Language of document : ECLI:EU:C:2024:261

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

21. März 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verkehr – Straßenverkehr – Richtlinie 2006/126/EG – Führerschein – Voraussetzungen für die Erteilung oder Erneuerung – Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit – Sehvermögen – Anhang III Nr. 6.4 – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Person, die die Gesichtsfeldanforderung nicht erfüllt – Befürwortendes Gutachten über die Fahrtauglichkeit, das von medizinischen Sachverständigen abgegeben wird – Ermessensspielraum im Einzelfall, für den es keine ausdrückliche Ausnahme gibt“

In der Rechtssache C‑703/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 16. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2022, in dem Verfahren

WU

gegen

Directie van het Centraal Bureau Rijvaardigheidsbewijzen (CBR)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Nijenhuis, P. Messina und G. Wilms als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. 2006, L 403, S. 18) in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 (ABl. 2009, L 223, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/126).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WU und der Directie van het Centraal Bureau Rijvaardigheidsbewijzen (CBR) (Direktion des Zentralen Führerscheinamts, Niederlande) wegen deren Entscheidungen, mit denen ein im Rahmen der Erneuerung des Führerscheins von WU gestellter Antrag auf Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit von WU für das Führen eines Kraftfahrzeugs, insbesondere von Fahrzeugen der Klassen C und CE, abgelehnt und die Erteilung einer anderen, geografisch auf die Niederlande beschränkten Fahrerlaubnis abgelehnt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 8 und 9 der Richtlinie 2006/126 lauten:

„(8)      Aus Gründen der Straßenverkehrssicherheit sollten die Mindestvoraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis festgelegt werden. Die Normen für die von den Fahrern abzulegenden Prüfungen und für die Erteilung der Fahrerlaubnis müssen harmonisiert werden. Zu diesem Zweck sollten die Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs festgelegt werden, die Fahrprüfung sollte auf diesen Konzepten beruhen, und die Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen dieser Fahrzeuge sollten neu festgelegt werden.

(9)      Der Nachweis der Einhaltung der Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs durch Fahrer von Fahrzeugen zur Personen- oder Güterbeförderung sollte zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins und danach in regelmäßigen Abständen erbracht werden. Diese regelmäßige Überprüfung der Einhaltung der Mindestanforderungen gemäß den nationalen Vorschriften wird zur Verwirklichung der Freizügigkeit, zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und zur besseren Berücksichtigung der besonderen Verantwortung der Fahrer dieser Fahrzeuge beitragen. Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, ärztliche Untersuchungen vorzuschreiben, um die Einhaltung der Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen anderer Kraftfahrzeuge zu gewährleisten. Aus Gründen der Transparenz sollten diese Untersuchungen mit der Erneuerung des Führerscheins zusammenfallen und sich deshalb nach der Gültigkeitsdauer des Führerscheins richten.“

4        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten führen einen nationalen Führerschein gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie nach dem in Anhang I wiedergegebenen EG-Muster ein. Das Emblem auf Seite 1 des EG-Muster-Führerscheins enthält das Unterscheidungszeichen des ausstellenden Mitgliedstaats.“

5        Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 bestimmt:

„Die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine werden gegenseitig anerkannt.“

6        In Art. 4 dieser Richtlinie heißt es:

„(1)      Der Führerschein nach Artikel 1 berechtigt zum Führen von Kraftfahrzeugen der nachstehend definierten Klassen. Er kann ab dem für die einzelnen Klassen angegebenen Mindestalter ausgestellt werden. …

(4)      Kraftwagen:

–        [A]ls,Kraftwagen‘ gelten Kraftfahrzeuge, die üblicherweise auf der Straße zur Beförderung von Personen oder Gütern oder zum Ziehen von Fahrzeugen, die für die Personen- oder Güterbeförderung benutzt werden, dienen. Dieser Begriff schließt Oberleitungsomnibusse – d. h. nicht schienengebundene, mit einer elektrischen Leitung verbundene Fahrzeuge – ein. Land- und forstwirtschaftliche Zugmaschinen fallen nicht darunter;

f)      Klasse C:

nicht unter die Klassen D und D1 fallende Kraftwagen mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3 500 kg, die zur Beförderung von nicht mehr als acht Personen außer dem Fahrzeugführer ausgelegt und gebaut sind; hinter Kraftwagen dieser Klasse darf ein Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von höchstens 750 kg mitgeführt werden;

g)      Klasse CE:

–        unbeschadet der Vorschriften für die Typgenehmigung der betroffenen Fahrzeuge: Fahrzeugkombinationen, die aus einem Zugfahrzeug der Klasse C und einem Anhänger oder Sattelanhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 750 kg bestehen;

