass bestimmte Formen der Kollusion zwischen Unternehmen erfahrungsgemäß schon ihrer Natur nach als schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs angesehen werden können(40). Der Zweck von Art. 4 der Verordnung Nr. 330/2010, der einige Kernbeschränkungen bezeichnet, beruht auf dem im zehnten Erwägungsgrund dieser Verordnung formulierten Gedanken, dass „vertikale Vereinbarungen, die bestimmte Arten schwerwiegender Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, wie die Festsetzung von Mindest- oder Festpreisen für den Weiterverkauf oder bestimmte Arten des Gebietsschutzes, … ohne Rücksicht auf den Marktanteil der beteiligten Unternehmen von dem mit dieser Verordnung gewährten Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung ausgeschlossen werden [sollten]“.

136. Somit ist zur Feststellung, ob eine Vertragsklausel die Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die der Händler verkaufen darf (Art. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 330/2010), oder des aktiven oder passiven Verkaufs des Händlers an Endverbraucher (Art. 4 Buchst. c dieser Verordnung) „bezweckt“, wie bei der Feststellung einer bezweckten Beschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV auf den Inhalt der betreffenden Vertragsbestimmungen und ihre Ziele abzustellen, die in ihrem unmittelbaren wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang zu prüfen sind. Das Ziel der Vereinfachung der von den betroffenen Unternehmen verlangten Selbstbewertung wäre nämlich gefährdet, wenn die Unternehmen, um Kernbeschränkungen im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 330/2010 festzustellen, eine eingehende Prüfung – insbesondere im Wege einer kontrafaktischen Analyse – der Auswirkungen der beabsichtigten Maßnahmen auf die Struktur und die Bedingungen des Funktionierens des oder der betroffenen Märkte durchführen müssten.

137. Wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, sind außerdem sowohl Art. 4 Buchst. b als auch Art. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 330/2010 wie die Bestimmungen der früher anwendbaren Gruppenfreistellungsverordnung im Rahmen des umfassenderen und grundlegenderen Ziels der Bekämpfung der Phänomene der Marktaufteilung zu betrachten.

138. Diese Bestimmungen sind somit dahin zu verstehen, dass bestimmte Vertragsklauseln, die eine Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die der Händler verkaufen darf, bezwecken, von dem Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung ausgeschlossen werden sollen. Meines Erachtens sind sie jedoch nicht dahin auszulegen, dass sie Beschränkungen, die die Verkaufsmodalitäten der Waren festlegen, ausschließen(41). Es ist darauf hinzuweisen, dass die Spitze eines selektiven Vertriebsnetzes über einen weiten Spielraum bei der Festlegung der Modalitäten des Vertriebs dieser Waren verfügen muss, die ebenso Elemente der Stimulation der Innovation wie der Qualität der den Kunden erbrachten Dienstleistungen sind, die wettbewerbsfördernde Wirkungen erzeugen können. Wie in Rn. 54 der Leitlinien ausgeführt, kann der Anbieter nach der Gruppenfreistellungsverordnung Qualitätsanforderungen an die Verwendung des Internets zum Weiterverkauf seiner Waren stellen, genauso wie er Qualitätsanforderungen an Ladengeschäfte stellen kann.

139. Ich werde die dritte und die vierte Vorlagefrage nacheinander im Licht dieser einleitenden Erwägungen prüfen.

 Zur dritten Frage: Vorliegen einer Beschränkung der Kundengruppe des Einzelhändlers

140. Gemäß Art. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 330/2010 gilt die Gruppenfreistellung nach Art. 2 nicht für Vereinbarungen, die „unmittelbar oder mittelbar, für sich allein oder in Verbindung mit anderen Umständen unter der Kontrolle der Vertragsparteien Folgendes bezwecken: … die Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die ein an der Vereinbarung beteiligter Abnehmer, vorbehaltlich einer etwaigen Beschränkung in Bezug auf den Ort seiner Niederlassung, Vertragswaren oder ‑dienstleistungen verkaufen darf“.

141. Wie Rn. 50 der Leitlinien zu entnehmen ist, werden von dieser Bestimmung Maßnahmen der Markt- oder Kundenaufteilung erfasst, die zu einer Fragmentierung der Märkte führen können.

142. Im vorliegenden Fall enthält die Formulierung der streitigen Klausel, die autorisierten Händlern lediglich verbietet, nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Klausel in der Weise einzustufen wäre.

143. Wie das vorlegende Gericht angemerkt hat, dürfte es nicht möglich sein, eine Kundengruppe oder einen bestimmten Markt festzustellen, unter die sich die Benutzer von Drittplattformen fassen ließen.

