Language of document : ECLI:EU:C:2024:252

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

21. März 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Art. 45 – Versagung der Anerkennung einer Entscheidung – Art. 71 – Verhältnis dieser Verordnung zu Übereinkünften über ein besonderes Rechtsgebiet – Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR) – Art. 31 Abs. 3 – Rechtshängigkeit – Gerichtsstandsvereinbarung – Begriff ‚öffentliche Ordnung‘“

In der Rechtssache C‑90/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) mit Entscheidung vom 10. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2022, in dem Verfahren

Gjensidige“ ADB,

Beteiligte:

Rhenus Logistics“ UAB,

ACC Distribution“ UAB,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der „Gjensidige“ ADB, vertreten durch G. Raišutienė, Advokatė,

–        der „Rhenus Logistics“ UAB, vertreten durch V. Jurkevičius und E. Sinkevičius, Advokatai,

–        der litauischen Regierung, vertreten durch V. Kazlauskaitė-Švenčionienė und E. Kurelaitytė als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Messina, S. Noë und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Dezember 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 Buchst. a und e Ziff. ii der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1, berichtigt in ABl. 2016, L 264, S. 43) und von Art. 71 dieser Verordnung in Verbindung zum einen mit den Art. 25, 29 und 31 sowie zum anderen mit den Erwägungsgründen 21 und 22 der Verordnung.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Gjensidige“ ADB, einer Versicherungsgesellschaft, und der „Rhenus Logistics“ UAB, einem Transportunternehmen, über die Erstattung einer Entschädigung, die Gjensidige an die „ACC Distribution“ UAB zum Ersatz eines Schadens gezahlt hatte, der dieser im Rahmen der Ausführung eines mit Rhenus Logistics geschlossenen Vertrags über eine internationale Beförderung entstanden war.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung Nr. 1215/2012

3        In den Erwägungsgründen 3, 4, 21, 22, 30 und 34 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

„(3)      Die Union hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln, indem unter anderem der Zugang zum Recht, insbesondere durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen, erleichtert wird. …

(4)      … Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zu gewährleisten, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind.

(21)      Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in verschiedenen Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. Es sollte eine klare und wirksame Regelung zur Klärung von Fragen der Rechtshängigkeit und der im Zusammenhang stehenden Verfahren sowie zur Verhinderung von Problemen vorgesehen werden, die sich aus der einzelstaatlich unterschiedlichen Festlegung des Zeitpunkts ergeben, von dem an ein Verfahren als rechtshängig gilt. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte dieser Zeitpunkt autonom festgelegt werden.

(22)      Um allerdings die Wirksamkeit von ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen zu verbessern und missbräuchliche Prozesstaktiken zu vermeiden, ist es erforderlich, eine Ausnahme von der allgemeinen Rechtshängigkeitsregel vorzusehen, um eine befriedigende Regelung in einem Sonderfall zu erreichen, in dem es zu Parallelverfahren kommen kann. Dabei handelt es sich um den Fall, dass ein Verfahren bei einem Gericht, das nicht in einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung vereinbart wurde, anhängig gemacht wird und später das vereinbarte Gericht wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien angerufen wird. In einem solchen Fall muss das zuerst angerufene Gericht das Verfahren aussetzen, sobald das vereinbarte Gericht angerufen wurde, und zwar so lange, bis das letztere Gericht erklärt, dass es gemäß der ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung nicht zuständig ist. Hierdurch soll in einem solchen Fall sichergestellt werden, dass das vereinbarte Gericht vorrangig über die Gültigkeit der Vereinbarung und darüber entscheidet, inwieweit die Vereinbarung auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit Anwendung findet. Das vereinbarte Gericht sollte das Verfahren unabhängig davon fortsetzen können, ob das nicht vereinbarte Gericht bereits entschieden hat, das Verfahren auszusetzen.

(30)      Eine Partei, die die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung anficht, sollte so weit wie möglich im Einklang mit dem Rechtssystem des ersuchten Mitgliedstaats in der Lage sein, im selben Verfahren außer den in dieser Verordnung genannten Versagungsgründen auch die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Versagungsgründe innerhalb der nach diesem Recht vorgeschriebenen Fristen geltend zu machen. Allerdings sollte die Anerkennung einer Entscheidung nur versagt werden, wenn mindestens einer der in dieser Verordnung genannten Versagungsgründe gegeben ist.

(34)      Um die Kontinuität zwischen dem … Übereinkommen [vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32, im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen)], der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] und dieser Verordnung zu wahren, sollten Übergangsvorschriften vorgesehen werden. Dies gilt auch für die Auslegung des Brüsseler Übereinkommens von 1968 und der es ersetzenden Verordnungen durch den Gerichtshof der Europäischen Union.“

4        Kapitel II Abschnitt 6 („Ausschließliche Zuständigkeiten“) der Verordnung Nr. 1215/2012 enthält nur einen Artikel, und zwar Art. 24, der die Gerichte bestimmt, die ohne Rücksicht auf den Wohnsitz der Parteien für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten aus den darin aufgeführten Bereichen ausschließlich zuständig sind.