…“

7        Art. 7 der Richtlinie 2006/126 bestimmt:

„(1)      Ein Führerschein darf nur an Bewerber ausgestellt werden, die

a)      eine Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie eine theoretische Prüfung bestanden haben und die gesundheitlichen Anforderungen nach Maßgabe der Anhänge II und III erfüllen;

(3)      Die Erneuerung eines Führerscheins bei Ablauf der Gültigkeitsdauer ist von Folgendem abhängig zu machen:

a)      von der anhaltenden Erfüllung der Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit für das Führen der betreffenden Fahrzeuge gemäß Anhang III für Führerscheine der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1, D1E; und

…“

8        In Anhang III („Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs“) heißt es:

„Begriffsbestimmungen“

1.      Für die Zwecke dieses Anhangs werden die Fahrzeugführer in zwei Gruppen eingeteilt:


1.1.      Gruppe 1:

Führer von Fahrzeugen der Klassen A, A1, A2, AM, B, B1 und BE,

1.2.      Gruppe 2:

Führer von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E.

Ärztliche Untersuchungen

4.      Gruppe 2:

Vor der erstmaligen Erteilung einer Fahrerlaubnis müssen die Bewerber ärztlich untersucht werden; in der Folgezeit müssen sich die Inhaber einer Fahrerlaubnis entsprechend den innerstaatlichen Vorschriften in dem Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes bei jeder Erneuerung ihrer Fahrerlaubnis ärztlich untersuchen lassen.

5.      Bei der Erteilung oder bei jeder Erneuerung einer Fahrerlaubnis können die Mitgliedstaaten strengere als die in diesem Anhang genannten Auflagen vorschreiben.

Sehvermögen

6.      Alle Bewerber um eine Fahrerlaubnis müssen sich einer angemessenen Untersuchung unterziehen, um sicherzustellen, dass sie eine für das sichere Führen von Kraftfahrzeugen ausreichende Sehschärfe haben. In Zweifelsfällen ist der Bewerber von einer zuständigen ärztlichen Stelle zu untersuchen. Bei dieser Untersuchung ist unter anderem auf Sehschärfe, Gesichtsfeld, Dämmerungssehen, Blend- und Kontrastempfindlichkeit, Diplopie sowie andere Störungen der Sehfunktion zu achten, die ein sicheres Fahren in Frage stellen können.

Für Fahrzeugführer der Gruppe 1 darf die Erteilung der Fahrerlaubnis,in Ausnahmefällen‘ in Betracht gezogen werden, wenn die Anforderungen an das Gesichtsfeld oder die Sehschärfe nicht erfüllt werden; in diesen Fällen sollte der Fahrzeugführer einer Untersuchung durch eine zuständige ärztliche Stelle unterzogen werden, um sicherzustellen, dass keine andere Störung von Sehfunktionen wie Blend- und Kontrastempfindlichkeit oder Dämmerungssehen vorliegt. Daneben sollte der Fahrzeugführer oder Bewerber eine praktische Prüfung durch eine zuständige Stelle erfolgreich absolvieren.

Gruppe 2:

6.4      Alle Bewerber um Erteilung oder Erneuerung einer Fahrerlaubnis müssen beidäugig sehen und dabei, erforderlichenfalls mit Korrekturgläsern, eine Sehschärfe von mindestens 0,8 auf dem besseren Auge und von mindestens 0,1 auf dem schlechteren Auge haben. Werden diese Werte mit Korrekturgläsern erreicht, so muss das Mindestsehvermögen (0,8 und 0,1) mittels einer Brille, deren Gläserstärke nicht über plus acht Dioptrien liegt, oder mittels Kontaktlinsen erreicht werden. Die Korrektur muss gut verträglich sein.

Daneben sollte das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160 Grad betragen, die Erweiterung sollte nach rechts und links mindestens 70 Grad und nach oben und unten mindestens 30 Grad betragen. Innerhalb des Bereichs der mittleren 30 Grad sollte keine Beeinträchtigung vorliegen.

Bewerbern oder Fahrzeugführern, die an einer Störung der Kontrastempfindlichkeit oder an Diplopie leiden, darf eine Fahrerlaubnis weder erteilt noch darf ihre Fahrerlaubnis erneuert werden.

Nach einem erheblichen Verlust des Sehvermögens auf einem Auge sollte ein geeigneter Anpassungszeitraum (z. B. sechs Monate) eingehalten werden, während dessen dem Betreffenden das Führen von Fahrzeugen nicht erlaubt ist. Danach ist das Führen von Fahrzeugen nur mit einem befürwortenden Gutachten von Sachverständigen für das Sehvermögen und das Führen von Kraftfahrzeugen erlaubt.

