Language of document : ECLI:EU:C:2024:213

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

7. März 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eisenbahnverkehr – Richtlinie 2012/34/EU – Zugang zur Eisenbahninfrastruktur – Preisfestsetzung – Art. 56 – Einzige nationale Regulierungsstelle für den Eisenbahnsektor – Zuständigkeiten – Überwachung von Wegeentgelten, deren Geltungszeitraum abgelaufen ist – Befugnis, die Unwirksamkeit mit Ex-tunc-Wirkung festzustellen und die Erstattung der Entgelte anzuordnen“

In der Rechtssache C‑582/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Köln (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2022, in der durch die Entscheidung vom 27. Juni 2023 geänderten Fassung, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juni 2023, in dem Verfahren

Die Länderbahn GmbH,

Prignitzer Eisenbahn GmbH,

Ostdeutsche Eisenbahn GmbH

gegen

Bundesrepublik Deutschland,

Beteiligte:

DB Netz AG,


erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Prignitzer Eisenbahn GmbH, der Ostdeutsche Eisenbahn GmbH und der Ostseeland Verkehrs GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt B. Uhlenhut,

–        der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch J. Becker, U. Geers, J. Kirchhartz, C. Mögelin und V. Schmidt als Bevollmächtigte,

–        der DB Netz AG, vertreten durch Rechtsanwalt H. Krüger,

–        der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Kunnert und R. Schuster als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Rzotkiewicz als Bevollmächtigte,

–        der norwegischen Regierung, vertreten durch V. Hauan und K. Møse als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Messina und G. Wilms als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. September 2023


folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (ABl. 2012, L 343, S. 32, berichtigt in ABl. 2015, L 67, S. 32) sowie, hilfsweise, von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Die Länderbahn GmbH, der Prignitzer Eisenbahn GmbH, der Ostdeutsche Eisenbahn GmbH und der Ostseeland Verkehrs GmbH auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (Deutschland) (im Folgenden: Bundesnetzagentur), auf der anderen Seite über die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Wegeentgelte, die von der DB Netz AG im Rahmen der zwischen Dezember 2002 und Dezember 2011 geltenden Netzfahrpläne erhoben wurden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2001/14/EG

3        In Art. 2 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (ABl. 2001, L 75, S. 29) heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

j)      ‚Schienennetz-Nutzungsbedingungen‘ eine detaillierte Darlegung der allgemeinen Regeln, Fristen, Verfahren und Kriterien für die Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen; sie enthalten ferner die zusätzlichen Informationen, die für die Stellung von Anträgen auf Zuweisung von Fahrwegkapazität benötigt werden;


m)      ‚Netzfahrplan‘ die Daten zur Festlegung aller geplanten Zugbewegungen und Bewegungen des rollenden Materials, die auf dem betreffenden Schienennetz während der Gültigkeitsdauer des Netzfahrplans durchgeführt werden“.

4        Art. 3 („Schienennetz-Nutzungsbedingungen“) der Richtlinie 2001/14 sieht vor:

„(1)      Der Betreiber der Infrastruktur erstellt und veröffentlicht nach Konsultationen mit den Beteiligten Schienennetz-Nutzungsbedingungen …

(2)      Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen enthalten Angaben zum Fahrweg, der den Eisenbahnunternehmen zur Verfügung steht. Sie enthalten Informationen zu den Zugangsbedingungen für den betreffenden Fahrweg. Anhang I enthält den Inhalt der Schienennetz-Nutzungsbedingungen.

(3)      Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen sind auf dem neuesten Stand zu halten und bei Bedarf zu ändern.

(4)      Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen sind mindestens vier Monate vor Ablauf der Frist für die Stellung von Anträgen auf Zuweisung von Fahrwegkapazität zu veröffentlichen.“

5        Art. 30 („Regulierungsstelle“) der Richtlinie 2001/14 bestimmt:

„…

(2)      Ist ein Antragsteller der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so kann er die Regulierungsstelle befassen, und zwar insbesondere mit Entscheidungen des Betreibers der Infrastruktur oder gegebenenfalls des Eisenbahnunternehmens betreffend

a)      die Schienennetz-Nutzungsbedingungen,

d)      die Entgeltregelung,

e)      die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die er zu zahlen hat oder hätte;

(3)      Die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Betreiber der Infrastruktur festgesetzten Entgelte dem Kapitel II entsprechen und nichtdiskriminierend sind. …

(5)      Die Regulierungsstelle hat über Beschwerden zu entscheiden und binnen zwei Monaten ab Erhalt aller Auskünfte Abhilfemaßnahmen zu treffen.

Ungeachtet des Absatzes 6 sind Entscheidungen der Regulierungsstelle für alle davon Betroffenen verbindlich.

(6)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Regulierungsstelle zu gewährleisten.“

6        In Anhang I („Inhalt der Schienennetz-Nutzungsbedingungen“) der Richtlinie 2001/14 heißt es:

„Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen gemäß Artikel 3 müssen folgende Angaben enthalten:

2.      Einen Abschnitt mit einer Darlegung der Entgeltgrundsätze und der Tarife. Dieser Abschnitt umfasst hinreichende Einzelheiten der Entgeltregelung sowie ausreichende Informationen zu den Entgelten für die in Anhang II aufgeführten Leistungen, die nur von einem einzigen Anbieter erbracht werden. Es ist im Einzelnen aufzuführen, welche Verfahren, Regeln und gegebenenfalls Tabellen zur Durchführung des Artikels 7 Absätze 4 und 5 sowie der Artikel 8 und 9 angewandt werden. Dieser Abschnitt enthält ferner Angaben zu bereits beschlossenen oder vorgesehenen Entgeltänderungen.

…“

7        Anhang III Nr. 1 der Richtlinie 2001/14 bestimmt:

„Der Netzfahrplan wird einmal im Kalenderjahr erstellt.“

 Richtlinie 2012/34

8        Die Erwägungsgründe 42 und 76 der Richtlinie 2012/34 lauten:

„(42)      Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden und so weit wie möglich angestrebt werden, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und ohne Diskriminierung zu entsprechen. Diese Regelungen sollten einen fairen Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsdiensten ermöglichen.

