Language of document : ECLI:EU:C:2007:551

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

M. POIARES MADURO

vom 27. September 20071(1)

Rechtssache C‑133/06

Europäisches Parlament

gegen

Rat der Europäischen Union

„Nichtigkeitsklage – Richtlinie 2005/85/EG – Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft“





1.        In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof aufgefordert, sich zu einer rechtlichen Frage zu äußern, die von grundlegender Bedeutung für das institutionelle System der Gemeinschaft und das ihm zugrunde liegende institutionelle Gleichgewicht ist. Es ist die Frage nach der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit der Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen für den Erlass von Rechtsetzungsakten nach einem Verfahren, das gegenüber dem im Vertrag geregelten Verfahren vereinfacht ist. Anders gesagt geht es darum, festzustellen, ob in der Gemeinschaftsrechtsordnung Übertragungen der Rechtsetzungsbefugnis rechtlich zulässig sind.

I –    Rechtlicher Rahmen der Klage

2.        Das Europäische Parlament hat beim Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 230 Abs. 1 EG eine Klage erhoben, die auf die Nichtigerklärung von Art. 29 Abs. 1 und 2 sowie Art. 36 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft(2), hilfsweise, auf Nichtigerklärung der gesamten Richtlinie gerichtet ist.

3.        Die streitige Richtlinie ist auf Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EG gestützt, der bestimmt:

„Der Rat beschließt gemäß dem Verfahren des Artikels 67 innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam

1.         … Asylmaßnahmen in folgenden Bereichen:

d)      Mindestnormen für die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft; …“

4.        Die Richtlinie wurde vom Rat in Übereinstimmung mit Art. 67 Abs. 1 EG auf Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und nach Anhörung des Parlaments einstimmig angenommen. Art. 67 Abs. 1 EG lautet:

„Der Rat handelt während eines Übergangszeitraums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam einstimmig auf Vorschlag der Kommission … und nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“

5.        Zwar wurde die streitige Richtlinie mehr als fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam erlassen, und Art. 67 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich EG bestimmt:

„Nach Ablauf dieser fünf Jahre

–        fasst der Rat einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments einen Beschluss, wonach auf alle Bereiche oder Teile der Bereiche, die unter diesen Titel fallen, das Verfahren des Artikels 251 anzuwenden ist und die Bestimmungen über die Zuständigkeit des Gerichtshofs angepasst werden.“

6.        Der Beschluss 2004/927/EG(3) über den Übergang zum Mitentscheidungsverfahren, den der Rat am 22. Dezember 2004 gemäß Art. 67 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich EG erlassen hat („Übergangsentscheidung“), lässt jedoch, wie aus seinem vierten Erwägungsgrund hervorgeht, die Bestimmungen des Art. 67 Abs. 5 EG unberührt. Wenn Art. 67 Abs. 5 EG abweichend von Abs. 1 dieser Vorschrift die Annahme der in Art. 63 Nr. 1 EG vorgesehenen Maßnahmen gemäß dem Verfahren des Art. 251 EG vorsieht, dann nur, „sofern der Rat zuvor gemäß Absatz 1 Gemeinschaftsvorschriften erlassen hat, in denen die gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze für diese Bereiche festgelegt sind“. Gegenstand der streitigen Richtlinie ist genau diese Festlegung der gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze für das Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft.

7.        Dementsprechend ermächtigen die angefochtenen Bestimmungen dieser Richtlinie den Rat, auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit zum einen eine gemeinsame Minimalliste der von den Mitgliedstaaten als sichere Herkunftstaaten zu betrachtenden Drittstaaten (dies ist Gegenstand von Art. 29 Abs. 1 und 2) und zum anderen eine gemeinsame Liste sicherer europäischer Drittstaaten (dies ist Gegenstand von Art. 36 Abs. 3) (im Folgenden: Listen sicherer Staaten) zu erstellen und zu ändern. Diese Listen sicherer Staaten werden anhand der in Anhang II der Richtlinie definierten Kriterien zur Bestimmung sicherer Drittstaaten und der in Art. 36 Abs. 2 der Richtlinie genannten Kriterien zur Bestimmung sicherer europäischer Staaten festgelegt.

II – Begründetheit der Klage

8.        Mit der vorliegenden Klage wirft das Parlament dem Rat im Wesentlichen vor, mit den angefochtenen Bestimmungen abgeleitete Rechtsgrundlagen geschaffen zu haben, die ihn ermächtigen, die Listen sicherer Staaten gemäß einem Verfahren zu erstellen und zu ändern, das von dem Verfahren abweicht, das in Art. 67 Abs. 5 erster Gedankenstrich EG festgelegt ist, der unter bestimmten Voraussetzungen Mitentscheidung vorsieht.

9.        Das Parlament macht für seine Klage formell vier Nichtigkeitsgründe geltend: einen Verstoß gegen den Vertrag wegen der Missachtung des Art. 67 Abs. 5 EG, die fehlende Zuständigkeit des Rates, eine unzureichende Begründung, die einen Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften darstelle, und einen Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Die ersten beiden Gründe werfen die zentrale Frage der vorliegenden Rechtssache auf, die ihre Verweisung an die Große Kammer gerechtfertigt hat, nämlich die nach der Möglichkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers, sich auf abgeleitete Rechtsgrundlagen zu stützen. Meine Aufmerksamkeit wird zuerst der Prüfung der Begründetheit dieser beiden Gründe gelten, und da die für jeden von ihnen vorgebrachten Argumente schwer voneinander zu trennen sind, werde ich sie zusammen untersuchen.

10.      Vorab möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass der hilfsweise gestellte Antrag des Parlaments auf Nichtigerklärung der gesamten Richtlinie ausdrücklich damit begründet wird, es solle vermieden werden, dass die Klage aufgrund der Rechtsprechung für unzulässig erklärt werde, wonach ein Antrag auf teilweise Nichtigerklärung nur zulässig ist, soweit sich die Bestimmungen, deren Nichtigerklärung beantragt wird, vom übrigen Teil des Rechtsakts abtrennen lassen(4). Dies ist nur dann der Fall, wenn die Nichtigerklärung der angefochtenen Bestimmungen den Wesensgehalt des Rechtsakts nicht verändern würde(5). In der mir zur Prüfung vorliegenden Rechtssache würde die Nichtigerklärung der angefochtenen Bestimmungen den Wesensgehalt der streitigen Richtlinie offensichtlich nicht verändern, so dass die Hauptanträge zulässig sind.