…“

 Niederländisches Recht

9        Art. 111 Abs. 1 der Wegenverkeerswet 1994 (Straßenverkehrsgesetz 1994) bestimmt:

„Auf Antrag und gegen Zahlung der dafür festgesetzten Gebühr darf ein Führerschein nur denjenigen ausgestellt werden, die

a)      das durch Verordnung festgelegte Mindestalter für das Führen eines Kraftfahrzeugs der vom Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis betroffenen Klasse erreicht haben und

b)      nach einer von den oder im Namen der Behörden nach Maßgabe der durch Verordnung festgelegten Regeln durchgeführten Prüfung oder nach einem ihnen früher ausgestellten Führerschein oder einem ihnen außerhalb der Niederlande von der zuständigen Behörde ausgestellten Führerschein, der die durch Verordnung festgelegten Voraussetzungen erfüllt, über eine ausreichende Fähigkeit und Tauglichkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen verfügen oder, wenn der Antrag auf Erteilung einer gültigen Fahrerlaubnis für das Führen von Kleinkrafträdern gerichtet ist, über eine ausreichende Fähigkeit zu deren Führung verfügen.“

10      Art. 97 Abs. 1 des Reglement rijbewijzen (Verordnung über den Führerschein) sieht vor, dass die Feststellung der Tauglichkeit auf Antrag und gegen Zahlung der dafür festgesetzten Gebühr vom CBR in das Führerscheinregister in Bezug auf jeden eingetragen wird, der die in der Verordnung über die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen festgelegten Anforderungen erfüllt. Das CBR teilt diese Registrierung dem Bewerber mit.

11      In Art. 1 Abs. 1 der Regeling eisen geschiktheid 2000 (Verordnung von 2000 über die Tauglichkeitsanforderungen, im Folgenden: Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen) heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung versteht man unter

a)      Gruppe 1: Führerscheine der Klassen A1, A2, A, B, B+E und T;

b)      Gruppe 2: Führerscheine der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE und D1E.“

12      Art. 2 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Anforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen werden gemäß dem Anhang dieser Verordnung festgelegt.“

13      Der Anhang der Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen sieht vor:

„…

Kapitel 3.      Störungen der Sehkraft

3.3.      Gesichtsfeld

a.      Gruppe 1: Das horizontale Gesichtsfeld muss mindestens 120° betragen und muss nach links und rechts mindestens 50° betragen. Das vertikale Sichtfeld muss mindestens 20 Grad nach oben und unten betragen. Innerhalb des Bereichs der mittleren 20 Grad darf keine Gesichtsfeldbeeinträchtigung vorliegen.

In Ausnahmefällen können Personen, die die Anforderungen an das Gesichtsfeld nicht erfüllen, wie bei Skotomen, Quadrantenanopsie oder homonymer Hemianopsie, für Führerscheine der Gruppe 1 für tauglich erklärt werden. Die Voraussetzungen hierfür sind das Fehlen anderer Sehstörungen, ein befürwortendes Gutachten eines Augenarztes und das Bestehen einer Fahrprüfung (vgl. Nr. 3.5).

Diese Ausnahme gilt nicht für Personen, deren horizontales Gesichtsfeld weniger als 90° beträgt.

b.      Gruppe 2: Das beidäugige horizontale Gesichtsfeld muss mindestens 160° betragen und sollte nach links und rechts mindestens 70° betragen. Das vertikale Gesichtsfeld muss mindestens 30 Grad nach oben und unten betragen. Innerhalb des Bereichs der mittleren 30 Grad darf keine Gesichtsfeldbeeinträchtigung vorliegen.

3.4.      Verlust des Sehvermögens auf einem Auge

a.      Gruppe 1: Eine mangelnde Tauglichkeit liegt bei einem plötzlichen Verlust des Sehvermögens auf einem Auge vor, also auch im Fall einer störenden Diplopie, die die Abdeckung eines Auges erfordert. Diese Personen können nach einem mindestens dreimonatigen Anpassungszeitraum und auf der Grundlage eines befürwortenden Gutachtens eines Augenarztes wieder für Führerscheine der Gruppe 1 für tauglich erklärt werden.

b.      Gruppe 2: In Ausnahmefällen kann ein Berufskraftfahrer, der bereits einen oder mehrere Führerscheine der Gruppe 2 besitzt, nach einem mindestens dreimonatigen Anpassungszeitraum und auf der Grundlage eines befürwortenden Gutachtens eines Augenarztes wieder für eine geografisch begrenzte Fahrerlaubnis der Klassen C/CE oder D/DE für tauglich erklärt werden, die sich höchstens auf das Hoheitsgebiet der Niederlande erstrecken darf.

