Language of document : ECLI:EU:C:2024:221

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 7. März 2024(1)

Rechtssache C63/23

Sagrario,

Joaquín,

Prudencio

gegen

Subdelegación del Gobierno en Barcelona

(Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 5 de Barcelona [Verwaltungsgericht Nr. 5 Barcelona, Spanien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 15 Abs. 3 – Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels im Fall ‚besonders schwieriger Umstände‘ – Voraussetzungen – Art. 17 – Individualisierte Prüfung – Recht der Familienangehörigen des Zusammenführenden auf Anhörung vor Erlass einer Entscheidung, mit der die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels verweigert wird – Anhörung Minderjähriger“






I.      Einleitung

1.        In der vorliegenden Rechtssache legt der Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 5 de Barcelona (Verwaltungsgericht Nr. 5 Barcelona, Spanien) mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor, die sich auf die Auslegung von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung(2) beziehen.

2.        Nach dieser Bestimmung ist ein Mitgliedstaat verpflichtet, Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Zusammenführenden(3) sind, einen eigenen Aufenthaltstitel auszustellen, wenn für sie „besonders schwierige Umstände“ vorliegen. Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof nach der Art der für eine solche Situation charakteristischen Umstände und bittet ihn außerdem, zu klären, nach welchen Verfahrensmodalitäten diese Staatsangehörigen nachweisen können, dass für sie solche Umstände vorliegen.

3.        Diese Vorlage geht auf einen Rechtsstreit zwischen einer Mutter nebst ihren beiden minderjährigen Kindern, die alle einen Aufenthaltstitel wegen Familienzusammenführung erhalten hatten, und der Subdelegación del Gobierno en Barcelona (Unterdelegation der Regierung in Barcelona, Spanien) zurück. Diese verweigerte ihnen die Erteilung einer „langfristigen Aufenthaltsberechtigung wegen Familienzusammenführung“ und somit die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels, da dem Vater, dem Zusammenführenden, die Gewährung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung verweigert worden war(4). Mit ihrer gegen diese Entscheidung erhobenen Klage beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens einen eigenen Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86.

4.        Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof als Erstes wissen, ob die Umstände, mit denen die Kläger des Ausgangsverfahrens konfrontiert sind, deshalb als „besonders schwierig“ im Sinne dieser Bestimmung qualifiziert werden können, weil sie minderjährige Kinder betreffen oder weil die Familienangehörigen ihren Aufenthaltstitel aus Gründen verlieren, die sich ihrem Willen entziehen.

5.        In den vorliegenden Schlussfolgerungen werde ich darlegen, warum aus meiner Sicht keiner dieser Faktoren allein für den Nachweis ausreicht, dass „besonders schwierige Umstände“ gegeben sind. Meines Erachtens muss hierfür nachgewiesen werden, dass die betroffenen Drittstaatsangehörigen sich wegen familiärer Faktoren mit Umständen konfrontiert sehen, die ihrer Natur nach einen hohen Grad an Schwere oder Härte aufweisen oder die sie einer großen Unsicherheit oder Verletzlichkeit aussetzen, weshalb sie eines effektiven Schutzes bedürfen, der durch die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels gewährleistet wird. Im vorliegenden Fall scheinen mir die Umstände, die das vorlegende Gericht angeführt hat, derartige Merkmale nicht aufzuweisen.

6.        Als Zweites bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof, zu klären, welche Verfahrensgarantien Familienangehörigen, insbesondere minderjährigen Kindern, vor Erlass einer Entscheidung zustehen, mit der eine Verlängerung ihres Aufenthaltstitels verweigert wird, und auf welche Weise sie nachweisen können, dass „besonders schwierige Umstände“ vorliegen, damit sie einen eigenen Aufenthaltstitel erhalten.

7.        Hierzu werde ich darlegen, warum die zuständige nationale Behörde vor Erlass einer solchen Entscheidung eine individualisierte Prüfung des Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels im Sinne von Art. 17 der Richtlinie 2003/86 vornehmen muss, in deren Rahmen die betroffenen Familienangehörigen alle hinsichtlich ihrer Situation für relevant erachteten Informationen sachdienlich und effektiv vorbringen konnten. Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten, wenn ein minderjähriges Kind den Antrag stellt, nach ständiger Rechtsprechung alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um diesem Kind eine seinem Alter oder seiner Reife entsprechende echte und wirksame Möglichkeit zu geben, gehört zu werden.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2003/86

8.        Die Richtlinie 2003/86 legt die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige fest, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

9.        In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 11 und 15 dieser Richtlinie heißt es:

„(2)      Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten[(5)] und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[(6)] anerkannt wurden.

(4)      Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der [Europäischen Union] im Vertrag aufgeführt wird.

(6)      Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden.

(11)      Die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung sollte unter der erforderlichen Achtung der von den Mitgliedstaaten anerkannten Werte und Grundsätze, insbesondere der Rechte von Frauen und Kindern erfolgen …

(15)      Die Integration von Familienangehörigen sollte gefördert werden. Dazu sollte ihnen eine von dem Zusammenführenden unabhängige Rechtsstellung zuerkannt werden, insbesondere in Fällen, in denen Ehen und Partnerschaften zerbrechen, sowie gleichermaßen wie dem Zusammenführenden Zugang zur allgemeinen und beruflichen Bildung sowie zur Beschäftigung nach den einschlägigen Bedingungen gewährt werden.“

10.      Art. 13 Abs. 3 in Kapitel VI („Einreise und Aufenthalt der Familienangehörigen“) der Richtlinie bestimmt:

„Die Gültigkeitsdauer der dem (den) Familienangehörigen erteilten Aufenthaltstitel darf grundsätzlich nicht über die des Aufenthaltstitels des Zusammenführenden hinausgehen.“

11.      In diesem Kapitel sieht Art. 15 der Richtlinie 2003/86 vor:

„(1)      Spätestens nach fünfjährigem Aufenthalt und unter der Voraussetzung, dass dem Familienangehörigen kein Aufenthaltstitel aus anderen Gründen als denen der Familienzusammenführung erteilt wurde, haben der Ehegatte oder der nicht eheliche Lebenspartner und das volljährig gewordene Kind – falls erforderlich auf Antrag – das Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel, der unabhängig von jenem des Zusammenführenden ist.

Die Mitgliedstaaten können bei Ehegatten oder nicht ehelichen Lebenspartnern die Erteilung des in Unterabsatz 1 genannten Aufenthaltstitels auf Fälle, in denen die familiären Bindungen zerbrechen, beschränken.

(2)      Die Mitgliedstaaten können volljährigen Kindern und Verwandten in gerader aufsteigender Linie, auf die Artikel 4 Absatz 2 Anwendung findet, einen eigenen Aufenthaltstitel gewähren.

(3)      Im Falle des Todes des Ehepartners, der Scheidung, der Trennung und des Todes von Verwandten ersten Grades in gerader aufsteigender oder absteigender Linie kann Personen, die zum Zweck der Familienzusammenführung eingereist sind, – falls erforderlich auf Antrag – ein eigener Aufenthaltstitel gewährt werden. Die Mitgliedstaaten erlassen Bestimmungen, nach denen die Ausstellung eines eigenen Aufenthaltstitels gewährleistet ist, wenn besonders schwierige Umstände vorliegen.

(4)      Die Bedingungen für die Erteilung und die Dauer eines eigenen Aufenthaltstitels sind im nationalen Recht festgelegt.“

12.      In Kapitel VII („Sanktionen und Rechtsmittel“) der Richtlinie heißt es in Art. 16 Abs. 3:

„Die Mitgliedstaaten können den Aufenthaltstitel eines Familienangehörigen entziehen oder dessen Verlängerung verweigern, wenn der Aufenthalt des Zusammenführenden endet und der Familienangehörige noch nicht über ein eigenes Aufenthaltsrecht gemäß Artikel 15 verfügt.“

13.      Art. 17 in diesem Kapitel der Richtlinie lautet:

„Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“

2.      Leitlinien

14.      Die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament mit Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung(7) enthält eine Nr. 5.3 („Zugang zu einem eigenen Aufenthaltstitel“), deren Abs. 3 lautet:

„Nach Artikel 15 Absatz 3 Satz 2 müssen die Mitgliedstaaten einen eigenen Aufenthaltstitel ausstellen, wenn bei Familienangehörigen, die zum Zweck der Familienzusammenführung eingereist sind, besonders schwierige Umstände vorliegen. Die Mitgliedstaaten müssen die entsprechenden Bedingungen im nationalen Recht festlegen. Die besonders schwierigen Umstände müssen durch die familiäre Situation oder den Abbruch der familiären Bindungen verursacht worden und nicht auf Schwierigkeiten mit anderen Ursachen zurückzuführen sein. Für besonders schwierige Umstände können folgende Situationen beispielhaft genannt werden: häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder, Zwangsehen, Gefahr einer Genitalverstümmelung oder Fälle, in denen die betreffende Person in einer besonders schwierigen familiären Situation wäre, wenn sie zur Rückkehr in ihr Herkunftsland gezwungen würde.“

B.      Spanisches Recht

15.      Art. 19 der Ley Orgánica 4/2000 sobre derechos y libertades de los extranjeros en España y su integración social (Organgesetz 4/2000 über die Rechte und Freiheiten von Ausländern in Spanien und ihre gesellschaftliche Integration)(8) vom 11. Januar 2000 sieht in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung vor:

„1.      Die Aufenthaltsgenehmigung wegen Familienzusammenführung, die zusammengeführten Ehegatten und Kindern, sobald Letztere ein arbeitsfähiges Alter erreichen, erteilt wird, gibt ihnen das Recht zu arbeiten, ohne dass weitere administrative Schritte erforderlich sind.