A –    Die Klagegründe der Vertragsverletzung und der fehlenden Zuständigkeit

11.      Nach Auffassung des Parlaments hat der Rat, indem er sich durch Art. 29 Abs. 1 und 2 sowie Art. 36 Abs. 3 der streitigen Richtlinie vorbehalten habe, die Listen sicherer Staaten nach einfacher Anhörung des Parlaments zu erstellen und zu ändern, sowohl gegen die Bestimmungen des Art. 67 Abs. 5 erster Gedankenstrich EG, die das Mitentscheidungsverfahren vorsähen, verstoßen als auch außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs gehandelt, da er nicht ermächtigt sei, in einem Akt abgeleiteten Rechts eine Rechtsgrundlage für die Annahme von nachfolgenden Akten abgeleiteten Rechts gemäß einem anderen als dem im Vertrag vorgesehenen Verfahren zu schaffen, wenn Letztere nicht den Charakter von Durchführungsmaßnahmen hätten. Wie man sieht, sind die beiden Klagegründe nicht voneinander zu trennen: Wenn der Rat die Zuständigkeit besäße, sich abgeleiteter Rechtsgrundlagen zu bedienen, hätte er nicht gegen Art. 67 Abs. 5 EG verstoßen können; in diesem Fall würden die Listen sicherer Staaten zu Recht auf der Basis abgeleiteter Rechtsgrundlagen und nicht auf der Basis von Vertragsbestimmungen erstellt.

12.      Diese Argumentation des Parlaments beruht auf zwei wesentlichen Annahmen. Art. 67 Abs. 5 EG schreibe vor, dass die Listen sicherer Staaten gemäß dem Mitentscheidungsverfahren erlassen werden, weil die streitige Richtlinie die letzte Etappe der Festlegung der gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze für diesen Bereich durch den Gesetzgeber gewesen sei, der letzte Bestandteil der „erforderlichen Rechtsvorschriften“, um den Ausdruck des Parlaments zu verwenden. Von nun an sei das Mitentscheidungsverfahren vorgeschrieben, da die Erstellung und die Änderung der Listen sicherer Staaten nicht Gegenstand von Maßnahmen vollziehender Art sein dürften. Ich werde kurz auf diese beiden Annahmen eingehen, obwohl es, wie ich zeigen werde, nicht notwendig ist, ihre Richtigkeit zu prüfen, um die Begründetheit der Klagegründe der fehlenden Zuständigkeit und der Vertragsverletzung zu beurteilen.

1.      Die Richtlinie 2005/85, letzte Etappe der erforderlichen Rechtsvorschriften?

13.      Art. 67 Abs. 5 erster Gedankenstrich EG sieht vor, dass der Rat die Maßnahmen nach Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a EG gemäß dem Mitentscheidungsverfahren des Art. 251 EG beschließt, sofern er „Gemeinschaftsvorschriften erlassen hat, in denen die gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze für diese Bereiche festgelegt sind“, d. h. für die in Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 EG vorgesehene Asylpolitik und für einen Teil der Maßnahmen in Bezug auf Flüchtlinge und vertriebene Personen, nämlich die in Art. 63 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EG genannten Maßnahmen. Nach Auffassung des Parlaments wurde die Festlegung der gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze mit dem Erlass der streitigen Richtlinie abgeschlossen, so dass von da an für den Erlass jedes späteren Rechtsakts in diesem Bereich, insbesondere für das Erstellen der Listen sicherer Staaten, das Mitentscheidungsverfahren anzuwenden sei. Die streitige Richtlinie stelle nämlich die letzte Etappe der von Art. 67 Abs. 5 EG für den Übergang zur Mitentscheidung verlangten erforderlichen Rechtsvorschriften dar; der grundlegende rechtliche Rahmen in den Bereichen des Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a EG sei nunmehr unter Berücksichtigung der bereits getroffenen gesetzgeberischen Maßnahmen vollständig. Das Parlament erwähnt die folgenden Rechtsakte: die auf Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EG gestützte Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist(6), die auf Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EG gestützte Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten(7) sowie die auf Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c, Nr. 2 Buchst. a und Nr. 3 Buchst. a EG gestützte Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(8).

14.      Hilfsweise macht das Parlament geltend, wenn, wie von der dem Rechtsstreit zur Unterstützung seiner Anträge beigetretenen Kommission vertreten, die ursprüngliche Annahme der Listen sicherer Staaten noch zu den erforderlichen gemeinsamen Regeln gehören und insofern unter das Beratungsverfahren fallen sollte, stelle sie jedenfalls die letzte Etappe dieser gemeinsamen Regeln dar. Folglich müsse die spätere Änderung dieser Listen entgegen der Regelung der beanstandeten abgeleiteten Rechtsgrundlagen gemäß dem Mitentscheidungsverfahren erfolgen. Anderenfalls könne der Rat den Abschluss des Vorhabens der Bestimmung der gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze und damit den Übergang zum Mitentscheidungsverfahren unbegrenzt hinauszögern.

15.      Der Rat erwidert, dass der Begriff der erforderlichen Rechtsvorschriften ein unbestimmter Begriff sei, dessen Bedeutung nur der Gesetzgeber, hier er selbst, näher bestimmen könne. Im vorliegenden Fall sei er der Auffassung gewesen, dass die Erstellung der Liste sicherer Drittstaaten und der sicherer europäischer Staaten zu den Gemeinschaftsvorschriften gehöre, in denen die gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze für den Bereich Asyl festgelegt seien. Er habe deshalb versucht, sie in die Bestimmungen der streitigen Richtlinie selbst aufzunehmen.