Die Voraussetzungen hierfür sind ein befürwortendes Gutachten eines Augenarztes, eine Erklärung des Arbeitgebers, die nach dem vom CBR erstellten Muster verfasst wurde, und das Bestehen einer Fahrprüfung (vgl. Nr. 3.5).“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

14      WU, geboren 1988, hatte im Alter von einem Jahr einen Unfall, bei dem er eine Schädelbasisfraktur erlitt, wodurch sein horizontales Gesichtsfeld eingeschränkt wurde. Dieses Leiden wird als „Hemianopsie“ bezeichnet.

15      Am 11. Juli 2007 erhielt er eine Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen C und CE im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Buchst. f und g der Richtlinie 2006/126.

16      Nach dem Erlass der Richtlinie 2009/113 trat am 15. September 2009 die Mindestanforderung in Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 in Kraft. Diese Vorschrift sieht vor, dass bei Führern von Fahrzeugen der Klassen C und CE das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte.

17      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das vorlegende Gericht mangels entsprechender Nachweise weder feststellen konnte, ob das CBR zu dem Zeitpunkt, zu dem WU seine Fahrerlaubnis erhielt, bereits Kenntnis von WUs Augenleiden hatte, noch, welchen Standpunkt das CBR damals zu einem solchen Leiden vertrat.

18      WU arbeitete danach mehr als zehn Jahre lang als Berufskraftfahrer. Er legte sowohl im In- als auch im Ausland problemlos und schadensfrei mehr als 1 Mio. km mit Lastkraftwagen zurück.

19      Im Zusammenhang mit einem von WU im Jahr 2016 gestellten Antrag auf Erneuerung seiner Fahrerlaubnis lehnte das CBR mit Bescheid vom 14. Februar 2017 einen ersten Antrag auf Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs ab. Trotz eines befürwortenden Gutachtens eines Augenarzts vom 11. Januar 2017 sowie eines ärztlichen Berichts eines anderen Arztes vom 25. August 2016, der WU ebenfalls für fahrtauglich hielt, vertrat das CBR die Auffassung, dass WU nicht die Mindestanforderung erfülle, wonach das beidäugige horizontale Gesichtsfeld mindestens 160° betragen müsse, wie dies in Nr. 3.3 Buchst. b des Anhangs der Verordnung über die Tauglichkeitsanforderung vorgesehen sei.

20      Gegen diesen Bescheid legte WU Widerspruch ein. Das CBR erklärte den Widerspruch mit Bescheid vom 13. Juli 2017 für unbegründet.

21      WU legte gegen das Urteil, mit dem seine gerichtliche Klage auch vom erstinstanzlichen Gericht für unbegründet erklärt wurde, Berufung ein. Im Rahmen seiner Berufung machte er geltend, dass Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 und Nr. 3.3 Buchst. b des Anhangs der Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen keine strengen Mindestnormen seien. Es hätte ihm daher eine Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs erteilt werden können, auch wenn er über ein begrenzteres Gesichtsfeld verfüge, als es diese Bestimmungen vorsähen.

22      Mit Urteil vom 27. Februar 2019 erklärte der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) die Berufung für unbegründet und bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 sei eine Mindestnorm, die das erforderliche Gesichtsfeld betreffe und von der keine Ausnahme gemacht werden könne. Nr. 3.3 Buchst. b des Anhangs zur Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen stelle eine ordnungsgemäße Umsetzung dieser Nr. 6.4 dar. Da erwiesen sei, dass das beidäugige horizontale Gesichtsfeld von WU weniger als 160° betrage und aus diesem Grund nicht der Anforderung für das Gesichtsfeld entspreche, habe das CBR es zu Recht abgelehnt, die beantragte Feststellung der Tauglichkeit zu erteilen, obwohl zwei Ärzte ein befürwortendes Gutachten zu dem entsprechenden Antrag abgegeben hätten. Es stehe dem CBR daher nicht frei, die individuellen Interessen von WU zu berücksichtigen und eine Ausnahme zu seinen Gunsten zu machen.

23      WU stellte am 27. August 2018 einen zweiten Antrag auf Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs mit dem Ziel, eine Fahrerlaubnis für die Klassen C und CE innerhalb der Niederlande zu erhalten. Im Rahmen dieses zweiten Antrags hielt es das CBR für erforderlich, WU erneut einer Untersuchung seiner Sehschärfe zu unterziehen, die jedoch von einem anderen Augenarzt als demjenigen vorzunehmen sei, der sich im Rahmen des ersten Antrags geäußert habe. In seinem Bericht vom 11. Oktober 2018 stellte der zweite Augenarzt erstens fest, dass das horizontale Gesichtsfeld von WU weniger als 160° betrage, zweitens, dass seit seinem Unfall im Jahr 1989 der Verlust seines Gesichtsfelds stabil sei, und drittens, dass für WU mit diesem Gesichtsfeld bereits zweimal befürwortende Gutachten für das Führen von Kraftfahrzeugen erstellt worden seien. Dieser Augenarzt hielt ihn daher für tauglich, Kraftfahrzeuge der Klassen C und CE zu führen.