2.      Ein Ehegatte, dem Familienzusammenführung gewährt wurde, kann eine eigene Aufenthaltsgenehmigung erhalten, wenn er über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Ist eine Ehefrau, der Familienzusammenführung gewährt wurde, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, so kann sie eine eigene Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erhalten, ohne dass die vorerwähnte Bedingung erfüllt sein muss, wenn eine Schutzanordnung zu ihren Gunsten ergangen ist oder – in Ermangelung einer solchen – wenn aus einem Bericht des Ministerio Fiscal [Staatsanwaltschaft, Spanien] hervorgeht, dass es Anzeichen gibt, die auf geschlechtsspezifische Gewalt hindeuten.

3.      Kinder, denen Familienzusammenführung gewährt wurde, können eine eigene Aufenthaltsgenehmigung erhalten, sobald sie volljährig sind und über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

4.      Form und Höhe der finanziellen Mittel, die für ausreichend erachtet werden, damit die zusammengeführten Familienangehörigen eine eigene Aufenthaltsgenehmigung erhalten können, werden durch Verordnung festgelegt.

5.      Im Fall des Todes des Zusammenführenden können die zusammengeführten Familienangehörigen unter noch festzulegenden Bedingungen eine eigene Aufenthaltsgenehmigung erhalten.“

16.      Art. 59 des Real Decreto 557/2011 por el que se aprueba el Reglamento de la Ley Orgánica 4/2000, sobre derechos y libertades de los extranjeros en España y su integración social, tras su reforma por Ley Orgánica 2/2009 (Königliches Dekret 557/2011 zur Annahme der Durchführungsverordnung zum Organgesetz 4/2000 über die Rechte und Freiheiten von Ausländern in Spanien und ihre gesellschaftliche Integration nach dessen Reform durch das Organgesetz 2/2009)(9) vom 20. April 2011 sieht unter der Überschrift „Aufenthalt zusammengeführter Familienangehöriger unabhängig vom Aufenthalt des Zusammenführenden“ vor:

„1.      Ein Ehegatte oder Lebenspartner, dem Familienzusammenführung gewährt wurde, kann eine eigene Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erhalten, wenn er eine der folgenden Bedingungen erfüllt und keine Schulden bei den Steuer- oder Sozialversicherungsbehörden hat:

a)      Er verfügt über ausreichende finanzielle Mittel für die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung ohne Ausübung einer Erwerbstätigkeit.

b)      Er verfügt ab dem Zeitpunkt der Antragstellung über einen oder mehrere Arbeitsverträge mit einer Vergütung, die nicht unter dem auf die gesetzliche Arbeitszeit bezogenen branchenübergreifenden monatlichen Mindestlohn oder dem geltenden Tariflohn liegt.

c)      Er erfüllt die Voraussetzungen für die Erteilung einer eigenen Genehmigung für einen befristeten Aufenthalt und die Aufnahme einer Arbeit.

2.      Ein Ehegatte oder Lebenspartner kann eine eigene Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung auch in den folgenden Fällen erhalten:

a)      bei einer Auflösung der dem Aufenthalt zugrunde liegenden Paarbeziehung aufgrund einer gesetzlichen Trennung, einer Scheidung, der Aufhebung der Registrierung oder der Beendigung der Lebensgemeinschaft, sofern nachweislich mindestens zwei Jahre lang in Spanien ein gemeinsamer Haushalt mit dem zusammenführenden Ehegatten oder Lebenspartner geführt wurde;

b)      bei geschlechtsspezifischer Gewalt gegen eine Frau, sobald eine gerichtliche Schutzanordnung zu ihren Gunsten ergangen ist oder – in Ermangelung einer solchen – wenn aus einem Bericht der Staatsanwaltschaft hervorgeht, dass es Anzeichen gibt, die auf geschlechtsspezifische Gewalt hindeuten. Dies gilt auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner Opfer einer Straftat geworden ist, die auf häusliche Gewalt zurückzuführen ist, sobald eine gerichtliche Schutzanordnung zugunsten des Opfers oder – in Ermangelung einer solchen – ein Bericht der Staatsanwaltschaft mit Hinweisen auf häusliche Gewalt vorliegt.

Anträge nach diesem Absatz werden vorrangig bearbeitet; die Dauer der eigenen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung beträgt fünf Jahre.

c)      im Fall des Todes des Zusammenführenden.

3.      Wurde in den im vorstehenden Absatz genannten Fällen außer dem Ehegatten oder Lebenspartner auch anderen Familienangehörigen die Familienzusammenführung gewährt, behalten sie die erteilte Aufenthaltsgenehmigung und hängen für eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung wegen Familienzusammenführung von dem Familienangehörigen ab, mit dem sie in häuslicher Gemeinschaft leben.

4.      Kinder und Minderjährige, deren gesetzlicher Vertreter der Zusammenführende ist, erhalten eine eigene Aufenthaltsgenehmigung, sobald sie volljährig sind und nachweisen können, dass sie sich in einer der in Absatz 1 dieses Artikels beschriebenen Situationen befinden, oder sobald sie volljährig sind und sich fünf Jahre lang in Spanien aufgehalten haben.

…“

17.      In Art. 61 („Verlängerung von Aufenthaltsgenehmigungen wegen Familienzusammenführung“) Abs. 3 des Königlichen Dekrets 557/2011 heißt es:

„Eine Aufenthaltsgenehmigung wegen Familienzusammenführung wird verlängert, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

a)      Bei dem durch die Familienzusammenführung Begünstigten:

1.      Er muss eine gültige Aufenthaltsgenehmigung wegen Familienzusammenführung besitzen oder nach Ablauf dieser Genehmigung eine Frist von neunzig Kalendertagen wahren.

2.      Die familiäre Bindung oder das Verwandtschaftsverhältnis oder die faktische Lebensgemeinschaft, auf deren Grundlage die Genehmigung zur Verlängerung erteilt wurde, muss fortbestehen.

b)      Bei dem Zusammenführenden:

1.      Er muss eine gültige Aufenthaltsgenehmigung besitzen oder nach Ablauf der Genehmigung eine Frist von neunzig Kalendertagen wahren.

…“

18.      Abs. 4 der ersten Zusatzbestimmung des Königlichen Dekrets 557/2011 sieht vor:

„Auf Vorschlag des Leiters der Secretaría de Estado de Inmigración y Emigración [Staatssekretariat für Ein- und Auswanderung, Spanien] und auf Bericht des Leiters der Secretaría de Estado de Seguridad [Staatssekretariat für Sicherheit, Spanien] sowie gegebenenfalls der Leiter der Subsecretarías de Asuntos Exteriores y de Cooperación y de Política Territorial y Administración Pública [Untersekretariate für Auswärtige Angelegenheiten und für Zusammenarbeit und für Raumordnungspolitik und öffentliche Verwaltung, Spanien] kann der Consejo de Ministros [Ministerrat, Spanien], wenn Umstände wirtschaftlicher, sozialer oder beschäftigungspolitischer Art dafür sprechen, sowie in nicht geregelten Fällen von besonderer Bedeutung nach Unterrichtung und Konsultation der Comisión Laboral Tripartita de Inmigración [Dreiseitige Arbeitskommission für Einwanderung, Spanien] Anweisungen zur Gewährung von Genehmigungen für einen befristeten Aufenthalt und/oder die Aufnahme einer Arbeit, die nach Maßgabe dieser Anweisungen zeit‑, beschäftigungs- oder ortsgebunden sein können, oder von Aufenthaltserlaubnissen erteilen … Der Leiter des Staatssekretariats für Ein- und Auswanderung kann auf Bericht des Leiters des Staatssekretariats für Sicherheit auch einzelne befristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilen, wenn in dieser Regelung nicht vorgesehene außergewöhnliche Umstände vorliegen.“

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

19.      Die drei Kläger des Ausgangsverfahrens, eine Mutter und ihre zwei minderjährigen Kinder, waren im Besitz eines Aufenthaltstitels wegen Familienzusammenführung, wobei der Zusammenführende Ehemann der Mutter und Vater der beiden Kinder war.