16.      Man sieht, dass die Parteien in dieser Frage der Klassifizierung geteilter Ansicht sind. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Meinung des Rates, er verfüge bei der Entscheidung darüber, was zu den erforderlichen Rechtsvorschriften gehöre, über völlige Ermessensfreiheit, eindeutig nicht zuzustimmen ist. Da es sich um einen Begriff handelt, der das anwendbare Gesetzgebungsverfahren bestimmt, also insbesondere den Umfang der Beteiligung des Parlaments am Entscheidungsprozess, der somit einen Einfluss auf das institutionelle Gleichgewicht hat, versteht sich von selbst, dass seine Auslegung und seine Anwendung der Kontrolle durch den Gerichtshof unterliegen, dem die Wahrung jenes institutionellen Gleichgewichts obliegt(9). Die Prüfung der Begründetheit der vom Parlament geltend gemachten Klagegründe der Unzuständigkeit und der Vertragsverletzung erfordert es jedoch nicht, das jeweilige Vorbringen zu widerlegen, indem festgestellt wird, ob die Erstellung oder sogar die Änderung der Listen sicherer Staaten zu den erforderlichen Rechtsvorschriften gehört oder ob die streitige Richtlinie deren Schlusspunkt darstellt. Gleichgültig, welche dieser Annahmen zutrifft, genügt nämlich die Feststellung, dass jedenfalls die beanstandeten abgeleiteten Rechtsgrundlagen ein Entscheidungsverfahren vorsehen, das von dem in Art. 67 Abs. 5 EG vorgesehenen abweicht. Die angefochtenen Bestimmungen sehen die Beschlussfassung durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung des Parlaments vor. Art. 67 Abs. 5 EG schreibt dagegen den einstimmigen Beschluss der erforderlichen Rechtsvorschriften durch den Rat nach Anhörung des Parlaments vor und sieht, wenn diese einmal erlassen sind, für spätere Rechtsakte Mitentscheidung vor. Nimmt man an, dass die streitige Richtlinie die letzte Etappe der erforderlichen Rechtsvorschriften ist, müsste folglich die namentliche Bestimmung sicherer Staaten im Wege der Mitentscheidung erfolgen; ist dies nicht der Fall und wäre die namentliche Bestimmung sicherer Staaten noch Teil der erforderlichen Rechtsvorschriften, müsste sie vom Rat einstimmig nach Anhörung des Parlaments vorgenommen werden.

17.      Mit anderen Worten kommt es allein auf die Frage an, ob der Rat berechtigt ist, in dem Rechtsetzungsakt, den er gemäß dem hierfür im Vertrag vorgesehenen Verfahren beschließt, Rechtsgrundlagen für den Erlass späterer Rechtsakte nach einem anderen Verfahren, das gegenüber dem im Vertrag geregelten Verfahren vereinfacht ist, aufzustellen. Die Frage wäre sicherlich zu bejahen(10), wenn diese späteren Rechtsakte den Charakter von Durchführungsmaßnahmen hätten(11). Die Frage ist also, ob es sich bei der Erstellung und der Änderung der Listen sicherer Staaten um Durchführungsmaßnahmen handelt. Wenn dies so wäre, könnten die Listen sicherer Staaten gemäß einer abgeleiteten Rechtsgrundlage nach einem vereinfachten Verfahren wie dem vom Rat festgelegten beschlossen werden, und es käme nicht darauf an, ob die streitige Richtlinie der letzte Bestandteil der erforderlichen Rechtsvorschriften ist oder nicht. Das Parlament macht aber gerade geltend, dass die namentliche Bestimmung der sicheren Staaten in die Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers falle.

2.      Fallen die Listen sicherer Staaten in den Bereich der Exekutive?

18.      Fällt die namentliche Bestimmung sicherer Staaten nicht eher in den Bereich der Exekutive als in den der Legislative? Legislativer Natur sind bekanntlich die Maßnahmen, mit denen „die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie“(12) festgelegt werden, die daher zwingend vom Gemeinschaftsgesetzgeber auf der Grundlage des Vertrags und nach dem darin hierfür vorgesehenen Verfahren zu erlassen sind. Da die namentliche Bestimmung sicherer Staaten anhand der Kriterien erfolgen muss, die in der streitigen Richtlinie genannt werden, genauer gesagt in deren Anhang II, was die Bestimmung sicherer Drittstaaten, und in Art. 36 Abs. 2, was die Bestimmung der sicheren europäischen Staaten angeht, stellt sich die Frage, ob man annehmen kann, dass sie noch zu den wesentlichen Grundzügen der zu regelnden Materie, d. h. zu den wesentlichen Grundzügen der Mindestnormen für Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EG, gehört. Auch wenn alle am Verfahren vor dem Gerichtshof Beteiligten sich darin einig sind, dass die Listen sicherer Staaten Rechtsetzungsakte seien, kann es hier Anlass für Zweifel geben.

19.      Zugunsten der Klassifizierung als Durchführungsmaßnahmen wird man feststellen, dass es sowohl im ursprünglichen(13) als auch im geänderten Vorschlag der Kommission(14) den Mitgliedstaaten oblag, die sicheren Staaten anhand der in der Richtlinie aufgeführten Kriterien zu bestimmen. Grundsätzlich ist aber die Durchführung des Gemeinschaftsrechts die Aufgabe der Mitgliedstaaten. Obwohl die Kriterien zur Bestimmung in der Richtlinie stehen, spricht die Tatsache, dass der Rat sich am Ende für die Erstellung gemeinsamer Listen sicherer Staaten ausgesprochen hat, um die bestehenden nationalen Listen einander anzugleichen und den innerstaatlichen Rechtsordnungen, die noch keine entsprechenden Maßnahmen getroffen haben, Minimallisten zu geben, im Gegenteil für eine Klassifizierung als Rechtsetzungsakt. Für diese Klassifizierung spricht ferner die Tatsache, dass der Rat die Listen sicherer Staaten ursprünglich in die streitige Richtlinie integrieren wollte und davon nur wegen der Schwierigkeit abgesehen hat, zu einer Einigung über die Listen zu kommen, ohne den Erlass der Richtlinie übermäßig zu verzögern(15). Und schließlich spricht hierfür die Tragweite der mit diesen Listen verbundenen Folgen. Die Verwendung dieser Listen bestimmt im Rahmen von Asylverfahren die Art und Weise, in der die nationalen Behörden einen großen Teil der Anträge bearbeiten, und entscheidet über den Umfang der in der Richtlinie vorgesehenen Verfahrensgarantien. Gemäß Art. 25 können die Mitgliedstaaten nämlich einen Asylantrag als unzulässig ansehen und brauchen dann nicht zu prüfen, ob der Antragsteller als Flüchtling anzuerkennen ist, wenn der Antragsteller aus einem sicheren Drittstaat kommt; diese Vermutung, dass es sich um einen sicheren Staat handelt, kann allerdings widerlegt werden, wenn der Antragsteller Gegenargumente vorbringt. Im Übrigen können die Mitgliedstaaten nach Art. 36 von einer Prüfung oder einer umfassenden Prüfung des Asylantrags absehen, wenn der Asylbewerber aus einem sicheren europäischen Drittstaat unrechtmäßig in ihr Hoheitsgebiet einzureisen versucht oder eingereist ist. Der Rat rechtfertigt daher die Anhörung des Parlaments zum einen bei der Erstellung und Änderung der Listen sicherer Drittstaaten mit der „politischen Tragweite“ dieser Maßnahmen und „insbesondere [mit den] Implikationen für die Beurteilung der Menschenrechtssituation in einem Herkunftsstaat und [mit den Folgen] für die Maßnahmen der Europäischen Union im Bereich der Außenbeziehungen“ und zum anderen bei der Bestimmung der sicheren europäischen Staaten mit den „möglichen Folgen einer eingeschränkten oder unterlassenen Prüfung für den Antragsteller“(16).

