URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
24. Oktober 1997(1)
[234s„EGKS Nichtigkeitsklage Staatliche Beihilfen Einzelfallentscheidungen
über die Genehmigung der Gewährung staatlicher Beihilfen an
Stahlunternehmen Ermessensmißbrauch Berechtigtes Vertrauen
Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Vertrages Diskriminierung
Unzureichende Begründung Verletzung der Verteidigungsrechte Artikel 4
Buchstaben b und c, 15 und 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages“[s
In der Rechtssache T-244/94
Wirtschaftsvereinigung Stahl, Vereinigung deutschen Rechts, Düsseldorf
(Deutschland),
Thyssen Stahl AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Duisburg (Deutschland),
Preussag Stahl AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Salzgitter (Deutschland),
Hoogovens Groep BV, Gesellschaft niederländischen Rechts, Ijmuiden
(Niederlande),
Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Jochim Sedemund und Frank Montag, Köln,
und für Hoogovens Groep BV: Rechtsanwalt Eric Pijnacker Hordijk, Brüssel,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Aloyse May, 31, Grand-Rue,
Luxemburg,
Klägerinnen,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Bernd Langeheine
und Ben Smulders, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
Beklagte,
unterstützt durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch Direktor Rüdiger Bandilla und
Verwaltungsrat Stephan Marquardt, beide Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Alessandro Morbilli, Generaldirektor der Direktion
für Rechtsfragen der Europäischen Investitionsbank, 100, boulevard Konrad
Adenauer, Luxemburg,
Italienische Republik, vertreten durch Umberto Leanza, Leiter des Servizio del
contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten, Beistand:
Avvocato dello Stato Pier Giorgio Ferri, Zustellungsanschrift: Italienische Botschaft,
5, rue Marie-Adélaïde, Luxemburg,
ILVA Laminati Piani SpA, Gesellschaft italienischen Rechts, Rom,
Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Aurelio Pappalardo, Trapani, und Massimo
Merola, Rom, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Alain Lorang, 51,
rue Albert 1er, Luxemburg,
Streithelfer,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 94/259/EGKS der Kommission vom 12.
April 1994 über die Gewährung von Beihilfen an die staatseigenen
Stahlunternehmen Italiens (Stahlkonzern ILVA) (ABl. L 112, S. 64)
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Saggio, des Richters A. Kalogeropoulos, der
Richterin V. Tiili sowie der Richter A. Potocki und R. M. Moura Ramos,
Kanzler: H. Jung
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25.
Februar 1997,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
- Der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und
Stahl (nachstehend: Vertrag) verbietet grundsätzlich staatliche Beihilfen an
Stahlunternehmen, indem er in seinem Artikel 4 Buchstabe c bestimmt, daß „von
den Staaten bewilligte Subventionen oder Beihilfen oder von ihnen auferlegte
Sonderlasten, in welcher Form dies auch immer geschieht“, als unvereinbar mit
dem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl gemäß den Bestimmungen dieses
Vertrages untersagt werden.
- Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages lautet: „In allen in diesem Vertrag nicht
vorgesehenen Fällen, in denen eine Entscheidung oder Empfehlung der
Kommission erforderlich erscheint, um eines der in Artikel 2, 3 und 4 näher
bezeichneten Ziele der Gemeinschaft auf dem gemeinsamen Markt für Kohle und
Stahl gemäß Artikel 5 zu erreichen, kann diese Entscheidung oder Empfehlung mit
einstimmiger Zustimmung des Rates und nach Anhörung des Beratenden
Ausschusses ergehen.
Die gleiche, in derselben Form erlassene Entscheidung oder Empfehlung bestimmt
gegebenenfalls die anzuwendenden Sanktionen.“
- Um den Erfordernissen einer Umstrukturierung der Eisen- und Stahlindustrie
gerecht zu werden, erließ die Kommission auf der Grundlage der zitierten
Bestimmungen des Artikels 95 des Vertrages zu Beginn der achtziger Jahre eine
gemeinschaftliche Beihilferegelung, mit der in bestimmten, abschließend
aufgezählten Fällen staatliche Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie genehmigt
wurden. Diese Regelung wurde später mehrfach geändert, um den konjunkturellen
Schwierigkeiten der Eisen- und Stahlindustrie zu begegnen. Daher ist der im
entscheidungserheblichen Zeitraum geltende gemeinschaftliche Kodex über
Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie, der durch die Entscheidung Nr.
3855/91/EGKS der Kommission vom 27. November 1991 zur Einführung
gemeinschaftlicher Vorschriften über Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie
(ABl. L 362, S. 57; nachstehend: Beihilfenkodex) erlassen wurde, bereits der fünfte
seiner Art. Aus seinen Begründungserwägungen ergibt sich, daß mit ihm ebenso wie
mit seinen Vorgängern ein Gemeinschaftssystem eingeführt wurde, das für
allgemeine oder besondere Beihilfen gelten sollte, die die Mitgliedstaaten, in
welcher Form auch immer, gewähren. Nach diesem Kodex waren Betriebs- oder
Investitionshilfen mit Ausnahme der Schließungsbeihilfen untersagt.
Sachverhalt
- Angesichts der Verschlechterung der wirtschaftlichen und finanziellen Situation im
Stahlsektor legte die Kommission in ihrer an den Rat und das Europäische
Parlament gerichteten Mitteilung SEK(92) 2160 endg. vom 23. November 1992 mit
dem Titel „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie: Die
Notwendigkeit einer erneuten Umstrukturierung“ einen Umstrukturierungsplan vor.
Dieser Plan ging von der Feststellung einer fortbestehenden strukturellen
Überkapazität aus und sollte auf der Grundlage einer freiwilligen Beteiligung der
Stahlunternehmen in erster Linie zu einem erheblichen endgültigen Abbau der
Produktionskapazitäten in der Größenordnung von mindestens 19 Millionen
Tonnen führen. Zu diesem Zweck waren ein Bündel von Begleitmaßnahmen im
sozialen Bereich sowie finanzielle Anreize einschließlich Gemeinschaftsbeihilfen
vorgesehen. Parallel dazu beauftragte die Kommission einen unabhängigen
Sachverständigen, nämlich den ehemaligen Generaldirektor in der Generaldirektion
Industrie der Kommission, Herrn Braun, mit einer Untersuchung, die im
wesentlichen in einer Aufstellung der beabsichtigten Schließungen von
Unternehmen des Stahlsektors in dem in der vorgenannten Mitteilung erwähnten
Zeitraum der Jahre 1993 bis 1995 bestand. Herr Braun legte seinen Bericht „Die
laufenden oder beabsichtigten Umstrukturierungen in der Stahlindustrie“ am 29.
Januar 1993 vor, nachdem er mit den Leitern von ungefähr 70 Unternehmen
Kontakt aufgenommen hatte.
- In seinen Schlußfolgerungen vom 25. Februar 1993 stimmte der Rat den
Grundlinien des von der Kommission im Anschluß an den Braun-Bericht
vorgelegten Programms für einen drastischen Abbau der Produktionskapazitäten
zu. Die dauerhafte Umstrukturierung des Stahlsektors sollte „unter strikter
Befolgung der Regeln für die Kontrolle der staatlichen Beihilfen“ durch „ein Paket
von befristeten Begleitmaßnahmen“ erleichtert werden, wobei die Kommission
hinsichtlich der staatlichen Beihilfen ihre Haltung bekräftigt habe, „daß der
Beihilfenkodex strikt und objektiv angewandt werden muß, und [sie] ... dafür Sorge
tragen [werde], daß etwaige Ausnahmen, die dem Rat nach Artikel 95
vorgeschlagen werden könnten, die notwendige Gesamtanstrengung zur
Verringerung der Kapazitäten in vollem Umfang unterstützen. Der Rat wird rasch
nach objektiven Kriterien über die Vorschläge befinden.“
- In diesem Zusammenhang äußerten sich der Rat und die Kommission in ihrer
gemeinsamen Erklärung im Ratsprotokoll vom 17. Dezember 1993 unter Hinweis
auf das globale Einvernehmen innerhalb des Rates hinsichtlich der Zustimmung
nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages zu den staatlichen Beihilfen für die
öffentlichen Unternehmen Sidenor (Spanien), Sächsische Edelstahlwerke GmbH
(Deutschland), Corporación de la Siderurgia Integral (CSI, Spanien), ILVA
(Italien), EKO Stahl AG (Deutschland) und Siderurgia Nacional (Portugal) dahin,
daß sie „der Auffassung [sind], daß der einzige Weg zu einer gesunden
Stahlindustrie in der EG, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist, darin
besteht, die staatliche Unterstützung für die Stahlindustrie endgültig einzustellen
und unwirtschaftliche Kapazitäten zu schließen. Gleichzeitig mit seiner
einstimmigen Zustimmung zu den vorliegenden Vorschlägen gemäß Artikel 95
bekräftigt der Rat, daß er den ... Beihilfe-Kodex ... streng einhalten und, wenn
keine Genehmigung gemäß dem Kodex vorliegt, Artikel 4 c des EGKS-Vertrags
anwenden wird. Unbeschadet des Rechts aller Mitgliedstaaten, eine Entscheidung
nach Artikel 95/EGKS zu beantragen, verpflichtet sich der Rat entsprechend seinen
Schlußfolgerungen vom 25. Februar 1993 ausdrücklich, alle weiteren
Ausnahmeregelungen gemäß Artikel 95 zugunsten einzelner Unternehmen zu
vermeiden.“
- Der Rat stimmte am 22. Dezember 1993 nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des
Vertrages der Gewährung der genannten Beihilfen zu, die die Umstrukturierung
oder Privatisierung der betroffenen öffentlichen Unternehmen begleiten sollten.