144. Eine Beschränkung der Kundengruppe oder des Marktes kann aber meines Erachtens nur festgestellt werden, wenn sich erweist, dass der autorisierte Händler wegen des streitigen Verbots einem Markt- oder Kundenverlust ausgesetzt ist, obwohl die Möglichkeit bestehen bleibt, über seine eigene Website Zugang zu seinen Waren zu erhalten.

145. Was zunächst den Inhalt der Klausel anbelangt, so bestimmt diese, dass der Internetverkauf über ein elektronisches Schaufenster des Einzelhändlers oder auf einer Drittseite, sofern dies nicht nach außen erkennbar ist, zu erfolgen hat. Die Klausel schließt also nicht jeglichen Online-Verkauf aus, sondern lediglich eine Modalität unter anderen, die Kunden über das Internet zu erreichen. Der Inhalt der Klausel bewirkt für sich genommen nicht die Aufteilung des Marktes.

146. Im Gegensatz zu der Klausel, die Gegenstand der Rechtssache war, in der das Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), ergangen ist, erlaubt die streitige Klausel die Verwendung des Internets als Vertriebskanal, sofern der Einzelhändler seine Tätigkeit des Online-Verkaufs über ein „elektronisches Schaufenster“ des autorisierten Geschäfts oder nach außen nicht erkennbar über eine Drittseite ausübt und eine Reihe von Bestimmungen zur Wahrung des luxuriösen Charakters der Waren einhält.

147. Wie das vorlegende Gericht angemerkt hat, hat dieses Verbot die autorisierten Händler faktisch nicht daran gehindert, mit Dritten zu Werbezwecken zusammenzuarbeiten. Da das Verbot diese Online-Händler nicht gehindert habe, im Internet indexiert zu werden, hätten ihre potenziellen Kunden über Internet, z. B. durch die Verwendung von Suchmaschinen, stets Zugang zu dem Angebot der autorisierten Händler gehabt.

148. Ferner besteht der erklärte Zweck dieser Klausel darin, den luxuriösen Charakter der Vertragswaren dadurch zu erhalten, dass der Internetverkauf über ein „elektronisches Schaufenster“ des Geschäfts des Einzelhändlers erfolgen muss. Auch insoweit bezweckt das an die autorisierten Händler gerichtete Verbot, nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, grundsätzlich nicht, den Markt durch die Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in dem oder an die die autorisierten Händler verkaufen dürfen, aufzuteilen.

149. Was schließlich den wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Informationen, insbesondere der Sektoruntersuchung zum elektronischen Handel, hervor, dass die Nutzung von Marktplätzen oder Drittplattformen, wenn sie auch von Land zu Land und von Produkt zu Produkt stark variiert, im Unterschied zu Online-Geschäften der autorisierten Händler nicht unbedingt ein wichtiger Vertriebskanal ist. Das an die Einzelhändler gerichtete Verbot, solche Plattformen einzuschalten, ist nicht mit einem völligen Verbot des Online-Verkaufs, um das es in der Rechtssache Pierre Fabre Dermo-Cosmétique ging, gleichzustellen.

150. Außerdem ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, dass die streitige Klausel eine Fragmentierung der Gebiete oder eine Beschränkung des Zugangs auf eine bestimmte Kundengruppe bewirkt. Insoweit ist nach gegenwärtigem „Erfahrungsstand“ nicht belegt, dass die Nutzer der betreffenden Drittplattformen allgemein und unabhängig von den Eigenheiten eines bestimmten Marktes eine abgrenzbare Kundengruppe darstellten, so dass der Schluss gezogen werden könnte, dass die streitige Klausel zu einer Aufteilung der Kunden im Sinne von Art. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 330/2010 führt.

151. Nach alledem schlage ich vor, auf die dritte Frage zu antworten, dass ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, keine Beschränkung der Kundengruppe des Einzelhändlers im Sinne von Art. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 330/2010 darstellt.

 Zur vierten Frage: Vorliegen einer Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher

152. Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 330/2010 dahin auszulegen ist, dass ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, eine Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher darstellt.

153. Anknüpfend an die oben dargelegten Erwägungen ist zur Feststellung, ob die streitige Vertragsklausel dahin beurteilt werden kann, dass sie bezweckt, den passiven Verkauf an Endverbraucher zu beschränken, zu prüfen, ob diese Klausel angesichts ihres Inhalts und Ziels sowie des rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhangs, in dem sie steht, an sich geeignet ist, die Durchführung von passiven Verkäufen, d. h. von Verkäufen auf unaufgeforderte Bestellungen einzelner Kunden hin, zu beeinträchtigen.