20.      Es ist im vorliegenden Fall nicht notwendig, die Frage zu entscheiden. Wenn man annimmt, dass die namentliche Bestimmung sicherer Staaten nicht zu den „wesentlichen Grundzügen der zu regelnden Materie“ gehört, und die angefochtenen Bestimmungen als Vorbehalt der Durchführungsbefugnis versteht, müsste man einräumen, dass sie die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen nicht erfüllt. Nach den Änderungen des Art. 145 EG-Vertrag (jetzt Art. 202 EG) durch die Einheitliche Europäische Akte ergibt sich bekanntlich aus Art. 202 dritter Gedankenstrich in Verbindung mit Art. 211 vierter Gedankenstrich EG die „Regel …, dass es im System des Vertrages, wenn auf Gemeinschaftsebene Maßnahmen zur Durchführung eines Basisrechtsakts zu treffen sind, Aufgabe der Kommission ist, diese Befugnis auszuüben“(17). Zusammen mit der in Art. 253 EG festgelegten allgemeinen Begründungspflicht folgt daraus, dass „sich der Rat … nur in spezifischen Fällen vorbehalten kann, Durchführungsbefugnisse selbst auszuüben, wobei diese Entscheidung ausführlich zu begründen ist“(18). Dies bestätigt Art. 1 Abs. 1 des Zweiten Komitologiebeschlusses(19), der bestimmt: „Außer in spezifischen und begründeten Fällen, in denen der Basisrechtsakt dem Rat die unmittelbare Ausübung von Durchführungsbefugnissen vorbehält, werden diese der Kommission entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des Basisrechtsakts übertragen …“ Mit anderen Worten, der Rat muss „entsprechend der Natur und dem Inhalt des umzusetzenden oder zu ändernden Basisrechtsakts“ für den Durchführungsvorbehalt „eine ordnungsgemäße Begründung“ geben(20). Er muss also dartun, dass Art und Inhalt der Durchführungsbefugnis einen so spezifischen Charakter haben, dass er sich ihre Ausübung abweichend von der grundsätzlichen Zuständigkeit der Kommission in diesem Bereich vorbehalten darf(21).

21.      Zwar könnte man sich im Licht der dem Urteil Kommission/Rat vom 18. Juni 2005 zugrunde liegenden Rechtssache fragen, ob es sich bei der Bestimmung der sicheren Länder im Bereich Asyl um einen spezifischen Fall handelt, der Gegenstand eines Durchführungsvorbehalts sein kann. Für den Fall, dass man in den angefochtenen Bestimmungen tatsächlich einen Vorbehalt der Durchführungsbefugnis zu sehen hätte, wäre jedoch das Fehlen jeglicher Begründung festzustellen. Die in den Erwägungsgründen 19 und 24 der streitigen Richtlinie angeführten Gründe sollen keinesfalls einen solchen Vorbehalt rechtfertigen, sondern, wie ich bereits dargelegt habe(22), vielmehr erläutern, weshalb das Parlament zur Erstellung und Änderung der Listen anzuhören ist.

22.      Nimmt man an, dass die namentliche Bestimmung der sicheren Staaten zum Bereich der Exekutive gehört, könnte zwar noch eingewandt werden, dass der Rat nicht beabsichtigt habe, sich durch die angefochtenen Bestimmungen eine Durchführungsbefugnis vorzubehalten. Er habe sich im Gegenteil dieser Frage als Gesetzgeber annehmen wollen, um sie nach einem vereinfachten Verfahren auf der Basis einer abgeleiteten Rechtsgrundlage zu behandeln. Es ist bekannt, dass bestimmte nationale Rechtsordnungen die Möglichkeit eines Übergreifens des Gesetzgebers in den Bereich der Exekutive zulassen, während andere umgekehrt der vollziehenden Gewalt ebenso eine ausschließliche und geschützte Zuständigkeitssphäre gewähren, wie sie dem Gesetz einen eigenen Bereich garantieren. Das institutionelle System der Gemeinschaft selbst verbietet nicht von vornherein, dass der Gesetzgeber über die Regelung der wesentlichen Grundsätze in einem Bereich hinausgeht und Vorschriften vollziehender Art erlässt. Indessen ist es wiederum nicht notwendig, zur gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit eines Übergreifens des Gesetzgebers in den Bereich der Exekutive Stellung zu nehmen. Wenn man annimmt, dass die angefochtenen Bestimmungen tatsächlich als Ausdruck der Absicht des Rates zu werten sind, die Frage der Bestimmung der sicheren Staaten im Wege der Rechtsetzung, wenn auch nach einem vereinfachten Verfahren, zu behandeln, gelangt man zu der Frage der Rechtmäßigkeit der Heranziehung einer abgeleiteten Rechtsgrundlage für den Erlass legislativer Maßnahmen.