20.      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die vier Familienmitglieder am 22. April 2021 eine „langfristige Aufenthaltsberechtigung wegen Familienzusammenführung“ beantragten.

21.      Mit Entscheidung vom 27. Mai 2021 lehnte die zuständige nationale Behörde den Antrag des Zusammenführenden wegen einer Vorstrafe ab.

22.      Mit Entscheidung vom 22. Juni 2021 lehnte diese Behörde sodann die Anträge der Kläger des Ausgangsverfahrens nach Art. 61 des Königlichen Dekrets 557/2011 ab. Dieser Artikel regelt ausweislich seiner Überschrift die Voraussetzungen für eine Verlängerung von Aufenthaltsgenehmigungen wegen Familienzusammenführung. Da der Zusammenführende keine Arbeits- und/oder Aufenthaltsgenehmigung mehr besaß, erfüllte ihr Antrag nicht die Anforderung gemäß Art. 61 Abs. 3 Buchst. b Nr. 1 dieses Königlichen Dekrets.

23.      Auf die von den Klägern des Ausgangsverfahrens erhobene Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung führt das vorlegende Gericht aus, die zuständige nationale Behörde habe ihre Entscheidung erlassen, ohne gemäß Art. 17 der Richtlinie 2003/86 Art und Stärke der familiären Bindungen der betroffenen Personen, die Dauer ihres Aufenthalts und das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Beziehungen zu ihrem Aufenthalts- und zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen.

24.      Da in Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 die „besonders schwierigen Umstände“ nicht näher bestimmt seien, die es rechtfertigten, den Familienangehörigen eines Zusammenführenden einen eigenen Aufenthaltstitel zu erteilen, sei nicht auszuschließen, dass diese Wendung eine Situation umfasse, die sich daraus ergebe, dass Familienangehörige, denen Familienzusammenführung gewährt worden sei, aus Gründen, die sich ihrem Einfluss entzögen, ihre Aufenthaltsgenehmigung verlören, vor allem, wenn es sich um minderjährige Kinder und Personen handle, die sich in ihrem Herkunftsland in einer Situation struktureller Diskriminierung befänden, was bei Frauen aus bestimmten Drittländern der Fall sei, in denen Personen weiblichen Geschlechts völlig schutzlos seien.

25.      Art. 59 des Königlichen Dekrets 557/2011 gehe jedoch trotz des zwingenden Charakters des Wortlauts von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 nicht auf die dort genannten „besonders schwierigen Umstände“ ein. Zwar lasse Abs. 4 der ersten Zusatzbestimmung dieses Königlichen Dekrets die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmig in außergewöhnlichen, in der Regelung nicht vorgesehenen Fällen zu; diese Bestimmung scheine aber nicht im Einklang mit der Richtlinie 2003/86 zu stehen. Denn die Erteilung einer solchen Aufenthaltsgenehmigung sei bei weiter Auslegung dieser Bestimmung eine Ermessensentscheidung, was automatische Entscheidungen über Aufenthaltstitel nicht ausschließe; auch sei die Zuständigkeit hierfür nicht den unteren Verwaltungsbehörden, sondern der zentralstaatlichen Verwaltung zugewiesen.

26.      Außerdem sehe die spanische Regelung weder ein Verfahren, in dem die Betroffenen persönliche Umstände geltend machen könnten, noch eine vorherige Anhörung Minderjähriger vor, so dass die zuständigen nationalen Behörden ihre Entscheidungen träfen, ohne die persönliche Situation der Familienangehörigen berücksichtigt zu haben, denen Familienzusammenführung gewährt worden sei. Daher gerieten Letztere unvermittelt in eine Situation unerlaubten Aufenthalts. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich aber, dass die Behörden vor Erlass einer die Familienzusammenführung betreffenden Entscheidung alle besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilen müssten und dass automatische Entscheidungen ausgeschlossen seien.

27.      Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 5 de Barcelona (Verwaltungsgericht Nr. 5 Barcelona) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Müssen Art. 15 Abs. 3 a. E. und Art. 17 der Richtlinie 2003/86, wenn sie von „besonders schwierigen Umständen“ sprechen, automatisch alle Umstände erfassen, bei denen ein Minderjähriger betroffen ist und/oder die den in Art. 15 genannten Umständen entsprechen?

2.      Ist eine staatliche Regelung, die bei Vorliegen solcher besonders schwierigen Umstände nicht die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels vorsieht, der gewährleistet, dass zusammengeführte Familienangehörige nicht in eine Situation unerlaubten Aufenthalts geraten, mit Art. 15 Abs. 3 a. E. und Art. 17 der Richtlinie vereinbar?

3.      Können Art. 15 Abs. 3 a. E. und Art. 17 der Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass das betreffende Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel besteht, wenn die zusammengeführte Familie aus Gründen, die sich ihrem Willen entziehen, über keine Aufenthaltsgenehmigung mehr verfügt?

4.      Ist eine staatliche Regelung, die keine notwendige und verpflichtende Würdigung der in Art. 17 der Richtlinie angeführten Umstände vorsieht, bevor zusammengeführten Familienangehörigen die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung verweigert wird, mit Art. 15 Abs. 3 und Art. 17 der Richtlinie vereinbar?

5.      Ist eine nationale Regelung, die vor der Verweigerung der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung für einen Zusammengeführten keinen besonderen Verfahrensabschnitt zur Anhörung Minderjähriger vorsieht, wenn dem Zusammenführenden die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung verweigert wurde, mit Art. 15 Abs. 3 und Art. 17 der Richtlinie sowie mit Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 und 2 der EMRK und den Art. 7, 24, 47 und 33 Abs. 1 der Charta vereinbar?

6.      Ist eine nationale Regelung, die für den Fall, dass dem Zusammenführenden die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung verweigert wurde, vor der Verweigerung der Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung für den zusammengeführten Ehegatten keinen Verfahrensabschnitt vorsieht, in dem dieser die in Art. 17 der Richtlinie genannten Umstände vortragen und aus diesen Gründen beantragen kann, dass ihm eine Möglichkeit gegeben wird, seinen Aufenthalt ohne Unterbrechung gegenüber seiner vorherigen aufenthaltsrechtlichen Situation fortzusetzen, mit Art. 15 Abs. 3 und Art. 17 der Richtlinie 2003/86, Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 und 2 der EMRK und den Art. 7, 24, 47 und 33 Abs. 1 der Charta vereinbar?

28.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die spanische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten haben auch an der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 2024 teilgenommen, in der sie zur mündlichen Beantwortung gestellte Fragen des Gerichtshofs beantwortet haben.

IV.    Rechtliche Würdigung

29.      Die Vorlagefragen 1 bis 3 betreffen die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86, wonach die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die zum Zweck der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat eingereist sind, einen eigenen Aufenthaltstitel gewähren müssen, wenn „besonders schwierige Umstände“ vorliegen, und insbesondere die Bedeutung dieses Begriffs.

30.      Die Vorlagefragen 4 bis 6 beziehen sich hingegen auf die Verfahrensgarantien, die beim Erlass einer Entscheidung anzuwenden sind, mit der eine Verlängerung des Aufenthaltstitels von Familienangehörigen des Zusammenführenden verweigert wird. Zwar stellt das vorlegende Gericht insoweit auf Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 ab, doch betrifft diese Bestimmung nicht die Voraussetzungen, unter denen ein Mitgliedstaat die Verlängerung des Aufenthaltstitels dieser Personen verweigern kann; dies ist vielmehr in Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 geregelt. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, diese Fragen anhand des letztgenannten Artikels zu prüfen.

A.      Voraussetzungen für die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 (Vorlagefragen 1 bis 3)

31.      Mit seinen Fragen 1 und 3 ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um Klärung, ob Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass das Vorliegen „besonders schwieriger Umstände“ automatisch festgestellt werden kann, wenn die Umstände ein minderjähriges Kind betreffen oder wenn der Familienangehörige seinen Aufenthaltstitel aus Gründen verliert, die sich seinem Willen entziehen.