24      Mit Bescheid vom 13. März 2019 lehnte es das CBR jedoch erneut ab, WU die beantragte Tauglichkeitsfeststellung zu erteilen, da er nicht die Mindestanforderung für das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen erfülle, die mindestens 160° betragen müsse.

25      Gegen diesen Bescheid legte WU Widerspruch ein. Das CBR wies den Widerspruch mit Bescheid vom 16. Juli 2019 als unbegründet zurück. Nach Ansicht des CBR zeigt der Bericht des zweiten Augenarzts einen linksseitigen Verlust des Gesichtsfelds für beide Augen. Das horizontale Gesichtsfeld betrage weniger als 160°. Daher erfülle WU weder die Anforderung in Nr. 3.3 Buchst. b des Anhangs der Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen noch die Anforderungen in Nr. 3.4 Buchst. b dieses Anhangs, der die Möglichkeit vorsehe, einen Berufskraftfahrer, der bereits einen oder mehrere Führerscheine der Gruppe 2 besitze und plötzlich das Sehvermögen auf einem Auge verliere, nach einem mindestens dreimonatigen Anpassungszeitraum und auf der Grundlage eines befürwortenden Gutachtens eines Augenarzts dennoch im Hinblick auf den Erwerb eines auf die Niederlande begrenzten Führerscheins der Gruppe 2, zum Führen eines Kraftfahrzeugs für tauglich zu erklären. WU sei nämlich nicht auf einem Auge blind, sondern leide an einer Hemianopsie, was bedeute, dass er sowohl in Bezug auf die linke als auch auf die rechte Hälfte des Gesichtsfelds teilweise blind sei. Diese Hemianopsie sei homonym, d. h., der Gesichtsfeldausfall trete bei beiden Augen auf derselben (der linken) Seite auf.

26      Mit Urteil vom 21. Mai 2021 erklärte das erstinstanzliche Gericht die Klage von WU gegen den letztgenannten Bescheid für unbegründet. Das CBR habe zu Recht festgestellt, dass Nr. 3.4 Buchst. b des Anhangs der Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen auf WU nicht anzuwenden sei, weil dieser nicht auf einem Auge blind sei, sondern an einer homonymen Hemianopsie leide. Dieses Gericht sah trotz des befürwortenden Berichts des Augenarzts vom 11. Oktober 2018 keinen Grund für die Annahme, dass diese Entscheidung unter den von WU geltend gemachten Umständen, wonach sein Sehvermögen seit dem Alter von einem Jahr begrenzt gewesen sei, er das Fehlen eines vollständigen Gesichtsfelds kompensiert habe und scharf sehe, als rechtswidrig anzusehen sei. Der zwingende Charakter von Nr. 3.4 Buchst. b des Anhangs der Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen erlaube es nicht, die individuellen Interessen von WU zu berücksichtigen.

27      WU legte gegen dieses Urteil beim Raad van State (Staatsrat), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Er macht u. a. geltend, dass er nach drei von verschiedenen Ärzten erstellten Gutachten tauglich sei, einen Lastkraftwagen zu führen. Er habe zwar eine Beeinträchtigung des Gesichtsfelds, aber diese Beeinträchtigung habe er bereits seit früher Kindheit und er habe diese durch Blickverhalten und Kopfbewegungen vollständig kompensiert. WU untermauert diesen Standpunkt durch eine Stellungnahme eines Neuropsychologen, die besagt, dass die Art und Weise, in der WU den Verkehr beobachte, so gut entwickelt sei, dass er visuell normal funktionieren könne. WU zufolge widerspricht es nicht dem Ziel der Regelung über die Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen, dass eine Person mit einer Sehbeeinträchtigung, die dennoch über ein hinreichendes Sehvermögen verfüge, ein Kraftfahrzeug der Klassen C und CE führen dürfe. Die Situation einer solchen Person rechtfertige es, eine Ausnahme von dem Erfordernis in Nr. 3.3 Buchst. b des Anhangs der Verordnung über die Tauglichkeitsanforderungen zu machen, ebenso wie es eine Ausnahme beim Verlust des Sehvermögens auf einem Auge gemäß Nr. 3.4 Buchst. b dieses Anhangs gebe.