5        Kapitel II der Verordnung umfasst auch Abschnitt 7 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“), zu dem Art. 25 der Verordnung gehört. Dieser sieht in Abs. 1 vor:

„Haben die Parteien unabhängig von ihrem Wohnsitz vereinbart, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Mitgliedstaats über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen, so sind dieses Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig, es sei denn, die Vereinbarung ist nach dem Recht dieses Mitgliedstaats materiell ungültig. Dieses Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats sind ausschließlich zuständig, sofern die Parteien nichts anderes vereinbart haben. …“

6        In Art. 29 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

„(1)      Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht unbeschadet des Artikels 31 Absatz 2 das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.

(2)      In den in Absatz 1 genannten Fällen teilt das angerufene Gericht auf Antrag eines anderen angerufenen Gerichts diesem unverzüglich mit, wann es gemäß Artikel 32 angerufen wurde.

(3)      Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“

7        Art. 31 der Verordnung bestimmt:

„(1)      Ist für die Verfahren die ausschließliche Zuständigkeit mehrerer Gerichte gegeben, so hat sich das zuletzt angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären.

(2)      Wird ein Gericht eines Mitgliedstaats angerufen, das gemäß einer Vereinbarung nach Artikel 25 ausschließlich zuständig ist, so setzt das Gericht des anderen Mitgliedstaats unbeschadet des Artikels 26 das Verfahren so lange aus, bis das auf der Grundlage der Vereinbarung angerufene Gericht erklärt hat, dass es gemäß der Vereinbarung nicht zuständig ist.

(3)      Sobald das in der Vereinbarung bezeichnete Gericht die Zuständigkeit gemäß der Vereinbarung festgestellt hat, erklären sich die Gerichte des anderen Mitgliedstaats zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.

…“

8        Art. 36 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.“

9        Art. 45 der Verordnung sieht vor:

„(1)      Die Anerkennung einer Entscheidung wird auf Antrag eines Berechtigten versagt, wenn

a)      die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des ersuchten Mitgliedstaats offensichtlich widersprechen würde;

e)      die Entscheidung unvereinbar ist

i)      mit Kapitel II Abschnitte 3, 4 oder 5, sofern der Beklagte Versicherungsnehmer, Versicherter, Begünstigter des Versicherungsvertrags, Geschädigter, Verbraucher oder Arbeitnehmer ist, oder

ii)      mit Kapitel II Abschnitt 6.

(3)      Die Zuständigkeit des Ursprungsgerichts darf, unbeschadet des Absatzes 1 Buchstabe e, nicht nachgeprüft werden. Die Vorschriften über die Zuständigkeit gehören nicht zur öffentlichen Ordnung (ordre public) im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a.

…“

10      Art. 71 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung lässt Übereinkünfte unberührt, denen die Mitgliedstaaten angehören und die für besondere Rechtsgebiete die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung oder die Vollstreckung von Entscheidungen regeln.

(2)      Um eine einheitliche Auslegung des Absatzes 1 zu sichern, wird er in folgender Weise angewandt:

b)      Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat von einem Gericht erlassen worden sind, das seine Zuständigkeit auf eine Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet gestützt hat, werden in den anderen Mitgliedstaaten nach dieser Verordnung anerkannt und vollstreckt.

Sind der Ursprungsmitgliedstaat und der ersuchte Mitgliedstaat Vertragsparteien einer Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet, welche die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen regelt, so gelten diese Voraussetzungen. In jedem Fall können die Bestimmungen dieser Verordnung über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen angewandt werden.“

 Das CMR

11      Das am 19. Mai 1956 in Genf unterzeichnete Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr in der Fassung des am 5. Juli 1978 in Genf unterzeichneten Protokolls (im Folgenden: CMR) gilt nach seinem Art. 1 Abs. 1 „für jeden Vertrag über die entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels Fahrzeugen, wenn der Ort der Übernahme des Gutes und der für die Ablieferung vorgesehene Ort … in zwei verschiedenen Staaten liegen, von denen mindestens einer ein Vertragsstaat ist[,] … ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und die Staatsangehörigkeit der Parteien“.

12      Das CMR wurde im Rahmen der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen ausgehandelt. Dem CMR sind über 50 Staaten, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, beigetreten.

13      In Art. 31 CMR heißt es:

„(1)      Wegen aller Streitigkeiten aus einer diesem Übereinkommen unterliegenden Beförderung kann der Kläger, außer durch Vereinbarung der Parteien bestimmte Gerichte von Vertrag[s]staaten, die Gerichte eines Staates anrufen, auf dessen Gebiet

a)      der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt, seine Hauptniederlassung oder die Zweigniederlassung oder Geschäftsstelle hat, durch deren Vermittlung der Beförderungsvertrag geschlossen worden ist, oder

b)      der Ort der Übernahme des Gutes oder der für die Ablieferung vorgesehene Ort liegt.