3.      Die Frage der Rechtmäßigkeit abgeleiteter Rechtsgrundlagen

23.      Ist es möglich, Rechtsetzungsakte auf einer nicht im Primärrecht, sondern im Sekundärrecht vorgesehenen Rechtsgrundlage zu erlassen, und zwar nach einem im Sekundärrecht geregelten Verfahren, das gegenüber dem im Primärrecht vorgesehenen vereinfacht ist? Das ist das zentrale rechtliche Problem dieser Rechtssache. Diese Frage ist keine andere als die nach der Zulässigkeit von Übertragungen der Rechtsetzungsbefugnis im institutionellen System der Gemeinschaft.

24.      Sie ist nicht völlig neu. Die Frage der Rechtmäßigkeit der Heranziehung einer abgeleiteten Rechtsgrundlage zur Ausübung gesetzgeberischer Tätigkeit wurde bereits vor den Gerichtshof gebracht(23). Die vom Rat auf der Grundlage des Art. 43 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 37 EG) beschlossene Verordnung (EG) Nr. 820/97 vom 21. April 1997 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern und über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen(24) sah in ihrem Art. 19 vor, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit die allgemeinen Regeln eines ab dem 1. Januar 2000 geltenden Etikettierungssystems für Rindfleisch erlässt. Auf dieser Grundlage hatte der Rat eine Verordnung erlassen, die vom Parlament mit der Begründung angefochten wurde, die abgeleitete Rechtsgrundlage sei rechtswidrig, weil sie es erlaube, im Widerspruch zu Art. 37 EG durch ein vereinfachtes Entscheidungsverfahren, das keine Anhörung des Parlaments vorsehe, nicht eine Durchführungsmaßnahme, sondern einen Rechtsetzungsakt im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik zu erlassen. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die angefochtene Verordnung nicht die allgemeinen Regeln eines obligatorischen Etikettierungssystems für Rindfleisch enthielt, sondern dass ihr Zweck darin bestand, das freiwillige Etikettierungssystem über den 31. Dezember 1999 hinaus zu verlängern, und daraus geschlossen, dass die Verordnung nicht von der durch die Grundverordnung verliehenen Ermächtigung gedeckt war und diese Grundverordnung in Wirklichkeit ändern sollte. Er hat entschieden, dass die Änderung der Grundverordnung „nur auf einer Rechtsgrundlage erfolgen [konnte], die derjenigen für den Erlass der Verordnung entspricht, also auf der Grundlage des EG-Vertrags selbst und unter Beachtung des darin vorgesehenen Beschlussfassungsverfahrens“(25). Folglich hat er die Verordnung wegen Verletzung der Parallelität der Zuständigkeiten und Verfahren für nichtig erklärt, wobei dahinstehen könne, „ob der Rat ohne Verstoß gegen die Vorschriften des EG-Vertrags über die Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane die Befugnis für sich in Anspruch nehmen konnte, durch Beschluss auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit die allgemeinen Regeln eines obligatorischen Etikettierungssystems für Rindfleisch zu erlassen“(26). Man sieht, das Problem bleibt ungelöst.

25.      Bestimmte nationale Rechtssysteme sehen die Möglichkeit von Übertragungen der Gesetzgebungsbefugnis vor. Dies ist zum Beispiel in Frankreich mit Art. 38 der Verfassung vom 4. Oktober 1958 (27) oder in Italien mit Art. 76 der Verfassung vom 27. Dezember 1947 der Fall. Zu betonen ist jedoch, dass solche Übertragungen sich sehr häufig nur auf bestimmte Bereiche der Gesetzgebung beziehen, wie Art. 82 der spanischen Verfassung vom 27. Dezember 1978 oder die Art. 164 und 165 der portugiesischen Verfassung vom 2. April 1976 zeigen.

26.      Der Vertrag über die Union sieht eine Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen nicht ausdrücklich vor, nur die Übertragung von Durchführungsbefugnissen ist in Art. 202 EG geregelt. Es geht also darum, festzustellen, ob das Gemeinschaftsrecht es implizit erlaubt oder dem zumindest nicht entgegensteht, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber, anstatt einen Bereich der Gesetzgebung vollständig nach dem im Vertrag vorgesehenen Verfahren zu regeln, in dem von ihm nach diesem Verfahren erlassenen Rechtsakt eine abgeleitete Rechtsgrundlage schafft, die dazu ermächtigt, bestimmte Aspekte dieses Gesetzgebungsbereichs nach einem vereinfachten Verfahren zu regeln.

27.      Generalanwältin Stix‑Hackl hat dies in ihren Schlussanträgen in der dem Urteil Parlament/Rat vom 12. Dezember 2001 zugrunde liegenden Rechtssache bejaht und ohne nähere Ausführungen die Auffassung vertreten, dass eine abgeleitete Rechtsgrundlage „bei Beachtung bestimmter Voraussetzungen grundsätzlich zulässig“(28) sei. Der Rat seinerseits beruft sich zugunsten der Rechtmäßigkeit der Heranziehung abgeleiteter Rechtsgrundlagen darauf, dass sich eine entsprechende Praxis entwickelt habe. Er führt eine ganze Reihe von vor der streitigen Richtlinie erlassenen Rechtsakten an, die bereits abgeleitete Rechtsgrundlagen enthalten hätten. Angenommen, dass diese Präzedenzfälle wirklich relevant sind, stellt sich die Frage, ob eine Praxis nicht nur das vorübergehende Ergebnis politischer Umstände und Kompromisse ist, die ihren Gehalt verlieren, sobald sich die Machtverhältnisse ändern, oder ob sie infolge eines Prozesses der Konsolidierung durch Gewohnheit zur Entstehung einer Rechtsnorm führen kann. In dieser Hinsicht sei daran erinnert, dass die Herausbildung von Gewohnheitsrecht die Verbindung zweier Elemente erfordert: eines materiellen Elements (repetitio), bestehend in einer allgemeinen und lang andauernden Übung, in einer Abfolge übereinstimmender Präzedenzfälle, und eines psychologischen Elements (opinio iuris necessitatis), der Überzeugung derjenigen, die sich an diese Übung halten, dass sie damit einer zwingenden Regel gehorchen. Ein Teil der Lehre(29) hat befürwortet, dass die Rechtsordnung der Gemeinschaften die Existenz von Gemeinschaftsgewohnheitsrecht anerkennt, wenn die notwendigen Voraussetzungen für sein Entstehen vorliegen.