(76)      Die effiziente Verwaltung und gerechte und nichtdiskriminierende Nutzung der Eisenbahninfrastruktur erfordern die Einrichtung einer Regulierungsstelle, die über die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie wacht und als Beschwerdestelle fungiert, unbeschadet der Möglichkeit gerichtlicher Nachprüfung. Diese Regulierungsstelle sollte ihre Informationsanfragen und Entscheidungen mit geeigneten Sanktionen durchsetzen können.“

9        Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2012/34 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Eisenbahnunternehmen‘ jedes nach dieser Richtlinie zugelassene öffentlich-rechtliche oder private Unternehmen, dessen Haupttätigkeit im Erbringen von Eisenbahnverkehrsdiensten zur Beförderung von Gütern und/oder Personen besteht, wobei dieses Unternehmen die Traktion sicherstellen muss; dies schließt auch Unternehmen ein, die ausschließlich die Traktionsleistung erbringen;

2.      ‚Infrastrukturbetreiber‘ jede Stelle oder jedes Unternehmen, die bzw. das insbesondere für die Einrichtung, die Verwaltung und die Unterhaltung der Fahrwege der Eisenbahn, einschließlich Verkehrsmanagement, Zugsteuerung/Zugsicherung und Signalgebung, zuständig ist; mit den bei einem Netz oder Teilen eines Netzes wahrzunehmenden Funktionen des Infrastrukturbetreibers können verschiedene Stellen oder Unternehmen betraut werden;

19.      ‚Antragsteller‘ ein Eisenbahnunternehmen oder eine internationale Gruppierung von Eisenbahnunternehmen oder andere natürliche oder juristische Personen wie zuständige Behörden im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates (ABl. 2007, L 315, S. 1)], Verlader, Spediteure und Unternehmen des kombinierten Verkehrs, die ein gemeinwirtschaftliches oder einzelwirtschaftliches Interesse am Erwerb von Fahrwegkapazität haben;


26.      ‚Schienennetz-Nutzungsbedingungen‘ eine detaillierte Darlegung der allgemeinen Regeln, Fristen, Verfahren und Kriterien für die Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen einschließlich der zusätzlichen Informationen, die für die Beantragung von Fahrwegkapazität benötigt werden;

28.      ‚Netzfahrplan‘ die Daten zur Festlegung aller geplanten Zugbewegungen und Bewegungen der Fahrzeuge, die auf dem betreffenden Schienennetz während der Gültigkeitsdauer des Netzfahrplans durchgeführt werden;

…“

10      Art. 27 („Schienennetz-Nutzungsbedingungen“) in Abschnitt 1 des Kapitels IV der Richtlinie 2012/34, das die Regeln für die „Erhebung von Wegeentgelten und [die] Zuweisung von Fahrwegkapazität im Schienenverkehr“ enthält, bestimmt:

„(1)      Der Infrastrukturbetreiber erstellt und veröffentlicht nach Konsultation mit den Beteiligten Schienennetz-Nutzungsbedingungen, die gegen Zahlung einer Gebühr, die nicht höher sein darf als die Kosten für die Veröffentlichung dieser Unterlagen, erhältlich sind. …

(2)      Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen enthalten Angaben zum Fahrweg, der den Eisenbahnunternehmen zur Verfügung steht, und zu den Zugangsbedingungen … Anhang IV enthält den Inhalt der Schienennetz-Nutzungsbedingungen.

(3)      Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen sind auf dem neuesten Stand zu halten und bei Bedarf zu ändern.

(4)      Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen sind mindestens vier Monate vor Ablauf der Frist für die Beantragung von Fahrwegkapazität zu veröffentlichen.“

11      Abschnitt 2 des Kapitels IV der Richtlinie 2012/34 betrifft die „Wege- und Dienstleistungsentgelte“.

12      In Art. 56 („Aufgaben der Regulierungsstelle“) der Richtlinie 2012/34 heißt es:

„(1)      Ist ein Antragsteller der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er unbeschadet des Artikels 46 Absatz 6 das Recht, die Regulierungsstelle zu befassen, und zwar insbesondere gegen Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers oder gegebenenfalls des Eisenbahnunternehmens oder des Betreibers einer Serviceeinrichtung betreffend:


a)      den Entwurf und die Endfassung der Schienennetz-Nutzungsbedingungen;

d)      die Entgeltregelung;

e)      die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die er zu zahlen hat oder hätte;

g)      den Zugang zu Leistungen gemäß Artikel 13 und die dafür erhobenen Entgelte.

(2)      Unbeschadet der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung des Wettbewerbs in den Schienenverkehrsmärkten ist die Regulierungsstelle berechtigt, die Wettbewerbssituation in den Schienenverkehrsmärkten zu überwachen; sie prüft insbesondere von sich aus die in Absatz 1 Buchstaben a bis g genannten Punkte, um der Diskriminierung von Antragstellern vorzubeugen. Sie prüft insbesondere, ob die Schienennetz-Nutzungsbedingungen diskriminierende Bestimmungen enthalten …

(6)      Die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Infrastrukturbetreiber festgesetzten Entgelte dem Kapitel IV Abschnitt 2 entsprechen und nichtdiskriminierend sind. Verhandlungen zwischen Antragstellern und einem Infrastrukturbetreiber über die Höhe von Wegeentgelten sind nur zulässig, sofern sie unter Aufsicht der Regulierungsstelle erfolgen. …

(9)      Binnen eines Monats ab Erhalt einer Beschwerde prüft die Regulierungsstelle die Beschwerde und fordert gegebenenfalls einschlägige Auskünfte an und leitet Gespräche mit allen Betroffenen ein. Innerhalb einer vorab bestimmten angemessenen Frist, in jedem Fall aber binnen sechs Wochen nach Erhalt aller sachdienlichen Informationen entscheidet sie über die betreffenden Beschwerden, trifft Abhilfemaßnahmen und setzt die Betroffenen über ihre begründete Entscheidung in Kenntnis. Unbeschadet der Zuständigkeiten der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung des Wettbewerbs in den Schienenverkehrsmärkten entscheidet sie gegebenenfalls von sich aus über geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von Antragstellern, Marktverzerrung und anderer unerwünschter Entwicklungen in diesen Märkten, insbesondere in Bezug auf Absatz 1 Buchstaben a bis g.

Entscheidungen der Regulierungsstelle sind für alle davon Betroffenen verbindlich und unterliegen keiner Kontrolle durch eine andere Verwaltungsinstanz. Die Regulierungsstelle muss ihre Entscheidungen durchsetzen können und geeignete Sanktionen, einschließlich Geldbußen, verhängen können.

