Language of document : ECLI:EU:T:2011:36

URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)

9. Februar 2011(*)

„Gemeinschaftsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Gemeinschaftswortmarke ALPHAREN – Ältere nationale Wortmarken ALPHA D3 – Relatives Eintragungshindernis – Verwechslungsgefahr – Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 40/94 (jetzt Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung [EG] Nr. 207/2009) – Prüfung des Sachverhalts von Amts wegen – Art. 74 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 76 der Verordnung Nr. 207/2009)“

In der Rechtssache T‑222/09

Ineos Healthcare Ltd mit Sitz in Warrington, Cheshire (Vereinigtes Königreich), vertreten durch S. Malynicz, Barrister, und A. Smith, Solicitor,

Klägerin,

gegen

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM), vertreten durch A. Folliard-Monguiral als Bevollmächtigten,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des HABM:

Teva Pharmaceutical Industries Ltd mit Sitz in Jerusalem (Israel),

betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Zweiten Beschwerdekammer des HABM vom 24. März 2009 (Sache R 1897/2007‑2) zu einem Widerspruchsverfahren zwischen der Teva Pharmaceutical Industries Ltd und der Ineos Healthcare Ltd

erlässt

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten O. Czúcz, der Richterin I. Labucka (Berichterstatterin) und des Richters K. O’Higgins,

Kanzler: E. Coulon,

aufgrund der am 1. Juni 2009 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

aufgrund der am 2. Oktober 2009 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung,

aufgrund des Schriftsatzes der Klägerin vom 14. Mai 2010 mit der Erklärung, sie wünsche nicht mehr in einer mündlichen Verhandlung angehört zu werden,

aufgrund der schriftlichen Fragen des Gerichts an die Beteiligten,

aufgrund der am 11. und 14. Juni 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Erklärungen der Beteiligten

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Am 3. März 2005 meldete die Klägerin, die Ineos Healthcare Ltd, beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) gemäß der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1994, L 11, S. 1) in geänderter Fassung (ersetzt durch die Verordnung [EG] Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke [ABl. L 78, S. 1]) eine Gemeinschaftsmarke an.

2        Die Anmeldemarke besteht aus dem Wortzeichen ALPHAREN.

3        Die mit der Anmeldung beanspruchten Waren gehören nach der im Verfahren vor dem HABM vorgenommenen Begrenzung in Klasse 5 des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung und entsprechen der folgenden Beschreibung: „Pharmazeutische und veterinärmedizinische Erzeugnisse, die Magnesiumhydroxycarbonat, Eisen oder Hydrotalcit bzw. Derivate dieser Inhaltsstoffe enthalten; pharmazeutische und veterinärmedizinische Erzeugnisse für die Nierendialyse und die Behandlung von Nierenbeschwerden und ‑erkrankungen; Bindephosphate für die Behandlung von Hyperphosphatämie“.

4        Die Anmeldung der Gemeinschaftsmarke wurde im Blatt für Gemeinschaftsmarken Nr. 49/2005 vom 5. Dezember 2005 veröffentlicht.

5        Am 6. März 2006 erhob die Teva Pharmaceutical Industries Ltd (Widerspruchsführerin) gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 41 der Verordnung Nr. 207/2009) Widerspruch gegen die Eintragung der angemeldeten Marke für die oben in Randnr. 3 aufgeführten Waren.

6        Der Widerspruch wurde auf die folgenden älteren Marken gestützt:

–        ungarische Wortmarke ALPHA D3 Nr. 134972 für „kalziumregulierende pharmazeutische Erzeugnisse“ in Klasse 5;

–        litauische Wortmarke ALPHA D3 Nr. 20613 für „kalziumregulierende pharmazeutische Erzeugnisse“ in Klasse 5;

–        lettische Wortmarke ALPHA D3, eingetragen unter der Nr. M30407 für pharmazeutische Erzeugnisse mit „kalziumregulierenden Eigenschaften“ in Klasse 5.

7        Der Widerspruch wurde auf die in Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009) bezeichneten Gründe gestützt.

8        Am 9. Oktober 2007 gab die Widerspruchsabteilung dem Widerspruch aufgrund der älteren ungarischen Marke in vollem Umfang statt.