32.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob diese Bestimmung der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Familienangehörigen des Zusammenführenden keinen eigenen Aufenthaltstitel erhalten, wenn sie nicht nur wegen der Beteiligung minderjähriger Kinder mit besonders schwierigen Umständen konfrontiert sind, sondern wegen der verweigerten Verlängerung ihres Aufenthaltstitels auch in eine Situation unerlaubten Aufenthalts geraten.

33.      Da das Vorbringen der Kläger des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat, dass insoweit Klärungsbedarf besteht, werde ich mich zunächst zur Natur des Aufenthaltsrechts äußern, das Drittstaatsangehörigen, die zum Zweck der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat eingereist sind, nach der Richtlinie 2003/86 zusteht, und mich dann mit der Auslegung von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 dieser Richtlinie befassen.

1.      Einleitende Bemerkungen

34.      Aus den Erwägungsgründen 4 und 6 der Richtlinie 2003/86 ergibt sich, dass mit dieser das allgemeine Ziel verfolgt wird, die Integration Drittstaatsangehöriger in den Mitgliedstaaten zu erleichtern, indem der Schutz der Familie sichergestellt und insbesondere die Wahrung des Familienlebens durch Familienzusammenführung gewährleistet wird(10). Wie der Gerichtshof entschieden hat, folgt aus diesem Ziel sowie aus einer Gesamtbetrachtung der Richtlinie, insbesondere von deren Art. 13 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3, dass, solange die betreffenden Familienangehörigen keinen eigenen Aufenthaltstitel auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie erlangt haben, ihr Aufenthaltsrecht ein vom Aufenthaltsrecht des Zusammenführenden abgeleitetes Recht ist, das dazu bestimmt ist, dessen Integration zu fördern(11).

35.      Eine Situation wie die vorliegende, in der eine Mutter und ihre Kinder, die zum Zweck der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat eingereist sind, ihren Aufenthaltstitel nicht verlängern können, weil der Aufenthaltstitel des Familienvaters abgelaufen ist, ist eine alltägliche Situation im Rahmen der Familienzusammenführung, im Gegensatz zu den „besonders schwierigen Umständen“, auf die der Unionsgesetzgeber in Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 abhebt.

36.      Wie die spanische Regierung in der mündlichen Verhandlung zutreffend bemerkt hat, ist es üblich und normal, dass bei der Familienzusammenführung Drittstaatsangehöriger minderjährige Kinder beteiligt sind. Wollte man zulassen, dass ihre Situation für sich genommen einen „besonders schwierigen Umstand“ im Sinne dieses Artikels darstellen könnte, würden die so zum Ausdruck gebrachten Ziele dieser Richtlinie verkannt, da den minderjährigen Kindern ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zuerkannt würde, so dass sie im Aufnahmemitgliedstaat verbleiben dürften, während ihre Eltern diesen möglicherweise verlassen müssten.

37.      Die Tatsache, dass Familienangehörige des Zusammenführenden ihren Aufenthaltstitel aus Gründen verlieren, die sich ihrem Willen entziehen, ist außerdem zwangsläufig darauf zurückzuführen, dass ihr Aufenthaltsrecht ein abgeleitetes Recht ist. So hat der Gerichtshof in der dem Urteil Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) zugrunde liegenden Rechtssache, in der die Familienmitglieder eines Zusammenführenden ihren Aufenthaltstitel wegen einer von diesem verübten, ihnen unbekannt gebliebenen Täuschung verloren hatten, entschieden, dass es in Anbetracht der „zentralen Bedeutung des Zusammenführenden in dem mit der Richtlinie 2003/86 geschaffenen System“ den mit dieser Richtlinie verfolgten Zielen und der ihr zugrunde liegenden Logik entspricht, dass diese Täuschung Auswirkungen auf das Verfahren der Familienzusammenführung hat und sich insbesondere auf die den Familienangehörigen des betreffenden Zusammenführenden erteilten Aufenthaltstitel auswirkt, selbst wenn die Familienangehörigen von der verübten Täuschung keine Kenntnis hatten(12). Diese Grundsätze gelten entsprechend für eine Situation wie die vorliegende, in der die Familienangehörigen, die zum Zweck der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat eingereist sind, ihren Aufenthaltstitel nicht verlängern können, weil der Zusammenführende sein Aufenthaltsrecht wegen der Begehung einer Straftat verloren hat.

38.      Es ist nun zu prüfen, unter welchen Bedingungen die in Art. 15 Abs. 3 Satz 2 dieser Richtlinie genannte Voraussetzung, wonach „besonders schwierige Umstände“ vorliegen müssen, erfüllt sein kann.

2.      Bedeutung des Begriffs besonders schwierige Umstände“ im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86

39.      Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 wurde vom Unionsgesetzgeber als zwingendes Recht konzipiert. Nach dieser Bestimmung ist das Vorliegen „besonders schwieriger Umstände“ bei Personen, die zum Zweck der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat eingereist sind, die einzige materiell-rechtliche Voraussetzung für die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels. Weder dieser Artikel noch eine andere Bestimmung dieser Richtlinie enthält aber eine Definition des Begriffs „besonders schwierige Umstände“ oder eine Erläuterung solcher Umstände – im Unterschied zu Art. 13 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG(13), der ausdrücklich auf Familienangehörige eines Unionsbürgers verweist, die Opfer von Gewalt im häuslichen Bereich sind. Der Gerichtshof hat daher in seiner Rechtsprechung auf die Auslegung der Kommission in Nr. 5.3 ihrer Leitlinien zurückgegriffen, wo für „besonders schwierige Umstände“ beispielhaft „häusliche Gewalt“ angeführt wird(14).

40.      In der mündlichen Verhandlung hat die spanische Regierung argumentiert, die Bedeutung des Begriffs „besonders schwierige Umstände“ könne einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden. Ich teile diese Ansicht nicht. Nach meiner Meinung ist dieser in Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 verwendete Begriff als ein autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen. Andernfalls – wenn den Mitgliedstaaten bei der Definition der betreffenden Umstände ein Beurteilungsspielraum zustünde – könnten wegen der Unterschiede in den nationalen Regelungen die Tragweite und die praktische Wirksamkeit der für die Mitgliedstaaten bestehenden Verpflichtung beeinträchtigt werden. Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie verweist im Gegensatz zu ihrem Art. 15 Abs. 4 für eine Definition dieses Begriffs auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten. Zwischen diesen beiden Bestimmungen muss klar differenziert werden. Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 erkennt dem betroffenen Familienangehörigen ein Recht zu, indem er die Mitgliedstaaten zum Erlass von Bestimmungen verpflichtet, nach denen die Ausstellung eines eigenen Aufenthaltstitels gewährleistet ist, wenn „besonders schwierige Umstände“ vorliegen. Der Unionsgesetzgeber stellt damit eine wesentliche materiell-rechtliche Voraussetzung für die Gewährung eines solchen Aufenthaltstitels auf. Dagegen verfolgt Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie einen anderen Zweck, indem er es den Mitgliedstaaten überlässt, in ihrem nationalen Recht die Bedingungen, unter denen dieses Recht geltend gemacht werden kann, sowie die Modalitäten seiner Ausübung festzulegen, sofern dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Ziel und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beachtet werden(15).

41.      Daher erscheint es mir notwendig, die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs heranzuziehen, wonach aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss(16). Da die Richtlinie 2003/86 keine Definition des Begriffs „besonders schwierige Umstände“ enthält, ist dieser nach ständiger Rechtsprechung entsprechend seinem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen. Zu berücksichtigen sind dabei der Zusammenhang, in dem er verwendet wird, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden(17).

42.      Ich werde meine Analyse mit einer Prüfung des mit Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 verfolgten Ziels beginnen. Die Voraussetzung, wonach „besonders schwierige Umstände“ vorliegen müssen, ist nämlich vor allem unter Berücksichtigung der Zielsetzung dieser Bestimmung, d. h. des Schutzes der Familienangehörigen des Zusammenführenden, auszulegen.

43.      Mit dem Recht auf Familienzusammenführung soll gemäß den Erwägungsgründen 4 und 6 dieser Richtlinie insbesondere der Schutz der Familie durch die Wahrung oder Herstellung des Familienlebens im Aufnahmemitgliedstaat gewährleistet werden(18). Aufgrund dieses Rechts kann somit jeder Person garantiert werden, dass sie mit ihrer Familie in diesem Staat leben darf.