- In diesem rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang erließ die Kommission zur
Erleichterung einer erneuten Umstrukturierung der Stahlindustrie am 12. April
1994 im Anschluß an die vorerwähnte Zustimmung des Rates sechs auf Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages gestützte Einzelfallentscheidungen, mit denen sie
die Gewährung staatlicher Beihilfen genehmigte, die nicht die Kriterien erfüllten,
die nach dem Beihilfenkodex eine Ausnahme von Artikel 4 Buchstabe c des
Vertrages ermöglichten. Die Kommission genehmigte in diesen sechs
Entscheidungen das Beihilfevorhaben von Deutschland zugunsten des
Stahlunternehmens EKO Stahl AG, Eisenhüttenstadt (Entscheidung 94/256/EGKS,
ABl. L 112, S. 45), die geplanten Beihilfen Portugals an das Stahlunternehmen
Siderurgia Nacional (Entscheidung 94/257/EGKS, ABl. L 112, S. 52), das
Beihilfevorhaben von Spanien zugunsten des öffentlichen spanischen
Stahlunternehmens Corporación de la Siderurgia Integral (CSI) (Entscheidung
94/258/EGKS, ABl. L 112, S. 58), die Gewährung von Beihilfen an die
staatseigenen Stahlunternehmen Italiens (Stahlkonzern ILVA) (Entscheidung
94/259/EGKS, ABl. L 112, S. 64), das Beihilfevorhaben von Deutschland zugunsten
des Stahlunternehmens Sächsische Edelstahlwerke GmbH, Freital/Sachsen
(Entscheidung 94/260/EGKS, ABl. L 112, S. 71), und das Beihilfevorhaben von
Spanien zugunsten des Edelstahlherstellers Sidenor (Entscheidung 94/261/EGKS,
ABl. L 112, S. 77).
- Diese Genehmigungen wurden gemäß der Zustimmung des Rates „mit
Verpflichtungen versehen ..., die einem Nettokapazitätsabbau von mindestens 2
Mio. t Rohstahl und höchstens 5,4 Mio. t Warmwalzkapazität entsprechen (mit
Ausnahme des etwaigen Baus einer Breitbandstraße in Sestão und einer Erhöhung
der Kapazität von EKO-Stahl über 0.9 Mio. t hinaus nach Mitte 1999)“, wie aus
der Mitteilung der Kommission vom 13. April 1994 an den Rat und das
Europäische Parlament (KOM[94] 125 endg.) hervorgeht, in der eine
Zwischenbilanz der Umstrukturierung in der Stahlindustrie gezogen werden sollte
und Vorschläge für eine Konsolidierung dieses Prozesses im Sinne der
Schlußfolgerungen des Rates vom 25. Februar 1993 gemacht werden sollten.
Verfahren
- Unter diesen Umständen haben die Wirtschaftsvereinigung Stahl sowie die
Stahlunternehmen Thyssen Stahl AG, Preussag Stahl AG und Hoogovens Groep
BV mit Klageschrift, die am 24. Juni 1994 bei der Kanzlei des Gerichts
eingegangen ist, nach Artikel 33 des Vertrages die Nichtigerklärung der
Entscheidung 94/259/EGKS betreffend den Stahlkonzern ILVA beantragt.
- Parallel dazu sind zwei weitere Klagen erhoben worden, und zwar von der
Association des aciéries européennes indépendantes (EISA) gegen die sechs
Entscheidungen der Kommission vom 12. April 1994 (Rechtssache T-239/94) und
von der Gesellschaft British Steel gegen die Entscheidungen 94/258 und 94/259, mit
denen die Gewährung staatlicher Beihilfen an das Unternehmen CSI und den
Stahlkonzern ILVA genehmigt wurde (Rechtssache T-243/94).
- In der vorliegenden Rechtssache haben der Rat, die Italienische Republik und die
ILVA Laminati Piani SpA (nachstehend: ILVA) mit Schriftsätzen, die am 24.
Oktober sowie am 8. und 29. November 1994 bei der Kanzlei des Gerichts
eingegangen sind, ihre Zulassung als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der
Beklagten beantragt. Mit Beschlüssen vom 9. März 1995 hat der Präsident der
Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts den Streithilfeanträgen stattgegeben.
- Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche
Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Die
Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 25. Februar 1997 mündlich
verhandelt und die Fragen des Gerichts beantwortet.
Anträge der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen beantragen,
- die Entscheidung 94/259 für nichtig zu erklären;
- hilfsweise, die angefochtene Entscheidung insoweit für nichtig zu erklären,
als sie keine höhere Kapazitätsabbauverpflichtung von ILVA als 2 Millionen
Jahrestonnen vorsieht;
- der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- Die Beklagte, unterstützt durch den Rat und die Italienische Republik, beantragt,
- die Klage abzuweisen;
- den Klägerinnen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- Die Streithelferin ILVA beantragt,
- die Klage als unbegründet abzuweisen;
- den Klägerinnen sämtliche Kosten einschließlich der Kosten von ILVA
aufzuerlegen.
Begründetheit der Klage
- Die Klägerinnen stützen ihre Nichtigkeitsklage auf folgende sieben Gründe: erstens
Verstoß gegen den Beihilfenkodex, zweitens Verstoß gegen die
Anwendungsvoraussetzungen des Artikels 95 des Vertrages, drittens Verstoß gegenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, viertens Verstoß gegen das
Diskriminierungsverbot, fünftens Verstoß gegen die Begründungspflicht, sechstens
Fehlerhaftigkeit des Beschlußfassungsverfahrens und siebtens Verstoß gegen den
Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
Erster Klagegrund: Verstoß gegen den Beihilfenkodex
- Die Klägerinnen machen geltend, eine Beihilfegenehmigung, die im Fünften
Beihilfenkodex nicht vorgesehen sei, sei rechtswidrig. Dieser Klagegrund umfaßt
zwei Teile. Die Kommission habe, indem sie die Gewährung einer Beihilfe
genehmigt habe, die nicht die Voraussetzungen des Beihilfenkodex erfülle, einen
Ermessensmißbrauch begangen und gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
verstoßen.
Zum behaupteten Ermessensmißbrauch
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen tragen vor, soweit staatliche Beihilfen nach Artikel 4 Buchstabe
c des Vertrages verboten seien, lege der auf der Grundlage von Artikel 95 Absätze
1 und 2 des Vertrages erlassene Beihilfenkodex verbindlich und abschließend fest,
unter welchen Voraussetzungen solche Beihilfen zur Erreichung der in Artikel 2,
3 und 4 des Vertrages bezeichneten Ziele dennoch zulässig sein könnten. Auch
wenn es Zweifel an der Befugnis der Kommission geben könne, den von Artikel 4
Buchstabe c des Vertrages abweichenden Beihilfenkodex auf der Grundlage von
Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages zu erlassen, so wollten sie diese Frage
doch nicht aufwerfen. Sie führen lediglich aus, daß Beihilfen, die nicht die im
Beihilfenkodex niedergelegten Voraussetzungen erfüllten, jedenfalls mit dem
gemeinsamen Markt unvereinbar seien und unter das Verbot des Artikels 4
Buchstabe c des Vertrages fielen.
- Dies werde durch die Begründung des Beihilfenkodex und durch dessen Artikel 1
bestätigt, der ausdrücklich vorsehe, daß „alle Beihilfen zugunsten der Eisen- und
Stahlindustrie, ... die ... von den Mitgliedstaaten ... finanziert werden, ... nur dann
als Gemeinschaftsbeihilfen und somit als mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren
des Gemeinsamen Marktes vereinbar angesehen werden [können], wenn sie den
Bestimmungen der Artikel 2 bis 5 entsprechen“.
- Die Kommission sei durch ihre im Beihilfenkodex vorgenommene Auslegung von
Artikel 95 Absätze 1 und 2 in Verbindung mit Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages
gebunden. Im Erlaß des Kodex spiegele sich die Ausübung des ihr in diesen
Bestimmungen des Artikels 95 eingeräumten Ermessens wider, so daß sie davon
nicht abweichen könne, ohne sich selbst zu widersprechen und einen
Ermessensmißbrauch zu begehen.
- Insbesondere könne eine Einzelfallentscheidung nicht ohne Verstoß gegen das in
Artikel 4 Buchstabe b des Vertrages verankerte Diskriminierungsverbot von dem
mit allgemeiner Geltung versehenen Beihilfenkodex abweichen, selbst wenn beide
Handlungen formal denselben Rang in der Normenhierarchie einnähmen. Der
Gerichtshof habe den Grundsatz, daß eine Einzelfallentscheidung die
Voraussetzungen der Grundentscheidung erfüllen müsse, bestätigt, und zwar sowohl
im Bereich von Antidumpingmaßnahmen (vgl. insbesondere Urteile vom 29. März
1979 in der Rechtssache 113/77, NTN Toyo Bearing u. a./Rat, Slg. 1979, 1185, und
in der Rechtssache 118/77, ISO/Rat, Slg. 1979, 1277) als auch im Bereich staatlicher
Beihilfen (vgl. im Rahmen der Artikel 92 und 93 EG-Vertrag Urteil vom 24. März
1993 in der Rechtssache C-313/90, CIRFS u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1125). Im
Rahmen des Vertrages habe der Gerichtshof entschieden, daß die Kommission
dadurch einen Ermessensmißbrauch begangen habe, daß sie die ihr im Vertrag
übertragenen Befugnisse dazu verwendet habe, ein spezielles Verfahren zu
umgehen, das die anwendbaren Grundentscheidungen vorsähen, ohne diese
Entscheidungen nach dem Verfahren zu ändern, das der Vertrag für die von ihr zu
bewältigende Sachlage eingeführt habe (vgl. Urteile vom 21. Februar 1984 in den
Rechtssachen 140/82, 146/82, 221/82 und 226/82, Walzstahl-Vereinigung und
Thyssen/Kommission, Slg. 1984, 951, und vom 14. Juli 1988 in den Rechtssachen
33/86, 44/86, 110/86, 226/86 und 285/86, Stahlwerke Peine-Salzgitter und
Hoogovens/Kommission, Slg. 1988, 4309).
- Daraus folge, daß die einzige Möglichkeit für die Kommission, vom Beihilfenkodex
abzuweichen, darin bestehe, ihn zu ändern, damit die gleiche Regelung für alle
Unternehmen gelte.
- Überdies sei der Erlaß einer Einzelfallentscheidung, die nicht die im Beihilfenkodex
festgelegten Voraussetzungen erfülle, mit dem Grundsatz unvereinbar, daß
Ausnahmeregelungen eng auszulegen seien. Die Ausnahmen von dem in Artikel
4 Buchstabe c des Vertrages niedergelegten Verbot staatlicher Beihilfen auf der
Grundlage von Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages seien auf das unbedingt
Erforderliche zu begrenzen. Sie könnten lediglich übergangsweise erlaubt sein und
müßten mit bestimmten Auflagen verbunden werden. Diese Anforderungen erfülle
aber allein der Beihilfenkodex. Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages könne
deshalb nicht zum Erlaß einer Einzelfallentscheidung dienen, die das genannte
Beihilfeverbot aushöhle.