9        Am 29. November 2007 legte die Klägerin beim HABM gemäß den Art. 57 bis 62 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 58 bis 64 der Verordnung Nr. 207/2009) Beschwerde gegen die Entscheidung der Widerspruchsabteilung ein.

10      Mit Entscheidung vom 24. März 2009 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Zweite Beschwerdekammer des HABM die Beschwerde zurück. Sie führte insbesondere aus, dass die ältere ungarische Marke wegen fehlender Übersetzung der Eintragungsbescheinigung in die Verfahrenssprache nicht habe berücksichtigt werden dürfen. Der Umstand, dass dem Widerspruch allein auf der Grundlage der älteren ungarischen Marke stattgegeben worden sei, rechtfertige bereits für sich die Aufhebung der Entscheidung der Widerspruchsabteilung. Da die Beschwerdekammer aber der Ansicht war, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde eine Entscheidung mit dem gleichen verfügenden Teil wie die Entscheidung der Widerspruchsabteilung erlassen werden könne, nahm sie in Ausübung ihrer Beurteilungsbefugnis die Prüfung der anderen Marken vor, auf die der Widerspruch gestützt worden war. Hierzu führte sie insbesondere aus, dass die von der lettischen und der litauischen Eintragung erfassten Waren die gleichen wie die von der älteren ungarischen Marke erfassten gewesen seien und dass die Beteiligten Gelegenheit gehabt hätten, zu sämtlichen Umständen des vorliegenden Falls Stellung zu nehmen. Die einander gegenüberstehenden Zeichen wiesen einen gewissen Ähnlichkeitsgrad auf bildlicher, klanglicher und begrifflicher Ebene auf. Auch seien die Waren teilweise identisch und teilweise ähnlich. Dieser Umstand habe größeres Gewicht als der geringere Grad der Ähnlichkeit der Marken. Im Kern gelangte die Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass für den Durchschnittsverbraucher Verwechslungsgefahr bestehe, denn dieser gehöre zu den maßgeblichen Verkehrskreisen und sei, da er nicht über die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem Gebiet der Biochemie und der Pharmakologie wie die Fachleute in diesen Bereichen verfüge, einer solchen Gefahr stärker ausgesetzt.

 Verfahren und Anträge der Parteien

11      Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–        dem HABM die Kosten aufzuerlegen.

12      Das HABM beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Entscheidungsgründe

13      Zur Stützung ihrer Klage führt die Klägerin vier Gründe an, erstens Fehlen des Nachweises der Ähnlichkeit der Waren durch die Widerspruchsführerin, zweitens Verstoß gegen Art. 73 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 75 der Verordnung Nr. 207/2009), drittens Verstoß gegen Art. 74 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 76 der Verordnung Nr. 207/2009) und viertens Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 40/94 in Bezug auf die Bestimmung der maßgeblichen Verkehrskreise.

 Zum ersten Klagegrund: Fehlen des Nachweises der Ähnlichkeit der Waren durch die Widerspruchsführerin

 Vorbringen der Parteien

14      Die Klägerin macht geltend, im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs obliege die Beweislast für die Ähnlichkeit der Waren in einem Widerspruchsverfahren der Widerspruchsführerin. Die Darlegung der angeblichen Ähnlichkeit der Waren durch die Widerspruchsführerin sei unzureichend und beschränke sich auf zwei Schreiben an die Klägerin und einen Vermerk für die Patienten. Ferner bestreitet die Klägerin auch die Beweiskraft dieses Vermerks. Die Beweise müssten sich auf alle für den Vergleich der Waren maßgebenden Umstände beziehen, zu denen ihre Natur, ihre Bestimmung, ihre Verwendung und ihr konkurrierender oder ergänzender Charakter gehöre.

15      Das HABM tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

 Würdigung durch das Gericht

16      Nach Regel 15 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 2868/95 der Kommission vom 13. Dezember 1995 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates über die Gemeinschaftsmarke (ABl. L 303, S. 1) muss die Widerspruchsschrift die Gründe enthalten, auf die sich der Widerspruch stützt. Nach Regel 15 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung soll die Widerspruchsschrift eine Begründung enthalten, auf die sich der Widerspruch stützt, sowie die entsprechenden Beweismittel. Nach Regel 19 Abs. 1 der Verordnung gibt das HABM dem Widersprechenden Gelegenheit, die Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen zur Stützung seines Widerspruchs vorzubringen oder Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen zu ergänzen, die bereits nach Regel 15 Abs. 3 vorgelegt wurden; dazu setzt das HABM eine Frist von mindestens zwei Monaten ab dem Tag der Eröffnung des Widerspruchsverfahrens nach Regel 18 Abs. 1.