28      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass WU die in Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Mindestanforderung eines horizontalen Gesichtsfelds mit beiden Augen von mindestens 160° aus medizinischer Sicht zwar nicht erfüllt. Es ist jedoch der Ansicht, dass deswegen aber nicht erwiesen sei, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen C und CE untauglich sei. Es stelle sich die Frage, ob WU nicht als tauglich angesehen werden sollte, solche Fahrzeuge zu führen, indem Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 dahin ausgelegt werde, dass die dort festgelegte Mindestanforderung von einer Person, die die Einschränkung des horizontalen Gesichtsfelds kompensiere, erfüllt werde. Das vorlegende Gericht fragt sich auch, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beim Erlass einer Entscheidung über die Erneuerung einer Fahrerlaubnis angewandt werden könne, auch wenn die in Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Anforderung keine Ausnahme vorsehe. Es weist darauf hin, dass neben den Feststellungen der medizinischen Sachverständigen über die körperliche und geistige Tauglichkeit eines Bewerbers zum Führen eines Kraftfahrzeugs bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der zu erlassenden Entscheidung auch berücksichtigt werden könnte, dass der Bewerber nachweislich zuvor in der Lage war, sicher zu fahren, und dass die beantragte Fahrerlaubnis im Rahmen der Ausübung eines Berufs verwendet werde. Insoweit sei Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu beachten, wonach jede Person das Recht habe, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben.

29      Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126, insbesondere die Anforderung eines horizontalen Gesichtsfelds mit beiden Augen von mindestens 160º im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dahin auszulegen, dass auch eine Person, die dieser Anforderung aus medizinischer Sicht nicht entspricht, aber nach Ansicht verschiedener medizinischer Sachverständiger dennoch tatsächlich tauglich ist, einen Lastkraftwagen zu führen, die Anforderung erfüllen kann?

2.      Falls diese Frage verneint wird, besteht dann im Rahmen der Richtlinie 2006/126 Raum für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall, obwohl die Anforderung in Nr. 6.4 des Anhangs III dieser Richtlinie keine Möglichkeit vorsieht, in solchen Fällen Ausnahmen zu machen?

3.      Wenn dies der Fall ist, welche Umstände können bei der Beurteilung der Frage, ob von der Anforderung des Gesichtsfelds im Sinne von Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 im Einzelfall abgewichen werden kann, eine Rolle spielen?

 Zu den Vorlagefragen

30      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und von Art. 15 der Charta dahin auszulegen ist, dass es danach in einem konkreten Fall einer Person, die dem darin vorgesehenen Erfordernis, dass bei Fahrzeugführern der Gruppe 2, d. h. den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E, das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte, aus medizinischer Sicht nicht entspricht, verwehrt ist, möglicherweise als diesem Erfordernis entsprechend angesehen zu werden, wenn sie nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, das in eine dieser Klassen fällt.

31      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/126, wie sich aus ihrem achten Erwägungsgrund ergibt, eine Harmonisierung der Mindestanforderungen an die Ausstellung des in ihrem Art. 1 vorgesehenen Führerscheins vornimmt. Diese Voraussetzungen werden insbesondere in den Art. 4 und 7 der Richtlinie festgelegt und betreffen u. a. das erforderliche Mindestalter, die Fähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs, die Prüfungen, die der Bewerber bestanden haben muss, und seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats. Außerdem werden nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine gegenseitig anerkannt.

32      Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/126 darf ein Führerschein nur an Bewerber ausgestellt werden, die eine Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie eine theoretische Prüfung bestanden haben und die Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit nach Maßgabe der Bestimmungen der Anhänge II und III der Richtlinie erfüllen. Zudem verlangt Art. 7 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie, dass die Erneuerung eines Führerscheins bei Inhabern von Führerscheinen für Fahrzeuge der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E von der Erfüllung dieser Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit abhängig zu machen ist. Diese Bestimmungen sind somit zwingend formuliert.

33      Es ist festzustellen, dass Nr. 6.4 Unterabs. 2 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126, in dem es in der französischen Fassung heißt, dass das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen nicht weniger als 160° betragen darf, ebenfalls zwingend formuliert ist. Zwar enthält diese Bestimmung, wie die Europäische Kommission ausgeführt hat, in einigen Sprachfassungen dieser Richtlinie, wie in der deutschen (sollte), der englischen (should) und der finnischen (olisi oltava) Fassung der Richtlinie, ein weniger verbindliches Verb als in der französischen Fassung, andere Sprachfassungen wie die spanische (deberá), die italienische (deve), die niederländische (dient) und die portugiesische (deve) Fassung verwenden jedoch ein ebenso verbindliches Verb.

34      Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einigen Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts schließt es nämlich aus, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung, zu der sie gehört, auszulegen, namentlich im Licht ihrer Fassungen in allen Sprachen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 1969, Stauder, 29/69, EU:C:1969:57, Rn. 2 und 3, vom 30. Juni 2022, Allianz Elementar Versicherung, C‑652/20, EU:C:2022:514, Rn. 36, und vom 18. Januar 2024, Regionalna direktsia „Avtomobilna administratsia“ Pleven, C‑227/22, EU:C:2024:57, Rn. 43).

