Language of document : ECLI:EU:T:2008:262

Rechtssache T‑301/01

Alitalia – Linee aeree italiane SpA

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Staatliche Beihilfen – Erhöhung des Kapitals von Alitalia durch die italienischen Behörden – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird – Nach einem Urteil des Gerichts, mit dem eine frühere Entscheidung für nichtig erklärt wird, ergangene Entscheidung – Zulässigkeit – Verstoß gegen Art. 233 EG – Verstoß gegen die Art. 87 EG und 88 EG – Bedingungen für die Genehmigung der Beihilfe – Begründungspflicht“

Leitsätze des Urteils

1.      Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse

(Art 230 Abs. 4 EG)

2.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang

(Art. 253 EG)

3.      Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Tragweite – Erlass eines neuen Rechtsakts auf der Grundlage früherer rechtsgültiger Vorbereitungshandlungen – Zulässigkeit

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 7 Abs. 2 und 3)

4.      Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Wirkungen – Erlass von Durchführungsmaßnahmen – Angemessene Frist

(Art. 233 EG)

5.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Recht der Beteiligten zur Stellungnahme

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates)

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Kriterium des privaten Kapitalgebers

(Art. 87 Abs. 1 EG)

7.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Offensichtlicher Ermessensfehler – Fehler ohne entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis – Ins Leere gehender Klagegrund

8.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Klagegründe, die gegenüber einer Entscheidung der Kommission über staatliche Beihilfen geltend gemacht werden können

(Art. 230 Abs. 4 EG)

9.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Ermessen der Kommission – Beurteilungskriterien – Wirkung der von der Kommission erlassenen Leitlinien

(Art. 87 Abs. 3 EG; Mitteilung 94/C 350/07 der Kommission)

10.    Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden können – Prüfung der von dem durch die Beihilfe begünstigten Unternehmen geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen

(Art. 87 Abs. 3 EG)

1.      Ein Kläger kann eine Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung nur dann weiterverfolgen, wenn er an ihrer Nichtigerklärung weiterhin ein persönliches Interesse hat. Dies ist der Fall, wenn ein Unternehmen, obzwar es den Gesamtbetrag einer staatlichen Umstrukturierungsbeihilfe erhalten hat, weiterhin die Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission, mit der die genannte Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird, begehrt, da diese Entscheidung die Rechtsgrundlage einer späteren Entscheidung der Kommission bildet, mit der die Zahlung der letzten Tranche der Beihilfe genehmigt wurde. Eine vom Gericht ausgesprochene Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung insoweit, als die fragliche Maßnahme darin als staatliche Beihilfe angesehen wird, hätte nämlich Rechtsfolgen für die spätere Entscheidung, die dann ihre Rechtsgrundlage verlieren würde.

(vgl. Randnrn. 37, 40-42)

2.      Die Antwort auf die Frage, ob ein Rechtsakt der Gemeinschaft der in Art. 253 EG verankerten Begründungspflicht genügt, hängt von der Art des Rechtsakts und den Umständen ab, unter denen er erlassen wurde. Wenn ein Kläger am Entstehungsprozess der angefochtenen Entscheidung eng beteiligt war und daher weiß, weshalb die Verwaltung der Ansicht war, dass seinem Antrag nicht stattzugeben sei, hängt der Umfang der Begründungspflicht von dem durch diese Beteiligung geschaffenen Kontext ab. In einem solchen Fall stellt die einschlägige Rechtsprechung wesentlich geringere Anforderungen.

Wurde die angefochtene Entscheidung nach einer ersten Entscheidung erlassen, die durch ein Urteil für nichtig erklärt wurde, in dem der Sachverhalt, das Verwaltungsverfahren und der Inhalt der für nichtig erklärten Entscheidung geschildert werden, so ist zu berücksichtigen, dass die angefochtene Entscheidung in einem Kontext erging, der dem Kläger wohlbekannt war.

(vgl. Randnrn. 57, 69)

3.      Die Nichtigerklärung eines Rechtsakts der Gemeinschaft, der ein Verwaltungsverfahren abschließt, das mehrere Phasen umfasst, hat nicht notwendig und unabhängig von den materiellen oder formellen Gründen des Nichtigkeitsurteils die Nichtigkeit des gesamten Verfahrens zur Folge, das dem Erlass des angefochtenen Rechtsakts vorausgegangen ist.