17      Aus den erwähnten Bestimmungen ergibt sich, dass in einem Widerspruchsverfahren die Widerspruchsführerin Beweise zur Stützung des Widerspruchs insbesondere in Bezug auf die Ähnlichkeit der betreffenden Waren und Dienstleistungen vorlegen kann, dazu jedoch nicht verpflichtet ist.

18      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass das HABM, wie sich aus den Akten ergibt, mit Schreiben vom 7. April 2006 in Anwendung von Regel 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2868/95 die Widerspruchsführerin aufgefordert hat, Tatsachen, Beweise und Argumente zur Stützung ihres Widerspruchs oder zur Ergänzung ihres Vortrags im Widerspruchsformblatt vorzulegen, und dabei klargestellt hat, dass es, falls diese nicht übermittelt würden, die Entscheidung über den Widerspruch auf der Grundlage der Beweismittel erlassen werde, über die es verfüge.

19      Die Widerspruchsführerin hat mit Schreiben vom 18. Juli 2006 ergänzendes Vorbringen vorgelegt. Die Klägerin hat sich daraufhin mit Schreiben vom 31. Oktober 2006 geäußert, zu dem die Widerspruchsführerin in einem Schreiben vom 16. Februar 2007 Stellung bezogen hat.

20      Ferner ist klarzustellen, dass der Gerichtshof entgegen der Ansicht der Klägerin in seinem Beschluss vom 9. März 2007, Alecansan/HABM (C‑196/06 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 24), zur Frage der Beweislast des Widerspruchsführers in einem Widerspruchsverfahren nicht Stellung genommen hat. In Randnr. 24 dieses Beschlusses hat der Gerichtshof nur die Verpflichtung hervorgehoben, für die Zwecke der Anwendung von Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 40/94 die Ähnlichkeit der Waren auch dann zu beweisen, wenn die Zeichen identisch sind.

21      Zudem brauchen die in Regel 15 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 2868/95 erwähnten Beweismittel entgegen der Ansicht der Klägerin nicht notwendigerweise alle Aspekte des Vergleichs der Waren abzudecken.

22      Nach dem Vorstehenden ist die Widerspruchsführerin nicht verpflichtet, im Widerspruchsverfahren Beweise für die Ähnlichkeit der in Rede stehenden Waren vorzulegen. Ebenfalls ergibt sich daraus, dass das Vorbringen der Klägerin in Bezug auf die Beweiskraft eines dem HABM von der Widerspruchsführerin vorgelegten Vermerks für die Patienten im Rahmen dieses Klagegrundes unerheblich ist. Daher ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen.

 Zum zweiten und dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 73 bzw. Art. 74 der Verordnung Nr. 40/94

23      Der zweite und der dritte Klagegrund betreffen die Verwendung bestimmter Nachforschungen durch die Beschwerdekammer für die Feststellung einer Ähnlichkeit der Waren, für die die älteren lettischen und litauischen Marken eingetragen sind, und insbesondere der „pharmazeutischen und veterinärmedizinischen Erzeugnisse, die Magnesiumhydroxycarbonat, Eisen oder Hydrotalcit bzw. Derivate dieser Inhaltsstoffe enthalten“ (im Folgenden: Waren A) und „Bindephosphate für die Behandlung von Hyperphosphatämie“ (im Folgenden: Waren C), die von der Anmeldemarke erfasst werden; das Gericht hält es daher für angezeigt, den zweiten und den dritten Klagegrund gemeinsam zu prüfen. Es ist mit der Prüfung des dritten Klagegrundes zu beginnen.