- Nach Ansicht der Kommission beachtet die Auffassung der Klägerinnen, wonach
der Beihilfenkodex verbindlichen und abschließenden Charakter habe, nicht den
Umstand, daß das Verbot staatlicher Beihilfen aus Artikel 4 Buchstabe c des
Vertrages und nicht aus dem Beihilfenkodex folge. Dieser erkenne bestimmten
staatlichen Beihilfen den Charakter von Gemeinschaftsbeihilfen zu und beschränke
sich im übrigen darauf, das Verbot des Artikels 4 Buchstabe c des Vertrages zu
wiederholen. Artikel 95 des Vertrages stehe daher für Ad-hoc-Entscheidungen zur
Genehmigung bestimmter Beihilfen in besonderen Situationen zur Verfügung.
- Zwar könnte aus dieser Sicht die Abfassung des Beihilfenkodex darauf hindeuten,
daß der Rat und sie selbst keine weitere Anwendung von Artikel 95 des Vertrages
im Auge gehabt hätten. Wegen der neuen ernsten Krise im Stahlsektor sei der
rationelle Einsatz dieser Vorschrift jedoch von entscheidender Bedeutung gewesen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes könne das Auftreten einer
Krisensituation als unvorhergesehener Fall im Sinne dieses Artikels betrachtet
werden (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache
214/83, Deutschland/Kommission, Slg. 1985, 3053).
- Der Rat trägt vor, daß im System des Vertrages Artikel 95 Absätze 1 und 2 der
Kommission einen breiten Beurteilungsspielraum einräume, um plötzlichen
Krisensituationen begegnen zu können. Im vorliegenden Fall seien die fraglichen
Beihilfen genehmigt worden, um die teilweise Schließung von Produktionsanlagen
im Rahmen eines Gesamtprogramms zur definitiven Reduzierung von Kapazitäten
im Rahmen der Ziele des Vertrages zu erleichtern. Daher habe es sich um einen
vom Vertrag nicht vorgesehenen Fall im Sinne von Artikel 95 Absatz 1 gehandelt.
- Entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen stellten der Beihilfenkodex und die
angefochtene Entscheidung keine Grundentscheidung und keine
Einzelfallentscheidung dar. Vielmehr handele es sich um Rechtsakte, die denselben
Rang einnähmen und auf der gleichen Rechtsgrundlage beruhten, was im übrigen
auch von den Klägerinnen eingeräumt werde. Außerdem fielen die mit der
streitigen Entscheidung genehmigten Beihilfen nicht in den Geltungsbereich des
Beihilfenkodex.
- Die Italienische Republik weist darauf hin, daß Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages
ein Mittel darstelle, auf das zurückzugreifen sei, um eines der Ziele der
Gemeinschaft in einem im Vertrag nicht vorgesehenen Fall wie dem vorliegenden
zu verwirklichen. Artikel 4 Buchstabe c beschränke sich nämlich darauf, staatliche
Beihilfen zu verbieten, die mit den Zielen der Gemeinschaft unvereinbar seien.
Weder der Beihilfenkodex noch die streitige Entscheidung fielen unter dieses
Verbot, da sie auf die Verwirklichung dieser Ziele gerichtet seien. Außerdem sei
die Auffassung der Klägerinnen zurückzuweisen, wonach der Beihilfenkodex eine
verbindliche Auslegung von Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages darstelle. Der Kodex
und die streitige Entscheidung seien auf dieselbe Norm des Vertrages gestützt und
hätten somit rechtlich den gleichen Rang. Die Befugnis der Kommission aus Artikel
95 Absatz 1 bestehe auf Dauer und erschöpfe sich nicht. Nach diesem Artikel solle
die Kommission nämlich jederzeit und unter allen Umständen in der Lage sein,
eine im Vertrag nicht vorgesehene Situation mit Zustimmung des Rates durch den
Erlaß einer zur Erreichung eines Zieles der Gemeinschaft erforderlichen
Maßnahme zu regeln.
- Nach Ansicht von ILVA bezweckt Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages, der
Kommission die Mittel zur Bewältigung außergewöhnlicher Situationen, die die
Verfasser des Vertrages nicht hätten vorhersehen können, an die Hand zu geben.
Diese Zielsetzung würde nicht beachtet, wenn der Erlaß einer allgemeinen
Entscheidung nach diesem Artikel zur Folge hätte, daß die Kommission daran
gehindert wäre, von den ihr darin eingeräumten Befugnissen später Gebrauch zu
machen. Die generelle oder individuelle Tragweite der von der Kommission nach
Artikel 95 des Vertrages erlassenen Maßnahme hänge davon ab, welchen
Umständen sie Rechnung tragen müsse. Im vorliegenden Fall habe die Kommission
im Beihilfenkodex einige Kategorien von Beihilfen geregelt und sich gleichzeitig die
Befugnis vorbehalten, sich von Fall zu Fall zu den in diesem Kodex nicht
vorgesehenen Beihilfearten zu äußern. Enthielte der Beihilfenkodex einen
Ausschluß nachfolgender Einzelentscheidungen über die Bewilligung von Beihilfen,
so stünde dies im Widerspruch zum Vertrag.
Würdigung durch das Gericht
- Die Klägerinnen tragen im wesentlichen vor, die Kommission habe bei der
Genehmigung der fraglichen Beihilfen in der streitigen Einzelfallentscheidung von
ihren Befugnissen aus Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages Gebrauch
gemacht, um die Voraussetzungen des Beihilfenkodex, der allgemeine Geltung
habe, zu umgehen. Ihre Auffassung beruht auf der Prämisse, daß dieser Kodex
dessen Gültigkeit sie nicht ausdrücklich in Frage stellen verbindlich und
abschließend die Kategorien staatlicher Beihilfen festlege, die genehmigt werden
könnten.
- Insoweit ist vorab auf den rechtlichen Kontext der angefochtenen Entscheidung
hinzuweisen. Nach Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages sind staatliche Beihilfen
innerhalb der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl grundsätzlich
untersagt, da sie die Verwirklichung der im Vertrag festgelegten wesentlichen Ziele
der Gemeinschaft, insbesondere die Einführung eines Systems des freien
Wettbewerbs, beeinträchtigen können. Nach dieser Vorschrift „[werden als]
unvereinbar mit dem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl ... innerhalb der
Gemeinschaft gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags aufgehoben und
untersagt: ... c) von den Staaten bewilligte Subventionen oder Beihilfen ..., in
welcher Form dies auch immer geschieht ...“
- Das Vorhandensein eines solchen Verbotes bedeutet jedoch nicht, daß jede
staatliche Beihilfe im EGKS-Bereich als mit den Zielen des Vertrages unvereinbar
anzusehen wäre. Artikel 4 Buchstabe c ausgelegt im Lichte sämtlicher Ziele des
Vertrages, wie sie in dessen Artikeln 2 bis 4 festgelegt sind soll nicht die
Gewährung staatlicher Beihilfen verhindern, die zur Erreichung der Ziele des
Vertrages beitragen können. Er behält den Gemeinschaftsorganen im Bereich des
Vertrages die Befugnis vor, die Vereinbarkeit mit dem Vertrag zu beurteilen und
gegebenenfalls die Gewährung solcher Beihilfen zu genehmigen. Diese Feststellung
wird durch das Urteil vom 23. Februar 1961 in der Rechtssache 30/59 (De
Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg/Hohe Behörde, Slg. 1961, 3, 47)
bestätigt, in dem der Gerichtshof entschieden hat, daß, ebenso wie bestimmte
nichtstaatliche finanzielle Zuwendungen an Montanunternehmen, die nach den
Artikeln 55 § 2 und 58 § 2 des Vertrages zulässig sind, nur durch die Kommission
oder mit deren ausdrücklicher Genehmigung gewährt werden können, auch Artikel
4 Buchstabe c dahin auszulegen ist, daß er den Gemeinschaftsorganen innerhalb
der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Beihilfen eine ausschließliche Zuständigkeit
einräumt.
- Nach der Systematik des Vertrages steht es somit nicht im Widerspruch zu Artikel
4 Buchstabe c, wenn die Kommission auf der Grundlage des Artikels 95 Absätze
1 und 2 von den Mitgliedstaaten geplante Beihilfen, die mit den Zielen des
Vertrages vereinbar sind, ausnahmsweise genehmigt, um unvorhergesehenen
Situationen zu begegnen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 12. Juli 1962 in der
Rechtssache 9/61, Niederlande/Hohe Behörde, Slg. 1962, 435).
- Die vorgenannten Bestimmungen des Artikels 95 ermächtigen die Kommission, in
allen im Vertrag nicht vorgesehenen Fällen, in denen eine Entscheidung oder
Empfehlung erforderlich erscheint, um eines der in den Artikeln 2, 3 und 4 näher
bezeichneten Ziele der Gemeinschaft auf dem gemeinsamen Markt für Kohle und
Stahl gemäß Artikel 5 zu erreichen, mit einstimmiger Zustimmung des Rates und
nach Anhörung des Beratenden Ausschusses der EGKS diese Entscheidung oder
Empfehlung zu erlassen. Die gleiche, in derselben Form erlassene Entscheidung
oder Empfehlung bestimmt gegebenenfalls die anzuwendenden Sanktionen. Da also
der EGKS-Vertrag anders als der EG-Vertrag der Kommission oder dem Rat keine
spezifische Befugnis zur Genehmigung staatlicher Beihilfen verleiht, die zur
Erreichung der Ziele des Vertrages beitragen können und daher mit ihm vereinbar
sind, ist die Kommission nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 ermächtigt, alle
erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Ziele des Vertrages zu erreichen,
und somit nach dem in dieser Vorschrift vorgesehenen Verfahren die Beihilfen zu
genehmigen, die ihr zur Erreichung dieser Ziele erforderlich erscheinen.
- Die Kommission ist demnach bei Fehlen besonderer Vertragsbestimmungen befugt,
jede allgemeine oder individuelle Entscheidung zu erlassen, die zur Erreichung der
Ziele des Vertrages erforderlich ist. Artikel 95 Absätze 1 und 2, der ihr diese
Befugnis verleiht, enthält keine näheren Angaben zur Tragweite der
Entscheidungen, zu deren Erlaß sie ermächtigt ist. Sie hat in jedem Einzelfall zu
prüfen, welche der beiden Arten von Entscheidungen allgemeine oder individuelle
am geeignetsten ist, das oder die verfolgten Ziele zu erreichen.