(10)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Regulierungsstelle. Die Beschwerde kann nur dann aufschiebende Wirkung auf die Entscheidung der Regulierungsstelle haben, wenn die Entscheidung der Regulierungsstelle dem Beschwerdeführer unmittelbar irreversiblen oder offensichtlich unverhältnismäßigen Schaden zufügen kann. Diese Bestimmung lässt die etwaigen durch Verfassungsrecht übertragenen Befugnisse des mit der Beschwerde befassten Gerichts unberührt.

…“

13      In Anhang IV („Inhalt der Schienennetz-Nutzungsbedingungen“) der Richtlinie 2012/34 heißt es:

„Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen gemäß Artikel 27 müssen folgende Angaben enthalten:

2.      Einen Abschnitt mit einer Darlegung der Entgeltgrundsätze und der Tarife. Dieser Abschnitt umfasst hinreichende Einzelheiten der Entgeltregelung sowie ausreichende Informationen zu den Entgelten und andere für den Zugang relevante Angaben bezüglich der in Anhang II aufgeführten Leistungen, die nur von einem einzigen Anbieter erbracht werden. Es ist im Einzelnen aufzuführen, welche Verfahren, Regeln und gegebenenfalls Tabellen zur Durchführung der Artikel 31 bis 36 in Bezug sowohl auf Kosten als auch auf Entgelte angewandt werden. Dieser Abschnitt enthält ferner Angaben zu bereits beschlossenen oder, soweit verfügbar, in den kommenden fünf Jahren vorgesehenen Entgeltänderungen.

…“

14      Anhang VII Nr. 1 der Richtlinie 2012/34 bestimmt, dass „[der] Netzfahrplan … einmal im Kalenderjahr erstellt [wird]“.

 Deutsches Recht

15      § 66 („Die Regulierungsbehörde und ihre Aufgaben“) Abs. 1, 3 und 4 des Eisenbahnregulierungsgesetzes vom 29. August 2016 (BGBl. 2016 I S. 2082) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ERegG) sieht vor:


„(1)      Ist ein Zugangsberechtigter der Auffassung, durch Entscheidungen eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er … das Recht, die Regulierungsbehörde anzurufen.

(3)      Kommt eine Vereinbarung über den Zugang oder über einen Rahmenvertrag nicht zustande, können die Entscheidungen des Eisenbahninfrastrukturunternehmens durch die Regulierungsbehörde auf Antrag des Zugangsberechtigten oder von Amts wegen überprüft werden. Der Antrag ist innerhalb der Frist zu stellen, in der das Angebot zum Abschluss von Vereinbarungen nach § 13 Absatz 1 Satz 2 oder § 54 Satz 3 angenommen werden kann.

(4)      Überprüft werden können auf Antrag oder von Amts wegen insbesondere

5.      die Entgeltregelung,

6.      die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat oder hätte,

7.      die Höhe und Struktur sonstiger Entgelte, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat oder hätte,

…“

16      § 67 („Befugnisse der Regulierungsbehörde, Überwachung des Verkehrsmarktes, Vollstreckungsregelungen“) Abs. 1 ERegG bestimmt:

„Die Regulierungsbehörde kann gegenüber Eisenbahnen und den übrigen nach diesem Gesetz Verpflichteten die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um Verstöße gegen dieses Gesetz oder unmittelbar geltende Rechtsakte der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes zu beseitigen oder zu verhüten. Vollstreckt die Regulierungsbehörde ihre Anordnungen, so beträgt die Höhe des Zwangsgeldes abweichend von § 11 Absatz 3 des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes bis zu 500 000 Euro.“

17      § 68 („Entscheidungen der Regulierungsbehörde“) ERegG lautet:

„(1)      Binnen eines Monats ab Erhalt einer Beschwerde prüft die Regulierungsbehörde die Beschwerde. Dazu fordert sie von den Betroffenen die für die Entscheidung erforderlichen Auskünfte an und leitet Gespräche mit allen Betroffenen ein. Innerhalb einer vorab bestimmten angemessenen Frist, in jedem Fall aber binnen sechs Wochen nach Erhalt aller erforderlichen Informationen entscheidet sie über die Beschwerde, trifft Abhilfemaßnahmen und setzt die Betroffenen von ihrer Entscheidung, die zu begründen ist, in Kenntnis. Unabhängig von den Zuständigkeiten der Kartellbehörden entscheidet sie von Amts wegen über geeignete Maßnahmen zur Verhütung von Diskriminierung und Marktverzerrung.

(2)      Beeinträchtigt im Fall des § 66 Absatz 1 oder 3 die Entscheidung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens das Recht des Zugangsberechtigten auf Zugang zur Eisenbahninfrastruktur, so

1.      verpflichtet die Regulierungsbehörde das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung der Entscheidung oder

2.      entscheidet die Regulierungsbehörde über die Geltung des Vertrags oder des Entgeltes, erklärt entgegenstehende Verträge für unwirksam und setzt die Vertragsbedingungen oder Entgelte fest.

Die Entscheidung nach Satz 1 kann auch Schienennetz-Nutzungsbedingungen oder Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen betreffen.

(3)      Die Regulierungsbehörde kann mit Wirkung für die Zukunft das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung von Maßnahmen im Sinne des § 66 Absatz 4 verpflichten oder diese Maßnahmen für ungültig erklären, soweit diese nicht mit den Vorschriften dieses Gesetzes oder unmittelbar geltenden Rechtsakten der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes in Einklang stehen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

18      Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren sind oder waren Eisenbahnverkehrsunternehmen, die in Deutschland Verkehrsleistungen auf regionaler Ebene anbieten oder angeboten haben und dabei die Eisenbahninfrastruktur von DB Netz, der Streithelferin in den Ausgangsverfahren, nutzen oder genutzt haben.

19      DB Netz gehört zum Konzern Deutsche Bahn AG. Sie betreibt das größte Eisenbahnnetz Deutschlands und erhebt dafür Wegeentgelte. Diese Entgelte werden für jedes Eisenbahnverkehrsunternehmen einzeln auf der Grundlage der Entgelte festgelegt, die DB Netz in den von ihr veröffentlichten Schienennetz-Nutzungsbedingungen festlegt. Diese Entgelte gelten für eine Gültigkeitsdauer des Netzfahrplans, d. h. ein Jahr.