 Vorbringen der Parteien

24      Die Klägerin macht im Rahmen ihres dritten Klagegrundes geltend, dass die Beschwerdekammer ihre Verpflichtung aus Art. 74 der Verordnung Nr. 40/94, wonach sie in einem Verfahren betreffend relative Eintragungshindernisse bei der Ermittlung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt sei, verletzt habe, indem sie, wie aus Randnr. 40 der angefochtenen Entscheidung hervorgehe, von Amts wegen Nachforschungen im Internet zum Zweck des Vergleichs der Waren angestellt habe. Diese Bestimmung gelte auch für die Vorlage von Beweismitteln durch die Beteiligten. Diese Nachforschungen hätten in der Einsichtnahme in ein medizinisches Onlinewörterbuch einer Website der amerikanischen Regierung bestanden, das klinischen Versuchen gewidmet sei, und einer Website eines anderen Unternehmens als der Klägerin, das der gleichen Unternehmensgruppe angehöre. Ferner macht die Klägerin geltend, in Bezug auf die Ähnlichkeit der von den älteren lettischen und litauischen Marken erfassten Waren und der Waren A sowie der Waren C, die von der Anmeldemarke erfasst würden, hätten die von der Beschwerdekammer aus dem Internet zusammengetragenen Einzelheiten eine maßgebliche Rolle gespielt.

25      Mit dem zweiten Klagegrund rügt die Klägerin, dass die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung auf Gründe gestützt habe, zu denen sie nicht habe Stellung nehmen können. Sie habe nämlich niemals Gelegenheit gehabt, ihren Standpunkt zu den Beweismitteln vorzutragen, die die Beschwerdekammer im Internet gefunden habe. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, sich zu diesen Beweismitteln zu äußern, so hätte sie dartun können, aufgrund welcher Umstände die Schlussfolgerung, dass die Waren ähnlich seien, unwahrscheinlich sei.

26      In Bezug auf den dritten Klagegrund macht das HABM geltend, im Licht des Urteils des Gerichts vom 24. September 2008, Anvil Knitwear/HABM – Aprile e Aprile (Aprile) (T‑179/07, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 72 und 75), sei die Beschwerdekammer nicht befugt gewesen, die von der Widerspruchsführerin geltend gemachte Ähnlichkeit als nachgewiesen zu erachten, weil die Klägerin nichts zur Widerlegung dieses Arguments vorgetragen habe. Sie sei daher verpflichtet gewesen, eine eigene Untersuchung der Warenähnlichkeit anhand der von den einander gegenüberstehenden Marken erfassten Waren vorzunehmen. Unter diesen Umständen sei die Beschwerdekammer befugt gewesen, von Amts wegen Nachforschungen durch Studium von neutralen oder der Klägerin bekannten Informationsquellen vorzunehmen, soweit diese Nachforschungen ausschließlich dazu bestimmt gewesen seien, die Richtigkeit des Vorbringens der Widerspruchsführerin zu überprüfen.

27      Was den zweiten Klagegrund angeht, tritt das HABM dem Vorbringen der Klägerin entgegen und stellt klar, dass im Licht der Rechtsprechung des Gerichts das Recht auf Äußerung, wie es in Art. 73 Satz 2 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 75 Satz 2 der Verordnung Nr. 207/2009) verankert sei, nicht für den endgültigen Standpunkt gelte, den die Verwaltung einzunehmen beabsichtige. Das Gleiche gelte für Unterlagen, die die abschließende Feststellung der Ähnlichkeit der Waren belegten und Teil dieser Feststellungen seien. Im Übrigen hätten die im Internet gesammelten Unterlagen nur den ursprünglichen Standpunkt der Beschwerdekammer, der in Randnr. 42 der angefochtenen Entscheidung zum Ausdruck gebracht worden sei, bestätigt. Die Klägerin hätte vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung zum Vorbringen der Widerspruchsführerin Stellung nehmen können, was sie nicht getan habe. Selbst wenn schließlich die Beschwerdekammer einen Fehler begangen habe, indem sie den Parteien die Ergebnisse der im Internet angestellten Nachforschungen nicht mitgeteilt habe, wäre das Ergebnis in Bezug auf den Vergleich der Waren das gleiche geblieben. Ein solcher Verstoß gegen Art. 73 der Verordnung Nr. 40/94 rechtfertige nicht die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

 Würdigung durch das Gericht

28      Nach Art. 74 Abs. 1 der Verordnung Nr. 40/94 ist das HABM im „Verfahren bezüglich relativer Eintragungshindernisse … bei dieser Ermittlung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt“.