Andere Gerichte können nicht angerufen werden.

(3)      Ist in einer Streitsache im Sinne des Absatzes 1 ein Urteil eines Gerichtes eines Vertrag[s]staates in diesem Staat vollstreckbar geworden, so wird es auch in allen anderen Vertrag[s]staaten vollstreckbar, sobald die in dem jeweils in Betracht kommenden Staat hierfür vorgeschriebenen Formerfordernisse erfüllt sind. Diese Formerfordernisse dürfen zu keiner sachlichen Nachprüfung führen.

…“

14      Art. 41 Abs. 1 CMR bestimmt:

„Unbeschadet der Bestimmungen des Artikels 40 ist jede Vereinbarung, die unmittelbar oder mittelbar von den Bestimmungen dieses Übereinkommens abweicht, nichtig und ohne Rechtswirkung. Die Nichtigkeit solcher Vereinbarungen hat nicht die Nichtigkeit der übrigen Vertragsbestimmungen zur Folge.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15      ACC Distribution hatte mit Rhenus Logistics einen Vertrag geschlossen, der Letztere verpflichtete, eine Sendung Computerausrüstung von den Niederlanden nach Litauen zu transportieren (im Folgenden: fraglicher Beförderungsvertrag).

16      Nachdem ein Teil der Waren beim Transport gestohlen worden war, zahlte Gjensidige gemäß einem Versicherungsvertrag 205 108,89 Euro als Entschädigung an ACC Distribution.

17      Am 3. Februar 2017 erhob Rhenus Logistics bei der Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Bezirksgericht Seeland-Westbrabant, Niederlande) eine Klage auf Feststellung der Grenzen ihrer Haftung.

18      ACC Distribution und Gjensidige beantragten, dass dieses Gericht sich für die Entscheidung über die Klage unzuständig erklärt oder das Verfahren aussetzt, und machten insoweit geltend, dass ACC Distribution und Rhenus Logistics die Zuständigkeit der litauischen Gerichte für Rechtsstreitigkeiten aus dem fraglichen Beförderungsvertrag vereinbart hätten.

19      Mit Entscheidung vom 23. August 2017 wies das Gericht den Antrag von ACC Distribution und Gjensidige zurück. Die Gerichtsstandsvereinbarung zwischen ACC Distribution und Rhenus Logistics sei nach Art. 41 Abs. 1 des CMR nichtig und ohne Rechtswirkung, da sie die Wahl von nach Art. 31 CMR zuständigen Gerichten beschränke.

20      Am 19. September 2017 erhob Gjensidige beim Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas, Litauen) eine Regressklage auf Verurteilung von Rhenus Logistics zur Erstattung des Betrags von 205 108,89 Euro, den sie als Entschädigung an ACC Distribution gezahlt hatte.

21      Mit Beschluss vom 12. März 2018 setzte der Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas) das Verfahren bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Bezirksgericht Seeland-Westbrabant) aus.

22      Mit Entscheidung vom 25. September 2019 stellte die Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Bezirksgericht Seeland-Westbrabant) fest, dass die Haftung von Rhenus Logistics gegenüber ACC Distribution und Gjensidige begrenzt sei und den in Art. 23 Abs. 3 CMR vorgesehenen Entschädigungsbetrag nicht übersteigen dürfe. Gegen diese Entscheidung wurde kein Rechtsmittel eingelegt, so dass sie rechtskräftig wurde.

23      In Durchführung dieser Entscheidung zahlte Rhenus Logistics nach ihrer somit im Verhältnis zu dem von ACC Distribution erlittenen Schaden beschränkten Haftung 40 854,20 Euro zuzüglich Zinsen an Gjensidige. Daraufhin nahm Gjensidige ihren Antrag auf Schadensersatz insoweit gegenüber Rhenus Logistics zurück.

24      Mit Entscheidung vom 22. Mai 2020 wies der Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas) die von Gjensidige erhobene Regressklage mit der Begründung ab, dass die Rechtskraft der Entscheidung der Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Bezirksgericht Seeland-Westbrabant) vom 25. September 2019 auf die bei ihm anhängige Rechtssache durchschlage.

25      Mit Beschluss vom 25. Februar 2021 bestätigte der Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) die Entscheidung des Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas) vom 22. Mai 2020 mit der Begründung, dass im vorliegenden Fall sowohl die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1215/2012 als auch die des CMR für die Entscheidung über die Zuständigkeitsfrage einschlägig seien. Nach Art. 31 Abs. 1 CMR könne der Rechtsstreit zwischen den Parteien des fraglichen Beförderungsvertrags trotz der von ihnen geschlossenen Gerichtsstandsvereinbarung nach Wahl des Klägers vor eines der gemäß Art. 31 Abs. 1 Buchst. a oder b CMR zuständigen Gerichte gebracht werden.