20      Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren waren der Ansicht, dass die von DB Netz festgesetzten Entgelte, die während der Gültigkeitsdauer der Netzfahrpläne für die Jahre 2002/2003 bis 2010/2011 gegolten hätten, teilweise rechtswidrig seien, da sie einen „Regionalfaktor“ enthielten, der Regionalverbindungen betreibende Unternehmen diskriminiere. Daher wurden die von DB Netz geforderten Entgelte von ihnen entweder unter Vorbehalt gezahlt oder gekürzt und einbehalten.

21      Diese Entgelte waren Gegenstand mehrerer Ex-ante-Kontrollen durch die Bundesnetzagentur, der einzigen nationalen Regulierungsstelle für den Eisenbahnsektor in Deutschland. Das deutsche Recht sah nämlich eine Vorabprüfung der Entgeltgrundsätze vor und räumte der Regulierungsstelle ein Widerspruchsrecht ein, von dem diese im vorliegenden Fall jedoch keinen Gebrauch machte. Des Weiteren unterzog die Bundesnetzagentur seit 2008 die „Regionalfaktoren“, die seit dem 1. Januar 2003 Bestandteil der Tarife der DB Netz waren, verschiedenen Überprüfungen.

22      Mit Bescheid vom 5. März 2010 erklärte die Bundesnetzagentur die Schienennetz-Nutzungsbedingungen von DB Netz für den Netzfahrplan für das Jahr 2010/2011, die ab dem 12. Dezember 2010 in Kraft treten sollten, insoweit für ungültig, als sie die Anwendung eines solchen „Regionalfaktors“ vorsahen. Aus dem Bescheid ging hervor, dass über die Erstattung der in Anwendung dieses Faktors eventuell zu viel erhobenen Entgelte die Zivilgerichte zu entscheiden hätten.

23      DB Netz legte gegen den genannten Bescheid Widerspruch ein, der anschließend im Zusammenhang mit dem Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags mit DB Netz von der Bundesnetzagentur aufgehoben wurde. Der Vertrag sah während der Gültigkeitsdauer des Netzfahrplans für das Jahr 2010/2011 die Anwendung eines reduzierten Regionalfaktors und ab dem Inkrafttreten des Netzfahrplans für das Jahr 2011/2012 die Streichung dieses Faktors vor.

24      Mehrere Eisenbahnverkehrsunternehmen – darunter die Klägerinnen der Ausgangsverfahren für einen Teil der streitigen Entgelte – erhoben bei den Zivilgerichten Klagen auf Erstattung der von DB Netz angeblich zu viel erhobenen Wegeentgelte. Bei der Entscheidung über die Klagen haben die Zivilgerichte in der Regel diese Entgelte im Einzelfall auf ihre Billigkeit hin überprüft. Diese Praxis wurde vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Urteil vom 18. Oktober 2011 (KZR 18/10) bestätigt.

25      Mit seinem Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass die Richtlinie 2001/14 – die Vorgängerin der Richtlinie 2012/34 – der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Einzelfallüberprüfung der Billigkeit der Wegeentgelte durch die ordentlichen Gerichte vorsieht. Im Einzelnen ergibt sich aus Rn. 97 des Urteils, dass die Erstattung von Entgelten nach den Vorschriften des Zivilrechts nur in Betracht kommt, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts mit der Regelung über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zuvor von der Regulierungsstelle oder von einem Gericht, das die Entscheidung dieser Stelle überprüft hat, im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden ist und der Anspruch auf Erstattung Gegenstand einer Klage vor den nationalen Zivilgerichten sein kann und nicht der in der genannten Regelung vorgesehenen Klage.


26      Nach Verkündung des Urteils vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), beantragten die Klägerinnen der Ausgangsverfahren bei der Bundesnetzagentur unter Berufung auf die §§ 66 und 68 ERegG zum einen die Feststellung der Unwirksamkeit der Wegeentgelte, die DB Netz während der Gültigkeitsdauer der Netzfahrpläne für die Jahre 2002/2003 bis 2010/2011 erhoben hatte, und zum anderen, DB Netz zu verpflichten, ihnen die zu viel gezahlten Entgelte zu erstatten.

27      Diese Anträge wurden mit Beschlüssen der Bundesnetzagentur vom 11. Oktober 2019, 3. Juli 2020 und 11. Dezember 2020 mit der Begründung abgelehnt, sie seien unzulässig, da es an einer Ermächtigungsgrundlage fehle, die eine Ex-post-Überprüfung der in Rede stehenden Entgelte ermöglicht hätte. Zur Stützung der Beschlüsse machte die Bundesnetzagentur geltend, dass die Eisenbahnverkehrsunternehmen die Möglichkeit gehabt hätten, die Entgelte während ihrer jeweiligen Geltungsdauer anzufechten.

28      Mit am 6. und 9. November 2019 erhobenen Klagen haben die Klägerinnen der Ausgangsverfahren beim Verwaltungsgericht Köln (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, die Feststellung beantragt, dass die Bundesnetzagentur verpflichtet war, eine nachträgliche Überprüfung der in Rede stehenden und von DB Netz erhobenen Entgelte vorzunehmen, diese Entgelte gegebenenfalls mit Ex-tunc-Wirkung für unwirksam zu erklären und über die Erstattungspflicht von DB Netz zu entscheiden.

29      Um über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden zu können, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass u. a. Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 auszulegen sei.

30      Seiner Ansicht nach erfasst die in Art. 56 Abs. 1 vorgesehene Beschwerde nur Schäden, die bereits eingetreten seien und sich aus den gegenwärtigen oder in der Vergangenheit liegenden Verstößen gegen den geltenden Rechtsrahmen ergäben. Dagegen sei das vorbeugende Tätigwerden der Regulierungsstelle Gegenstand gesonderter Vorschriften, die in Art. 56 Abs. 2 vorgesehen seien. Ferner ergebe sich aus Art. 56 Abs. 6 und 9, dass der Regulierungsstelle ein breiter Gestaltungsspielraum eingeräumt sei. So könne sie bei Befassung mit einer Beschwerde „Abhilfemaßnahmen“ treffen, und – wenn sie von Amts wegen tätig werde – über die „geeigneten Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung“ entscheiden.