35      Zur allgemeinen Systematik der Richtlinie 2006/126 ist festzustellen, dass Nr. 6.4 ihres Anhangs III keine Ausnahme von dem für Fahrzeugführer der in Nr. 1.2 dieses Anhangs definierten Gruppe 2 vorgesehenen Erfordernis vorsieht, dass das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen muss, während Nr. 6 Unterabs. 2 dieses Anhangs für Fahrzeugführer der Gruppe 1, die die Anforderungen an Sehschärfe und Gesichtsfeld nicht erfüllen, eine Ausnahme vorsieht.


36      Mangels einer vergleichbaren Ausnahme für Fahrzeugführer der Gruppe 2 müssen diese stets den Anforderungen an Sehschärfe und Gesichtsfeld genügen, wenn sie eine neue Fahrerlaubnis oder die Erneuerung einer bestehenden Fahrerlaubnis beantragen.

37      Der Gerichtshof hat dazu festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber darauf bedacht war, die Fahrzeugführer in Abhängigkeit von der Größe des Fahrzeugs, der Zahl der beförderten Personen und der Verantwortung, die sich damit aus dem Führen solcher Fahrzeuge ergibt, in zwei Kategorien einzuteilen. In der Tat rechtfertigen die Merkmale der betroffenen Fahrzeuge, wie die Größe, das Gewicht oder die Manövrierfähigkeit dieser Fahrzeuge, unterschiedliche Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis, soweit sie das Führen dieser Fahrzeuge betreffen (Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 83).

38      Im Übrigen unterscheidet sich die in Nr. 6.4 Unterabs. 4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 angeführte Situation, die als Ausnahme eng auszulegen ist, von der Situation einer Beschränkung des horizontalen Gesichtsfelds beider Augen. Nach dieser Bestimmung kann nach einem erheblichen Verlust des Sehvermögens auf einem Auge nach einem Anpassungszeitraum und nach befürwortender Stellungnahme von Sachverständigen für das Sehvermögen und das Führen von Kraftfahrzeugen eine Person als wieder fahrtauglich angesehen werden. Ein erheblicher Verlust des Sehvermögens auf einem Auge bedeutet jedoch nicht zwangsläufig eine Beschränkung des horizontalen Gesichtsfelds mit beiden Augen, so dass die Situationen der betroffenen Fahrer nicht vergleichbar sind.

39      Was den Zweck der Richtlinie 2006/126 angeht, nimmt diese, wie sich aus ihrem achten Erwägungsgrund ergibt, eine Harmonisierung der Mindestanforderungen an die Ausstellung des in ihrem Art. 1 vorgesehenen Führerscheins vor, wobei diese Harmonisierung u. a. die Vorbedingungen schaffen soll, die für eine gegenseitige Anerkennung des Führerscheins erforderlich sind, und verfolgt auch das Ziel, zur Erhöhung der Straßenverkehrssicherheit beizutragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2024, Regionalna direktsia „Avtomobilna administratsia“ Pleven, C‑227/22, EU:C:2024:57, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im achten Erwägungsgrund heißt es hierzu, dass aus Gründen der Straßenverkehrssicherheit im Straßenverkehr die Mindestvoraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis festgelegt werden sollten und dass die Normen für die von den Fahrern abzulegenden Prüfungen und für die Erteilung der Fahrerlaubnis harmonisiert werden müssen.

40      Die in Anhang III der Richtlinie 2006/126 vorgeschriebenen Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs sind gemäß Art. 91 Abs. 1 Buchst. c AEUV aus Gründen der Sicherheit im Straßenverkehr festgelegt worden (Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 58).

41      Indem die Richtlinie 2006/126 in ihrem Anhang III für Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne dieses Anhangs einen Mindestwert für das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen festlegt, soll sie die Sicherheit im Straßenverkehr verbessern und entspricht damit einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, С-356/12, EU:C:2014:350, Rn. 51).

42      Insoweit ist es zur Gewährleistung der Sicherheit im Straßenverkehr unabdingbar, dass die Personen, denen eine Fahrerlaubnis erteilt wird, über angemessene körperliche Fähigkeiten, insbesondere hinsichtlich ihres Sehvermögens, verfügen, da körperliche Schwächen erhebliche Folgen haben können. Es ist in der Tat offenkundig, dass dem Sehvermögen eine entscheidende Rolle für das Führen von Kraftfahrzeugen zukommt und dass die Berücksichtigung der Belange der Verkehrssicherheit daher umso notwendiger erscheint, je stärker das Sehvermögen eingeschränkt ist (Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 54).