26      Gjensidige legte beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) Kassationsbeschwerde gegen diesen Beschluss ein. Sie macht geltend, dass bei einem Konflikt zwischen den Zuständigkeitsregeln des CMR und denen der Verordnung Nr. 1215/2012 deren Art. 25 Abs. 1 Vorrang haben müsse, da diese Bestimmung die Zuständigkeit, die die Parteien einem bestimmten Gericht eines Mitgliedstaats zuwiesen, als ausschließliche einstufe.

27      Das vorlegende Gericht geht unter Bezugnahme u. a. auf die Urteile vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland (C‑533/08, EU:C:2010:243), vom 19. Dezember 2013, Nipponka Insurance (C‑452/12, EU:C:2013:858), und vom 4. September 2014, Nickel & Goeldner Spedition (C‑157/13, EU:C:2014:2145), davon aus, dass die Bestimmungen des CMR einschließlich seines Art. 31 grundsätzlich auf Fragen der internationalen Zuständigkeit Anwendung fänden, die sich im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten wie der bei ihm anhängigen Rechtssache stellten. Daher verleihe eine Gerichtsstandsvereinbarung den von den Parteien bezeichneten Gerichten keine ausschließliche Zuständigkeit, da der Kläger weiterhin die Möglichkeit habe, eines der nach Art. 31 CMR zuständigen Gerichte anzurufen. Im vorliegenden Fall seien die in den Niederlanden bzw. in Litauen erhobenen Klagen identisch, da sie den gleichen Anspruch und den gleichen Gegenstand beträfen.

28      Allerdings sei fraglich, ob Art. 31 CMR mit der Verordnung Nr. 1215/2012 insoweit vereinbar sei, als er es ermögliche, Gerichtsstandsvereinbarungen unbeachtet zu lassen.

29      Die Verordnung Nr. 1215/2012 stelle zwar eine auf dem Vorrang des zuerst angerufenen Gerichts basierende allgemeine Rechtshängigkeitsregel auf. Ihr Art. 31 Abs. 2 und 3 sehe allerdings eine Ausnahme von dieser Regel für Fälle vor, in denen eine Gerichtsstandsvereinbarung geschlossen worden sei. Aus dem 22. Erwägungsgrund der Verordnung ergebe sich, dass diese Ausnahme darauf abziele, die Wirksamkeit von ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen zu verbessern und missbräuchliche Prozesstaktiken zu vermeiden.

30      Das CMR und die Verordnung Nr. 1215/2012 behandelten Gerichtsstandsvereinbarungen prinzipiell konträr. Art. 25 Abs. 1 der Verordnung sehe vor, dass eine von den Vertragsparteien vereinbarte Zuständigkeitszuweisung grundsätzlich ausschließlich sei. Nach Art. 31 CMR sei das durch eine Gerichtsstandsvereinbarung bestimmte Gericht hingegen nicht ausschließlich zuständig. Die in Art. 31 CMR vorgesehene Zuständigkeitsregelung verhindere somit keine missbräuchlichen Prozesstaktiken, sondern fördere sie sogar.

31      Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Rechtshängigkeitsregeln in einem Fall, in dem eine Gerichtsstandsvereinbarung geschlossen worden sei, seien in der Verordnung Nr. 1215/2012 nicht unmittelbar geregelt. Insbesondere sei dort nicht ausdrücklich ein Grund vorgesehen, einer Entscheidung, die in einem anderen Mitgliedstaat unter Verstoß gegen eine solche Vereinbarung ergangen sei, die Anerkennung zu versagen.

32      Es stelle sich jedoch die Frage, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1215/2012 unter Berücksichtigung u. a. des Willens des Unionsgesetzgebers, die Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen zu verbessern, nicht dahin auszulegen seien, dass sie deren Schutz auf die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen erstreckten.

33      Zudem laufe der Beklagte, wenn sich ein Gericht für zuständig erkläre, das nicht das durch eine Gerichtsstandsvereinbarung bestimmte sei, Gefahr, sowohl hinsichtlich des Gerichtsstands als auch gegebenenfalls hinsichtlich des auf den Rechtsstreit anwendbaren materiellen Rechts überrumpelt zu werden.

34      Es sei daher zweifelhaft, ob eine solche Situation, in der die Anwendung der Regeln aus einem völkerrechtlichen Übereinkommen wie dem CMR es ermögliche, in ein und derselben Rechtssache die Parteivereinbarung über die gerichtliche Zuständigkeit und über das anwendbare Recht zu verwerfen, mit den Grundprinzipien eines fairen Verfahrens und den mit der Verordnung Nr. 1215/2012 verfolgten Zielen vereinbar sei, was Fragen nach der Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung aufwerfe.

35      Unter diesen Umständen hat der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Kann Art. 71 der Verordnung Nr. 1215/2012 unter Berücksichtigung der Art. 25, 29 und 31 sowie der Erwägungsgründe 21 und 22 dieser Verordnung dahin ausgelegt werden, dass er die Anwendung von Art. 31 CMR auch in Fällen zulässt, in denen ein in den Anwendungsbereich dieser beiden Rechtsinstrumente fallender Rechtsstreit Gegenstand einer Gerichtsstandsvereinbarung ist?