31      Diese Auslegung von Art. 56 der Richtlinie 2012/34 werde durch die mit der Richtlinie verfolgten Ziele bestätigt. Aus ihren Erwägungsgründen 42 und 76 gehe hervor, dass die Richtlinie 2012/34 insbesondere den nicht diskriminierenden Zugang der Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Infrastruktur gewährleisten solle und der Regulierungsstelle die Aufgabe obliege, die Verwirklichung dieses Ziels zu überwachen.

32      Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass seiner Ansicht nach das im deutschen Recht vorgesehene Vorabprüfungsverfahren, das es der Regulierungsstelle ermögliche, über die Wegeentgeltgrundsätze vor deren Inkrafttreten zu entscheiden, das Fehlen einer nachträglichen Überprüfung nicht habe ausgleichen können.

33      Ferner bestätige das Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), dass ein Anspruch auf „Erstattung“ von in der Vergangenheit rechtswidrig erhobenen Entgelten bestehe, doch mache es seine Ausübung von der vorherigen Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Entgelte durch die Regulierungsstelle abhängig. Folglich würde in dem Fall, dass die Regulierungsstelle für die Prüfung der Entgelte, deren Geltungsdauer abgelaufen sei, nicht zuständig wäre, den Eisenbahnverkehrsunternehmen ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf genommen, und gleichzeitig würde der Infrastrukturbetreiber weiterhin rechtswidrige Entgelte erhalten.

34      Allerdings zweifelt das vorlegende Gericht daran, dass das Unionsrecht verlangt, dass die Regulierungsstelle selbst über die Höhe der zu erstattenden Entgelte entscheiden oder deren Erstattung anordnen kann. Denn ungeachtet des Regulierungsrahmens sei das Verhältnis der Eisenbahnverkehrsunternehmen und der Infrastrukturbetreiber vertraglicher Natur und falle natürlich in die Zuständigkeit der Zivilgerichte.

35      Vorsorglich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es für die Entscheidung über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht erforderlich sei, festzustellen, ob die §§ 66 ff. ERegG, auf die die Klagen der Klägerinnen der Ausgangsverfahren gestützt seien, unionsrechtskonform ausgelegt werden müssten oder ob in Anbetracht des Urteils vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie (C‑120/20, EU:C:2021:553), Art. 56 der Richtlinie 2012/34 unmittelbar anzuwenden sei.

36      Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht Köln beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen, dass eine Entgeltregelung auch dann tauglicher Beschwerdegegenstand sein kann, wenn der Geltungszeitraum für das zu überprüfende Entgelt bereits abgelaufen ist (Beschwerde gegen ein sogenanntes Altentgelt)?

2.      Wenn Frage 1 mit Ja beantwortet wird: Ist Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen, dass die Regulierungsstelle bei einer Ex-post-Kontrolle von Altentgelten diese mit Ex-tunc-Wirkung für unwirksam erklären kann?


3.      Wenn Fragen 1 und 2 mit Ja beantwortet werden: Lässt die Auslegung des Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 eine nationale Regelung zu, die eine Möglichkeit der Ex-post-Kontrolle von Altentgelten mit Ex-tunc-Wirkung ausschließt?

4.      Wenn Fragen 1 und 2 mit Ja beantwortet werden: Ist Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen, dass die dort vorgesehenen Abhilfemaßnahmen der zuständigen Regulierungsstelle auf Rechtsfolgenseite dem Grunde nach auch die Anordnung der Rückzahlung von rechtswidrig erhobenen Entgelten durch den Infrastrukturbetreiber eröffnen, obwohl Rückzahlungsansprüche zwischen Eisenbahnunternehmen und Infrastrukturbetreiber auf dem Zivilrechtsweg eingefordert werden können?

5.      Wenn Frage 1 oder 2 mit Nein beantwortet werden: Ergibt sich ein Beschwerderecht gegen Altentgelte jedenfalls dann aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wenn ohne eine Beschwerdeentscheidung der Regulierungsstelle nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), eine Erstattung von rechtswidrigen Altentgelten nach den Regelungen des nationalen Zivilrechts ausgeschlossen ist?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

37      Mit Schreiben, das am 29. Juni 2023, d. h. nach Abschluss des schriftlichen und des mündlichen Verfahrens, beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es mit Beschluss vom 27. Juni 2023 das bei ihm in Bezug auf die Ostseeland Verkehrs GmbH anhängige Verfahren wegen deren Klagerücknahme eingestellt habe.

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

38      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Vorlagefragen die Richtlinie 2012/34 betreffen, die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Wegeentgelte jedoch unter der Geltung der Vorgängerrichtlinie 2001/14 festgesetzt und erhoben wurden. Allerdings haben die Klägerinnen der Ausgangsverfahren erst nach Ablauf der für die Umsetzung der Richtlinie 2012/34 geltenden Frist die Regulierungsstelle des deutschen Eisenbahnverkehrssektors, die Bundesnetzagentur, befasst und bei ihr u. a. beantragt, die Rechtswidrigkeit dieser Entgelte festzustellen.


39      Andererseits braucht im vorliegenden Fall – wie der Generalanwalt in Nr. 25 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – nicht geprüft zu werden, ob die Richtlinie 2012/34 oder die Richtlinie 2001/14 Anwendung findet. Denn die vom vorlegenden Gericht angeführten Vorschriften in Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 entsprechen im Wesentlichen den Vorschriften in Art. 30 Abs. 2, 3 und 5 der Richtlinie 2001/14 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2022, DB Station & Service, C‑721/20, EU:C:2022:832, Rn. 64). Daraus folgt, dass sie grundsätzlich gleich ausgelegt werden müssen und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung dieser Bestimmungen der Richtlinie 2001/14 auf die gleichwertigen Bestimmungen der Richtlinie 2012/34 entsprechend anwendbar ist.

40      Unter diesen Umständen sind in Übereinstimmung mit dem vorlegenden Gericht die Vorlagefragen unter Bezugnahme auf die Richtlinie 2012/34 zu beantworten.

 Zu den Fragen 1 bis 3

41      Mit seinen Fragen 1 bis 3, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die für die mit einem Antrag gemäß Art. 56 Abs. 1 befasste Regulierungsstelle jede Zuständigkeit ausschließt, die Rechtmäßigkeit der Wegeentgelte, deren Geltungsdauer abgelaufen ist, zu überprüfen und ihre Unwirksamkeit mit Ex-tunc-Wirkung festzustellen.

