Language of document : ECLI:EU:C:2024:255

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

21. März 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitaktivitäten und der Verbesserung der körperlichen Fitness – Durch eine Registrierkasse und Kassenbons nachgewiesener Verkauf von Mehrfacheintrittskarten für den Zugang zu Dienstleistungen – Steuerbemessungsgrundlage – Irrtum über die Höhe des Steuersatzes – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Berichtigung der Steuerschuld aufgrund einer Änderung der Steuerbemessungsgrundlage – Nationale Praxis, die bei Fehlen einer Rechnung die Berichtigung des Mehrwertsteuerbetrags und die Erstattung der zu viel gezahlten Mehrwertsteuer nicht zulässt – Keine Gefährdung des Steueraufkommens – Einwand der ungerechtfertigten Bereicherung“

In der Rechtssache C‑606/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 23. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. September 2022, in dem Verfahren

Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy

gegen

B. sp. z o.o., vormals B. sp.j.,

Beteiligte:

Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Richters N. Wahl (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer, des Richters J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy, vertreten durch B. Kołodziej und T. Wojciechowski,

–        der B. sp. z o.o., vertreten durch R. Baraniewicz, T. Pabiański und J. Tokarski, Doradcy podatkowi, sowie A. Zubik, Radca prawny,

–        des Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców, vertreten durch P. Chrupek, Radca prawny,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. November 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) im Licht der Grundsätze der Steuerneutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy (Direktor der Finanzverwaltungskammer Bydgoszcz [Bromberg], Polen) und der B. sp.j. – nach Einreichung dieses Ersuchens nunmehr B. sp. z o.o. – wegen der mit dem Fehlen von Rechnungen begründeten Weigerung der Steuerverwaltung, zugunsten von B. eine Überzahlung der Mehrwertsteuer festzustellen, die sich aus von B. eingereichten berichtigten Mehrwertsteuererklärungen ergab.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.

Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem wird bis zur Einzelhandelsstufe, diese eingeschlossen, angewandt.“

4        Art. 73 dieser Richtlinie lautet:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

5        Art. 78 der Richtlinie sieht vor:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:

a)      Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;

…“

6        In Art. 220 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder stellt sicher, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:

1.      Er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person;

…“

7        Art. 226 der Richtlinie 2006/112 lautet auszugsweise:

„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:

6.      Menge und Art der gelieferten Gegenstände beziehungsweise Umfang und Art der erbrachten Dienstleistungen;

7.      das Datum, an dem die Gegenstände geliefert werden oder die Dienstleistung erbracht bzw. abgeschlossen wird …, sofern dieses Datum feststeht und nicht mit dem Ausstellungsdatum der Rechnung identisch ist;

8.      die Steuerbemessungsgrundlage für die einzelnen Steuersätze beziehungsweise die Befreiung, den Preis je Einheit ohne Mehrwertsteuer sowie jede Preisminderung oder Rückerstattung, sofern sie nicht im Preis je Einheit enthalten sind;

9.      den anzuwendenden Mehrwertsteuersatz;

10.      den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag, außer bei Anwendung einer Sonderregelung, bei der nach dieser Richtlinie eine solche Angabe ausgeschlossen wird;

…“

8        Art. 226b dieser Richtlinie, der durch die Richtlinie 2010/45 eingeführt wurde und seit dem 1. Januar 2013 anwendbar ist, bestimmt:

„Im Zusammenhang mit vereinfachten Rechnungen gemäß Artikel 220a und Artikel 221 Absätze 1 und 2 verlangen die Mitgliedstaaten mindestens die folgenden Angaben:

a)      das Ausstellungsdatum;

b)      die Identität des Steuerpflichtigen, der die Gegenstände liefert oder die Dienstleistungen erbringt;

c)      die Art der gelieferten Gegenstände oder der erbrachten Dienstleistungen;

d)      den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag oder die Angaben zu dessen Berechnung;

e)      sofern es sich bei der ausgestellten Rechnung um ein Dokument oder eine Mitteilung handelt, das/die gemäß Artikel 219 einer Rechnung gleichgestellt ist, eine spezifische und eindeutige Bezugnahme auf diese ursprüngliche Rechnung und die konkret geänderten Einzelheiten.