2.      Kann Art. 45 Abs. 1 Buchst. e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 unter Berücksichtigung der Absicht des Unionsgesetzgebers, Gerichtsstandsvereinbarungen in der Europäischen Union stärker zu schützen, erweiternd dahin ausgelegt werden, dass er nicht nur Kapitel II Abschnitt 6 dieser Verordnung, sondern auch Abschnitt 7 dieses Kapitels erfasst?

3.      Kann der in der Verordnung Nr. 1215/2012 verwendete Begriff „öffentliche Ordnung“ nach Prüfung der Besonderheiten des Sachverhalts und der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen dahin ausgelegt werden, dass er den Grund erfasst, dessentwegen einem Urteil eines anderen Mitgliedstaats die Anerkennung versagt wird, wenn die Anwendung eines besonderen Übereinkommens wie des CMR eine Rechtslage schafft, in der in derselben Rechtssache sowohl die Gerichtsstandsvereinbarung als auch die Rechtswahlvereinbarung nicht beachtet werden?

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

36      Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob sich ein Gericht eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über eine Klage aus einem Vertrag über eine internationale Beförderung zuständig erklären kann, obwohl dieser Vertrag eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats enthält.

37      Mit der zweiten und der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht außerdem geklärt wissen, ob ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats versagen kann, das sich für zuständig erklärt hat, obwohl eine solche Gerichtsstandsvereinbarung vorliegt.

38      Insoweit ist an erster Stelle zu prüfen, ob das Gericht eines Mitgliedstaats einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats über eine Klage aus einem Vertrag über eine internationale Beförderung tatsächlich mit der Begründung, dass sich letzteres Gericht für zuständig erklärt hat, obwohl eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten anderer Gerichte vorliegt, die Anerkennung versagen kann, und zwar unabhängig von der Frage, ob sich das Gericht dieses anderen Mitgliedstaats berechtigterweise für zuständig erklärt hat oder nicht.

39      In diesem Zusammenhang muss geklärt werden, ob diese Frage anhand der Verordnung Nr. 1215/2012 oder anhand des CMR zu beurteilen ist, da im vorliegenden Fall feststeht, dass der fragliche Beförderungsvertrag sowohl in den Anwendungsbereich der Verordnung als auch in den des Übereinkommens fällt.

40      Da die Verordnung Nr. 1215/2012 die Verordnung Nr. 44/2001 aufgehoben und ersetzt hat, die ihrerseits das Brüsseler Übereinkommen ersetzt hat, gilt die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Bestimmungen eines dieser Rechtsinstrumente auch für die Bestimmungen der anderen Rechtsinstrumente, soweit die betreffenden Bestimmungen als gleichwertig angesehen werden können (Urteil vom 16. November 2023, Roompot Service, C‑497/22, EU:C:2023:873, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Wie der Generalanwalt in Nr. 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat eine Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet wie das CMR gemäß Art. 71 der Verordnung Nr. 1215/2012 Vorrang vor dieser Verordnung. Gemäß Art. 71 Abs. 1 der Verordnung lässt diese Übereinkünfte unberührt, denen die Mitgliedstaaten angehören und die für besondere Rechtsgebiete die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung oder die Vollstreckung von Entscheidungen regeln. Sind der Ursprungsmitgliedstaat und der ersuchte Mitgliedstaat Vertragsparteien einer Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet, welche die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen regelt, so gelten nach Art. 71 Abs. 2 Unterabs. 2 Satz 1 der Verordnung diese Voraussetzungen. Somit hat der Unionsgesetzgeber für den Fall konkurrierender Regeln die Anwendung dieser Übereinkünfte vorgesehen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 46 und 47).

42      Im vorliegenden Fall ist auf Art. 31 Abs. 3 CMR hinzuweisen, der vorsieht, dass ein Urteil eines Gerichts eines Vertragsstaats, wenn es in diesem Staat vollstreckbar geworden ist, auch in allen anderen Vertragsstaaten vollstreckbar wird, sobald die in dem jeweils in Betracht kommenden Staat hierfür vorgeschriebenen Formerfordernisse erfüllt sind, wobei diese Formerfordernisse aber zu keiner sachlichen Nachprüfung führen dürfen.

43      Allerdings beschränkt sich zum einen Art. 31 Abs. 3 CMR – sollte diese Bestimmung, in der es um die Vollstreckbarkeit geht, auch als Anerkennungsregel eingestuft werden können, die nach Art. 71 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 anzuwenden wäre – darauf, die Vollstreckung eines „Urteils“ im Sinne dieser Bestimmung von der Erfüllung der in dem jeweils in Betracht kommenden Staat hierfür vorgeschriebenen Formerfordernisse abhängig zu machen und insoweit lediglich klarstellt, dass diese Formerfordernisse zu keiner sachlichen Nachprüfung führen dürfen.