42      Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2012/34 wie die Vorgängerrichtlinie 2001/14 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2022, DB Station & Service, C‑721/20, EU:C:2022:832, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung) bezweckt, einen nicht diskriminierenden Zugang zur Eisenbahninfrastruktur u. a. dadurch sicherzustellen, dass sie – wie aus ihrem 42. Erwägungsgrund hervorgeht – verlangt, dass die Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsdiensten einen fairen Wettbewerb ermöglichen.

43      Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsstelle für alle unter Art. 56 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34 fallenden Streitigkeiten genau durch diese Ziele gerechtfertigt und impliziert die speziellen Befugnisse, über die die Regulierungsstellen nach Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 verfügen (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Oktober 2022, DB Station & Service, C‑721/20, EU:C:2022:832, Rn. 60).

44      Insbesondere ist es nach Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 Aufgabe der Regulierungsstelle dann, wenn sie mit einer Beschwerde befasst wird, Abhilfemaßnahmen zu treffen, unbeschadet ihrer Zuständigkeit, erforderlichenfalls von Amts wegen über geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von „Antragstellern“ im Sinne von Art. 3 Nr. 19 der Richtlinie, d. h. insbesondere Eisenbahnunternehmen, von Fällen der Verzerrung auf dem Markt für Eisenbahnverkehrsdienste und Fällen anderer unerwünschter Entwicklungen auf diesem Markt zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2022, CityRail, C‑453/20, EU:C:2022:341, Rn. 55, 56 und 61).

45      Aus Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 ergibt sich ebenfalls, dass die Entscheidungen der Regulierungsstelle nicht nur für die Parteien eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden hat, sondern für alle davon Betroffenen des Eisenbahnsektors verbindlich sind, und zwar sowohl für die Verkehrsunternehmen als auch für die Betreiber der Infrastruktur. Die Regulierungsstelle ist auf diese Weise in der Lage, die Gleichbehandlung aller beteiligten Unternehmen hinsichtlich des Zugangs zur Infrastruktur und die Aufrechterhaltung eines fairen Wettbewerbs im Sektor der Erbringung von Eisenbahnverkehrsdiensten zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Oktober 2022, DB Station & Service, C‑721/20, EU:C:2022:832, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Die Regulierungsstelle, die dafür zu sorgen hat, dass sowohl die Betreiber der Infrastruktur als auch die Erbringer der Eisenbahnverkehrsdienste ihre Verpflichtungen einhalten, ist daher, wenn sie über einen Rechtsbehelf eines Eisenbahnunternehmens zu entscheiden hat, verpflichtet, entsprechend dem Wortlaut von Art. 56 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34 zu prüfen, ob der Antragsteller ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden ist, was u. a. Fragen betreffend die Entgelte für die Nutzung der Infrastruktur umfasst (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Oktober 2022, DB Station & Service, C‑721/20, EU:C:2022:832, Rn. 73).

47      Wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, findet die für Eisenbahnverkehrsunternehmen bestehende Möglichkeit der Befassung der Regulierungsstelle ihre Entsprechung in der Befugnis dieser Stelle, die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers über die Entgelte zu überprüfen, was Art. 56 Abs. 6 der Richtlinie 2012/34 insoweit bestätigt, als er vorsieht, dass die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Infrastrukturbetreiber festgesetzten Entgelte dem Kapitel IV Abschnitt 2 der Richtlinie, der Wege- und Dienstleistungsentgelte regelt, entsprechen und nicht diskriminierend sind.

48      Daraus folgt, dass die auf der Grundlage von Art. 56 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34 angerufene Regulierungsstelle ihre Zuständigkeit für die Entscheidung darüber, ob die in der Vergangenheit für die Nutzung von Infrastruktur erhobenen Entgelte rechtmäßig waren, nicht verneinen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Oktober 2022, DB Station & Service, C‑721/20, EU:C:2022:832, Rn. 74 und 87).


49      Insbesondere kann die Zuständigkeit einer solchen Stelle für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Wegeentgelte nicht davon abhängen, ob sie vor oder nach Ablauf der jeweiligen Geltungszeiträume der Entgelte befasst worden ist.

50      Zum einen ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34, dass die der Regulierungsstelle übertragenen Befugnisse in keiner Weise an diese Geltungszeiträume gebunden sind.

51      Diese Feststellung wird durch den Umstand bestätigt, dass die Richtlinie 2012/34 weder die Geltungszeiträume festlegt noch die Anwendbarkeit der Wegeentgelte oder der zugrunde liegenden Entgeltregelungen auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Insbesondere beschränkt sich Art. 27 der Richtlinie 2012/34 in Verbindung mit deren Art. 3 Nr. 26 und deren Anhang IV – ebenso wie Art. 3 der Richtlinie 2001/14 in Verbindung mit deren Art. 2 Buchst. j und deren Anhang I – darauf, die Verpflichtung des Infrastrukturbetreibers zur Veröffentlichung von Schienennetz-Nutzungsbedingungen vorzusehen, in denen u. a. die Bedingungen für den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur, einschließlich der Entgeltgrundsätze, der Tarife und der Entgelte, festgelegt sind, ohne die Gültigkeitsdauer dieses Dokuments zu begrenzen.

52      Eine Begrenzung der Gültigkeitsdauer der zugrunde liegenden Entgelte oder Entgeltregelungen lässt sich auch nicht aus den Vorschriften über den jährlichen Netzfahrplan ableiten. Zwar hat der Netzfahrplan nach Art. 3 Nr. 28 der Richtlinie 2012/34 in Verbindung mit deren Anhang VII – ebenso wie es bei Art. 2 Buchst. m der Richtlinie 2001/14 in Verbindung mit deren Anhang III der Fall war – nur eine auf ein Jahr begrenzte Gültigkeitsdauer. Dieser Fahrplan stellt jedoch nur „die Daten zur Festlegung aller geplanten Zugbewegungen und Bewegungen der Fahrzeuge, die auf dem betreffenden Schienennetz … durchgeführt werden“, dar und betrifft folglich nicht die Tarife und Entgelte.