- Im Bereich der staatlichen Beihilfen hat die Kommission vom rechtlichen
Instrument des Artikels 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages in zweierlei Weise
Gebrauch gemacht. Sie hat zum einen allgemeine Entscheidungen die
Beihilfenkodizes erlassen, die für bestimmte Kategorien von Beihilfen eine
allgemeine Ausnahme vom Verbot staatlicher Beihilfen vorsehen. Zum anderen hat
sie Einzelfallentscheidungen erlassen, mit denen ausnahmsweise ganz bestimmte
Beihilfen genehmigt wurden.
- Im vorliegenden Fall besteht das Problem folglich darin, den Gegenstand und die
Tragweite des Beihilfenkodex und der streitigen Einzelfallentscheidung zubestimmen.
- Der zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Entscheidung anwendbare
Beihilfenkodex wurde durch die Entscheidung Nr. 3855/91 der Kommission vom 27.
November 1991 eingeführt. Es handelte sich um den fünften Beihilfenkodex, der
gemäß seinem Artikel 9 am 1. Januar 1992 in Kraft trat und bis zum 31. Dezember
1996 galt. Gestützt auf Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages, stand dieser
Kodex ausdrücklich auf einer Stufe mit den vorangegangenen Kodizes (vgl.
insbesondere Entscheidungen der Kommission Nr. 3484/85/EGKS vom 27.
November 1985 und Nr. 322/89/EGKS vom 1. Februar 1989 zur Einführung
gemeinschaftlicher Vorschriften über Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie,
ABl. 1985, L 340, S. 1, und ABl. 1989, L 38, S. 8), weshalb er im Zusammenhang
mit diesen Kodizes ausgelegt werden kann. Aus seiner Begründung (vgl. Abschnitt
I der Begründung der Entscheidung Nr. 3855/91/EGKS) geht hervor, daß „der Eisen- und Stahlindustrie ... vor allem nicht die Forschungs- und Entwicklungsbeihilfen
und diejenigen Beihilfen entzogen werden [sollten], mit deren Hilfe sie ihre
Anlagen an die neuen Umweltschutznormen anpassen kann“. Zur Verringerung der
Überkapazitäten bei der Produktion und zur Wiederherstellung des
Marktgleichgewichts waren außerdem unter bestimmten Voraussetzungen „soziale
Beihilfen [genehmigt], um die teilweise Schließung von Stahlwerksanlagen zu
fördern, und Beihilfen, um die endgültige Einstellung der EGKS-Tätigkeit der am
wenigsten konkurrenzfähigen Unternehmen zu finanzieren“. Ausdrücklich untersagt
waren schließlich Betriebs- oder Investitionsbeihilfen mit Ausnahme der „regionalen
Investitionsbeihilfen ... für bestimmte Mitgliedstaaten“. Solche regionalen Beihilfen
konnten Unternehmen erhalten, die im Hoheitsgebiet Griechenlands, Portugals
oder der ehemaligen DDR niedergelassen waren.
- Die streitige Entscheidung wurde von der Kommission auf der Grundlage von
Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages erlassen, um wie es in der Begründung
heißt die Umstrukturierung des sich in erheblichen Schwierigkeiten befindenden
öffentlichen Stahlunternehmens ILVA in einem der Mitgliedstaaten Italien zu
ermöglichen, in dem sich der Stahlsektor damals aufgrund der sich ständig
verschlechternden Lage der Stahlindustrie in der Gemeinschaft in seiner schwersten
Krise befand. Wesentliches Ziel der fraglichen Beihilfen war es, den Stahlkonzern
ILVA zu privatisieren, dem bis dahin hauptsächlich dank der unbeschränkten
Haftung des einzigen Aktionärs aufgrund von Artikel 2362 des Italienischen
Bürgerlichen Gesetzbuchs fortgesetzt Mittel zugeführt worden waren (Abschnitte
II und IV der Begründung). Die Kommission stellte klar, daß sich die sehr
schwierige Konjunktur, mit der die Stahlindustrie der Gemeinschaft konfrontiert
war, mit weitgehend unvorhersehbaren wirtschaftlichen Faktoren erklären lasse. Sie
glaubte daher, es mit einer Ausnahmesituation zu tun zu haben, die im Vertrag
nicht speziell vorgesehen sei (Abschnitt IV der Begründung).
- Ein Vergleich zwischen dem Fünften Beihilfenkodex und der streitigen
Entscheidung ergibt somit, daß diese beiden Handlungen auf dieselbe
Rechtsgrundlage, nämlich Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages, gestützt sind
und daß sie Ausnahmen von dem in Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages
aufgestellten Grundsatz des allgemeinen Verbotes der Beihilfen einführen. Ihr
Anwendungsbereich ist verschieden, da sich der Kodex allgemein auf bestimmte
Kategorien von Beihilfen bezieht, die als mit dem Vertrag vereinbar angesehen
werden, während die streitige Entscheidung aus außergewöhnlichen Gründen für
ein Mal Beihilfen genehmigt, die grundsätzlich nicht als mit dem Vertrag vereinbar
angesehen werden könnten.
- Unter diesem Gesichtspunkt kann der Auffassung der Klägerinnen, der Kodex habe
verbindlichen, abschließenden und endgültigen Charakter, nicht gefolgt werden. Der
Kodex stellt nämlich nur für die Beihilfen, die zu den darin aufgezählten
Kategorien mit dem Vertrag zu vereinbarender Beihilfen gehören, einen
verbindlichen rechtlichen Rahmen dar. In diesem Bereich führt er eine umfassende
Regelung ein, die eine einheitliche Behandlung aller in die festgelegten Kategorien
fallenden Beihilfen im Rahmen eines einzigen Verfahrens gewährleisten soll. Die
Kommission ist durch diese Regelung nur gebunden, wenn sie die Vereinbarkeit
von Beihilfen, für die der Kodex gilt, mit dem Vertrag beurteilt. Sie darf daher
solche Beihilfen nicht unter Verstoß gegen die allgemeinen Vorschriften des Kodex
durch eine Einzelfallentscheidung genehmigen (vgl. „Kugellager“-Urteile des
Gerichtshofes vom 29. März 1979, NTN Toyo Bearing u. a./Rat und ISO/Rat,
a. a. O., in der Rechtssache 119/77, Nippon Seiko u. a./Rat und Kommission, Slg.
1979, 1303, in der Rechtssache 120/77, Koyo Seiko u. a./Rat und Kommission, Slg.
1979, 1337, und in der Rechtssache 121/77, Nachi Fujikoshi u. a./Rat, Slg. 1979,
1363, sowie vorerwähnte Urteile des Gerichtshofes CIRFS u. a./Kommission,
Walzstahl-Vereinigung und Thyssen/Kommission sowie Stahlwerke Peine-Salzgitter
und Hoogovens/Kommission).
- Dagegen kann bei Beihilfen, die nicht zu den speziell von den Vorschriften des
Kodex erfaßten Kategorien gehören, eine individuelle Ausnahme von diesem
Verbot gewährt werden, wenn die Kommission im Rahmen der Ausübung ihres
Ermessens nach Artikel 95 des Vertrages der Ansicht ist, daß solche Beihilfen zur
Erreichung der Ziele des Vertrages erforderlich sind. Der Beihilfenkodex bezweckt
nämlich nur, zugunsten bestimmter, abschließend aufgezählter Kategorien von
Beihilfen allgemein unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen vom Verbot
der Beihilfen zu genehmigen. Die Kommission ist nach Artikel 95 Absätze 1 und
2 des Vertrages, der nur auf die im Vertrag nicht vorgesehenen Fälle abstellt (vgl.
Urteil Niederlande/Hohe Behörde, a. a. O.), nicht befugt, bestimmte Kategorien
von Beihilfen zu verbieten, da ein solches Verbot bereits im Vertrag selbst, nämlich
in Artikel 4 Buchstabe c, vorgesehen ist. Die Beihilfen, die nicht zu den Kategorien
gehören, die der Kodex von diesem Verbot ausnimmt, fallen somit weiterhin
ausschließlich unter Artikel 4 Buchstabe c. Erweisen sich also derartige Beihilfen
zur Erreichung der Ziele des Vertrages gleichwohl als erforderlich, so kann die
Kommission von Artikel 95 des Vertrages Gebrauch machen, um dieser
unvorhergesehenen Situation gegebenenfalls durch eine Einzelfallentscheidung zu
begegnen (siehe oben, Randnrn. 32 bis 36).
- Vorliegend fällt die streitige Entscheidung mit der staatliche Beihilfen genehmigt
werden, um die Umstrukturierung eines großen staatseigenen Stahlkonzerns zu
ermöglichen nicht in den Anwendungsbereich des Beihilfenkodex. Dieser führt
unter bestimmten Voraussetzungen allgemein geltende Ausnahmen vom Verbot
staatlicher Beihilfen ein, jedoch ausschließlich in bezug auf Forschungs- und
Entwicklungsbeihilfen, Umweltschutzbeihilfen, Schließungsbeihilfen und regionale
Beihilfen für Stahlunternehmen, die im Hoheitsgebiet oder in einem Teil des
Hoheitsgebiets bestimmter Mitgliedstaaten niedergelassen sind. Die fraglichen Betriebs- und Umstrukturierungsbeihilfen fallen offensichtlich in keine der vorgenannten
Beihilfenkategorien. Folglich unterliegen die mit der angefochtenen Entscheidung
genehmigten Ausnahmen nicht den Bedingungen des Beihilfenkodex und haben
daher gegenüber dem Kodex ergänzenden Charakter im Hinblick auf die
Verfolgung der im Vertrag festgelegten Ziele (siehe unten, Randnrn. 77 bis 83).
- Unter diesen Umständen kann die streitige Entscheidung nicht als eine
ungerechtfertigte Ausnahme vom Fünften Beihilfenkodex angesehen werden,
sondern stellt eine Handlung dar, die ebenso wie dieser ihre Quelle in Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages hat.
- Somit entbehrt die Ansicht der Klägerinnen jeder Grundlage, daß die angefochtene
Entscheidung erlassen worden sei, um das Unternehmen, das die fraglichen
Beihilfen erhalten hat, durch eine verschleierte Änderung des Beihilfenkodex zu
begünstigen. Die Kommission konnte nämlich keinesfalls durch den Erlaß des
Beihilfenkodex auf ihre Befugnis aus Artikel 95 des Vertrages verzichten, zur
Bewältigung unvorhergesehener Situationen Einzelfallentscheidungen zu erlassen.