44      In diesem Zusammenhang ist Art. 71 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b und Unterabs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 zu berücksichtigen, nach dem Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat von einem Gericht erlassen worden sind, das seine Zuständigkeit auf eine Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet gestützt hat, in den anderen Mitgliedstaaten nach dieser Verordnung anerkannt und vollstreckt werden, wobei deren Bestimmungen in jedem Fall auch dann angewendet werden können, wenn diese Übereinkunft die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidungen regelt.

45      Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedenfalls, dass nach Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bei einem Rechtsstreit, der in den Anwendungsbereich einer besonderen Übereinkunft fällt, der die Mitgliedstaaten angehören, zwar grundsätzlich diese Übereinkunft zur Anwendung kommen muss. Die Anwendung einer solchen Übereinkunft darf aber nicht die Grundsätze beeinträchtigen, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Union beruht, wie etwa die Grundsätze des freien Verkehrs der Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen, der Vorhersehbarkeit der zuständigen Gerichte und somit der Rechtssicherheit für die Bürger, der geordneten Rechtspflege, der möglichst weitgehenden Vermeidung der Gefahr von Parallelverfahren und des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz im Rahmen der Union (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 45 und 49).

46      Was speziell den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens betrifft, sind die Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats keineswegs besser als die des Ursprungsmitgliedstaats in der Lage, über die Zuständigkeit der Gerichte des Letzteren zu entscheiden. Dementsprechend gestattet die Verordnung Nr. 1215/2012 – abgesehen von einigen begrenzten Ausnahmen – nicht, dass die Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats geprüft wird (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Unter diesen Umständen ist anhand der Verordnung Nr. 1215/2012 zu prüfen, ob das Gericht eines Mitgliedstaats einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats über eine Klage aus einem Vertrag über eine internationale Beförderung tatsächlich mit der Begründung die Anerkennung versagen kann, dass sich das letztere Gericht für zuständig erklärt hat, obwohl eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten anderer Gerichte vorliegt.

48      Die Verordnung Nr. 1215/2012 enthält in Art. 45 eine spezifische Bestimmung über die Versagung der Anerkennung einer gerichtlichen Entscheidung. Die zweite und die dritte Frage beziehen sich auf diese Bestimmung und sind daher zuerst zu prüfen.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

49      Mit der zweiten und der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 45 Abs. 1 Buchst. a und e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er es einem Gericht eines Mitgliedstaats gestattet, die Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats mit der Begründung zu versagen, dass sich das letztere Gericht für zuständig erklärt hat, über eine Klage aus einem Vertrag über eine internationale Beförderung zu befinden, und dabei eine in diesem Vertrag enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung im Sinne von Art. 25 dieser Verordnung außer Acht gelassen hat.

50      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (Urteil vom 22. Juni 2023, Pankki S, C‑579/21, EU:C:2023:501, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Zum einen ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 45 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012, dass die Anerkennung einer Entscheidung auf Antrag eines Berechtigten versagt wird, wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des ersuchten Mitgliedstaats offensichtlich widersprechen würde.

52      Art. 45 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 stellt in diesem Zusammenhang allerdings klar, dass die Vorschriften über die Zuständigkeit nicht zur öffentlichen Ordnung (ordre public) im Sinne von Art. 45 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung gehören.

53      Aus einer Gesamtbetrachtung von Art. 45 Abs. 1 Buchst. a und Art. 45 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 ergibt sich somit, dass dieser Art. 45 Abs. 1 Buchst. a es einem Gericht eines Mitgliedstaats nicht gestattet, die Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats mit der Begründung zu versagen, dass sich das letztere Gericht für zuständig erklärt hat, obwohl eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dem es selbst angehört, vorliegt.

54      Zum anderen sieht Art. 45 Abs. 1 Buchst. e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 vor, dass die Anerkennung einer Entscheidung auf Antrag eines Berechtigten versagt wird, wenn die Entscheidung mit Kapitel II Abschnitt 6 der Verordnung, in dem die ausschließlichen Zuständigkeiten geregelt sind, unvereinbar ist.

55      Dieser Abschnitt 6 besteht lediglich aus Art. 24 der Verordnung Nr. 1215/2012, der die Gerichte bestimmt, die ohne Rücksicht auf den Wohnsitz der Parteien für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten aus den darin aufgeführten Bereichen ausschließlich zuständig sind.

56      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 Abs. 1 Buchst. e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 nicht erweiternd dahin auszulegen ist, dass die Anerkennung einer Entscheidung auch dann versagt werden kann, wenn sie mit den Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 7 der Verordnung unvereinbar ist, zu dem u. a. Art. 25 der Verordnung gehört, der die Zuständigkeitsvereinbarung mittels einer Gerichtsstandsvereinbarung betrifft.

57      Insoweit lässt der klare und eindeutige Wortlaut von Art. 45 Abs. 1 Buchst. e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 aus sich heraus den Schluss zu, dass eine solche erweiternde Auslegung der Bestimmung ausgeschlossen ist, da diese sonst contra legem ausgelegt würde.