44.      Dieses Recht ist jedoch nicht absolut, und der Unionsgesetzgeber unterwirft seine Ausübung legitimen Beschränkungen. So betont er im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86, dass bei der Durchführung von Maßnahmen zur Familienzusammenführung insbesondere die in der Charta verankerten Grundrechte zu wahren seien. Diese Maßnahmen müssen also unter Beachtung des Rechts auf Menschenwürde (Art. 1 der Charta), des Rechts auf Unversehrtheit der Person (Art. 2 der Charta), des Verbots der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 4 der Charta) sowie der Rechte des Kindes (Art. 24 der Charta) erfolgen. Außerdem billigt der Unionsgesetzgeber im elften Erwägungsgrund dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Befugnis zu, ein „restriktives Vorgehen“ in Bezug auf das Recht auf Familienzusammenführung zu beschließen, wenn dies durch die Achtung der von ihnen anerkannten Werte und Grundsätze, insbesondere der Rechte von Frauen und Kindern, gerechtfertigt ist. So kann eine zuständige nationale Behörde nach Art. 4 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2003/86 die Anträge auf Familienzusammenführung eines Ehegatten ablehnen, wenn dieser mit anderen Ehegatten des Zusammenführenden zusammenleben soll (Fall von Mehrehen) oder wenn er das von dem Mitgliedstaat hierfür vorgeschriebene Mindestalter noch nicht erreicht hat (Vermeidung von Zwangsehen).

45.      Meines Erachtens verfolgt die vom Unionsgesetzgeber in Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 vorgesehene Maßnahme denselben Zweck, nämlich den Schutz von Familienangehörigen, allerdings in einem späteren Verfahrensstadium, wenn diese bereits zum Zweck der Familienzusammenführung in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind. Die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels stellt dann eine Maßnahme zum Schutz des Familienangehörigen dar, der wegen familiärer Faktoren mit „besonders schwierigen Umständen“ konfrontiert ist(19).

46.      Folglich erfordert die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 den Nachweis, dass die Familienangehörigen tatsächlich schutzbedürftig sind.

47.      Die Bedeutung der Voraussetzung, wonach „besonders schwierige Umstände“ („situation particulièrement difficile“ in der französischen Sprachfassung der Bestimmung) vorliegen müssen, lässt sich anhand einer Prüfung ihres Wortlauts selbst sowie des Zusammenhangs, in dem der Unionsgesetzgeber sie in diesem Artikel verwendet, genauer bestimmen.

48.      Erstens bezieht sich der Begriff „Situation“ im üblichen Wortsinn auf sämtliche Ereignisse, Umstände und konkreten Verhältnisse, in welche die betroffene Person oder Personengruppe involviert ist(20). In der mündlichen Verhandlung wurde geltend gemacht, der Begriff „Situation“ müsse sich in Anbetracht von Gegenstand und Zielsetzung der Richtlinie 2003/86 in erster Linie auf die „familiäre Situation“ beziehen. Ich teile diese Ansicht insofern, als es mir wesentlich erscheint, zwischen Situationen, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, und solchen zu unterscheiden, denen ein Drittstaatsangehöriger aus anderen Gründen ausgesetzt ist, z. B. weil ihm bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht, was in der Richtlinie 2011/95/EU(21) geregelt ist, oder weil er Opfer von Menschenhandel geworden ist, was in der Richtlinie 2004/81/EG(22) geregelt ist. So weist die Kommission in ihren Leitlinien darauf hin, dass diese „besonders schwierigen Umstände“ „durch die familiäre Situation oder den Abbruch der familiären Bindungen verursacht worden“ sein müssten, wohingegen sie „nicht auf Schwierigkeiten mit anderen Ursachen zurückzuführen sein“ dürften(23). Ich hielte es jedoch für sachgerechter, den Begriff „Umstände“ in Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 so zu verstehen, dass er sich auf „familiäre Faktoren“ bezieht. Ich habe nämlich den Eindruck, dass der Begriff „familiäre Situation“ in vielen nationalen Regelungen, insbesondere im Steuer- und Sozialrecht, aber auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch auf die Zusammensetzung und Struktur eines Haushalts verweist. Dagegen können beim Begriff „familiäre Faktoren“ auch andere Umstände berücksichtigt werden, wie etwa die Lebensumstände der Familie, das Auftreten familiärer Konflikte oder die Verhaltensweisen einzelne Familienmitglieder.

49.      Zweitens stellt der Unionsgesetzgeber auf Umstände ab, die er als „besonders schwierig“ bezeichnet, wobei die Kommission im Rahmen ihrer Vorarbeiten von einer „besonders schwierigen Lage“(24) oder auch von einer „Notlage“(25) gesprochen hat. Daher müssen meines Erachtens „besonders schwierige Umstände“ dadurch gekennzeichnet sein, dass sie ihrer Natur nach für den betroffenen Familienangehörigen einen hohen Grad an Schwere oder Härte aufweisen oder ihn einer großen Unsicherheit oder Verletzlichkeit aussetzen, und die deshalb außergewöhnlich sind.

50.      Im Zusammenhang mit Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 können solche Umstände nachgewiesen werden, wenn den Familienangehörigen de facto oder de iure der Schutz ihrer Familie entzogen wird.

51.      Bei der ersten Fallgruppe ergeben sich die „besonders schwierigen Umstände“ daraus, dass die familiären Bindungen zu dem Zusammenführenden abbrechen und die Familienangehörigen deshalb ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Die Entstehung einer solchen Situation ist dann ein erschwerender Umstand, der es rechtfertigt, dass die den Mitgliedstaaten in Art. 15 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie eingeräumte Möglichkeit, bei Verwitwung, Scheidung, Trennung oder beim Tod des Zusammenführenden einen eigenen Aufenthaltstitel zu gewähren, sich in Satz 2 dieses Abs. 3 in eine Verpflichtung umwandelt(26).

52.      Dies kann der Fall sein, wenn der betreffenden Person aufgrund der Scheidung oder Trennung die Gefahr droht, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland wegen ihres sozialen Status oder der Situation in diesem Land nicht mehr für sich selbst oder ihre Kinder aufkommen oder dass sie ihre Kinder nicht mehr sehen kann. Wie die Kommission bei ihren Vorarbeiten erklärt hat(27), kann dies auch der Fall sein, wenn eine verwitwete, geschiedene oder verstoßene Frau in eine „besonders schwierige Lage“ oder auch in eine „Notlage“ geriete, falls sie gezwungen wäre, in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

53.      Im Gegensatz dazu ergeben sich bei der zweiten Fallgruppe die „besonders schwierigen Umstände“, mit denen die betreffenden Familienangehörigen konfrontiert sind, gerade daraus, dass sie ihr Familienleben mit dem Zusammenführenden (fort)führen, weswegen es für sie unzumutbar wird, ihr Aufenthaltsrecht von jenem des Zusammenführenden abzuleiten. In einer solchen Situation muss der Aufnahmemitgliedstaat also Drittstaatsangehörigen, die sich zum Zweck der Familienzusammenführung in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, das Recht gewähren, dort für einen bestimmten Zeitraum und unter den im nationalen Recht festgelegten Bedingungen ohne den Zusammenführenden zu verbleiben.

54.      Somit steht angesichts der Vorarbeiten zur Richtlinie 2003/86 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs(28) fest, dass Frauen, die Opfer von Gewalt im häuslichen Bereich wurden, mit „besonders schwierigen Umständen“ im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie konfrontiert sind(29). Abgesehen von den gegen sie verübten Gewalttaten wird ihre ernste Lage noch dadurch verschlimmert, dass sie bezüglich ihres Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat von dem Gewalttäter abhängen. Daher stellt die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels eine Schutzmaßnahme dar, mit der verhindert werden kann, dass Familienangehörige(30) aus Angst vor dem Verlust ihrer Rechtsstellung davor zurückschrecken, die eheliche Wohnung zu verlassen und Anzeige zu erstatten(31). Ich weise darauf hin, dass hierfür auch Art. 59 Abs. 1 des Übereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt spricht(32).

55.      Andere Formen der häuslichen Gewalt können Familienangehörige, deren Aufenthaltsstatus von dem des Zusammenführenden abhängt, in eine ebenso schwierige Lage bringen. Häusliche Gewalt kann körperlicher, sexueller oder seelischer Art sein und zu finanzieller Ausbeutung führen. In Betracht kommen auch Situationen, in denen Familienangehörige misshandelt oder vernachlässigt wurden, Gewalt aus Gründen der Ehre erfahren haben und zwangsverheiratet wurden, zwangsweise von ihren Kindern getrennt werden, der Gefahr einer Genitalverstümmelung(33) oder einer Zwangsabtreibung ausgesetzt sind oder verstoßen wurden, weshalb sie nicht mehr ihren Lebensunterhalt bestreiten und im Herkunftsland ohne die Hilfe Dritter leben können. Solche Situationen machen die Fortsetzung des durch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht bedingten Abhängigkeitsverhältnisses unzumutbar und rechtfertigen die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels.