29      Diese Bestimmung betrifft insbesondere die tatsächliche Grundlage der Entscheidungen des HABM, also die Tatsachen und Beweise, auf die diese Entscheidungen wirksam gestützt werden können. So darf die Beschwerdekammer ihre Entscheidung über eine Beschwerde, mit der eine ein Widerspruchsverfahren abschließende Entscheidung angefochten wird, nur auf die von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Tatsachen und beigebrachten Beweise stützen. Die Beschränkung der tatsächlichen Grundlage der Prüfung durch die Beschwerdekammer schließt jedoch nicht aus, dass diese neben den von den Beteiligten des Widerspruchsverfahrens ausdrücklich vorgetragenen Tatsachen offenkundige Tatsachen berücksichtigt, d. h. Tatsachen, die jeder kennen kann oder die allgemein zugänglichen Quellen entnommen werden können (vgl. Urteil des Gerichts vom 22. Juni 2004, Ruiz-Picasso u. a./HABM – DaimlerChrysler [PICARO], T‑185/02, Slg. 2004, II‑1739, Randnrn. 28 und 29 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Aprile, Randnr. 71).

30      Im vorliegenden Fall hat sich die Beschwerdekammer in den Randnrn. 40 und 41 der angefochtenen Entscheidung auf die Ergebnisse ihrer Nachforschungen im Internet berufen. Konkret hat sie, wie aus Randnr. 40 der angefochtenen Entscheidung hervorgeht, die Bestimmung des Begriffs Hyperphosphatämie, die zur Spezifizierung der Waren C der angemeldeten Marke gehört, verwendet, die sie im medizinischen Onlinewörterbuch gefunden hat. Sie hat ferner auf der Website der amerikanischen Regierung, die den klinischen Versuchen gewidmet ist, die therapeutischen Indikationen von Magnesiumhydroxycarbonat, Eisen oder Hydrotalcit gesucht, die Bestandteile der Waren A der angemeldeten Marke sind. Schließlich hat sie sich in Randnr. 41 der angefochtenen Entscheidung auf Angaben zur Wechselwirkung der in Rede stehenden Erzeugnisse bezogen und dargelegt, dass sie in engem Zusammenhang miteinander stehen und für Patienten mit Nierenerkrankungen bestimmt sind. Diese Angaben wurden auf der Website eines anderen Unternehmens als der Klägerin gefunden, das derselben Unternehmensgruppe angehört. Dieser Sachverhalt wird vom HABM nicht bestritten.

31      Obwohl die Ergebnisse der betreffenden Nachforschungen den oben in Randnr. 30 erwähnten Websites entnommen wurden, die allgemein zugänglich sind, kann dieser Umstand im vorliegenden Fall nicht für die Annahme genügen, dass es sich um offenkundige Tatsachen handelte. Es geht nämlich um die Beschreibung von pharmazeutischen Erzeugnissen und ihren therapeutischen Indikationen, die so technisch sind, dass sie nicht als Angaben über offenkundige Tatsachen betrachtet werden können.

32      Daher ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer durch die Berücksichtigung der oben in Randnr. 30 erwähnten Ergebnisse von Nachforschungen im Internet gegen Art. 74 der Verordnung Nr. 40/94 verstoßen hat, da die Tatsachen, die sich aus von ihr angeführten Nachforschungen im Internet ergeben, keine offenkundigen Tatsachen sind.

33      Nach ständiger Rechtsprechung geht jedoch, wenn unter den besonderen Umständen des konkreten Falls ein Fehler das Ergebnis nicht entscheidend beeinflussen konnte, das auf einen solchen Fehler gestützte Vorbringen ins Leere und kann daher die Nichtigerklärung der Entscheidung nicht rechtfertigen (vgl. Urteil des Gerichts vom 12. September 2007, Philip Morris Products/HABM [Form eines Zigarettenpakets], T‑140/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Beschreibung der von der angemeldeten Marke erfassten Waren A und C im Wesentlichen ausschließlich den oben in Randnr. 30 erwähnten Ergebnissen von Nachforschungen im Internet entnommen worden ist. Im Übrigen ist die Beschreibung der in Rede stehenden Erzeugnisse der Ausgangspunkt jedes Vergleichs der Waren, der eine unabdingbare Phase der Beurteilung der Verwechslungsgefahr darstellt. Im vorliegenden Fall hätte die Beschwerdekammer nicht ohne Bezugnahme auf die den beanstandeten Nachforschungen entnommenen Tatsachen zu dem Ergebnis gelangen können, dass Ähnlichkeit zwischen den Waren A und den Waren C einerseits und den von den älteren lettischen und litauischen Marken erfassten Waren andererseits besteht, und hätte damit nicht in Randnr. 58 der angefochtenen Entscheidung die Verwechslungsgefahr bejahen können. Daher wäre die angefochtene Entscheidung ohne die Verwendung der in Rede stehenden Information entgegen dem Vorbringen des HABM deutlich anders ausgefallen.