Sie dürfen keine anderen als die in den Artikeln 226, 227 und 230 vorgesehenen Rechnungsangaben verlangen.“

 Polnisches Recht

9        Art. 29 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. Nr. 54, Pos. 535) in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung (Dz. U. Nr. 177, Pos. 1054) bestimmte:

„(4a)      Verringert sich die Steuerbemessungsgrundlage gegenüber der Bemessungsgrundlage, die in der ausgestellten Rechnung angegeben wurde, so setzt der Steuerpflichtige die Bemessungsgrundlage herab, sofern er vor Ablauf der Frist für die Abgabe der Steuererklärung für den betreffenden Besteuerungszeitraum, in dem der Erwerber des Gegenstands oder der Dienstleistung die Rechnungsberichtigung erhalten hat, in den Besitz einer Bestätigung des Erhalts der Rechnungsberichtigung durch den Erwerber des Gegenstands oder der Dienstleistung gelangt, dem die Rechnung ausgestellt wurde. Gelangt der Steuerpflichtige erst nach Ablauf der Frist für die Abgabe der Steuererklärung für den betreffenden Besteuerungszeitraum in den Besitz der Bestätigung des Erhalts der Rechnungsberichtigung durch den Erwerber des Gegenstands oder der Dienstleistung, ist er berechtigt, die Rechnungsberichtigung in dem Besteuerungszeitraum zu berücksichtigen, in dem er in den Besitz dieser Bestätigung gelangt ist.

(4c)      Abs. 4a gilt entsprechend, wenn hinsichtlich des Steuerbetrags in einer Rechnung ein Irrtum festgestellt wird und zu der Rechnung, in der ein höherer Steuerbetrag ausgewiesen wurde als geschuldet, eine Rechnungsberichtigung ausgestellt wird.“

10      Dieses Gesetz enthält in der seit dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung (Dz. U. 2016, Pos. 710) einen Art. 29a, dessen Abs. 13 und 14 lauten:

„(13)      In den [vorgesehenen] Fällen wird die Steuerbemessungsgrundlage gegenüber der Bemessungsgrundlage, die in der ausgestellten Rechnung mit ausgewiesener Steuer angegeben wurde, herabgesetzt, sofern der Steuerpflichtige vor Ablauf der Frist für die Abgabe der Steuererklärung für den betreffenden Besteuerungszeitraum, in dem der Erwerber des Gegenstands oder der Dienstleistungsempfänger die Rechnungsberichtigung erhalten hat, in den Besitz einer Bestätigung des Erhalts der Rechnungsberichtigung durch den Erwerber des Gegenstands oder den Dienstleistungsempfänger gelangt ist, dem die Rechnung ausgestellt wurde. Gelangt der Steuerpflichtige erst nach Ablauf der Frist für die Abgabe der Steuererklärung für den betreffenden Besteuerungszeitraum in den Besitz der Bestätigung des Erhalts der Rechnungsberichtigung durch den Erwerber des Gegenstands oder den Dienstleistungsempfänger, ist er berechtigt, die Rechnungsberichtigung in dem Besteuerungszeitraum zu berücksichtigen, in dem er in den Besitz dieser Bestätigung gelangt ist.

(14)      Abs. 13 gilt entsprechend, wenn hinsichtlich des Steuerbetrags in einer Rechnung ein Irrtum festgestellt wird und zu der Rechnung, in der ein höherer Steuerbetrag ausgewiesen wurde als geschuldet, eine Rechnungsberichtigung ausgestellt wird.“

11      § 3 des Rozporządzenie Ministra Finansów w sprawie kas rejestrujących (Verordnung des Finanzministers über Registrierkassen) vom 14. März 2013 (Dz. U., Pos. 363) sieht vor:

„…

5.      Enthalten die Aufzeichnungen einen offensichtlichen Irrtum, berichtigt der Steuerpflichtige diesen unverzüglich, indem er die folgenden Angaben gesondert erfasst:

1)      den fehlerhaft registrierten Verkauf (Verkaufswert brutto und Wert der geschuldeten Steuer);

2)      eine kurze Beschreibung der Ursache des Irrtums und der Umstände, unter denen es zu dem Irrtum gekommen ist, unter Beifügung des originalen Kassenbons, der den Verkauf belegt, bei dem der offensichtliche Irrtum aufgetreten ist.