53      Zum anderen würde eine Auslegung von Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34, wonach Wegeentgelte, die ein Infrastrukturbetreiber bereits erhoben hat, nur während der Geltungsdauer des zugrunde liegenden Tarifs angefochten werden können, die Wirksamkeit des durch diese Bestimmung geschaffenen Kontrollsystems und damit die Verwirklichung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele beeinträchtigen.

54      Eine solche Auslegung würde nämlich die Aufgabe der Regulierungsstelle behindern, die – wie sich aus den Rn. 42 bis 47 des vorliegenden Urteils ergibt – darin besteht, den gleichberechtigten Zugang aller betroffenen Unternehmen zur Infrastruktur und die Aufrechterhaltung eines fairen Wettbewerbs im Bereich der Erbringung von Eisenbahnverkehrsdiensten zu gewährleisten. Desgleichen könnte sie das in Art. 56 Abs. 1, 9 und 10 der Richtlinie 2012/34 verankerte Recht der Eisenbahnverkehrsunternehmen, die Regulierungsstelle mit einer Anfechtung der Wegeentgelte zu befassen und gegebenenfalls die von dieser Stelle getroffene Entscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen, in unzulässiger Weise einschränken (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie, C‑120/20, EU:C:2021:553, Rn. 57).

55      Im Übrigen impliziert die Befugnis der Regulierungsstelle, die Rechtmäßigkeit der in der Vergangenheit erhobenen Wegeentgelte unabhängig davon zu überprüfen, ob ihre jeweiligen Geltungszeiträume bereits abgelaufen sind, entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 44, 45, 47 und 48 seiner Schlussanträge zwangsläufig, dass die Regulierungsstelle die Unwirksamkeit der Entgelte gegebenenfalls mit Ex-tunc-Wirkung feststellen kann.

56      Insbesondere würde eine Beschränkung der Zuständigkeit der Regulierungsstelle auf den Erlass von Entscheidungen mit Wirkung nur für die Zukunft der Kontrolle der in der Vergangenheit erhobenen Wegeentgelte weitgehend ihren Sinn nehmen und damit die praktische Wirksamkeit von Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 beeinträchtigen.

57      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die genannten Bestimmungen einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach die Regulierungsstelle weder befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Wegeentgelte, deren Geltungszeitraum abgelaufen ist, zu prüfen, noch ihre Unwirksamkeit gegebenenfalls mit Ex-tunc-Wirkung festzustellen.

58      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, und dies ist in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt worden, dass sich eine solche Beschränkung der Zuständigkeit der deutschen Regulierungsstelle im vorliegenden Fall aus § 68 Abs. 3 ERegG ergeben kann.

59      Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts u. a. den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts hat jedoch bestimmte Grenzen und darf insbesondere nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Es ist auch darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61, sowie vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 37).

62      In Bezug auf das in Art. 56 Abs. 1, 9 und 10 der Richtlinie 2012/34 vorgesehene Recht der Eisenbahnverkehrsunternehmen auf verwaltungsbehördliche und gerichtliche Rechtsbehelfe ist festzustellen, dass diese Bestimmungen unbedingt und hinreichend genau sind und damit unmittelbare Wirkung haben. Folglich gelten sie für alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, d. h. nicht nur für die nationalen Gerichte, sondern auch für alle Träger der Verwaltung, einschließlich der dezentralen Stellen, und diese Stellen sind verpflichtet, sie anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 1989, Costanzo, 103/88, EU:C:1989:256, Rn. 33, und vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie, C‑120/20, EU:C:2021:553, Rn. 58).

63      Daher ist es nicht nur Sache des vorlegenden Gerichts, sondern gegebenenfalls auch der Bundesnetzagentur, § 68 Abs. 3 ERegG so weit wie möglich im Einklang mit Art. 56 Abs. 1, 9 und 10 der Richtlinie 2012/34 auszulegen und – falls eine solche Auslegung als contra legem anzusehen wäre – diese Bestimmung des deutschen Rechts unangewendet zu lassen, um den Eisenbahnverkehrsunternehmen die Ausübung ihres Rechts zu ermöglichen, die Rechtmäßigkeit von in der Vergangenheit erhobenen Wegeentgelten anzufechten.

64      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass weder Art. 56 Abs. 1, 9 und 10 der Richtlinie 2012/34 noch eine andere Bestimmung dieser Richtlinie eine Frist vorsehen, nach deren Ablauf die Unternehmen die Rechtmäßigkeit von Wegeentgelten nicht mehr anfechten können.

65      Daher ist es – wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – Sache jedes Mitgliedstaats, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie angemessene zeitliche Grenzen für Rechtsbehelfe festzulegen, mit denen Antragsteller, zu denen auch die Eisenbahnunternehmen gehören, bei der Regulierungsstelle gemäß Art. 56 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34 beantragen, die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers u. a. in Bezug auf die Entgeltregelung und die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte zu überprüfen, sofern dabei die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität eingehalten werden (vgl. entsprechend Urteile vom 28. November 2000, Roquette Frères, C‑88/99, EU:C:2000:652, Rn. 20 und 21, sowie vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 46).


66      Ferner ist daran zu erinnern, dass die mit der Richtlinie 2012/34 verfolgten Ziele im nationalen Recht unter Beachtung der Erfordernisse des Grundsatzes der Rechtssicherheit verwirklicht werden müssen, was hinsichtlich der genannten zeitlichen Grenzen bedeutet, dass die Mitgliedstaaten eine Fristregelung schaffen müssen, die hinreichend genau, klar und vorhersehbar ist, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten kennen können (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Oktober 2012, Pelati, C‑603/10, EU:C:2012:639, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67      In den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung vom 15. Juni 2023 ist vorgetragen worden, dass das deutsche Recht keine besondere Frist für die Einlegung der Rechtsbehelfe gemäß Art. 56 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34 vorsehe. Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofs, über die Auslegung des deutschen Rechts zu befinden. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, die im deutschen Recht vorgesehenen Verjährungs- und Ausschlussvorschriften zu bestimmen, die auf die Anträge der Klägerinnen der Ausgangsverfahren Anwendung finden können, zu prüfen, ob diese Vorschriften eine hinreichend genaue, klare und vorhersehbare Fristregelung vorsehen, und festzustellen, ob diese Anträge fristgerecht gestellt worden sind.