28.      Der Gerichtshof selbst hat sich noch nicht ausdrücklich geäußert. Er scheint jedoch keine grundsätzliche Ablehnung zum Ausdruck gebracht zu haben. Wenn er es abgelehnt hat, bestimmte Praktiken zu berücksichtigen, geschweige denn in ihnen Gewohnheitsrecht zu sehen, dann deshalb, weil sie die Entstehungsvoraussetzungen nicht erfüllten(30). Im Übrigen hat der Gerichtshof, auch wenn er die betreffenden Praktiken nicht ausdrücklich als Gewohnheitsrecht bezeichnet hat, eine Entschließung des Parlaments, die Sitzungen seiner Ausschüsse und Fraktionen in Brüssel abzuhalten, und das Verfahren des Verwaltungsausschusses als rechtmäßig angesehen, weil sie einer von den Mitgliedstaaten nicht in Frage gestellten parlamentarischen Praxis(31) bzw. einer „ständigen Praxis der Gemeinschaftsorgane“(32) entsprachen.

29.      Nichtsdestoweniger ist die etwaige Anerkennung der rechtlichen Bindungswirkung von Praktiken der Organe oder der Mitgliedstaaten auf jeden Fall strikt einzugrenzen. Die Eigenschaft von Rechtsnormen kann Praktiken zuerkannt werden, die die Voraussetzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht erfüllen und die Knappheit der Verträge ausgleichen oder gar deren Lücken füllen sollen, um die Wirksamkeit des Entscheidungsprozesses sicherzustellen. Auch wenn auf diese Weise Gewohnheiten praeter legem anerkannt werden können, dürfen doch Praktiken, die den Verträgen zuwiderlaufen würden, auf keinen Fall zugelassen werden. Die Anerkennung von Gewohnheitsrecht contra legem würde die Strenge der Gründungsverträge missachten, die nur gemäß dem hierfür eingerichteten Verfahren geändert werden dürfen(33). Der Gerichtshof betrachtet die Gründungsverträge nämlich als Verfassungsurkunde zur Schaffung einer Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte die Bürger der Union sind(34). Diese erhöhte Legitimität impliziert, dass die in den Verträgen aufgestellten Vorschriften „nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen“(35). Dementsprechend hat der Gerichtshof die Schaffung rechtsgültiger Präzedenzfälle durch die Organe(36) wie auch durch die Mitgliedstaaten(37) mit der Begründung verneint, dass eine Praxis nicht von den Vorschriften des Vertrags abweichen oder ihnen vorgehen darf.

30.      Die von der französischen Regierung unterstützte Auffassung des Rates, wonach der Vertrag an keiner Stelle verbiete, dass ein Rechtsakt, der auf der Grundlage einer Vertragsbestimmung und im Rahmen des von dieser vorgesehenen Verfahrens erlassen worden ist, auf den Erlass ergänzender legislativer Maßnahmen nach einem vereinfachten Verfahren verweist, kann daher nicht geteilt werden. Die Heranziehung abgeleiteter Rechtsgrundlagen verbietet der Grundsatz der Zuweisung der Befugnisse, der in Art. 7 EG aufgestellt wird, in dem es heißt: „Jedes Organ handelt nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse.“(38) Die Verträge regeln nämlich die Verfahren den Erlass von Rechtsetzungsakten. Ein Organ darf also nicht selbst frei die Art und Weise bestimmen, in der es seine Befugnisse wahrnimmt, und im Hinblick auf den Erlass eines Rechtsetzungsakts das zu diesem Zweck im Vertrag vorgesehene Verfahren ändern. Nur der Vertrag kann gegebenenfalls den Rat ermächtigen, das Entscheidungsverfahren zu ändern, wie die Brückenklauseln wie Art. 67 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich EG oder Art. 175 Abs. 2 Unterabs. 2 EG zeigen. Anders gesagt ergibt sich aus dem Grundsatz der Zuweisung der Befugnisse in gewisser Weise ein Grundsatz der Nichtverfügbarkeit der Zuständigkeiten.

31.      Im Übrigen bestimmen die in den Verträgen festgelegten Rechtsetzungsverfahren den Umfang der Beteiligung jedes Organs an der Beschlussfassung und definieren damit ein institutionelles Gleichgewicht. Verändert ein Organ das Beschlussfassungsverfahren, verstößt es damit also auch gegen den vom Gerichtshof(39) aufgestellten Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts, der es „gebietet …, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt“(40), und der es einem Organ verbietet, „den anderen Organen … ein Recht [zu] nehmen, das ihnen nach den Verträgen selbst zusteht“(41).

32.      Der Gerichtshof misst der Wahl der Rechtsgrundlage auch deshalb eine derartige Bedeutung bei, weil sie das institutionelle Gleichgewicht berührt. Sie bestimmt nämlich das anwendbare Beschlussfassungsverfahren. Von ihr hängen also insbesondere das zuständige Gemeinschaftsorgan, die Abstimmungsregeln, denen die Annahme des Rechtsakts durch den Rat unterliegt, und der Umfang der Beteiligung des Parlaments am Erlass des Rechtsakts ab. Eine Auseinandersetzung über die Wahl der geeigneten Rechtsgrundlage hat somit nicht nur eine rein formelle Bedeutung. Sobald die vom Kläger geltend gemachte Rechtsgrundlage ein anderes Beschlussfassungsverfahren vorsieht als das in der vom Urheber des Rechtsakts verwendeten Rechtsgrundlage geregelte, hat die Wahl der Rechtsgrundlage Auswirkungen auf die Bestimmung des Inhalts des Rechtsakts. Folglich darf diese Wahl nicht vom Ermessen eines Organs abhängen, sondern muss sich auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände wie das Ziel und den Inhalt des Rechtsakts gründen(42).