58      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darf eine Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht dazu führen, ihrem klaren und unmissverständlichen Wortlaut jede praktische Wirksamkeit zu nehmen. Somit kann der Gerichtshof, wenn sich der Sinn einer Bestimmung des Unionsrechts eindeutig aus ihrem Wortlaut ergibt, nicht von dieser Auslegung abweichen (Urteil vom 23. November 2023, Ministarstvo financija, C‑682/22, EU:C:2023:920, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Jedenfalls wird die am Wortlaut orientierte Auslegung von Art. 45 Abs. 1 Buchst. a und e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin, dass diese Bestimmungen es einem Gericht eines Mitgliedstaats nicht gestatten, die Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats mit der Begründung zu versagen, dass sich dieses unter Außerachtlassung einer Gerichtsstandsvereinbarung für zuständig erklärt hat, durch den Zusammenhang, in den sich diese Bestimmungen einfügen, sowie die Zwecke und Ziele, die mit der Verordnung verfolgt werden, bestätigt.

60      So sieht Art. 36 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 im Einklang mit dem im dritten Erwägungsgrund der Verordnung angeführten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen vor, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. Wie sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Verordnung ergibt, soll diese eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen gewährleisten, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind.

61      Dagegen sollte die Anerkennung einer Entscheidung, wie im 30. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 ausgeführt, nur versagt werden, wenn mindestens einer der in dieser Verordnung genannten Versagungsgründe gegeben ist. Die Gründe, aus denen die Anerkennung einer Entscheidung versagt werden kann, sind in Art. 45 Abs. 1 der Verordnung abschließend aufgezählt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2022, H Limited, C‑568/20, EU:C:2022:264, Rn. 31).

62      Daher ist zum einen die auf die öffentliche Ordnung (ordre public) gestützte Ausnahme in Art. 45 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 insofern eng auszulegen, als sie ein Hindernis für die Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele dieser Verordnung bildet, so dass ein auf einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des ersuchten Mitgliedstaats gestützter Grund, einer Entscheidung die Anerkennung zu versagen, nur in Ausnahmefällen eingewandt werden darf (vgl. entsprechend Urteil vom 7. September 2023, Charles Taylor Adjusting, C‑590/21, EU:C:2023:633, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Zwar können die Mitgliedstaaten aufgrund des Vorbehalts in Art. 45 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 grundsätzlich selbst festlegen, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, jedoch gehört die Abgrenzung dieses Begriffs zur Auslegung dieser Verordnung (vgl. entsprechend Urteil vom 7. September 2023, Charles Taylor Adjusting, C‑590/21, EU:C:2023:633, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofs ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Mitgliedstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Mitgliedstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats die Anerkennung zu versagen (Urteil vom 7. September 2023, Charles Taylor Adjusting, C‑590/21, EU:C:2023:633, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65      Insoweit entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats die Anerkennung oder Vollstreckung dieser Entscheidung nicht nur deshalb versagen darf, weil die vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats angewandten Rechtsvorschriften von denen abweichen, die das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats im Fall seiner eigenen Befassung mit dem Rechtsstreit angewandt hätte. Ebenso wenig darf das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats nachprüfen, ob das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats den Fall rechtlich und tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat (Urteil vom 25. Mai 2016, Meroni, C‑559/14, EU:C:2016:349, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Eine Anwendung der in Art. 45 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehenen, auf die öffentliche Ordnung (ordre public) gestützten Ausnahme kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder die Vollstreckung der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung im ersuchten Mitgliedstaat gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung dieses Staates stünde. Damit das Verbot, die im Ursprungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung in der Sache nachzuprüfen, gewahrt bleibt, muss es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des ersuchten Mitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln (vgl. entsprechend Urteil vom 7. September 2023, Charles Taylor Adjusting, C‑590/21, EU:C:2023:633, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Was zum anderen die in der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehenen Zuständigkeitsregeln betrifft, darf nach Art. 45 der Verordnung nur in den dort in Abs. 1 Buchst. e genannten Fällen die Anerkennung einer Entscheidung mit der Begründung versagt werden, dass ein Verstoß gegen diese Regeln vorliegt.

68      Abgesehen von der in Art. 45 Abs. 1 Buchst. e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 bezeichneten Möglichkeit, die Anerkennung einer Entscheidung zu versagen, wenn ein Verstoß gegen die Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 6 dieser Verordnung vorliegt, kann die Anerkennung einer Entscheidung somit gemäß Art. 45 Abs. 1 Buchst. e Ziff. i der Verordnung nur dann versagt werden, wenn die Entscheidung mit Kapitel II Abschnitte 3, 4 oder 5 der Verordnung unvereinbar ist, sofern der Beklagte Versicherungsnehmer, Versicherter, Begünstigter des Versicherungsvertrags, Geschädigter, Verbraucher oder Arbeitnehmer ist. Dies wird durch Art. 45 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestätigt, wonach die Zuständigkeit des Ursprungsgerichts unbeschadet von Art. 45 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung im Rahmen der Prüfung einer etwaigen Versagung der Anerkennung der von diesem Gericht erlassenen Entscheidung nicht nachgeprüft werden darf.