56.      Es kann hier keine erschöpfende Liste der „besonders schwierigen Umstände“ erstellt werden, denen Familienangehörige des Zusammenführenden möglicherweise ausgesetzt sind. Wie Generalanwalt Wathelet in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache NA(34) dargelegt hat, muss es sich um „besonders schützenswerte Umstände“ handeln(35). Diese Umstände können von einem Mitgliedstaat zum anderen, von einer Zeitspanne zur anderen sowie von Fall zu Fall unterschiedlich sein; außerdem muss der zuständigen nationalen Behörde das notwendige Ermessen zugestanden werden, um in jedem Einzelfall den Schwere- oder Härtegrad der Umstände, mit denen sich die betreffende Person konfrontiert sieht, oder den Grad der Unsicherheit oder Verletzlichkeit, dem sie ausgesetzt ist, zu beurteilen.

57.      Infolgedessen ist Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 meines Erachtens dahin auszulegen, dass die Voraussetzung, wonach „besonders schwierige Umstände“ vorliegen müssen, den Nachweis verlangt, dass der Drittstaatsangehörige, der sich zum Zweck der Familienzusammenführung im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, wegen familiärer Faktoren mit Umständen konfrontiert ist, die ihrer Natur nach einen hohen Grad an Schwere oder Härte aufweisen oder die ihn einer großen Unsicherheit oder Verletzlichkeit aussetzen, weshalb er eines effektiven Schutzes bedarf, der durch die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels gewährleistet wird.

58.      Vorbehaltlich einer individualisierten Prüfung der Umstände reicht die bloße Tatsache, dass minderjährige Kinder betroffen sind oder dass die Familienangehörigen des Zusammenführenden ihren Aufenthaltstitel aus Gründen verloren haben, die sich ihrem Willen entziehen, nicht für den Nachweis aus, dass „besonders schwierige Umstände“ im Sinne dieses Artikels vorliegen.

59.      Diese Auslegung hat zur Folge, dass sich eine Prüfung der zweiten Vorlagefrage erübrigt.

60.      Wie erinnerlich, möchte das vorlegende Gericht mit dieser Frage vom Gerichtshof wissen, ob Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nicht vorsieht, dass die Familienangehörigen des Zusammenführenden einen eigenen Aufenthaltstitel erhalten, wenn sie sich nicht nur wegen der Beteiligung minderjähriger Kinder in diesem Staat mit besonders schwierigen Umständen konfrontiert sind, sondern wegen der verweigerten Verlängerung ihres Aufenthaltstitels auch in eine Situation unerlaubten Aufenthalts geraten.

61.      Diese Frage beruht auf der Prämisse, dass sich die Kläger des Ausgangsverfahrens mit „besonders schwierigen Umständen“ im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 dieser Richtlinie konfrontiert sehen, da hiervon zwei minderjährige Kinder betroffen sind. Aus den soeben dargelegten Gründen reicht dieser Umstand allein jedoch nicht aus, um ein Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel im Sinne dieser Bestimmung zu begründen. In einer solchen Situation fallen die Familienangehörigen des Zusammenführenden unter die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(36) und haben Anspruch auf die darin festgelegten Rechte und Garantien.

B.      Verfahrensgarantien bei Erlass einer Entscheidung, mit der eine Verlängerung des Aufenthaltstitels von Familienangehörigen des Zusammenführenden abgelehnt wird

62.      Mit seinen Vorlagefragen 4 bis 6 möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Kern wissen, ob Art. 17 der Richtlinie 2003/86 im Licht der Art. 7, 24, 33 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die zuständige nationale Behörde einen Antrag von Familienangehörigen des Zusammenführenden auf Verlängerung ihres Aufenthaltstitels ablehnen darf, ohne zuvor eine individualisierte Prüfung des Antrags vorzunehmen, bei der die Familienangehörigen und insbesondere die minderjährigen Kinder angehört werden.

63.      Nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten eine Verlängerung „de[s] Aufenthaltstitel[s] eines Familienangehörigen … verweigern, wenn der Aufenthalt des Zusammenführenden endet und der Familienangehörige noch nicht über ein eigenes Aufenthaltsrecht gemäß Artikel 15 verfügt“.

64.      Was die Prüfung des Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels von Familienangehörigen durch die zuständigen nationalen Behörden betrifft, so ergibt sich aus Art. 16 Abs. 3 dieser Richtlinie und insbesondere aus der dort verwendeten Formulierung „können … dessen Verlängerung verweigern“, dass die Mitgliedstaaten hierbei über ein Ermessen verfügen(37). Bei dessen Ausübung müssen sie allerdings den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Ziel und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beachten(38).

65.      Darüber hinaus steht fest, dass die Richtlinie 2003/86 wie jeder andere Rechtsakt des Unionsrechts im Einklang mit den Grundrechten angewandt werden muss. So geht aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung im Einklang mit den Grundrechten und den in der Charta anerkannten Grundsätzen erlassen werden(39) und insbesondere das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewährleisten müssen. Nach ständiger Rechtsprechung ist dieser Artikel auch in Verbindung mit den in Art. 24 der Charta niedergelegten Grundrechten des Kindes zu lesen(40).

66.      Daher sind bei der Prüfung des Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels von Familienangehörigen des Zusammenführenden die Grundrechte und namentlich die Art. 7 und 24 der Charta zu beachten(41).

1.      Zur individualisierten Prüfung des Antrags

67.      In Anbetracht der vorstehenden Anforderungen verlangt der Gerichtshof, dass die zuständigen nationalen Behörden alle zu berücksichtigenden Interessen ausgewogen und sachgerecht bewerten(42).

68.      In diesem Zusammenhang macht Art. 17 der Richtlinie 2003/86 der zuständigen nationalen Behörde die klare Vorgabe, den Antrag eines Familienangehörigen des Zusammenführenden auf Verlängerung des Aufenthaltstitels einer individualisierten Prüfung zu unterziehen(43). Anhand dieser Prüfung soll festgestellt werden, ob es Gründe gibt, die dagegen sprechen, dass die Behörde die Verlängerung des Aufenthaltstitels des Familienangehörigen verweigert. Abgesehen von den in Art. 17 der Richtlinie ausdrücklich genannten Faktoren, verlangt der Gerichtshof, wie auch die Kommission in ihren Leitlinien, dass die Behörde alle relevanten Elemente des Einzelfalls berücksichtigt und dabei den Interessen der betroffenen Kinder sowie der Förderung des Familienlebens besondere Aufmerksamkeit schenkt(44).

69.      Diese Beurteilung muss laut Gerichtshof eine „konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers“ ermöglichen(45). Wenn der Antrag des Familienangehörigen auf Verlängerung des Aufenthaltstitels abgelehnt wird, weil der Zusammenführende seinen Aufenthaltstitel verloren hat, muss bei dieser Prüfung meines Erachtens beurteilt werden, ob Gründe vorliegen, die es rechtfertigen, dass die zuständige nationale Behörde dem Familienangehörigen nach Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 einen eigenen Aufenthaltstitel ausstellt. Denn obwohl es im Ermessen der Mitgliedstaaten steht, die Verlängerung eines Aufenthaltstitels zu verweigern oder die Voraussetzungen für die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels festzulegen, wird ihre Entscheidungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass sie die konkrete Situation des Familienangehörigen, der eventuell „besonders schwierigen Umständen“ im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie ausgesetzt ist oder sein könnte, berücksichtigen und einen Aufenthaltstitel erteilen müssen, wenn solche Umstände dies erfordern.