35      Was dagegen die „pharmazeutischen und veterinärmedizinischen Erzeugnisse für die Nierendialyse und die Behandlung von Nierenbeschwerden und ‑erkrankungen“ (im Folgenden: Waren B) angeht, die von der angemeldeten Marke erfasst werden, haben die in Randnr. 41 der angefochtenen Entscheidung erwähnten den beanstandeten Nachforschungen entnommenen Informationen das Ergebnis der Beschwerdekammer in Bezug auf die Ähnlichkeit der in Rede stehenden Waren nur bestätigt. Somit rechtfertigt der oben in Randnr. 32 festgestellte Verstoß gegen Art. 74 der Verordnung Nr. 40/94 nicht die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Waren B.

36      Im Übrigen ist das Vorbringen des HABM in Bezug auf die aus dem Urteil Aprile (Randnrn. 72 und 75) zu ziehenden Konsequenzen zurückzuweisen. Zwar hat das Gericht in diesem Urteil bestätigt, dass das HABM nicht verpflichtet ist, die von einem anderen Verfahrensbeteiligten nicht bestrittenen Umstände, auf die sich ein Beteiligter beruft, als erwiesen zu betrachten, doch hat es dem HABM keineswegs die Befugnis zuerkannt, sich über die in Art. 74 der Verordnung Nr. 40/94 vorgesehenen Prüfungsvoraussetzungen hinwegzusetzen.

37      Nach allem ist die Verwendung der oben in Randnr. 30 erwähnten Ergebnisse der Nachforschungen der Beschwerdekammer im Internet mit einem Fehler behaftet, so dass der dritte Klagegrund insoweit durchgreift, als die Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung die Zurückweisung der Anmeldung des Zeichens für die Waren A und die Waren C bestätigt hat, und in Bezug auf die Waren B zurückzuweisen ist, ohne dass das Gericht über den zweiten Klagegrund zu entscheiden braucht.

38      Da die angefochtene Entscheidung aufgrund der Prüfung des dritten Klagegrundes teilweise aufgehoben wird, ist auch der vierte Klagegrund zu prüfen.

 Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 40/94 in Bezug auf die Bestimmung der maßgeblichen Verkehrskreise

 Vorbringen der Parteien

39      Die Klägerin macht geltend, bei der Bestimmung der maßgeblichen Verkehrskreise sei der Beschwerdekammer ein Fehler unterlaufen, als sie in Randnr. 36 der angefochtenen Entscheidung erwogen habe, dass die in Rede stehenden Waren auch in Apotheken frei an das allgemeine Publikum verkauft würden. Die Klägerin tritt dieser Feststellung aus zwei Gründen entgegen. Zunächst treffe sie in Bezug auf die von den älteren lettischen und litauischen Marken erfassten Waren nicht zu, da das einzige Beweismittel, nämlich der Vermerk für die Verbraucher, belege, dass Alfacalcidol, ein pharmazeutisches Erzeugnis der Warenkategorie, die von einer älteren Marke erfasst werde, nur auf Verschreibung verfügbar sei. Allein diese Feststellung hätte den Schluss auf spezialisierte Verkehrskreise erlauben können. Zudem könnten auch die von der Anmeldemarke erfassten Waren nur auf Verschreibung ausgegeben werden. Indem die Beschwerdekammer in Randnr. 58 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt habe, dass die Durchschnittsverbraucher eine überdurchschnittliche Aufmerksamkeit an den Tag legten, habe sie verkannt, dass diese über eine Verschreibung oder zumindest den besonderen Beistand durch eine im medizinischen Bereich befähigte Fachperson verfügten.