68      Nach alledem ist auf die Fragen 1 bis 3 zu antworten, dass Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die für die mit einem Antrag gemäß Art. 56 Abs. 1 befasste Regierungsstelle jede Zuständigkeit ausschließt, die Rechtmäßigkeit der Wegeentgelte, deren Geltungsdauer abgelaufen ist, zu überprüfen und ihre Unwirksamkeit mit Ex-tunc-Wirkung festzustellen.

 Zur vierten Frage

69      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen ist, dass er verlangt, dass die Regulierungsstelle die Erstattung von Wegeentgelten anordnen kann, wenn das nationale Recht diese Zuständigkeit den Zivilgerichten zuweist.

70      Insoweit ist entsprechend den Ausführungen in Rn. 44 des vorliegenden Urteils daran zu erinnern, dass nach Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 eine Regulierungsstelle dann, wenn sie mit einer Beschwerde befasst wird, Abhilfemaßnahmen trifft, unbeschadet ihrer Zuständigkeit, erforderlichenfalls von Amts wegen über geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von Antragstellern, d. h. insbesondere Eisenbahnunternehmen, Fällen der Verzerrung auf dem Markt für Eisenbahnverkehrsdienste und Fällen anderer unerwünschter Entwicklungen auf diesem Markt zu entscheiden.

71      Aus der Antwort auf die Fragen 1 bis 3 ergibt sich, dass die genannte Bestimmung verlangt, dass die Regulierungsstelle u. a. dafür zuständig ist, die Unwirksamkeit von Wegeentgelten mit Ex-tunc-Wirkung festzustellen. Etwas anderes gilt jedoch für die Erstattung dieser Entgelte.

72      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 73 und 75 seiner Schlussanträge nach einer Analyse des Wortlauts von Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 ausgeführt hat, verpflichtet diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nicht dazu, der Regulierungsstelle die Befugnis zu verleihen, selbst die Erstattung der Wegeentgelte anzuordnen, sondern sie ermöglicht es ihnen, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie andere Systeme zu entwickeln, die beispielsweise voraussetzen, dass die Zivilgerichte getrennt über Erstattungsansprüche entscheiden.

73      Die Wirksamkeit von Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 verlangt auch nicht, dass die Regulierungsstelle jedenfalls selbst über die Erstattung derjenigen Wegeentgelte entscheiden kann, deren Rechtswidrigkeit sie festgestellt hat.

74      Zum einen macht in dem Fall, dass die Regulierungsstelle die Ungültigkeit der von einem Infrastrukturbetreiber angewendeten Tarife und Wegeentgelte feststellt, die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannte verbindliche Wirkung ihrer Entscheidungen gegenüber allen Betroffenen des Eisenbahnsektors es diesen Betroffenen möglich, ihre Rechte und Pflichten mit Gewissheit zu erkennen. Damit Unternehmen, die behaupten, diskriminiert worden zu sein, ihre Rechte geltend machen und dadurch die wirksame Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen sicherstellen können, erscheint es daher nicht unerlässlich, dass die Regulierungsstelle auch die genauen Beträge der zu Unrecht gezahlten Entgelte bestimmt, um deren Erstattung anzuordnen.

75      Zum anderen verpflichtet Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 die Regulierungsstelle zwar dazu, über alle Beschwerden innerhalb einer besonders kurzen Frist zu entscheiden. Gleichwohl ist festzustellen, dass diese Stelle zwar insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit so schnell wie möglich über die Rechtmäßigkeit der beanstandeten Wegeentgelte unabhängig davon zu entscheiden hat, ob sie derzeit in Kraft sind oder ihr Geltungszeitraum abgelaufen ist, doch verlangen diese Gründe nicht, dass nach Erlass einer Entscheidung, mit der die Ungültigkeit der fraglichen Entgelte festgestellt wird, die zu erstattenden Beträge – gegebenenfalls zuzüglich Zinsen – innerhalb derselben Frist festgesetzt werden müssen.

76      Diese Auslegung von Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 ist vom Gerichtshof bereits bestätigt worden, der entschieden hat, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, vorzusehen, dass die Entscheidung über die Erstattung zu viel erhobener Wegeentgelte nicht der Regulierungsstelle, sondern den unter Anwendung des Zivilrechts entscheidenden Zivilgerichten obliegt, allerdings unter der Voraussetzung, dass diese Stelle zuvor über die Rechtswidrigkeit dieser Entgelte entschieden hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics, C‑489/15, EU:C:2017:834, Rn. 97).


77      Insoweit ist entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 75 seiner Schlussanträge noch hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten dann, wenn sie in ihrem nationalen Recht die Rechtsbehelfe festlegen, mit denen ein Infrastrukturbetreiber zur Erstattung zu viel erhobener Wegeentgelte gezwungen werden kann, und insbesondere dann, wenn sie sich dafür entscheiden, zu diesem Zweck den Zivilgerichten eine ausschließliche Zuständigkeit einzuräumen, dazu verpflichtet sind, die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu beachten.

78      Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen ist, dass er nicht verlangt, dass die Regulierungsstelle die Erstattung von Wegeentgelten selbst anordnen kann, wenn das nationale Recht diese Zuständigkeit den Zivilgerichten zuweist, vorausgesetzt, die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität werden eingehalten.

 Zur fünften Frage

79      In Anbetracht der Antwort auf die Fragen 1 bis 3 braucht die fünfte Frage, die nur für den Fall gestellt worden ist, dass der Gerichtshof die erste und die zweite Frage verneint, nicht mehr beantwortet zu werden.

 Kosten

80      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums

ist dahin auszulegen, dass

er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die für die mit einem Antrag gemäß Art. 56 Abs. 1 befasste Regulierungsstelle jede Zuständigkeit ausschließt, die Rechtmäßigkeit der Wegeentgelte, deren Geltungsdauer abgelaufen ist, zu überprüfen und ihre Unwirksamkeit mit Ex-tunc-Wirkung festzustellen.

2.      Art. 56 Abs. 9 der Richtlinie 2012/34

ist dahin auszulegen, dass

er nicht verlangt, dass die Regulierungsstelle die Erstattung von Wegeentgelten selbst anordnen kann, wenn das nationale Recht diese Zuständigkeit den Zivilgerichten zuweist, sofern dabei die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität eingehalten werden.

Lycourgos

Spineanu-Matei

Bonichot

Rodin

 

Rossi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. März 2024.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

C. Lycourgos


*      Verfahrenssprache: Deutsch.