70.      Im vorliegenden Fall betreffen die Umstände eine Mutter mit ihren beiden minderjährigen Kindern, denen keine „langfristige Aufenthaltsberechtigung wegen Familienzusammenführung“ erteilt und deren Aufenthaltsgenehmigung deshalb nicht verlängert wurde, weil dem Vater als Zusammenführenden die Gewährung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung verweigert worden war. Angesichts dessen müsste die zuständige nationale Behörde die familiäre Situation und insbesondere die Stärke der familiären Bindungen berücksichtigen. Zu berücksichtigen wären auch die Dauer ihres Aufenthalts sowie das Vorliegen familiärer, wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Bindungen sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch im Herkunftsland(46), der Geburtsort der Kinder(47) sowie gegebenenfalls das Alter, in dem sie in den Aufnahmemitgliedstaat gelangt sind, sowie der Umstand, dass sie dort erzogen wurden und eine Ausbildung erhielten. Es müssten auch einschlägige allgemeine und besondere Informationen über die Situation in ihrem Herkunftsland herangezogen werden, etwa über ihre Lebensbedingungen, ihren sozialen Status oder auch die spezifischen kulturellen Aspekte dieses Landes(48), wobei das vorlegende Gericht erklärt, der Mutter könnte dort eine strukturelle Diskriminierung drohen. Schließlich müsste dieses Gericht berücksichtigen, dass ihr Aufenthaltstitel wegen einer Vorstrafe des Familienvaters nicht verlängert worden ist(49).

71.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Entscheidung, mit der die zuständige nationale Behörde es abgelehnt hat, den Aufenthaltstitel der Mutter und ihrer beiden Kinder wegen Familienzusammenführung zu verlängern, weil der Vater seinen Aufenthaltstitel verloren hatte, im Licht dieser Erwägungen gerechtfertigt ist oder ob den Betroffenen im Hinblick darauf ein eigener Aufenthaltstitel ausgestellt werden muss.

2.      Zur Wahrung des Rechts auf Anhörung

72.      In der Richtlinie 2003/86 ist nicht geregelt, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die Familienangehörigen des Zusammenführenden vor Erlass einer Entscheidung, mit der eine Verlängerung ihres Aufenthaltstitels verweigert wird, anzuhören sind und insbesondere, wie sie die in Art. 17 dieser Richtlinie genannten Umstände geltend machen können.

73.      Nach ständiger Rechtsprechung ist der Anspruch auf rechtliches Gehör aber auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung solche Verfahrensrechte nicht ausdrücklich vorsieht, vorausgesetzt, diese Regelung fällt in den Geltungsbereich des Unionsrechts(50).

74.      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, untrennbar zur Wahrung der Verteidigungsrechte gehört, die einen in Art. 47 der Charta verbürgten allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt(51). Der Anspruch auf rechtliches Gehör garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird(52). Eine den Antrag auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels ablehnende Entscheidung ist aber eine für die Interessen der Familienangehörigen des Zusammenführenden nachteilige Entscheidung.

75.      Demnach müssen die Mitgliedstaaten die Familienangehörigen des Zusammenführenden vor Erlass einer Entscheidung anhören, mit der ihr Aufenthaltstitel nicht verlängert wird(53).

76.      Obwohl der Anspruch auf rechtliches Gehör es nach ständiger Rechtsprechung nicht zwingend gebietet, die Möglichkeit zu einer mündlichen Äußerung zu geben(54), muss die betroffene Person doch in die Lage versetzt werden, ihr Anliegen im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam geltend zu machen. So muss diese Person bei einem Antrag auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels zunächst alle von ihr für relevant erachteten Angaben zu ihrer persönlichen und familiären Situation übermitteln können. Einige der für die individualisierte Prüfung gemäß Art. 17 der Richtlinie 2003/86 erforderlichen Angaben, wie etwa das Alter der Kinder oder die Dauer des Aufenthalts der Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat, lassen sich durch schriftliche Beweise belegen. Andere Faktoren, wie etwa die Stärke der familiären Bindungen, die Art oder das Ausmaß der im Aufnahmemitgliedstaat bestehenden Bindungen oder auch die Lebensbedingungen im Herkunftsland, erfordern hingegen eine schriftliche oder mündliche Aussage der betroffenen Person. Andere Gegebenheiten wiederum, die z. B. auf „besonders schwierige Umstände“ im Sinne von Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie hindeuten, könnten zudem die Einleitung eines gesonderten Verfahrens erfordern.

77.      Der Anspruch auf rechtliches Gehör setzt ferner voraus, dass die zuständige nationale Behörde das entsprechende Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt, indem sie sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Aspekte des Einzelfalls untersucht und ihre Entscheidung eingehend begründet; die Pflicht, eine Entscheidung hinreichend spezifisch und konkret zu begründen, ergibt sich somit aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, da es dem Betroffenen auf diese Weise ermöglicht wird, die Gründe für die Ablehnung seines Antrags zu verstehen(55).

78.      Was schließlich die Modalitäten der Anhörung Minderjähriger angeht, so verlangt Art. 24 Abs. 1 der Charta, dass Kinder ihre Meinung frei äußern können und dass die so geäußerte Meinung in den sie betreffenden Angelegenheiten in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt wird(56). Der Gerichtshof hat klargestellt, dass sich diese Bestimmung nicht auf die Anhörung des Kindes als solche bezieht, sondern auf die Möglichkeit des Kindes, gehört zu werden(57). Das Recht des Kindes, gehört zu werden, verlangt also nicht zwingend die Durchführung einer Anhörung, sondern gebietet es, dass dem Kind die rechtlichen Verfahren und Bedingungen zur Verfügung gestellt werden, die es ihm ermöglichen, seine Meinung frei zu äußern, und dass diese Meinung eingeholt wird.

79.      Außerdem hat die zuständige nationale Behörde gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl des Kindes zu berücksichtigen. Laut Gerichtshof bedeutet diese Bestimmung, dass das Wohl des Kindes bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere solchen, die die Mitgliedstaaten zur Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, eine vorrangige Erwägung sein muss(58). Im Urteil vom 22. Dezember 2010, Aguirre Zarraga(59), das sich auf ein Sorgerechtsverfahren bezog, hat der Gerichtshof entschieden, dass das Wohl des Kindes es rechtfertigen kann, von dessen Anhörung abzusehen(60). Die Anhörung kann somit, auch wenn sie ein Recht des Kindes bleibt, keine absolute Verpflichtung darstellen, sondern muss im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Charta Gegenstand einer Beurteilung jedes Einzelfalls anhand der mit dem Wohl des Kindes zusammenhängenden Erfordernisse sein(61).

80.      Mit anderen Worten: Stellt ein minderjähriges Kind den Antrag, dann müssen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, damit dieses Kind eine seinem Alter oder seiner Reife entsprechende echte und wirksame Möglichkeit hat, gehört zu werden(62).

81.      Infolgedessen ist Art. 17 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die zuständige nationale Behörde einen von den Familienangehörigen des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels ablehnen kann, ohne zuvor eine individualisierte Prüfung des Antrags vorzunehmen, in deren Rahmen die Familienangehörigen alle hinsichtlich ihrer Situation für relevant erachteten Informationen sachdienlich und effektiv vorbringen können.

82.      Stellt ein minderjähriges Kind den Antrag, dann müssen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, damit dieses Kind eine seinem Alter oder seiner Reife entsprechende echte und wirksame Möglichkeit hat, gehört zu werden.

V.      Ergebnis

83.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 5 de Barcelona (Verwaltungsgericht Nr. 5 Barcelona, Spanien) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung

ist dahin auszulegen, dass

–        die Voraussetzung, wonach „besonders schwierige Umstände“ vorliegen müssen, den Nachweis verlangt, dass der Drittstaatsangehörige, der sich zum Zweck der Familienzusammenführung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, wegen familiärer Faktoren mit Umständen konfrontiert ist, die ihrer Natur nach einen hohen Grad an Schwere oder Härte aufweisen oder die ihn einer großen Unsicherheit oder Verletzlichkeit aussetzen, weshalb er eines effektiven Schutzes bedarf, der durch die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels gewährleistet wird;

–        vorbehaltlich einer individualisierten Prüfung der Umstände die bloße Tatsache, dass minderjährige Kinder betroffen sind oder dass die Familienangehörigen des Zusammenführenden ihren Aufenthaltstitel aus Gründen verloren haben, die sich ihrem Willen entziehen, nicht für den Nachweis ausreicht, dass „besonders schwierige Umstände“ im Sinne dieses Artikels vorliegen.

2.      Art. 17 der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass

–        er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die zuständige nationale Behörde einen von den Familienangehörigen des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels ablehnen kann, ohne zuvor eine individualisierte Prüfung des Antrags vorzunehmen, in deren Rahmen die Familienangehörigen alle hinsichtlich ihrer Situation für relevant erachteten Informationen sachdienlich und effektiv vorbringen können;

–        die Mitgliedstaaten, wenn der Antrag von einem minderjährigen Kind gestellt wird, alle geeigneten Maßnahmen ergreifen müssen, damit dieses Kind eine seinem Alter oder seiner Reife entsprechende echte und wirksame Möglichkeit hat, gehört zu werden.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2003, L 251, S. 12.