Da im vorliegenden Fall die wirtschaftliche Situation, die die Kommission zum
Erlaß der streitigen Entscheidung veranlaßt hat, nicht in den Anwendungsbereich
des Kodex fiel, konnte sich die Kommission auf Artikel 95 des Vertrages stützen,
um die fraglichen Beihilfen zu genehmigen, sofern sie die
Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschrift beachtete.
- Da die Klägerinnen nichts vorgetragen haben, was annehmen ließe, daß die
Kommission beim Erlaß der streitigen Entscheidung den Beihilfenkodex umgehen
wollte, ist die Rüge des angeblichen Ermessensmißbrauchs zurückzuweisen.
Zur behaupteten Verletzung des berechtigten Vertrauens
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen sind der Ansicht, die streitige Entscheidung, mit der auf der
Grundlage von Artikel 95 des Vertrages die Auszahlung von Beihilfen an ILVA
genehmigt worden sei, die mit dem Beihilfenkodex nicht vereinbar seien, verstoße
gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes.
- Zum einen habe die Entscheidung das Vertrauen verletzt, das die Veröffentlichung
der einzelnen Beihilfenkodizes sowie die Erklärungen des Rates und der
Kommission über deren strikte Einhaltung bei den betroffenen Unternehmen
berechtigterweise erzeugt hätten. Die verbindlichen Regelungen des Kodex gälten
nämlich für alle staatlichen Beihilfen im Stahlsektor. Sie stellten damit den
Unternehmen einen rechtlichen Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen diese mit
Fug und Recht davon ausgehen könnten, daß sie gleichbehandelt würden und daß
bei unvorhergesehenen Ereignissen die Voraussetzungen für die Gewährung von
Beihilfen gegebenenfalls im Wege einer allgemeinen Entscheidung geändert
würden, um der Situation aller betroffenen Wirtschaftsteilnehmer ohne besondere
Bevorzugung eines oder mehrerer Unternehmen Rechnung zu tragen.
- Zum anderen habe die Kommission bei den Konkurrenten von ILVA dadurch ein
berechtigtes Vertrauen geweckt, daß sie bei der Genehmigung der Gewährung von
Beihilfen an dieses Unternehmen in der Vergangenheit erklärt habe, neue Beihilfen
könnten nicht mehr in Betracht kommen, zumindest nicht, soweit sie mit dem für
alle Unternehmen geltenden Beihilfenkodex unvereinbar seien. Die Klägerinnen
berufen sich insoweit auf die Entscheidung 89/218/EGKS vom 23. Dezember 1988
betreffend Beihilfen der italienischen Regierung an staatseigene Stahlunternehmen
(ABl. 1989, L 89, S. 76) in der Fassung der Entscheidungen 90/89/EGKS vom 13.
Dezember 1989 (ABl. 1990, L 61, S. 19) und 92/17/EGKS vom 27. November 1991
(ABl. 1992, L 9, S. 16) betreffend Beihilfen der italienischen Regierung an
staatseigene Stahlunternehmen, die in der angefochtenen Entscheidung erwähnt
sind. Außerdem habe die Kommission durch die Einleitung des Verfahrens nach
Artikel 6 Absatz 4 des Beihilfenkodex in bezug auf die ILVA 1992 (ABl. C 257,
S. 4) und 1993 (ABl. C 213, S. 6) gewährten Beihilfen sowie durch die gegenüber
der italienischen Regierung ergriffenen vorläufigen Maßnahmen nach Artikel 88
des Vertrages (XXIII. Bericht über die Wettbewerbspolitik 1993, Nr. 491) bestätigt,
daß sie für die strikte Einhaltung des Beihilfenkodex sorgen wolle.
- Die Kommission weist diese Argumentation zurück. Artikel 95 Absätze 1 und 2 des
Vertrages sehe ein Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane in unvorhergesehenen
Fällen vor. Da aber diese Fälle eben nicht vorhergesehen werden könnten, könne
es keinen Vertrauensschutz in bezug auf derartige Entscheidungen geben.
Vorliegend reflektiere der Fünfte Beihilfenkodex zwar die Ansicht der Kommission
und des Rates zum Zeitpunkt seiner Annahme, doch schließe er nicht aus, daß
wirtschaftliche Gegebenheiten eine andere Sichtweise gebieten könnten (vgl. Urteil
des Gerichtshofes vom 19. September 1985 in den Rechtssachen 63/84 und 147/84,
Finsider/Kommission, Slg. 1985, 2857).
- Außerdem habe unabhängig davon, ob Rechtsakte oder Äußerungen der
Gemeinschaftsorgane vorlägen, die geeignet wären, ein berechtigtes Vertrauen zu
schaffen, nach den Umständen des vorliegenden Falles bei den Klägerinnen kein
solches Vertrauen geschaffen werden können. Die Entscheidung 89/218 sei nämlich
in einem ähnlichen Fall auf der Grundlage von Artikel 95 Absätze 1 und 2 des
Vertrages ohne Änderung des damals geltenden Dritten Beihilfenkodex erlassen
worden. Auch die Entscheidung 92/411/EGKS der Kommission vom 31. Juli 1992,
die erlassen worden sei, als der vorliegend anwendbare Fünfte Beihilfenkodex
bereits in Kraft gewesen sei, habe nach diesem Artikel die Gewährung von
Beihilfen, die nicht unter den Kodex fielen, an in Dänemark und den Niederlanden
ansässige Stahlunternehmen genehmigt (ABl. L 223, S. 28). Die Klägerinnen hätten
somit wissen können, daß ein Beihilfenkodex durch Ad-hoc-Entscheidungen ergänzt
werden könne.
- Nach Ansicht des Rates ist im Bereich des gemeinschaftlichen Wirtschaftsrechts der
Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt, „wenn ein Gemeinschaftsorgan ohne
zwingendes entgegenstehendes Interesse des Gemeinwohls einen besonderen
schutzwürdigen Vorteil für die betroffenen Unternehmen mit sofortiger Wirkung
und ohne vorherige Ankündigung abschafft, ohne angemessene
Übergangsmaßnahmen zu treffen“ (vgl. Urteil des Gerichts vom 21. Februar 1995
in der Rechtssache T-472/93, Campo Ebro u. a./Rat, Slg. 1995, II-421, Randnr. 52).
Zu diesem Grundsatz stehe es nicht schlechthin in Widerspruch, wenn eine neue
Regelung auf die künftigen Folgen von Sachverhalten angewandt werde, die unter
der Geltung der früheren Regelung entstanden seien, insbesondere wenn eine
Anpassung erforderlich sei, um den Veränderungen der Wirtschaftslage Rechnung
zu tragen. Im vorliegenden Fall habe die angefochtene Entscheidung auch nicht die
Abschaffung eines schutzwürdigen Vorteils der Klägerinnen bewirkt. Nach dem
System des Vertrages könne die Kommission unter den Voraussetzungen des
Artikels 95 Absatz 1 des Vertrages Entscheidungen zur Regelung
unvorhergesehener Fälle erlassen. Durch den Beihilfenkodex sei ein rechtlicher
Rahmen geschaffen worden, um auf konjunkturelle Schwankungen im Bereich der
gemeinschaftlichen Stahlindustrie flexibel reagieren zu können. Ebenso sei die
angefochtene Entscheidung erlassen worden, um einer „Veränderung der
Wirtschaftslage“ Rechnung zu tragen. Es liege somit in der Natur und
Zweckbestimmung der auf der Grundlage von Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages
erlassenen Maßnahmen, daß sie keine für alle Wirtschaftsteilnehmer verbindliche
und unveränderliche Rechtslage schaffen könnten. Der Beihilfenkodex habe daher
bei den Klägerinnen keinen Vertrauensschutz dahin gehend schaffen können, daß
die Kommission keine weiteren Abweichungen vom Beihilfeverbot des Artikels 4
Buchstabe c zulassen würde.
- Die Italienische Republik macht geltend, die Klägerinnen hätten jedenfalls nicht
bewiesen, daß die angeblich theoretisch bestehende Eignung des Beihilfenkodex,eine berechtigte Erwartung zu erzeugen, sich tatsächlich konkretisiert habe. Sie
beschränkten sich auf das Vorbringen, daß die Mitgliedsunternehmen der
klagenden Vereinigung Investitions- und Umstrukturierungsentscheidungen unter
Schließung von Betrieben getroffen hätten, ohne zu beweisen, daß diese
Entscheidungen durch die Überzeugung maßgebend beeinflußt worden seien, daß
die Gemeinschaft keine Beihilfen für Umstrukturierungsmaßnahmen genehmigen
werde, und daß sie insbesondere anders ausgefallen wären, wenn sie in Kenntnis
dieser Möglichkeit erlassen worden wären. Außerdem hätten die Klägerinnen nicht
damit rechnen können, daß der Erlaß des Beihilfenkodex alle anderen Maßnahmen
für nicht vorgesehene, aber mögliche Fälle ausschließe. Eine solche Auslegung sei
im Gemeinschaftsrecht niemals bestätigt worden. Im Gegenteil, die bisherige
Erfahrung habe gezeigt, daß die Geltung des Beihilfenkodex kein Hindernis für
individuelle Genehmigungen sei, die auch tatsächlich gemäß Artikel 95 Absatz 1
des Vertrages erteilt worden seien.
- ILVA weist darauf hin, daß die Klägerinnen nicht glaubhaft behaupten könnten,
sie hätten von der Absicht der Kommission, neue Subventionen gemäß Artikel 95
des Vertrages zu bewilligen, geschweige denn von der bloßen Möglichkeit, daß dies
geschehe, keine Ahnung gehabt. Der Umstand, daß hiervon in der Erklärung des
Rates vom 25. Februar 1993 die Rede sei, und die von der Kommission genannten
Präzedenzfälle zeigten, daß die Genehmigung der fraglichen Beihilfen durch die
streitige Entscheidung nicht als ein einzelner oder unvorhergesehener Fall
angesehen werden könne, sondern Teil einer klaren politischen Linie gewesen sei,
die einem großen Kreis bekannt gewesen sei. So seien alle großen europäischen
Unternehmen insbesondere dank der Eurofer-Sitzungen, an denen die Klägerinnen
regelmäßig teilgenommen hätten, über die Absicht der Kommission, Beihilfen nach
Artikel 95 des Vertrages zu bewilligen, informiert gewesen.