69      Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass die Verordnung Nr. 1215/2012, wie sich aus ihrem 22. Erwägungsgrund ergebe, die Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen verbessern solle. Es erscheine mithin widersinnig, wenn ein Verstoß gegen die Rechtshängigkeitsregel bei Vorliegen einer solchen Vereinbarung ohne Folgen für die Anerkennung der ergangenen Entscheidung bliebe.

70      Zweitens führt das vorlegende Gericht aus, dass das Außerachtlassen einer Gerichtsstandsvereinbarung dazu führen könne, dass ein anderes Recht als dasjenige anwendbar sei, das bei einer Beachtung der Vereinbarung Anwendung fände. Erkläre sich ein nicht vereinbartes Gericht für zuständig, werde der Beklagte sowohl hinsichtlich des Gerichtsstands als auch gegebenenfalls hinsichtlich des auf den Rechtsstreit materiell anwendbaren Rechts überrumpelt.

71      Konkret habe der Umstand, dass sich die Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Bezirksgericht Seeland-Westbrabant) für die Entscheidung über die bei ihr am 3. Februar 2017 erhobene Klage zuständig erklärt habe, im vorliegenden Fall dazu geführt, dass über diese Klage nach niederländischem Recht entschieden worden sei. Dies habe für Gjensidige als Beklagte in diesem Verfahren ein weniger günstiges Ergebnis zur Folge gehabt, als wenn über die Klage nach litauischem Recht befunden worden wäre, mithin nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Gerichte in der in dem fraglichen Beförderungsvertrag enthaltenen Gerichtsstandsvereinbarung als zuständig bezeichnet worden seien.

72      Insoweit ist jedoch daran zu erinnern, dass, wie in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die gegenseitige Anerkennung in dem mit der Verordnung Nr. 1215/2012 eingeführten System die Regel darstellt, während Art. 45 Abs. 1 der Verordnung abschließend die Gründe aufzählt, aus denen die Anerkennung einer Entscheidung versagt werden kann.

73      Der Unionsgesetzgeber hat sich dafür entscheiden, einen Verstoß gegen die Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 7 der Verordnung Nr. 1215/2012, in dem die Vereinbarung über die Zuständigkeit geregelt ist, nicht unter die Gründe aufzunehmen, aus denen die Anerkennung einer Entscheidung versagt werden kann. Der Schutz von Gerichtsstandsvereinbarungen durch diese Verordnung hat daher nicht zur Folge, dass ein Verstoß gegen diese Vereinbarungen als solcher einen Grund für die Versagung der Anerkennung darstellen würde.

74      Außerdem enthält die dem Gerichtshof vorliegende Akte, wie der Generalanwalt in Nr. 117 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, nichts zu den konkreten Folgen einer Anerkennung des Urteils der Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Bezirksgericht Seeland-Westbrabant) vom 25. September 2019, was den Schluss zuließe, dass eine Anerkennung die öffentliche Ordnung Litauens in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigen würde, weil sie gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße, wie es die in Rn. 66 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung verlangt.

75      Insbesondere kann in dem bloßen Umstand, dass über eine Klage nicht von dem in einer Gerichtsstandsvereinbarung bezeichneten Gericht und folglich nicht nach dem Rechts desjenigen Mitgliedstaats, zu dem dieses Gericht gehört, entschieden wird, kein so schwerwiegender Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren gesehen werden, dass eine Anerkennung der Entscheidung über diese Klage offensichtlich gegen die öffentliche Ordnung des ersuchten Mitgliedstaats verstieße.

76      Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 45 Abs. 1 Buchst. a und e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er es einem Gericht eines Mitgliedstaats nicht gestattet, die Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats mit der Begründung zu versagen, dass sich das letztere Gericht für zuständig erklärt hat, über eine Klage aus einem Vertrag über eine internationale Beförderung zu befinden, und dabei eine in diesem Vertrag enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung im Sinne von Art. 25 dieser Verordnung außer Acht gelassen hat.

 Zur ersten Frage

77      In Anbetracht der Antwort auf die zweite und die dritte Frage erübrigt sich eine Beantwortung der ersten Frage.

 Kosten

78      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 45 Abs. 1 Buchst. a und e Ziff. ii der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

ist dahin auszulegen, dass

er es einem Gericht eines Mitgliedstaats nicht gestattet, die Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats mit der Begründung zu versagen, dass sich das letztere Gericht für zuständig erklärt hat, über eine Klage aus einem Vertrag über eine internationale Beförderung zu befinden, und dabei eine in diesem Vertrag enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung im Sinne von Art. 25 dieser Verordnung außer Acht gelassen hat.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Litauisch.