Wenn trotz des Umstands, dass die Ermittlungshandlungen eine erschöpfende Untersuchung der Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe erlaubt hätten, die Untersuchung der Kommission unvollständig ist und deshalb zur Nichtigerklärung der Entscheidung, mit der die Beihilfe für vereinbar erklärt wurde, führt, kann das Verfahren zur Ersetzung dieser Entscheidung an diesem Punkt wieder aufgenommen werden, indem die Ermittlungshandlungen erneut untersucht werden. Zudem ist die Möglichkeit, nicht das gesamte dem Erlass eines Rechtsakts, der anstelle eines anderen ergeht, vorausgegangene Verfahren noch einmal durchzuführen, nicht davon abhängig, dass der Letztere wegen Verfahrensfehlern für nichtig erklärt wurde.

Es besteht auch keine Verpflichtung zur Veröffentlichung einer neuen Mitteilung im Amtsblatt und zur Wiedereröffnung des förmlichen Prüfverfahrens zwecks erneuter Konsultation der Investoren und der Sachverständigen, da keine Bestimmung der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG die Wiedereröffnung des Verfahrens in den Fällen vorschreibt, in denen an einem ursprünglichen Umstrukturierungsvorhaben während der förmlichen Prüfung Änderungen vorgenommen werden, obwohl solche Änderungen in Art. 7 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 659/1999 angesprochen werden.

(vgl. Randnrn. 100-101, 103, 142-143)

4.      Die Verpflichtung eines Gemeinschaftsorgans zur Durchführung eines Nichtigkeitsurteils des Gemeinschaftsrichters ergibt sich aus Art. 233 EG. Diese Durchführung macht bestimmte Verwaltungsmaßnahmen erforderlich und kann normalerweise nicht sofort erfolgen. Das betreffende Organ verfügt über eine angemessene Frist, um einem Urteil, mit dem eine seiner Entscheidungen für nichtig erklärt wurde, nachzukommen. Ob die Frist angemessen war, hängt von der Natur der zu ergreifenden Maßnahmen sowie den Umständen des Falles ab.

Eine Frist von sieben Monaten zwischen der Verkündung des Urteils, mit dem eine Entscheidung der Kommission, die ein angemeldetes staatliches Beihilfevorhaben unter Bedingungen als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar einstuft, für nichtig erklärt wird, und dem Zeitpunkt des Erlasses einer neuen Entscheidung der Kommission kann nicht als zu lang angesehen werden, da die praktischen Konsequenzen aus dem Nichtigkeitsurteil zu ziehen sind, insbesondere indem auf der Grundlage der verfügbaren Informationen das Kriterium des marktwirtschaftlich handelnden privaten Kapitalgebers neu angewendet wird, was eine gründliche finanzielle Analyse voraussetzt.

Das durch die Beihilfe begünstigte Unternehmen kann nicht allein daraus, dass die Kommission gegen das Nichtigkeitsurteil kein Rechtsmittel eingelegt hat, eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes herleiten, da dieses Urteil eine Überarbeitung der für nichtig erklärten Entscheidung nicht ausschließt und die Frist, über die die Kommission verfügt, um die praktischen Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehen, länger ist als die Zweimonatsfrist, in der sie ihr Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen muss.

(vgl. Randnrn. 155-156, 162)

5.      Keine Bestimmung der Verordnung Nr. 659/1999 über die Anwendung von Art. 88 EG verpflichtet die Kommission, Drittbetroffenen, deren Recht, Erklärungen abzugeben, durch die Veröffentlichung einer Mitteilung über die Entscheidung, ein förmliches Prüfverfahren einzuleiten, im Amtsblatt gewahrt wurde und die eng an der Prüfung der streitigen Beihilfe beteiligt wurden, die zu einer ersten – für nichtig erklärten und durch eine zweite Entscheidung ersetzten – Entscheidung geführt hatte, diese Möglichkeit im Rahmen der zu der zweiten Entscheidung führenden Prüfung erneut zu eröffnen, zumal die Kommission ihre erneute Prüfung nur auf Informationen stützen durfte, über die sie bei ihrer ersten Entscheidung verfügt hatte und zu denen die Dritten bereits Stellung genommen hatten, so dass es nicht erforderlich war, sie erneut zu konsultieren.