43      Wie die Kommission hervorgehoben hat, könnte die Anerkennung eines gewissen Ermessensspielraums, der es in einem konkreten Fall erlauben würde, eine Person als fahrtauglich anzusehen, die aus medizinischer Sicht nicht dem Erfordernis nach Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 entspricht, aber nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, einen Lastkraftwagen zu führen, zu unterschiedlichen Ansätzen in den einzelnen Mitgliedstaaten führen, was die Ziele dieser Richtlinie beeinträchtigen könnte.

44      Hinzuzufügen ist, dass auch das Vorliegen befürwortender Gutachten von Augenärzten über die Fahrtauglichkeit die Nichtanwendung des in Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 vorgesehenen Erfordernisses in einem konkreten Fall nicht rechtfertigen kann, da aus dem neunten Erwägungsgrund und aus Art. 7 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie eindeutig hervorgeht, dass der Betroffene den Nachweis der Erfüllung der Mindestanforderung in Unterabs. 2 dieser Nr. 6.4 zu erbringen hat und nicht den Nachweis der Tauglichkeit, und dass die augenärztlichen Stellungnahmen oder Gutachten das Fehlen eines solchen Nachweises nicht ausgleichen können.

45      Somit kann in Anbetracht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie 2006/126 deren Nr. 6.4 Unterabs. 2 des Anhangs III nicht dahin ausgelegt werden, dass Fahrzeugführern der Gruppe 2, die das in dieser Bestimmung festgelegte Erfordernis aus medizinischer Sicht nicht erfüllen, aber nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich sind, ein Fahrzeug einer der zu dieser Gruppe gehörenden Klassen zu führen, eine Ausnahme gewährt werden kann.


46      Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der in einem konkreten Fall zu treffenden Entscheidung über die Erneuerung einer Fahrerlaubnis führt das vorlegende Gericht aus, dass neben den Feststellungen der Sachverständigen zur Fahrtauglichkeit eines Bewerbers hinaus berücksichtigt werden könnte, dass der Bewerber nachweislich zuvor in der Lage gewesen sei, sicher zu fahren, und dass die beantragte Fahrerlaubnis im Rahmen der Ausübung eines Berufs verwendet werde in Anbetracht von Art. 15 der Charta, der vorsehe, dass jede Person das Recht habe, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben.

47      Insoweit hat der Unionsgesetzgeber, der in Bezug auf komplexe medizinische Prüfungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden über ein weites Ermessen verfügt, bereits eine Abwägung zwischen den Erfordernissen der Straßenverkehrssicherheit einerseits und anderen Rechten und Interessen einschließlich der Mobilität für alle und des Zugangs zum Beruf des Berufskraftfahrers andererseits vorgenommen, wobei er sich bemüht hat, jede Beeinträchtigung der Rechte von Personen mit einer Sehbeeinträchtigung so weit wie möglich zu begrenzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, С-356/12, EU:C:2014:350, Rn. 52 und 62). Er hat daher die in der Richtlinie 2006/126 vorgesehenen Vorschriften erlassen, insbesondere in Anbetracht der Schlussfolgerungen des vom vorlegenden Gericht angeführten Berichts „New standards for the visual functions of drivers“, der im Mai 2005 von der Arbeitsgruppe „Eyesight“, die von dem gemäß Art. 9 dieser Richtlinie errichteten Ausschuss für den Führerschein eingesetzt wurde, veröffentlicht wurde.

48      Nr. 6.4 Unterabs. 2 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 stellt jedoch, wie sich aus den Rn. 33 bis 45 des vorliegenden Urteils ergibt, das eindeutige Erfordernis auf, dass das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte.

49      Unter diesen Umständen lässt sich diese Bestimmung nicht in einer Weise auslegen, dass von der eindeutigen Norm, die diesen Mindestwert festlegt, in einem konkreten Fall abgewichen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, С-356/12, EU:C:2014:350, Rn. 71).

50      Nach alledem ist auf die Fragen zu antworten, dass Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und von Art. 15 der Charta dahin auszulegen ist, dass es danach in einem konkreten Fall einer Person, die dem darin vorgesehenen Erfordernis, dass bei Fahrzeugführern der Gruppe 2, d. h. den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E, das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte, aus medizinischer Sicht nicht entspricht, verwehrt ist, möglicherweise als diesem Erfordernis entsprechend angesehen zu werden, wenn sie nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, das in eine dieser Klassen fällt.

 Kosten

51      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 geänderten Fassung ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und von Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

es danach in einem konkreten Fall einer Person, die dem darin vorgesehenen Erfordernis, dass bei Fahrzeugführern der Gruppe 2, d. h. den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1 und D1E, das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160° betragen sollte, aus medizinischer Sicht nicht entspricht, verwehrt ist, möglicherweise als diesem Erfordernis entsprechend angesehen zu werden, wenn sie nach Ansicht mehrerer medizinischer Sachverständiger tatsächlich tauglich ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, das in eine dieser Klassen fällt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.