6.      In dem in Abs. 5 genannten Fall erfasst der Steuerpflichtige mit Hilfe der Kasse den richtigen Verkaufsbetrag.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12      B. erbringt Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitaktivitäten und der Verbesserung der körperlichen Fitness; im Einzelnen handelt es sich um den Verkauf von Mehrfacheintrittskarten, die das Betreten der Räumlichkeiten eines Sportclubs und die freie Nutzung seiner Infrastruktur ermöglichen. Im Jahr 2016 entschied sie im Einklang mit der neuen polnischen Steuerlehre in diesem Bereich, auf diese Dienstleistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz (8 % statt 23 %) anzuwenden.

13      B. reichte daher am 27. Januar 2016 berichtigte Mehrwertsteuererklärungen für die Monate Januar bis März, Juni bis Oktober und Dezember 2012, für Januar, Februar, November und Dezember 2013 sowie für Januar, Februar, April und Mai 2014 ein.

14      Mit Bescheid vom 22. Juni 2017 lehnte der Naczelnik Drugiego Urzędu Skarbowego w T. (Leiter des Zweiten Finanzamts von T., Polen) die Feststellung einer Überzahlung der Mehrwertsteuer zugunsten von B. für die oben genannten Abrechnungszeiträume u. a. unter Hinweis darauf ab, dass der Steuerpflichtige, solange der Beleg für die Ausübung einer steuerpflichtigen Tätigkeit nicht gemäß dem Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen berichtigt worden sei, nicht berechtigt sei, seine Aufzeichnungen und Steuererklärungen zu berichtigen.

15      Mit Bescheid vom 24. November 2017 hielt der Direktor der Finanzverwaltungskammer Bydgoszcz diesen Bescheid aufrecht und wies darauf hin, dass es keine gesetzlichen Bestimmungen gebe, die die Möglichkeit vorsähen, die in der Mehrwertsteuererklärung angegebene Steuerbemessungsgrundlage und die geschuldete Steuer für die Abrechnungszeiträume, die Gegenstand des Antrags auf Feststellung einer Überzahlung der Mehrwertsteuer seien, zu berichtigen, wenn Eintrittskarten oder Mehrfacheintrittskarten zur Nutzung der betreffenden Einrichtungen verkauft worden seien, ohne dass darüber Rechnungen ausgestellt worden wären. B. habe nämlich keine berichtigten Rechnungen ausstellen können, da bei diesen Verkäufen keine Rechnungen ausgestellt worden seien. Daher sei B. nach Berücksichtigung der Vorsteuerabzugsregelung verpflichtet gewesen, den gesamten von den Endverbrauchern erhaltenen Betrag als geschuldete Steuer an den polnischen Fiskus abzuführen.

16      Der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Bydgoszczy (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Bydgoszcz), bei dem B. Klage gegen diesen Bescheid erhob, hob diesen mit Urteil vom 7. März 2018 auf und stellte insbesondere fest, dass § 3 Abs. 3 bis 6 der Verordnung des Finanzministers über Registrierkassen nicht alle Fälle erfasse, die einen Berichtigungsgrund darstellen könnten, so dass die Berichtigung auch in anderen Fällen möglich sei. Folglich sei der Steuerpflichtige berechtigt, den durch Kassenbons nachgewiesenen Betrag der für die Verkäufe geschuldeten Steuer zu berichtigen. Das Fehlen des dem Käufer ausgehändigten originalen Kassenbons stelle insoweit kein Hindernis dar, da die Registrierkasse ein mehrfaches Auslesen der darin gespeicherten Daten ermögliche. Somit sei die Abfrage des Speichers dieser Registrierkasse ein zuverlässiges Mittel, um über einen Beweis für den Umsatz zu verfügen, der aufgrund eines Irrtums des Steuerpflichtigen zu berichtigen sei.

