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Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ʼs-Hertogenbosch (Niederlande), eingereicht am 23. Juli 2021 – E, F/Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

(Rechtssache C-456/21)

Verfahrenssprache: Niederländisch

Vorlegendes Gericht

Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s Hertogenbosch

Parteien des Ausgangsverfahrens

Klägerinnen: E, F

Beklagter: Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

Vorlagefragen

Ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Qualifikationsrichtlinie1 dahin auszulegen, dass westliche Normen, Werte und Verhaltensweisen, die Drittstaatsangehörige durch ihren Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats während eines beträchtlichen Teils ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernehmen, wobei sie uneingeschränkt am Gesellschaftsleben teilnehmen, als gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann, bzw. derart bedeutsame Identitätsmerkmale anzusehen sind, dass von den Betroffenen nicht verlangt werden kann, auf sie zu verzichten?

Falls die erste Frage zu bejahen ist, sind Drittstaatsangehörige, die – unabhängig von den betreffenden Gründen – vergleichbare westliche Normen und Werte durch einen tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat während ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernommen haben, als „Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Qualifikationsrichtlinie anzusehen? Ist die Frage, ob eine „bestimmte soziale Gruppe, die in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat“, vorliegt, dabei aus Sicht des Mitgliedstaats zu beurteilen, oder ist dies in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie dahin auszulegen, dass ausschlaggebend ist, dass der Ausländer dartun kann, dass er im Herkunftsland als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe angesehen wird bzw. ihm dort jedenfalls die entsprechenden Merkmale zugeschrieben werden? Ist eine Anforderung, wonach eine Verwestlichung die Flüchtlingseigenschaft nur dann begründen kann, wenn diese auf religiösen oder politischen Gründen beruht, mit Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und dem Recht auf Asyl vereinbar?

Ist eine nationale Rechtspraxis, bei der eine entscheidende Behörde im Rahmen der Beurteilung eines Antrags auf internationalen Schutz das Wohl des Kindes gewichtet, ohne dieses zuerst (in jedem Verfahren) konkret festzustellen (bzw. feststellen zu lassen), mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta vereinbar? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn der Mitgliedstaat einen Antrag auf Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen beurteilen muss und das Wohl des Kindes bei der Entscheidung über diesen Antrag zu berücksichtigen ist?

Auf welche Weise und in welchem Stadium der Beurteilung eines Antrags auf internationalen Schutz muss im Licht von Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl des Kindes, insbesondere der Schaden, den ein Minderjähriger durch einen langfristigen tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erlitten hat, berücksichtigt und gewichtet werden? Ist dabei relevant, ob dieser tatsächliche Aufenthalt rechtmäßig war? Ist es bei der Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen dieser Beurteilung von Bedeutung, ob der Mitgliedstaat innerhalb der nach dem Unionsrecht vorgesehenen Entscheidungsfristen über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat, ob einer zu einem früheren Zeitpunkt auferlegten Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde und ob der Mitgliedstaat die Abschiebung unterlassen hat, nachdem eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, wodurch der tatsächliche Aufenthalt des Minderjährigen in diesem Mitgliedstaat fortgesetzt werden konnte?

Ist eine nationale Rechtspraxis, bei der zwischen Erst- und Folgeanträgen auf internationalen Schutz in dem Sinne unterschieden wird, dass reguläre Gründe bei Folgeanträgen auf internationalen Schutz unberücksichtigt bleiben, im Licht von Art. 7 der Charta in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta mit dem Unionsrecht vereinbar?

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1     Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).