40      Das HABM tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

 Würdigung durch das Gericht

41      Nach der Rechtsprechung ist bei der umfassenden Beurteilung der Verwechslungsgefahr auf einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher der in Frage stehenden Art von Waren abzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Aufmerksamkeit des Durchschnittsverbrauchers je nach Art der Waren oder Dienstleistungen unterschiedlich hoch sein kann (vgl. Urteil des Gerichts vom 13. Februar 2007, Mundipharma/HABM – Altana Pharma [RESPICUR], T‑256/04, Slg. 2007, II‑449, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdekammer in Randnr. 36 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt, dass zu den maßgeblichen Verkehrskreisen sowohl medizinische Fachleute (Ärzte, Apotheker, Krankenpfleger) als auch Durchschnittsverbraucher, nämlich Patienten und die Personen, die sie pflegten, gehörten. Es sei nicht möglich, den Durchschnittsverbraucher von den maßgeblichen Verkehrskreisen auszunehmen, da die Spezifikation der Waren nicht auf verschreibungspflichtige Arzneimittel beschränkt sei, und daher könne nicht ausgeschlossen werden, dass die in Rede stehenden Waren frei verkäuflich sein könnten. Da die älteren Marken in Lettland und Litauen eingetragen seien, setzten sich die maßgeblichen Verkehrskreise aus medizinischen Fachleuten und Durchschnittsverbrauchern dieser Länder zusammen.

43      Nach der Rechtsprechung setzen sich, wenn die in Rede stehenden Waren Arzneimittel sind, die vor ihrem Verkauf an die Verbraucher in den Apotheken einer Verschreibung durch den Arzt bedürfen, die maßgeblichen Verkehrskreise sowohl aus Endverbrauchern als auch aus medizinischen Fachleuten, d. h. Ärzten, die das Arzneimittel verschreiben, und Apothekern, die das verschriebene Arzneimittel verkaufen, zusammen. Selbst wenn die Wahl dieser Waren durch zwischengeschaltete Personen beeinflusst oder bestimmt wird, kann Verwechslungsgefahr auch für die Verbraucher bestehen, wenn diese mit den Waren konfrontiert werden, und sei es auch möglicherweise bei Käufen, die für jede einzelne Ware zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 26. April 2007, Alcon/HABM, C‑412/05 P, Slg. 2007, I‑3569, Randnrn. 52 bis 63).

44      Wie aus der angeführten Rechtsprechung hervorgeht, kann selbst im Fall von ausschließlich auf Verschreibung ausgegebenen Arzneimitteln nicht ausgeschlossen werden, dass der Durchschnittsverbraucher zu den maßgeblichen Verkehrskreisen gehört. Daher hat die Beschwerdekammer zu Recht festgestellt, dass sich die maßgeblichen Verkehrskreise sowohl aus medizinischen Fachleuten als auch aus Durchschnittsverbrauchern zusammensetzen.

45      Infolgedessen ist die Frage, ob die in Rede stehenden Arzneimittel frei verkäuflich sein konnten, im vorliegenden Fall unerheblich, denn selbst wenn der Beschwerdekammer bei der Beurteilung in Bezug auf die Art und Weise des Verkaufs der in Rede stehenden Waren ein Fehler unterlaufen wäre, wäre das Ergebnis in Bezug auf die Zusammensetzung der maßgeblichen Verkehrskreise unverändert geblieben.

46      Somit ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen. Nach allem ist die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die Waren A und die Waren C aufzuheben.

 Kosten

47      Nach Art. 87 § 3 der Verfahrensordnung des Gerichts kann das Gericht die Kosten teilen, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da im vorliegenden Fall der Klage nur für einen Teil der in Rede stehenden Waren stattgegeben worden ist, hat das HABM seine eigenen Kosten und die Hälfte der Kosten der Klägerin zu tragen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Entscheidung der Zweiten Beschwerdekammer des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) vom 24. März 2009 (Sache R 1897/2007‑2) wird in Bezug auf Waren aufgehoben, die den folgenden Kategorien angehören: „Pharmazeutische und veterinärmedizinische Erzeugnisse, die Magnesiumhydroxycarbonat, Eisen oder Hydrotalcit bzw. Derivate dieser Inhaltsstoffe enthalten“, „Bindephosphate für die Behandlung von Hyperphosphatämie“.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Das HABM trägt seine eigenen Kosten und die Hälfte der Kosten der Ineos Healthcare Ltd.

4.      Ineos Healthcare trägt die Hälfte ihrer eigenen Kosten.

Czúcz

Labucka

O’Higgins

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. Februar 2011.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.