17      Der Direktor der Finanzverwaltungskammer Bydgoszcz legte gegen das Urteil des Wojewódzki Sąd Administracyjny w Bydgoszczy (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Bydgoszcz) Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), dem vorlegenden Gericht, ein.

18      Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung dahin auszulegen, dass sie einer Praxis der nationalen Steuerbehörden entgegenstehen, wonach – unter Verweis auf das Fehlen einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage und eine ungerechtfertigte Bereicherung – eine Berichtigung der Steuerbemessungsgrundlage und der geschuldeten Steuer für unzulässig erachtet wird, wenn der Verkauf von Gegenständen und Dienstleistungen an Verbraucher zu einem überhöhten Mehrwertsteuersatz mit einer Registrierkasse erfasst und durch Kassenbons – d. h. nicht durch Mehrwertsteuerrechnungen – belegt wurde, wobei sich der Preis (Bruttowert des Verkaufs) durch diese Berichtigung nicht ändern würde?

 Zur Vorlagefrage

19      Zunächst ist daran zu erinnern, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2014, Le Rayon d’Or, C‑151/13, EU:C:2014:185, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Zu diesem Zweck kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Normen und Grundsätze des Unionsrechts herausarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 27. März 2014, Le Rayon d’Or, C‑151/13, EU:C:2014:185, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht Art. 78 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 zu Recht als Teil des auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren rechtlichen Rahmens angeführt hat, da in dieser Bestimmung die Elemente genannt werden, die in die Steuerbemessungsgrundlage im Sinne von Art. 73 dieser Richtlinie – auf den das vorlegende Gericht in seiner Frage Bezug nimmt – einzubeziehen sind.

22      Diese Frage ist daher so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 in Verbindung mit Art. 78 Buchst. a dieser Richtlinie im Licht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach in dem Fall, dass Gegenstände und Dienstleistungen unter Anwendung eines zu hohen Mehrwertsteuersatzes geliefert bzw. erbracht wurden, eine Berichtigung der geschuldeten Mehrwertsteuer mittels einer Steuererklärung mit der Begründung untersagt wird, dass über diese Umsätze keine Rechnungen ausgestellt worden seien, sondern Registrierkassenbons.

23      Insoweit ist hervorzuheben, dass das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis gewährleistet, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling, C‑396/20, EU:C:2021:867, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Daraus folgt, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer unverhältnismäßig beeinträchtigen würde, wenn sie den Steuerpflichtigen mit der Mehrwertsteuer belastete, auf deren Erstattung er einen Anspruch hat, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem bezweckt, Unternehmer vollständig von der Mehrwertsteuer zu entlasten, die im Rahmen sämtlicher seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten angefallen oder entrichtet worden ist (Urteil vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling, C‑396/20, EU:C:2021:867, Rn. 55).

25      Zunächst ist daher zu klären, ob ein Steuerpflichtiger, der auf die von ihm getätigten mehrwertsteuerpflichtigen Umsätze irrtümlich, aber gemäß den ursprünglich von der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats bereitgestellten Leitlinien, den Mehrwertsteuer-Normalsatz, in diesem Fall einen Satz von 23 %, angewandt hat, während der korrekte Satz der ermäßigte Satz von 8 % war, Anspruch auf eine Erstattung hat.

26      Da in Anwendung des in den Rn. 23 und 24 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer nur der Endverbraucher durch das Mehrwertsteuersystem belastet werden soll (Urteil vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin, C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), ist davon auszugehen, dass der zwischen diesem und dem Lieferer von Gegenständen oder dem Dienstleistungserbringer vereinbarte Preis die auf die betreffenden Umsätze entfallende Mehrwertsteuer enthält, unabhängig davon, ob über diese Umsätze eine Rechnung ausgestellt wurde oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2021, Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia, C‑521/19, EU:C:2021:527, Rn. 34).

27      Diese Auslegung ergibt sich aus Art. 78 Buchst. a der Richtlinie 2006/112, wonach die Mehrwertsteuer selbst nicht in der Steuerbemessungsgrundlage enthalten ist, was zur Folge hat, dass die Mehrwertsteuer auch im Fall eines Irrtums des Steuerpflichtigen bei der Bestimmung des anwendbaren Steuersatzes von Rechts wegen immer im vereinbarten Preis enthalten ist.