3      Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 bezeichnet „Zusammenführender“ den „sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen“.


4      Auf eine entsprechende Aufforderung in der mündlichen Verhandlung erklärten die Kläger des Ausgangsverfahrens, die von ihnen wegen Familienzusammenführung beantragte „langfristige Aufenthaltsberechtigung“ sei eine Besonderheit des spanischen Rechts, die weder in der Richtlinie 2003/86 noch in der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) vorgesehen sei.


5      Am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet, im Folgenden: EMRK.


6      Im Folgenden: Charta.


7      COM(2014) 210 final, im Folgenden: Leitlinien.


8      BOE Nr. 10 vom 12. Januar 2000, S. 1139.


9      BOE Nr. 103 vom 30. April 2011, S. 43821, im Folgenden: Königliches Dekret 557/2011.


10      Vgl. hierzu Urteile vom 14. März 2019, Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) (C‑557/17, im Folgenden: Urteil Y. Z. u. a. [Täuschung bei der Familienzusammenführung], EU:C:2019:203, Rn. 47), und vom 2. September 2021, État belge (Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt) (C‑930/19, EU:C:2021:657, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Vgl. Urteil Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) (Rn. 47).


12      Vgl. Urteil Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) (Rn. 46).


13      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 204, S. 28, und ABl. 2004, L 229, S. 35).


14      Vgl. Urteil vom 2. September 2021, État belge (Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt) (C‑930/19, EU:C:2021:657, Rn. 64).


15      Vgl. Urteil vom 2. September 2021, État belge (Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt) (C‑930/19, EU:C:2021:657, Rn. 85 bis 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Vgl. u. a. Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling) (C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Vgl. Urteil vom 30. März 2023, Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer (C‑34/21, EU:C:2023:270, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Vgl. Art. 7 und Art. 33 Abs. 1 der Charta.


19      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, État belge (Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt) (C‑930/19, EU:C:2021:657, Rn. 69 und 70).


20      Vgl. Wörterbuch Larousse (zum französischen Begriff „situation“).


21      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).


22      Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren (ABl. 2004, L 261, S. 19).


23      Vgl. Nr. 5.3 Abs. 3 der Leitlinien (Hervorhebung nur hier).


24      Vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, vorgelegt am 1. Dezember 1999 (KOM[1999] 638 endg.), Begründung zu Art. 13 Abs. 3.


25      Vgl. geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, vorgelegt am 2. Mai 2002 (KOM[2002] 225 endgültig), Begründung zu Art. 15.


26      Vgl. Hailbronner, K., und Klarmann, T., „Article 15“, in Hailbronner, K., und Thym, D., EU Immigration and Asylum Law: A Commentary, 2. Aufl., C.H. Beck, München, 2016, S. 405 bis 410 (409 und 410).


27      Siehe Fn. 24 und 25 der vorliegenden Schlussanträge.


28      Der Gerichtshof hat in der Rechtssache, in der das Urteil vom 2. September 2021, État belge (Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt) (C‑930/19, EU:C:2021:657), ergangen ist, auch entschieden, dass Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 den Zweck verfolgt, Familienangehörige zu schützen, die Opfer von Gewalt im häuslichen Bereich wurden (Rn. 69 und 70).


29      Siehe Fn. 24 der vorliegenden Schlussanträge.


30      Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Grundsatzurteil vom 9. Juni 2009, Opuz/Türkei (CE:ECHR:2009:0609JUD003340102, § 132), entschieden hat, betrifft häusliche Gewalt „nicht ausschließlich Frauen … Auch Männer können von häuslicher Gewalt betroffen sein, ebenso wie Kinder, die oft direkt oder indirekt Opfer sind“.


31      Vgl. Briddick, C., „Combatting or enabling domestic violence? Evaluating the residence rights of migrant victims of domestic violence in Europe“, International & Comparative Law Quarterly, Cambridge University Press, Cambridge, Bd. 69, Nr. 4, 2020, S. 1013 bis 1034 (1015).


32      Am 7. April 2011 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedetes und am 1. August 2014 in Kraft getretenes Übereinkommen (Council of Europe Treaty Series, Nr. 210). Art. 59 Abs. 1 dieses Übereinkommens bestimmt: „Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Opfer, dessen Aufenthaltsstatus von dem Aufenthaltsstatus seiner Ehefrau oder Partnerin im Sinne des internen Rechts beziehungsweise seines Ehemanns oder Partners im Sinne des internen Rechts abhängt, im Fall der Auflösung der Ehe oder Beziehung bei besonders schwierigen Umständen auf Antrag einen eigenständigen Aufenthaltstitel unabhängig von der Dauer der Ehe oder Beziehung erhält. Die Bedingungen für die Bewilligung und Dauer des eigenständigen Aufenthaltstitels werden durch das interne Recht festgelegt.“ (Hervorhebung nur hier).


33      Vgl. Nr. 5.3 Abs. 3 der Leitlinien.


34      C‑115/15, EU:C:2016:259.


35      Vgl. Nr. 75 jener Schlussanträge.


36      ABl. 2008, L 348, S. 98.


37      Vgl. entsprechend Urteil Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) (Rn. 51).


38      Vgl. u. a. Urteile vom 7. November 2018, C und A (C‑257/17, EU:C:2018:876, Rn. 51), und vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).


39      Vgl. Urteil vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).


40      Vgl. Urteile vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 55), und vom 1. August 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Ablehnung des Aufnahmegesuchs eines unbegleiteten ägyptischen Minderjährigen) (C‑19/21, EU:C:2022:605, Rn. 47).


41      Vgl. Urteil vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).


42      Vgl. Urteil vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 57), und Urteil Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) (Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Vgl. entsprechend Urteile vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 64), und vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).


44      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2019, E. (C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 45).


45      Vgl. hierzu Urteil vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 48), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass Art. 17 der Richtlinie 2003/86 somit einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die zuständige nationale Behörde einen Antrag auf Familienzusammenführung ablehnen darf, ohne die Situation des Antragstellers konkret geprüft zu haben.


46      Vgl. Urteil Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) (Rn. 54).


47      Aus den von den Klägern des Ausgangsverfahren eingereichten Erklärungen geht hervor, dass sie 2018 eingereist sind und dass eines der Kinder im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurde.


48      Vgl. in diesem Sinne Leitlinien, Nr. 7, „Allgemeine Grundsätze“ (S. 30), insbesondere Nr. 7.4, „Einzelfallbewertung“ (S. 33).


49      Insofern verweise ich auf das Urteil Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass die zuständigen nationalen Behörden in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, dem Umstand Rechnung tragen konnten, dass die Mutter und der Sohn in diesem Fall nicht selbst für die vom Vater verübte Täuschung verantwortlich waren und davon nichts wussten (Rn. 55).


50      Vgl. Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida (C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 39 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


51      Vgl. Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida (C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 30 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Vgl. Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida (C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


53      Insoweit ist interessant, dass den Leitlinien zufolge bei jedem Antrag auf Familienzusammenführung die diesem beigefügten Unterlagen und die „Notwendigkeit“ von Befragungen und weiterer Untersuchungen von Fall zu Fall im Rahmen einer Einzelfallprüfung des Antrags zu bewerten sind (Nr. 3.2, S. 11).


54      Vgl. Beschluss vom 21. Mai 2019, Le Pen/Parlament (C‑525/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:435, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).


55      Vgl. Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida (C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


56      Diese Bestimmung orientiert sich laut den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) insbesondere an Art. 12 des am 20. November 1989 in New York unterzeichneten und von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Übereinkommens über die Rechte des Kindes (United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3, Nr. 27531 [1990]), der fast denselben Wortlaut wie das in der europäischen Regelung vorgesehene Recht hat. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Artikeln liegt in Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens, der nach der Anerkennung des Rechts des Kindes auf Meinungsäußerung und Anhörung zusätzlich verlangt, dass „dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben [wird], in allen das Kind berührenden Gerichts‑ oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden“.


57      Vgl. Urteil vom 22. Dezember 2010, Aguirre Zarraga (C‑491/10 PPU, EU:C:2010:828, Rn. 62).


58      Vgl. Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling) (C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


59      C‑491/10 PPU, EU:C:2010:828.


60      Vgl. Rn. 63 dieses Urteils.


61      Vgl. Rn. 64 dieses Urteils.


62      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist als „Minderjähriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser anzusehen, wer bei Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und Stellung seines Asylantrags in diesem Staat jünger als 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling] [C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung]).