33.      Ebenso wenig hat die Beanstandung die Heranziehung abgeleiteter Rechtsgrundlagen eine rein formelle Bedeutung, da die Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen zum Ziel hat, den Erlass von Rechtsakten nach einem Verfahren zu erlauben, das gegenüber dem in der geeigneten Rechtsgrundlage im Vertrag vorgesehenen Verfahren vereinfacht ist. Wie ich bereits ausgeführt habe, unterscheiden sich im vorliegenden Fall die Modalitäten der Beschlussfassung nach den angefochtenen abgeleiteten Rechtsgrundlagen (qualifizierte Mehrheit im Rat und Anhörung des Parlaments) von den Verfahren, die in dem vom Parlament und der Kommission als Rechtsgrundlage geltend gemachten Art. 67 Abs. 5 EG geregelt sind (Einstimmigkeit im Rat und Anhörung des Parlaments, falls die Bestimmung der sicheren Staaten noch Bestandteil der erforderlichen Rechtsvorschriften wäre; qualifizierte Mehrheit im Rat und Mitentscheidung, wenn die streitige Richtlinie als letzte Etappe der erforderlichen Rechtsvorschriften anzusehen wäre).

34.      Weil die Verwendung abgeleiteter Rechtsgrundlagen gegen die Grundsätze der Zuweisung der Befugnisse und des institutionellen Gleichgewichts verstößt, kann sie also nicht zugelassen werden. Im Übrigen hat der Gerichtshof dem Kläger, der sich darüber beschwerte, dass die Richtlinie 85/649/EWG des Rates vom 31. Dezember 1985 zum Verbot des Gebrauchs von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung im Tierbereich auf der Grundlage des Art. 43 EG-Vertrag und nicht nach dem Verfahren der hierfür vorgesehenen abgeleiteten Rechtsgrundlage erlassen worden sei, entgegnet, dass „die Grundsätze über die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane im Vertrag festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen“(43). Man darf nicht wie der Rat die Lehren, die aus dieser Entscheidung zu ziehen sind, auf eine Ablehnung nur derjenigen abgeleiteten Rechtsgrundlagen beschränken, die zu einer Erschwerung des im Vertrag vorgesehenen Verfahrens führen würden(44). Der Hinweis des Gerichtshofs auf das Gebot der Einhaltung der im Vertrag vorgesehenen Beschlussfassungsverfahren ist eindeutig und hat allgemeine Geltung.

35.      Ebenso ist zum dem vom Rat zugunsten der Rechtmäßigkeit abgeleiteter Rechtsgrundlagen angeführten Argument, es bestehe eine Praxis, zu bemerken, dass der Gerichtshof ganz auf der Linie seiner Ablehnung von Gewohnheitsrecht contra legem in der Gemeinschaftsrechtsordnung(45) bereits verneint hat, dass Präjudizien zur Rechtfertigung dessen geltend gemacht werden können, dass der Rat eine andere Grundlage als die geeignete Rechtsgrundlage bevorzugt hat, weil „eine schlichte Praxis des Rates Regeln des EG-Vertrags nicht abändern und folglich auch kein Präjudiz schaffen [kann], das die Organe der Gemeinschaft bei der Bestimmung der zutreffenden Rechtsgrundlage binden würde“(46).

36.      In Anbetracht all dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass der Rat nicht befugt war, in der streitigen Richtlinie die angefochtenen abgeleiteten Rechtsgrundlagen für den Erlass legislativer Maßnahmen nach einem Verfahren, das gegenüber den in Art. 67 Abs. 5 EG vorgesehenen Verfahren vereinfacht ist, zu erlassen. Den vom Parlament vorgebrachten Klagegründen der fehlenden Zuständigkeit und der Vertragsverletzung ist somit stattzugeben, und die angefochtenen Bestimmungen sind für nichtig zu erklären.

B –    Die Klagegründe der unzureichenden Begründung und des Verstoßes gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit

37.      Da die Klagegründe der fehlenden Zuständigkeit und der Vertragsverletzung begründet sind und zur Nichtigerklärung der angefochtenen Bestimmungen führen, ist es unnötig, auf die beiden anderen Klagegründe des Parlaments – unzureichende Begründung und Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – einzugehen.

III – Ergebnis

38.      Aus den genannten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor,

Art. 29 Abs. 1 und 2 sowie Art. 36 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft für nichtig zu erklären.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 326, S. 13, im Folgenden: streitige Richtlinie.


3 – ABl. L 396, S. 45.


4 – Vgl. Urteil vom 10. Dezember 2002, Kommission/Rat (C‑29/99, Slg. 2002, I‑11221, Randnrn. 45 und 46).


5 – Vgl. Urteil vom 30. September 2003, Deutschland/Kommission (C‑239/01, Slg. 2003, I‑10333, Randnrn. 34 bis 37).


6 – ABl. L 50, S. 1.


7 – ABl. L 31, S. 18.


8 – ABl. L 304, S. 12.


9 – Vgl. Urteil vom 22. Mai 1990, Parlament/Rat (C‑70/88, Slg. 1990, I‑2041, Randnrn. 21 bis 23).


10 – Sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: siehe unten, Nrn. 20 und 21 der vorliegenden Schlussanträge.


11 – Vgl. in diesem Sinne z. B. Urteil vom 18. Juni 1996, Parlament/Rat (C‑303/94, Slg. 1996, I‑2943, Randnr. 23).


12 – Urteil vom 17. Dezember 1970, Köster (25/70, Slg. 1970, 1161, Randnr. 6); vgl. ferner Urteil vom 27. Oktober 1992, Deutschland/Kommission (C‑240/90, Slg. 1992, I‑5383, Randnr. 36).


13 – Vgl. Art. 21 und 30 des Vorschlags vom 20. September 2000 für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2001, C 62 E, S. 231).


14 – Vgl. Art. 27 und 30 des geänderten Vorschlags vom 3. Juli 2002 für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2002, C 291 E, S. 143).


15 – Vgl. Nrn. 9 bis 11 seiner Klagebeantwortung.


16 – 19. und 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85.


17 – Urteil vom 18. Januar 2005, Kommission/Rat (C‑257/01, Slg. I‑345, Randnr. 51).


18 – Ebd., Randnr. 50; vgl. bereits Urteil vom 24. Oktober 1989, Kommission/Rat (16/88, Slg. 1989, 3457, Randnr. 10).


19 – Beschluss 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (ABl. L 184, S. 23).


20 – Urteil vom 18. Januar 2005, Kommission/Rat (Randnr. 51).


21 – Wie Generalanwalt Léger hervorgehoben hat, muss in der Begründung angegeben werden, „warum es wichtig ist, dass [der Rat] und nicht die Kommission [die in Rede stehende Durchführungsbefugnis] ausnahmsweise wahrnimmt“ (Schlussanträge in der dem Urteil Kommission/Rat vom 18. Januar 2005 zugrunde liegenden Rechtssache, Nr. 54).