154. Meines Erachtens lässt sich aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Akten nicht schließen, dass die fragliche Klausel in dieser Weise zu beurteilen ist.

155. Wie ich oben ausgeführt habe, verbietet die streitige Vertragsklausel im Gegensatz zu der Klausel, die Gegenstand der Rechtssache war, in der das Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649), ergangen ist, nicht jeglichen Online-Verkauf. Sie erlaubt diesen Vertriebskanal nämlich, sofern der Händler die betreffenden Waren über ein elektronisches Schaufenster des autorisierten Unternehmens oder nach außen nicht erkennbar auf einer Drittseite verkauft und einige Bestimmungen einhält, die der Wahrung des Markenimages des Herstellers dienen.

156. Im Licht dieser Erwägungen schlage ich vor, auf die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, keine Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher im Sinne von Art. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 330/2010 darstellt.

 Ergebnis

157. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.      Selektive Vertriebssysteme, die auf den Vertrieb von Luxus- und Prestigewaren gerichtet sind und primär der Sicherstellung eines „Luxusimages“ der Waren dienen, können einen mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbaren Bestandteil des Wettbewerbs darstellen, sofern die Auswahl der Wiederverkäufer anhand objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden, sofern die Natur des fraglichen Erzeugnisses einschließlich des Prestigeimages zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs einen selektiven Vertrieb erfordern und sofern die festgelegten Kriterien nicht über das erforderliche Maß hinausgehen.

2.      Zur Feststellung, ob eine Vertragsklausel, mit der autorisierten Händlern eines Vertriebsnetzes verboten wird, für Online-Verkäufe nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, mit Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar ist, hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob diese Vertragsklausel durch die Natur der Ware bedingt ist, ob sie einheitlich festgelegt und unterschiedslos angewandt wird und ob sie nicht über das Erforderliche hinausgeht.

3.      Ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, stellt keine Beschränkung der Kundengruppe des Einzelhändlers im Sinne von Art. 4 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen dar.

4.      Ein den auf der Einzelhandelsstufe tätigen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegtes Verbot, bei Internetverkäufen nach außen erkennbar Drittunternehmen einzuschalten, stellt keine Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher im Sinne von Art. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 330/2010 dar.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Zu den bekanntesten Unternehmen zählen z. B. Amazon, eBay oder PriceMinister. In ihrem am 10. Mai 2017 veröffentlichten Abschlussbericht über die Sektoruntersuchung zum elektronischen Handel (COM[2017] 229 final) hat die Europäische Kommission allerdings darauf hingewiesen, dass Marktplätze in manchen Ländern wie Deutschland (62 % der befragten Einzelhändler nutzen Marktplätze), dem Vereinigten Königreich (43 %) und Polen (36 %) eine wichtigere Rolle spielten als in anderen Ländern wie Italien und Österreich (13 %) sowie Belgien (4 %). In dem Bericht wird zudem darauf hingewiesen, dass Drittplattformen für kleinere und mittelgroße Einzelhändler einen wichtigeren Verkaufskanal darstellten als für größere Einzelhändler.


3      Zu nennen sind neben den Entscheidungen, die der vorliegenden Vorlage zur Vorabentscheidung zugrunde liegen, z. B. frühere Entscheidungen deutscher Wettbewerbsgerichte und ‑behörden (vgl. u. a. Urteile des Kammergerichts Berlin vom 19. September 2013 in der Rechtssache Scout [U 8/09 Kart.] und des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. Dezember 2015 in der Rechtssache Deuter [U 84/14] sowie Entscheidungen des Bundeskartellamts vom 27. Juni 2014 in der Sache Adidas [B3-137/12] und vom 26. August 2015 in der Sache ASICS [B2-98/11]) sowie französischer Wettbewerbsgerichte und ‑behörden (vgl. u. a. Entscheidung der Autorité de la concurrence [Wettbewerbsbehörde] Nr. 14-D-07 vom 23. Juli 2014 zu Praktiken im Sektor des Vertriebs von Unterhaltungselektronik, insbesondere Fernsehgeräten, und Urteil der Cour d’appel de Paris [Berufungsgerichtshof Paris] vom 2. Februar 2016, Caudalie [Nr. 15/01542]).


4      Nach dem oben genannten Bericht der Kommission sind selektive Vertriebssysteme in der Europäischen Union sehr verbreitet und werden von vielen Herstellern verwendet. Sie beschränken sich nicht auf eine bestimmte Kategorie von Produkten, sondern werden häufig angewandt für den Vertrieb von „Luxus“-Markenprodukten wie Bekleidung und Schuhe sowie Kosmetika. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass viele Händler auf Vereinbarungen mit den Anbietern verweisen, die den Zugang zu Online-Märkten oder Drittplattformen beschränken sollen.