Würdigung durch das Gericht
- Die Klägerinnen sind der Ansicht, die streitige Entscheidung verletze den
Grundsatz des Vertrauensschutzes, da sie eine Störung des gemeinsamen
Stahlmarktes bewirke, indem sie trotz des ausdrücklichen Verbotes staatlicher
Beihilfen und des Vorhandenseins eines sehr strengen Beihilfenkodex verwirrende
Elemente einführe, die die Produktionsstrategien der Unternehmen, die keine
Beihilfen erhielten, unwirksam machen könnten.
- Dieses Vorbringen beruht wie die Kommission und die sie unterstützenden
Streithelfer zutreffend bemerkt haben auf der irrigen Ansicht, das Vorhandensein
des Beihilfenkodex habe den betreffenden Unternehmen die Gewißheit verschafft,
daß keine staatliche Beihilfe genehmigt werde, wenn sie nicht den im Kodex
festgelegten Kriterien entspreche. Wie das Gericht bereits festgestellt hat (siehe
oben, Randnrn. 38 bis 44), hat der Beihilfenkodex aber nicht den gleichen Zweck
wie die streitige Entscheidung, die erlassen wurde, um einer Ausnahmesituation zu
begegnen. Dieser Kodex konnte daher keinesfalls berechtigte Erwartungen in bezug
auf die Frage entstehen lassen, ob in einer unvorhergesehenen Situation, wie sie
zum Erlaß der streitigen Entscheidung geführt hat (siehe oben, Randnr. 40), die
Gewährung individueller Ausnahmen vom Verbot staatlicher Beihilfen auf der
Grundlage von Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages möglich sein würde.
- Außerdem ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, daß,
„wenn der Grundsatz des Vertrauensschutzes auch zu den Grundprinzipien der
Gemeinschaft gehört, ... die Marktbürger doch ... nicht auf die Beibehaltung einer
bestehenden Situation vertrauen [dürfen], die die Gemeinschaftsorgane im Rahmen
ihres Ermessens ändern können“ (vgl. Urteil vom 14. Februar 1990 in der
Rechtssache C-350/88, Delacre u. a./Kommission, Slg. 1990, I-395, Randnr. 33).
- Für das einwandfreie Funktionieren des gemeinsamen Stahlmarktes ist nämlich
zweifellos eine ständige Anpassung nach Maßgabe der Veränderungen der
Wirtschaftslage erforderlich, und die Wirtschaftsteilnehmer können sich nicht auf
ein wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung der zu einem bestimmten Zeitpunkt
bestehenden Rechtslage berufen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 27. September
1979 in der Rechtssache 230/78, Eridania, Slg. 1979, 2749, Randnr. 22, und Urteil
des Gerichts, Campo Ebro u. a./Rat, a. a. O., Randnr. 52). Insbesondere ist für
einen „umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmer“ der Erlaß spezifischer
Maßnahmen, die offensichtlichen Krisensituationen entgegenwirken sollen, in
bestimmten Fällen vorhersehbar und verletzt nicht den Grundsatz des
Vertrauensschutzes (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 1. Februar 1978 in der
Rechtssache 78/77, Lührs, Slg. 1978, 169, Randnr. 6).
- Im vorliegenden Fall ist klar, daß die Klägerinnen in Anbetracht ihrer bedeutenden
wirtschaftlichen Position und ihrer Mitwirkung im Beratenden Ausschuß der EGKS
jedenfalls hätten bemerken müssen, daß sich die zwingende Notwendigkeit,
wirksame Maßnahmen zum Schutz der Interessen der europäischen Stahlindustrie
zu ergreifen, ergeben und den Erlaß von Ad-hoc-Entscheidungen nach Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages rechtfertigen würde, wie dies bereits wiederholt bei
Geltung eines Beihilfenkodex geschehen war. Die Kommission zitiert dazu mit
Recht die vorerwähnten Entscheidungen 89/218 und 92/411, mit denen außerhalb
des damals geltenden Beihilfenkodex bestimmte staatliche Beihilfen genehmigt
wurden.
- Daraus folgt, daß die streitige Entscheidung nicht gegen den Grundsatz des
Vertrauensschutzes verstößt.
Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Artikel 95 des Vertrages
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen tragen vor, die streitige Entscheidung beachte nicht die
Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages, da die
genehmigten Beihilfen keinen Zweck verfolgten, der durch die in den Artikeln 2
bis 4 des Vertrages genannten Ziele gedeckt sei, und da sie zur Erreichung dieser
Ziele nicht erforderlich seien.
- Das mit der Entscheidung verfolgte Ziel die „Wiederherstellung tragfähiger und
wirtschaftlich gesunder Strukturen der italienischen Stahlindustrie“ (Abschnitt IV
der Begründung der Entscheidung) gehöre nicht zu den in den Artikeln 2, 3 und
4 des Vertrages aufgeführten Zielen, die den gemeinsamen Markt und die
Stahlindustrie der Gemeinschaft insgesamt und nicht nur die Industrie eines
Mitgliedstaats oder gar das Überleben eines einzigen Unternehmens beträfen (vgl.
Urteile des Gerichtshofes vom 17. September 1980 in der Rechtssache 730/79,
Philip Morris/Kommission, Slg. 1980, 2671, und vom 29. September 1987 in den
Rechtssachen 351/85 und 360/85, Fabrique de fer de Charleroi und Dillinger
Hüttenwerke/Kommission, Slg. 1987, 3639). Es könne nämlich nicht den
Vertragszielen entsprechen, mit Hilfe hoher Beihilfen einzelne Unternehmen wie
ILVA zu erhalten, wenn gleichzeitig die nichtsubventionierten Unternehmen der
anderen Mitgliedstaaten aus eigener Kraft Kapazitäten abbauen sollten. Es wäre
im Gegenteil ein Beitrag zur Erreichung der Ziele des Artikels 2 Absatz 2 des
Vertrages, wonach die Gemeinschaft vermeiden müsse, „daß im Wirtschaftsleben
der Mitgliedstaaten tiefgreifende und anhaltende Störungen hervorgerufen werden“,
wenn ineffiziente Stahlunternehmen wenigstens mit ihren nicht genutzten
Kapazitäten und ihren nicht wettbewerbsfähigen Anlagen vom Markt verschwinden
würden. Die Kommission hätte der erwähnten Gefahr nur auf der Grundlage von
Artikel 37 des Vertrages begegnen können, wonach dann, wenn „... ein
Mitgliedstaat der Ansicht [ist], daß eine Handlung oder Unterlassung der
Kommission in einem bestimmten Fall geeignet ist, ... [derartige] Störungen in
seiner Wirtschaft hervorzurufen, ... er die Kommission damit befassen [kann]“, aber
nicht auf der Grundlage von Artikel 95 Absätze 1 und 2 (vgl. Urteil De
Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg/Hohe Behörde, a. a. O.).
- Die Genehmigung der Gewährung von Beihilfen an ILVA lasse sich auch nicht mit
dem Erfordernis rechtfertigen, gemäß Artikel 2 des Vertrages dafür zu sorgen,
„daß keine Unterbrechung in der Beschäftigung eintritt“. Durch die fraglichen
Beihilfen würden die Probleme des italienischen Marktes lediglich auf den
Arbeitsmarkt in anderen Mitgliedstaaten verlagert, in denen zahlreiche
Arbeitsplätze im Stahlsektor abgebaut worden seien und weiterhin abgebaut
würden. Die Klägerinnen wenden sich gegen die Auffassung der Kommission, daß
die angefochtene Entscheidung im Rahmen eines „Gesamtplans“ zur Reduzierung
von Kapazitäten und zur Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der
Stahlunternehmen ergangen sei. Jedenfalls müsse die Kommission, wenn sie einen
solchen Gesamtplan durchführe, auch sicherstellen, daß keine Diskriminierung
zwischen den Stahlunternehmen sowie zwischen dem öffentlichen und dem privaten
Sektor erfolge.
- Im übrigen seien die ILVA gewährten Beihilfen jedenfalls nicht „unerläßlich“ für
die Erreichung der mit der streitigen Entscheidung angeblich verfolgten Ziele des
Vertrages. Dem Kriterium der Unerläßlichkeit oder Erforderlichkeit der Beihilfe
sei nur genügt, wenn es sich bei den genehmigten Beihilfen um den
mildestmöglichen Eingriff in den Wettbewerb auf dem gemeinsamen Stahlmarkt
handele, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Die Kommission habe aber bereits
die Gewährung von Beihilfen an ILVA in Höhe von 10,9 Milliarden ECU für die
Zeit von 1980 bis 1985 und von 3,25 Milliarden ECU in den Jahren 1988 und 1989
genehmigt. Diese Beihilfen hätten die Lebensfähigkeit des begünstigten
Unternehmens nicht wiederherstellen können. Diese Vorgänge zeigten, daß die
fraglichen Beihilfen, anstatt zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und
zur Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der italienischen Stahlindustrie zu
führen, von ILVA dazu verwendet werden könnten, den Verkauf ihrer Erzeugnisse
zu einem niedrigen Preis zu finanzieren, um ihren Marktanteil zu erweitern, was
schwerwiegende Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der nicht subventionierten
Unternehmen hätte.
- Die Kommission, unterstützt durch die Italienische Republik, die sich das gesamte
Vorbringen der Kommission zu eigen macht, ist der Ansicht, die streitige
Entscheidung sei mit Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages vereinbar.
- Diese Entscheidung ziele auf die Verwirklichung einzelner in den Artikeln 2 und
3 des Vertrages genannter Ziele ab, die der Gemeinschaft insbesondere
vorschrieben, Unterbrechungen in der Beschäftigung sowie tiefgreifende und
anhaltende Störungen im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten zu vermeiden. Die
Entscheidung sei Teil eines Gesamtplans zur Reduzierung der Kapazitäten und zur
Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der europäischen Stahlunternehmen. Es
gehe also nicht um das Überleben eines einzelnen Unternehmens in einem
Mitgliedstaat, sondern um die gesamte gemeinschaftliche Stahlindustrie.
- Aus dieser Sicht habe sich die Kommission bemüht, im Rahmen eines sehr weiten
politischen Kompromisses widerstreitende Ziele des Vertrages soweit wie möglich
miteinander in Einklang zu bringen. Die streitige Entscheidung bemühe sich
insbesondere darum, die Sanierung des ILVA-Konzerns und den Abbau von
Arbeitsplätzen in einem „vertretbaren“ Maß miteinander in Einklang zu bringen.