(vgl. Randnr. 174)

6.      Die von der Kommission vorzunehmende Prüfung der Frage, ob eine Investition dem Kriterium des privaten Kapitalgebers entspricht, umfasst eine komplexe wirtschaftliche Beurteilung. Die Kommission besitzt jedoch ein weites Ermessen, wenn sie eine Handlung vornimmt, die eine derart komplexe wirtschaftliche Beurteilung umfasst, und die gerichtliche Kontrolle dieser Handlung beschränkt sich demnach – auch wenn die Frage, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich von Art. 87 Abs. 1 EG fällt, grundsätzlich umfassend zu prüfen ist – auf die Prüfung, ob die Vorschriften über das Verfahren und die Begründung eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt, der der beanstandeten Entscheidung zugrunde gelegt wurde, zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts oder ein Ermessensmissbrauch vorliegt. Insbesondere darf das Gericht die wirtschaftliche Beurteilung des Urhebers der Entscheidung nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen.

(vgl. Randnr. 185)

7.      Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage ist die Berufung auf einen offensichtlichen Beurteilungsfehler unerheblich und kann daher die Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung nicht rechtfertigen, wenn er unter den Umständen des konkreten Falles das Ergebnis nicht entscheidend beeinflussen konnte.

(vgl. Randnr. 307)

8.      Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage eines durch eine staatliche Beihilfe begünstigten Unternehmens gegen die vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Bedingungen ergangene Entscheidung, die Beihilfe als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar anzusehen, kann der Klagegrund, der gegen die Bedingungen gerichtet ist, von deren Erfüllung die Vereinbarkeit der in Rede stehenden Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt abhängig gemacht wird, nicht mit der Begründung für unzulässig erklärt werden, dass diese Bedingungen der Kommission, die für die Feststellung der etwaigen Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt ausschließlich zuständig ist, nicht zuzurechnen seien.

Die Befugnis eines durch eine Beihilfe begünstigten Unternehmens, vor dem Gemeinschaftsrichter die Bedingungen, an die eine ihm nachteilige Entscheidung geknüpft ist, anzufechten, wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass diese Bedingungen Gegenstand von Verhandlungen zwischen der Kommission und den nationalen Behörden oder selbst von Zusagen dieser Behörden waren.

(vgl. Randnrn. 380-381, 383)

9.      Die Kommission kann sich bei der Ausübung ihres Ermessens durch Maßnahmen wie Leitlinien selbst binden, wenn sie Grundsätze der von diesem Organ verfolgten Politik aufzeigen und nicht von den Vorschriften des Vertrags abweichen. Nach der Mitteilung über den Luftverkehr müssen die Umstrukturierungsbeihilfen jedoch Bestandteil eines Programms zur Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit der Fluggesellschaft sein, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums lebensfähig ist. Nach Randnr. 38 Ziff. 1 und 2 und Randnr. 41 dieser Mitteilung wird die Kommission Umstrukturierungsbeihilfen nur in ganz seltenen Ausnahmefällen und unter strengsten Auflagen genehmigen können. Daraus folgt, dass die Kommission in einer Entscheidung, die auf der Grundlage von Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG erlassen wird, alle Bedingungen aufstellen kann, die sie für unerlässlich hält, um sicherzustellen, dass das durch die Beihilfe begünstigte Unternehmen nach seiner Umstrukturierung lebensfähig ist. Dagegen verlangt keine dieser Bestimmungen, dass alle in diesem Rahmen aufgestellten Bedingungen notwendig sind, um die Lebensfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen. Aus der genannten Mitteilung geht vielmehr hervor, dass die Kommission auch bestrebt ist, die wettbewerbsverzerrenden Wirkungen soweit wie möglich einzudämmen, und dass sie dafür Sorge tragen muss, dass sich der Staat außer aus Gründen, die mit seinen Rechten als Eigentümer zusammenhängen, nicht in die Führung des Unternehmens einmischt und dass die Beihilfe nur für Zwecke des Umstrukturierungsprogramms eingesetzt wird und im Verhältnis zu dessen Erfordernissen nicht disproportioniert ist.

(vgl. Randnrn. 405-408)

10.    Zwar lässt sich bei staatlichen Beihilfen nicht ausschließen, dass die Kommission die vom begünstigten Unternehmen geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen mit den von anderen Unternehmen desselben Wirtschaftssektors ergriffenen Maßnahmen vergleichen kann, jedoch muss die Umstrukturierung eines Unternehmens auf dessen innere Probleme ausgerichtet sein, und die Erfahrungen, die andere Unternehmen in unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen zu anderen Zeiten gemacht haben, können irrelevant sein.

(vgl. Randnr. 478)