5      Verordnung der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen (ABl. 2010, L 102, S. 1).


6      Urteil vom 13. Oktober 2011 (C‑439/09, EU:C:2011:649).


7      ABl. 2010, C 130, S. 1, im Folgenden: Leitlinien.


8      Vgl. Urteil vom 25. Oktober 1977, Metro SB-Großmärkte/Kommission (26/76, EU:C:1977:167, Rn. 21).


9      Vgl. insbesondere Urteile vom 25. Oktober 1983, AEG-Telefunken/Kommission (107/82, EU:C:1983:293, Rn. 33), und vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649, Rn. 40).


10      Vgl. insbesondere Art. 1 Buchst. e der Verordnung Nr. 330/2010.


11      Urteil vom 13. Juli 1966 (56/64 und 58/64, EU:C:1966:41, S. 493).


12      Vgl. insbesondere Urteil vom 25. Oktober 1983, AEG-Telefunken/Kommission (107/82, EU:C:1983:293). In Rn. 38 dieses Urteils heißt es: „Ein derartiges Verhalten des Herstellers stellt keine einseitige Handlung des Unternehmens dar, die sich … dem Verbot [von Kartellen] entzieht. Es fügt sich … in die vertraglichen Beziehungen ein, die das Unternehmen mit seinen Wiederverkäufern unterhält.“


13      Bereits die Rechtssache, in der das Urteil vom 30. Juni 1966, LTM (56/65, EU:C:1966:38), ergangen ist, lässt diesen relativ offenen Ansatz gegenüber Exklusivvertriebsverträgen erkennen.


14      Vgl. Urteil vom 25. Oktober 1977 (26/76, EU:C:1977:167, Rn. 20).


15      Es ist darauf hingewiesen worden, dass das Gesetzesrecht und das Richterrecht zu vertikalen Vereinbarungen Gegenstand eines regelrechten Aufstands in der Lehre waren (vgl. hierzu Petit, N., Droit européen de la concurrence, Montchrestien,2013).


16      Von den zahlreichen Studien ist u. a. Tirole, J., The Theory of Industrial Organization, The MIT Press, Cambridge, 1988, u. a. S. 186, zu nennen. Der Autor gelangt u. a. zu folgendem Ergebnis: „It seems important for economic theorists to develop a careful classification and operative criteria to determine in which environments certain vertical restraints are likely to lower social welfare.“


17      In seiner Entscheidung Leegin Creative Leather Products, Inc. v. PSKS, Inc. (551 US 877 [2007]) gab nämlich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika die Rechtsprechung „Dr. Miles“auf, nach der bestimmte vertikale Beschränkungen per se verboten waren, und bestätigte ausdrücklich eine „Rule of reason“. In dieser Entscheidung heißt es: „The Court has abandoned the rule of per se illegality for other vertical restraints a manufacturer imposes on its distributors. Respected economic analysts, furthermore, conclude that vertical price restraints can have procompetitive effects. We now hold that Dr. Miles should be overruled and that vertical price restraints are to be judged by the rule of reason“.


18      Urteil vom 25. Oktober 1977 (26/76, EU:C:1977:167).


19      Vgl. in diesem Sinne Waelbroeck, M., und Frignani, A., Le droit de la CE – Concurrence, Éditions de l’Université de Bruxelles, Sammlung „Commentaire J. Mégret“, Brüssel 1997, S. 171.


20      Vgl. insbesondere Urteile vom 25. Oktober 1977, Metro SB-Großmärkte/Kommission (26/76, EU:C:1977:167, Rn. 20), und vom 11. Dezember 1980, L’Oréal (31/80, EU:C:1980:289, Rn. 15 und 16). Vgl. auch Urteil vom 27. Februar 1992, Vichy/Kommission (T‑19/91, EU:T:1992:28, Rn. 32 ff.).


21      Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      Vgl. insbesondere in diesem Sinne Urteile vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission (C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, EU:C:2005:408, Rn. 211), vom 14. Juni 2011, Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 21), und vom 13. Dezember 2012, Expedia (C‑226/11, EU:C:2012:795, Rn. 24 bis 31).


23      Vgl. insbesondere Urteile vom 25. Oktober 1977, Metro SB-Großmärkte/Kommission (26/76, EU:C:1977:167, Rn. 20 und 21), vom 11. Dezember 1980, L’Oréal (31/80, EU:C:1980:289, Rn. 15 und 16), vom 25. Oktober 1983, AEG-Telefunken/Kommission (107/82, EU:C:1983:293, Rn. 35), und vom 22. Oktober 1986, Metro/Kommission (75/84, EU:C:1986:399, Rn. 37 und 40).