So seien die Auswirkungen der Stahlkrise auf die Beschäftigungslage in Italien
dadurch gemildert worden, daß nicht mit einem Schlag mehr als 38 000
Arbeitsplätze weggefallen seien.
- Zur Frage der Unerläßlichkeit verweist die Kommission auf die besonderen
Umstände des vorliegenden Falles, die sich insbesondere aus der Krisensituation,
der Privatisierung von ILVA und der Letztmaligkeit der Anträge nach Artikel 95
des Vertrages ergäben.
- Nach Ansicht des Rates sind im vorliegenden Fall sämtliche Voraussetzungen für
die Anwendung von Artikel 95 des Vertrages erfüllt. Die angefochtene
Entscheidung stelle nämlich einen integralen Bestandteil des Restrukturierungsplans
dar; dieser gesamte Plan habe den Zielsetzungen des Vertrages dienen sollen,
insbesondere dem allgemeinen Ziel, „zu vermeiden, daß im Wirtschaftsleben der
Mitgliedstaaten tiefgreifende und anhaltende Störungen hervorgerufen werden“
(Artikel 2 Absatz 2 des Vertrages). Nach Artikel 33 Absatz 1 des Vertrages
erstrecke sich die Nachprüfung durch das Gericht außer im Fall eines
Ermessensmißbrauchs oder wenn die Kommission „die Bestimmungen des
Vertrages oder irgendeiner bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm
offensichtlich verkannt“ habe, nicht auf die Beurteilung der wirtschaftlichen
Tatsachen oder Umstände, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lägen.
Im vorliegenden Fall hätten die Klägerinnen aber keineswegs eine offensichtliche
Fehleinschätzung durch die Kommission in der streitigen Entscheidung
nachgewiesen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 5. Oktober 1994 in der
Rechtssache C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Randnrn. 90 und 95).
- Nach Ansicht von ILVA spricht nichts in Artikel 2 Absatz 2 des Vertrages für die
Auslegung der Klägerinnen, wonach diese Bestimmung zwischen einem vorrangigen
Ziel, d. h. einer möglichst rationellen Verteilung der Produktion, und
untergeordneten Zielen, wie dem Schutz von Arbeitsplätzen und dem Erfordernis
der Vermeidung tiefgreifender und anhaltender Störungen im Wirtschaftsleben der
Mitgliedstaaten, unterscheide. Der Kommission könne nicht vorgeworfen werden,
nur die Vertragsziele verfolgt zu haben, die sie angesichts der besonderen
Umstände des vorliegenden Falles für vorrangig gehalten habe, es sei denn, es
werde nachgewiesen, daß sie sich auf offensichtlich falsche Bewertungen gestützt
habe.
Würdigung durch das Gericht
- Wie bereits entschieden worden ist (siehe oben, Randnrn. 31 bis 46), ist die
Kommission nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages befugt, immer dann
staatliche Beihilfen innerhalb der Gemeinschaft zu genehmigen, wenn die
Wirtschaftslage im Stahlsektor den Erlaß derartiger Maßnahmen zur Erreichung
eines der Ziele der Gemeinschaft erforderlich macht.
- Diese Voraussetzung ist vor allem dann erfüllt, wenn der betreffende Sektor mit
außergewöhnlichen Krisensituationen konfrontiert ist. Unter diesem Gesichtspunkt
hat der Gerichtshof im Urteil vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache 214/83
(Deutschland/Kommission, Slg. 1985, 3053, Randnr. 30) auf „den engen
Zusammenhang hingewiesen ..., der im Rahmen der Anwendung des
EGKS-Vertrags in Krisenzeiten zwischen der Gewährung von Beihilfen für die
Stahlindustrie und den dieser Industrie auferlegten Umstrukturierungsbemühungen
besteht“. Die Kommission beurteilt im Rahmen dieser Anwendung nach ihrem
Ermessen, ob die Beihilfen, die die Umstrukturierungsmaßnahmen begleiten sollen,mit den Grundprinzipien des Vertrages vereinbar sind.
- Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die europäische Stahlindustrie zu Beginn der
neunziger Jahre unvermittelt in eine schwere Krise geriet, wozu mehrere Faktoren
beitrugen, wie die internationale Wirtschaftsrezession, die Schließung traditioneller
Exportwege, der steile Anstieg der Konkurrenz durch Stahlunternehmen der
Entwicklungsländer und die rasche Zunahme der Gemeinschaftseinfuhren von
Stahlerzeugnissen aus Mitgliedsländern der Organisation der Erdöl exportierenden
Länder (OPEC). Vor diesem Krisenhintergrund ist zu beurteilen, ob die fraglichen
Beihilfen, wie Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages es verlangt, erforderlich
waren, um bestimmte grundlegende Ziele des Vertrages zu erreichen.
- Die streitige Entscheidung sagt in Abschnitt IV ihrer Begründung eindeutig, daß
sie auf die Sanierung des Stahlsektors in dem betreffenden Mitgliedstaat abzielt.
Es heißt darin, daß „[die] Wiederherstellung tragfähiger und wirtschaftlich gesunder
Strukturen der italienischen Stahlindustrie ... ein Beitrag zur Verwirklichung der
Ziele des EGKS-Vertrages [ist]“.
- Somit ist erstens zu prüfen, ob diese Zielsetzung an den Zielen des Vertrages
ausgerichtet ist, und zweitens, ob die Genehmigung der fraglichen Beihilfen zur
Erreichung dieser Ziele erforderlich war.
- Was erstens die Frage angeht, ob die Sanierung des begünstigten Unternehmens
auf die Erreichung der Ziele des Vertrages abzielt, so ergibt sich aus der
Begründung der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich, daß diese Zielsetzung
komplex war und mehrere Aspekte aufwies. Die fraglichen Beihilfen sollten die
Privatisierung des begünstigten öffentlichen Unternehmens, die Stillegung
bestimmter Anlagen, den Abbau der Überkapazitäten und die Aufgabe von
Arbeitsplätzen in einem annehmbaren Maß erleichtern (vgl. Abschnitt II der
Begründung der streitigen Entscheidung). Wenn all dies verwirklicht wäre, sollte
es dem betreffenden Unternehmen eine gesunde und rentable Struktur
ermöglichen.
- Die streitige Entscheidung verfolgt somit eine breite Vielfalt von Zielen, bei denen
zu prüfen ist, ob sie im Kontext der Krise, von der die Stahlindustrie betroffen war
(siehe oben, Randnrn. 72 bis 74), an den in den Artikeln 2 und 3 des Vertrages
bezeichneten Zielen ausgerichtet sind, auf die in der Begründung dieser
Entscheidung ausdrücklich Bezug genommen wird.
- Vorab ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung die Rolle der
Kommission in Anbetracht der Verschiedenartigkeit der im Vertrag festgelegten
Ziele darin besteht, diese verschiedenen Ziele ständig miteinander in Einklang zu
bringen, wobei sie von ihrem Ermessen Gebrauch macht, um zu einer Wahrung des
gemeinsamen Interesses zu gelangen (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom 13. Juni
1958 in der Rechtssache 9/56, Meroni/Hohe Behörde, Slg. 1958, 11, 43, vom 21.
Juni 1958 in der Rechtssache 8/57, Groupement des hauts fourneaux et aciéries
belges/Hohe Behörde, Slg. 1958, 233, 252, sowie Fabrique de fer de Charleroi und
Dillinger Hüttenwerke/Kommission, a. a. O., Randnr. 15). Insbesondere im Urteil
vom 18. März 1980 in den Rechtssachen 154/78, 205/78, 206/78, 226/78, 227/78,
228/78, 263/78, 264/78, 31/79, 39/79, 83/79 und 85/79 (Valsabbia u. a./Kommission,
Slg. 1980, 907, Randnr. 55) hat der Gerichtshof ausgeführt: „Wenn sich ein
Kompromiß zwischen den verschiedenen Zielen schon bei einer gewöhnlichen
Marktlage als notwendig erweist, so erst recht in einer Krisensituation, die zu
außerordentlichen Maßnahmen berechtigt, durch die von den normalen
Funktionsgesetzen des gemeinsamen Stahlmarktes abgewichen wird und die es
offensichtlich mit sich bringen, daß bestimmte Ziele des Artikels 3, und sei es nur
dasjenige des Buchstabens c, wonach auf die Bildung niedrigster Preise zu achten
ist, außer acht gelassen werden.“
- Im vorliegenden Fall stellt das Gericht fest, daß die streitige Entscheidung
verschiedene Ziele des Vertrages miteinander in Einklang bringt, um wichtige
Interessen zu wahren.
- Die in der Entscheidung genannten Maßnahmen der Rationalisierung der
europäischen Stahlindustrie durch Sanierung bestimmter Konzerne, darunter ILVA,
der Stillegung der veralteten oder wenig wettbewerbsfähigen Anlagen, der
Reduzierung der Überkapazitäten, der Privatisierung des ILVA-Konzerns, um
dessen Lebensfähigkeit zu sichern, und des Abbaus von Arbeitsplätzen in einem,
wie es die Kommission ausdrückt, „vertretbaren“ Maß tragen nämlich zur
Erreichung der Ziele des Vertrages bei, berücksichtigt man die Sensibilität des
Stahlsektors und den Umstand, daß bei Fortbestand, wenn nicht Verschärfung der
Krise die Gefahr bestanden hätte, daß im Wirtschaftsleben des betreffenden
Mitgliedstaats außergewöhnlich schwere und anhaltende Störungen hervorgerufen
worden wären. Es ist unstreitig, daß diesem Sektor in mehreren Mitgliedstaaten,
insbesondere auch in Italien, wegen des Standorts der Stahlanlagen in Regionen,
die durch Unterbeschäftigung gekennzeichnet sind, und des Umfangs der in Frage
stehenden wirtschaftlichen Interessen wesentliche Bedeutung zukommt. Unter
diesen Umständen hätten Entscheidungen über Stillegungen und den Abbau von
Arbeitsplätzen sowie die Übernahme der Kontrolle über die betreffenden
Unternehmen durch ausschließlich nach marktwirtschaftlichen Gesetzen handelnde
private Gesellschaften ohne unterstützende behördliche Maßnahmen sehr ernste
Schwierigkeiten für die öffentliche Ordnung hervorrufen können, insbesondere
durch eine Verschärfung des Problems der Arbeitslosigkeit und die Gefahr der
Schaffung einer größeren wirtschaftlichen und sozialen Krisensituation.