22 – Siehe oben, Nr. 19 der vorliegenden Schlussanträge.


23 – Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2001, Parlament/Rat (C‑93/00, Slg. 2001, I‑10119).


24 – ABl. L 117, S. 1.


25 – Ebd., Randnr. 42.


26 – Ebd., Randnr. 45.


27 – Diese Bestimmung enthält allerdings nicht im eigentlichen Sinn eine Übertragung der Gesetzgebungsbefugnis, sondern genauer eine Erstreckung der Verordnungszuständigkeit der Regierung in den Gesetzesbereich.


28 – Schlussanträge in der Rechtssache C‑93/00 (Nr. 41).


29 – Vgl. z. B. Jacqué, J. P., „La pratique des institutions communautaires et le développement de la structure institutionnelle communautaire“, in Bieber, R. und Ress, G., Die Dynamik des Europaïschen Gemeinschaftsrechts, Nomos, Baden‑Baden 1987, S. 377; Bleckmann, A., „Zur Funktion des Gewohnheitsrechts im europäischen Gemeinschaftsrecht“, Europarecht, 1981, S. 101. Und selbst einige Mitglieder des Gerichtshofs: vgl. z. B. Pescatore, P., L’ordre juridique des Communautés européennes: étude des sources du droit communautaire, Presses universitaires de Liège 1973, Nachdruck Bruylant 2006, s. insbesondere S. 174.


30 – Vgl. z. B. Urteil vom 10. Februar 1983, Luxemburg/Parlament (230/81, Slg. 1983, 255, Randnr. 44): Der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen die Praxis des Parlaments, einen Teil seiner Plenarsitzungen in Luxemburg abzuhalten, geltend gemacht wurde und der gegen eine Entschließung des Parlaments gerichtet war, alle Plenarsitzungen in Straßburg abzuhalten, wurde zurückgewiesen, weil diese Praxis, da sie von den Mitgliedstaaten nicht gebilligt und im Gegenteil von Frankreich beanstandet worden war, kein Gewohnheitsrecht bilden konnte. Mit anderen Worten, es fehlte an der opinio iuris.


31 – Ebd., Randnrn. 48 und 49.


32 – Vgl. Urteil Köster (Randnr. 6).


33 – Vgl. Urteil vom 8. April 1976, Defrenne (43/75, Slg. 1976, 455, Randnr. 58).


34 – Vgl. Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991 (Slg. 1991, I‑6079, Randnr. 21). Vgl. bereits Urteil vom 5. Februar 1963, van Gend en Loos (26/62, Slg. 1963, S. 3, S. 25).


35 – Urteil vom 23. Februar 1988, Vereinigtes Königreich/Rat (68/86, Slg. 1988, 855, Randnr. 38).


36 – Vgl. insbesondere Urteil vom 9. August 1994, Frankreich/Kommission (C‑327/91, Slg. 1994, I‑3641): In Erwiderung des Klagegrunds der Unzuständigkeit für den Abschluss der Abkommens zwischen der EWG und den Vereinigten Staaten über die Anwendung ihrer Wettbewerbsgesetze hatte sich die Kommission auf eine Praxis berufen, die ihr die Befugnis zum Abschluss von Verwaltungsabkommen zuweise. Der Gerichtshof hat diese Argumentation jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die Befugnis zum Abschluss von Abkommen durch Art 228 EG-Vertrag dem Rat verliehen wurde und dass „eine schlichte Praxis die Vorschriften des [Vertrags] nicht überspielen“ kann (Randnr. 36). Vgl. auch Urteil vom 9. November 1995, Deutschland/Rat (C‑426/93, Slg. 1995, I‑3723, Randnr. 21).


37 – Vgl. Urteil vom 18. Februar 1986, Bulk Oil (174/84, Slg. 1986, 559, Randnr. 65).


38 – Dieser Grundsatz wird auf andere Weise auch in Art. 5 EU zum Ausdruck gebracht: „Das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof üben ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie der nachfolgenden Verträge und Akte zu deren Änderung oder Ergänzung einerseits und der übrigen Bestimmungen des vorliegenden Vertrags andererseits aus.“


39 – Seit 1958: vgl. Urteil vom 13. Juni 1958, Meroni/Hohe Behörde (9/56, Slg. 1958, 11, S. 44); vgl. ferner Urteil Köster (Randnr. 9) und Urteil vom 29. Oktober 1980, Roquette/Rat (138/79, Slg. 1980, 3333, Randnr. 33).


40 – Urteil vom 22. Mai 1990, Parlament/Rat (Randnr. 22).


41 – Urteil vom 10. Juli 1986, Wybot (149/85, Slg. 1986, 2391, Randnr. 23).


42 – So die ständige Rechtsprechung; vgl. z. B. Urteile vom 26. März 1987, Kommission/Rat (45/86, Slg. 1987, 1493, Randnr. 11), vom 13. Mai 1997, Deutschland/Parlament und Rat (C‑233/94, Slg. 1997, I‑2405, Randnr. 12), vom 14. April 2005, Belgien/Kommission (C‑110/03, Slg. 2005, I‑2801, Randnr. 78), vom 13. September 2005, Kommission/Rat (C‑176/03, Slg. 2005, I‑7879, Randnr. 45), und vom 10. Januar 2006, Kommission/Rat (C‑94/03, Slg. 2006, I‑1, Randnr. 34).


43 – Urteil Vereinigtes Königreich/Rat vom 23. Februar 1988 (Randnr. 38).


44 – In dieser Rechtssache ersetzte nämlich die abgeleitete Rechtsgrundlage die im Vertrag vorgesehene qualifizierte Mehrheit durch eine einstimmige Annahme im Rat.


45 – Siehe oben, Nr. 29 der Schlussanträge.


46 – Vgl. Urteile vom 26. März 1996, Parlament/Rat (C‑271/94, Slg. 1996, I‑1689, Randnr. 24), vom 12. November 1996, Vereinigtes Königreich/Rat (C‑84/94, Slg. 1996, I‑5755, Randnr. 19); vgl. bereits Urteil vom 23. Februar 1988, Vereinigtes Königreich/Rat (Randnr. 24).