24      Vgl. insbesondere Urteile vom 12. Dezember 1996, Leclerc/Kommission (T‑19/92, EU:T:1996:190, Rn. 111 bis 120), und vom 12. Dezember 1996, Leclerc/Kommission (T‑88/92, EU:T:1996:192, Rn. 106 bis 117).


25      Vgl. insbesondere Urteile vom 25. Oktober 1977, Metro SB-Großmärkte/Kommission (26/76, EU:C:1977:167, Rn. 20), und vom 25. Oktober 1983, AEG-Telefunken/Kommission (107/82, EU:C:1983:293, Rn. 33).


26      Vgl. insbesondere Urteil vom 11. Dezember 1980, L’Oréal (31/80, EU:C:1980:289).


27      Vgl. insbesondere Urteil vom 12. Dezember 1996, Leclerc/Kommission (T‑88/92, EU:T:1996:192, Rn. 109).


28      Vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 23. Mai 1978, Hoffmann-La Roche (102/77, EU:C:1978:108, Rn. 7), und vom 23. April 2009, Copad (C‑59/08, EU:C:2009:260, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29      Vgl. insbesondere Urteil vom 17. Oktober 1990, HAG GF (C‑10/89, EU:C:1990:359, Rn. 13).


30      Vgl. insbesondere Urteil vom 23. April 2009, Copad (C‑59/08, EU:C:2009:260, Rn. 24 bis 28).


31      Vgl. Urteil vom 23. April 2009, Copad (C‑59/08, EU:C:2009:260, Rn. 29).


32      Vgl. u. a. die in Fn. 3 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Beispiele.


33      Die französische Wettbewerbsbehörde hatte im Ausgangsverfahren u. a. festgestellt, dass dieses Verbot des Verkaufs über das Internet einer Beschränkung der geschäftlichen Handlungsfähigkeit der Vertriebshändler von Pierre Fabre Dermo-Cosmétique gleichkomme, indem es ein Mittel zur Vermarktung ihrer Produkte ausschließe. Zudem werde durch dieses Verbot für die Verbraucher, die über das Internet kaufen wollten, die Auswahl eingeschränkt, und schließlich würden Verkäufe an Endverbraucher verhindert, die nicht in dem „physischen“ Einzugsgebiet des zugelassenen Vertriebshändlers ansässig seien.


34      Vgl. Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649, Rn. 41 und 43).


35      Im Ausgangsverfahren geht aus Ziff. 1.1 des Depotvertrags zwischen Coty Germany und Parfümerie Akzente hervor, dass mit dem Verbot, nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten, gerade bezweckt wurde, den „luxuriösen Charakter“ der Vertragswaren zu wahren.


36      Vgl. insbesondere Urteile vom 25. Oktober 1977, Metro SB-Großmärkte/Kommission (26/76, EU:C:1977:167), vom 11. Dezember 1980, L’Oréal (31/80, EU:C:1980:289), vom 25. Oktober 1983, AEG-Telefunken/Kommission (107/82, EU:C:1983:293), und vom 23. April 2009, Copad (C‑59/08, EU:C:2009:260).


37      Vgl. insbesondere Urteil vom 11. September 2014, CB/Kommission (C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 58).


38      Urteil vom 13. Oktober 2011, Pierre Fabre Dermo-Cosmétique (C‑439/09, EU:C:2011:649, Rn. 57).


39      Verordnung des Rates vom 2. März 1965 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen (ABl. 1965, 36, S. 533).


40      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2014, CB/Kommission (C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 49 bis 52 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Rn. 57). Der Gerichtshof hat insbesondere klargestellt, dass das wesentliche rechtliche Kriterium bei der Ermittlung, ob eine Koordinierung zwischen Unternehmen eine solche „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung enthält, in der Feststellung liegt, dass eine solche Koordinierung in sich selbst eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen lässt.


41      Entsprechend der im Rahmen der Anwendung der Regeln über den freien Warenverkehr gewählten Herangehensweise ist insbesondere nicht belegt, dass die streitigen Maßnahmen den Vertrieb von Waren aus anderen Mitgliedstaaten stärker beträfen (vgl. Urteile vom 11. Dezember 2003, Deutscher Apothekerverband, C‑322/01, EU:C:2003:664, Rn. 74, und vom 2. Dezember 2010, Ker-Optika, C‑108/09, EU:C:2010:725, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).