28      Nach der Rechtsprechung bedeutet diese Erwägung aber nicht zwangsläufig, dass der Steuerpflichtige gegenüber der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats keinen Anspruch darauf hätte, dass ihm die überschießende Mehrwertsteuer, die er zu Unrecht von den Endverbrauchern verlangt und an die Steuerverwaltung abgeführt hat, ganz oder teilweise erstattet wird. Ein solcher Anspruch besteht insbesondere dann, wenn dem Steuerpflichtigen aufgrund der Anwendung eines unrichtigen Mehrwertsteuersatzes aus einem Absatzrückgang ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, EU:C:2008:211, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). In anderen Worten hat eine vollständige Abwälzung der Mehrwertsteuer auf den Endverbraucher nicht notwendigerweise das Fehlen eines finanziellen Verlusts oder Nachteils zur Folge, da dem Wirtschaftsteilnehmer auch in diesem Fall aus einem Absatzrückgang ein wirtschaftlicher Schaden entstanden sein kann (Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, EU:C:2008:211, Rn. 56).

29      Sodann ist, nachdem der Anspruch des Steuerpflichtigen auf vollständige oder teilweise Erstattung des fraglichen Mehrwertsteuerüberschusses grundsätzlich feststeht, zu prüfen, ob dieser Anspruch von der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats davon abhängig gemacht werden kann, dass Rechnungen, die den unrichtigen Mehrwertsteuersatz enthalten, berichtigt werden müssen, was zu einer systematischen Ablehnung der Erstattung führt, wenn über die wirtschaftlichen Umsätze des Steuerpflichtigen in Anbetracht ihrer Art und ihres Betrags keine Rechnung ausgestellt wurde – so dass eine solche nicht berichtigt werden kann –, sondern Registrierkassenbons.

30      Insoweit ist klarzustellen, dass die Richtlinie 2006/112 die Frage der Berichtigung von Steuererklärungen der Steuerpflichtigen im Fall der Anwendung eines unrichtigen Mehrwertsteuersatzes nicht behandelt. Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, in ihren innerstaatlichen Rechtsordnungen unter Wahrung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz die Möglichkeit der Berichtigung einer nicht ordnungsgemäß angewandten Steuer vorzusehen.

31      Eine Praxis wie die der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats verstößt aber gegen den Effektivitätsgrundsatz, indem sie diese Berichtigung unmöglich macht, wenn die wirtschaftliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen ihn nicht zur Ausstellung von Rechnungen, sondern zur Ausstellung bloßer Registrierkassenbons veranlasst, ohne dass die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, eine vollständige und wahrheitsgetreue Berichtigung der Mehrwertsteuererklärungen für die betreffenden Umsätze insbesondere mit Hilfe der im Speicher der Registrierkasse vorhandenen Daten zu erreichen.

32      Zum Grundsatz der Gleichbehandlung geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass, während ein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, in dem der Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck kommt, nur zwischen konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmern in Betracht gezogen werden kann, ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung im Steuerbereich durch andere Arten der Diskriminierung gekennzeichnet sein kann, die Wirtschaftsteilnehmer betreffen, die nicht zwangsläufig miteinander konkurrieren, aber sich trotzdem in einer in anderer Beziehung vergleichbaren Situation befinden (Urteil vom 14. Juni 2017, Compass Contract Services, C‑38/16, EU:C:2017:454, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Es genügt die Feststellung, dass im vorliegenden Fall der Steuerpflichtige, der gemäß der ursprünglich von der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats befürworteten Auslegung den Mehrwertsteuersatz von 23 % angewandt hat, zwangsläufig gegenüber etwaigen unmittelbaren Wettbewerbern, die den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 8 % anwandten, benachteiligt war, sei es wegen der teilweisen oder vollständigen Abwälzung dieses Steuersatzes auf seine Preise, wodurch seine Wettbewerbsfähigkeit im Hinblick auf die von den fraglichen Wettbewerbern praktizierten Preise und damit möglicherweise sein Verkaufsvolumen beeinträchtigt wurde, oder wegen der Verringerung seiner Gewinnspanne, um seine Preise wettbewerbsfähig zu halten. Eine Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats wie die von dem vorlegenden Gericht beschriebene verstößt daher auch gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität.

34      Schließlich erlaubt es das Unionsrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass im Rahmen eines nationalen Rechtssystems die Erstattung von zu Unrecht erhobenen Steuern abgelehnt wird, wenn sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führen würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2009, Stadeco, C‑566/07, EU:C:2009:380, Rn. 48).

35      Der Schutz der in diesem Bereich durch die Unionsrechtsordnung garantierten Rechte verlangt somit nicht die Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern, Gebühren oder Abgaben, wenn die zur Zahlung dieser Abgaben herangezogene Person sie nachweislich tatsächlich auf andere abgewälzt hat (Urteil vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      In Ermangelung einer Unionsregelung für die Erstattung von Abgaben ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen zu regeln, unter denen eine solche Erstattung verlangt werden kann; diese Voraussetzungen müssen allerdings den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen (Urteil vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Folglich kann ein Mitgliedstaat die Erstattung der rechtswidrig zu hoch angesetzten Mehrwertsteuer mit der Begründung ablehnen, die Erstattung würde zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führen, wenn die wirtschaftliche Belastung, zu der die zu Unrecht erhobene Abgabe für ihn geführt hat, vollständig neutralisiert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 28), worüber sich das vorlegende Gericht zu vergewissern haben wird.

38      Der Gerichtshof hat insoweit nämlich klargestellt, dass das Vorliegen und der Umfang der ungerechtfertigten Bereicherung, zu der die Erstattung einer unionsrechtlich zu Unrecht erhobenen Abgabe für einen Steuerpflichtigen führen würde, Sachverhaltsfragen sind, die in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fallen, das in der Würdigung der ihm vorgelegten Beweise nach einer wirtschaftlichen Analyse, bei der alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden, frei ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 in Verbindung mit Art. 78 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 im Licht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Gleichbehandlung dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach in dem Fall, dass Gegenstände und Dienstleistungen unter Anwendung eines zu hohen Mehrwertsteuersatzes geliefert bzw. erbracht wurden, eine Berichtigung der geschuldeten Mehrwertsteuer mittels einer Steuererklärung mit der Begründung untersagt wird, dass über diese Umsätze keine Rechnungen ausgestellt worden seien, sondern Registrierkassenbons. Selbst unter diesen Umständen ist der Steuerpflichtige, der zu Unrecht einen zu hohen Mehrwertsteuersatz angewandt hat, berechtigt, bei der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats einen Antrag auf Erstattung zu stellen, wobei sich die Steuerverwaltung nur dann auf eine ungerechtfertigte Bereicherung dieses Steuerpflichtigen berufen kann, wenn sie nach einer wirtschaftlichen Analyse unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände nachgewiesen hat, dass die mit der zu Unrecht erhobenen Steuer verbundene wirtschaftliche Belastung dieses Steuerpflichtigen vollständig neutralisiert worden ist.

 Kosten

40      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 in Verbindung mit Art. 78 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung

sind im Licht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Gleichbehandlung dahin auszulegen, dass

sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach in dem Fall, dass Gegenstände und Dienstleistungen unter Anwendung eines zu hohen Mehrwertsteuersatzes geliefert bzw. erbracht wurden, eine Berichtigung der geschuldeten Mehrwertsteuer mittels einer Steuererklärung mit der Begründung untersagt wird, dass über diese Umsätze keine Rechnungen ausgestellt worden seien, sondern Registrierkassenbons. Selbst unter diesen Umständen ist der Steuerpflichtige, der zu Unrecht einen zu hohen Mehrwertsteuersatz angewandt hat, berechtigt, bei der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats einen Antrag auf Erstattung zu stellen, wobei sich die Steuerverwaltung nur dann auf eine ungerechtfertigte Bereicherung dieses Steuerpflichtigen berufen kann, wenn sie nach einer wirtschaftlichen Analyse unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände nachgewiesen hat, dass die mit der zu Unrecht erhobenen Steuer verbundene wirtschaftliche Belastung dieses Steuerpflichtigen vollständig neutralisiert worden ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.