- Somit zielt die streitige Entscheidung, die derartige Schwierigkeiten durch die
Sanierung des Stahlkonzerns ILVA lösen will, unbestreitbar darauf ab, dafür zu
sorgen, daß „keine Unterbrechung in der Beschäftigung eintritt“, und zu vermeiden,
„daß im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten tiefgreifende und anhaltende
Störungen hervorgerufen werden“, wie es Artikel 2 Absatz 2 des Vertrages
verlangt. Außerdem verfolgt die Entscheidung die in Artikel 3 verankerten Ziele
u. a. in bezug auf die „[Erhaltung von] Voraussetzungen ..., die einen Anreiz für
die Unternehmen bieten, ihr Produktionspotential auszubauen und zu verbessern“
(Buchstabe d), und die Förderung der „geordnete[n] Ausweitung und
Modernisierung der Erzeugung sowie [der] Verbesserung der Qualität in einer
Weise ..., die jede Schutzmaßnahme gegen Konkurrenzindustrien ausschließt“
(Buchstabe g). Sie zielt nämlich darauf ab, die europäische Stahlindustrie
insbesondere durch die endgültige Stillegung veralteter oder wenig
wettbewerbsfähiger Anlagen, wie in Bagnoli, und durch die unwiederbringliche
Kürzung der Kapazitäten zur Produktion bestimmter Erzeugnisse (z. B. in Tarent)
zu rationalisieren, um die durch Überkapazität gekennzeichnete Lage zu meistern
(vgl. Artikel 2 der streitigen Entscheidung). Sie ist demnach mit den oben
erwähnten fünf weiteren Einzelfallentscheidungen, mit denen staatliche Beihilfen
genehmigt wurden und die am selben Tag ergangen sind, Teil eines
Gesamtprogramms zur dauerhaften Umstrukturierung des Stahlsektors und zur
Reduzierung der Produktionskapazitäten in der Gemeinschaft (siehe oben,
Randnrn. 4 bis 6). Dementsprechend besteht die Zielsetzung der fraglichen Beihilfe
nicht darin, das bloße Überleben des begünstigten Unternehmens zu sichern was
mit dem gemeinsamen Interesse unvereinbar wäre , sondern mit ihr soll dessen
Lebensfähigkeit wiederhergestellt werden, wobei die Auswirkung der Beihilfe auf
den Wettbewerb auf ein Mindestmaß beschränkt wird und auf die Einhaltung der
Grundsätze eines lauteren Wettbewerbs, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen
der Privatisierung des ILVA-Konzerns, geachtet wird.
- Daraus folgt, daß sich die streitige Entscheidung darauf bezieht, im Einklang mit
den Zielen des Vertrages das gemeinsame Interesse zu schützen. Die Ansicht der
Klägerinnen, die Entscheidung ziele nicht auf die Erreichung dieser Ziele ab, ist
daher zurückzuweisen.
- Nach der Feststellung, daß die streitige Entscheidung die Ziele des Vertrages
verfolgt, ist zweitens zu prüfen, ob sie zu diesem Zweck erforderlich war. Wie der
Gerichtshof in seinem Urteil Deutschland/Kommission (a. a. O.) ausgeführt hat,
könnte die Kommission „keinesfalls die Gewährung staatlicher Beihilfen gestatten,
die nicht zur Erreichung der im EGKS-Vertrag aufgestellten Ziele unerläßlich sind
und die zu Wettbewerbsverzerrungen auf dem gemeinsamen Stahlmarkt führen
würden“ (Randnr. 30).
- Insoweit ist zu bemerken, daß nach Artikel 33 Absatz 1 des Vertrages sich „die
Nachprüfung durch den Gerichtshof ... nicht auf die Würdigung der aus den
wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen sich ergebenden Gesamtlage erstrecken
[darf], die zu den angefochtenen Entscheidungen oder Empfehlungen geführt hat,
es sei denn, daß der Kommission der Vorwurf gemacht wird, sie habe ihr Ermessen
mißbraucht oder die Bestimmungen des Vertrags oder irgendeiner bei seiner
Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm offensichtlich verkannt“.
- Im Bereich staatlicher Beihilfen hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung
ausgeführt, daß „die Kommission ... über ein Ermessen [verfügt], das sie nach
Maßgabe wirtschaftlicher und sozialer Wertungen ausübt, die auf die Gemeinschaft
als Ganzes zu beziehen sind“ (Urteile Philip Morris/Kommission, a. a. O.,
Randnr. 24, und vom 15. Juni 1993 in der Rechtssache C-225/91,
Matra/Kommission, Slg. 1993, I-3203; vgl. Urteil des Gerichts vom 13. September
1995 in den Rechtssachen T-244/93 und T-486/93, TWD/Kommission, Slg. 1995,
II-2265).
- Im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes, bei dem es um eine komplexe
wirtschaftliche und fachliche Beurteilung geht, muß sich die Nachprüfung durch das
Gericht daher nach ständiger Rechtsprechung auf die sachliche Richtigkeit der
Tatsachen sowie darauf beschränken, ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler
vorliegt (vgl. Urteile des Gerichts vom 22. Oktober 1996 in der Rechtssache
T-266/94, Skibsværftsforeningen u. a./Kommission, Slg. 1996, II-1399, Randnr. 170,
vom 15. Juli 1994 in der Rechtssache T-17/93, Matra Hachette/Kommission, Slg.
1994, II-595, Randnr. 104, und vom 8. Juni 1995 in der Rechtssache T-9/93,
Schöller/Kommission, Slg. 1995, II-1611, Randnr. 140).
- Im vorliegenden Fall weisen die Klägerinnen für ihre Ansicht, daß die ILVA
gewährten Beihilfen „nicht erforderlich“ gewesen seien, darauf hin, daß nach der
Erfahrung in der Vergangenheit und in Anbetracht der überschüssigen
Produktionskapazitäten im Stahlsektor jeder Versuch, die Lebensfähigkeit des in
Rede stehenden Unternehmens durch eine staatliche Beihilfe wiederherzustellen,
zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sei und schwerwiegende Auswirkungen auf
den Wettbewerb habe.
- Die Klägerinnen machen jedoch keine konkreten Angaben, die vermuten ließen,
daß die Kommission bei ihrer Beurteilung der Erforderlichkeit der fraglichen
Beihilfen und insbesondere der Frage, ob sie geeignet waren, die Sanierung des
begünstigten Unternehmens zu erleichtern, einen offensichtlichen Fehler begangen
hat.
- Die nur auf die Ineffektivität der früheren Beihilfen gestützte Behauptung, daß die
fraglichen Beihilfen es wahrscheinlich nicht ermöglichten, die erwarteten Ergebnisse
zu erreichen, stellt nichts anderes als eine rein spekulative und hypothetische
Prognose dar. Der Versuch, die in der Vergangenheit erzielten Ergebnisse in die
Zukunft zu projizieren, ohne die konkreten Bedingungen eingehend zu prüfen, die
in der streitigen Entscheidung im Hinblick auf eine Umstrukturierung des
begünstigten Unternehmens, die dessen Lebensfähigkeit gewährleisten kann,
aufgestellt worden sind, kann kein Beweis für einen Verstoß der Kommission gegen
den Vertrag sein.
- Das Gericht stellt außerdem fest, daß entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen
die Entstehungsgeschichte und die Begründung der streitigen Entscheidung belegen,
daß die gegenwärtige Krisensituation der europäischen Stahlindustrie und die
geeignetsten Mittel zu ihrer Bewältigung eingehend analysiert worden sind. Die
Kommission hatte einen unabhängigen Sachverständigen, Herrn Braun, mit einer
Untersuchung beauftragt, die in der Aufstellung der beabsichtigten Schließungen
von Unternehmen des Stahlsektors bestand; sein Bericht wurde am 29. Januar 1993
vorgelegt. Dieser von der Kommission eingereichte Bericht bestätigte die Angaben
in der Mitteilung der Kommission vom 23. November 1992 an den Rat und das
Europäische Parlament (siehe oben, Randnr. 4). Ferner ergibt sich aus den Akten,
daß die Kommission den Umstrukturierungsplan, der das Beihilfevorhaben des
betreffenden Mitgliedstaats begleitete, mit Unterstützung externer Sachverständiger
ganz genau daraufhin untersucht hat, ob er die Lebensfähigkeit des begünstigten
Unternehmens herzustellen vermochte (Abschnitt III der Begründung der streitigen
Entscheidung).
- Überdies ergibt sich aus den Mitteilungen der Kommission an den Rat während des
Verfahrens, das zum Erlaß der streitigen Entscheidung geführt hat, daß die
Kommission die Voraussetzungen für die Lebensfähigkeit des durch die fraglichen
Beihilfen begünstigten Unternehmens eingehend untersucht hat. Insbesondere
Abschnitt 2 der Mitteilung SEK(93) 2089 endg. der Kommission vom 15. Dezember
1993 an den Rat und den Beratenden Ausschuß der EGKS, mit der sie um
Zustimmung des Rates und um Stellungnahme des Beratenden Ausschusses nach
Artikel 95 des Vertrages ersuchte, enthält eine Analyse der Perspektiven der
Lebensfähigkeit der sich aus der Privatisierung des ILVA-Konzerns ergebenden
Unternehmen (ILP und AST) (Nrn. 2.5 und 2.6), wie sie vom Rat akzeptiert
wurden, und einen Hinweis auf die Tätigkeit eines unabhängigen Sachverständigen,
der beauftragt war, „the hot-rolling mills which could be closed without
jeopardizing the viability of either of the new companies, be it ILP or AST“
(„welche Warmbandstraßen ohne Gefährdung der Existenzfähigkeit der neuen
Gesellschaften ILP und AST stillgelegt werden könnten“; a. a. O., Nr. 2.9), zu
ermitteln. Aus diesem Dokument ergibt sich, daß der Sachverständige sechs
Optionen mit verschiedenen Stillegungen und Reduzierungen von Kapazitäten in
Erwägung gezogen hatte, von denen die italienische Regierung die zweite gewählt
hat. Die Option 2 wird wie folgt beschrieben: „Eliminating one of the four
reheating furnaces belonging to the No 1 mill and one of the three furnaces
belonging to the sheet mill at Taranto and closing down completely the facilities at
Bagnoli“ („Stillegung eines der vier Nachwärmeöfen im Walzwerk Nr. 1 und eines
weiteren der drei Nachwärmeöfen der Grobblechstraße in Taranto und vollständige
Schließung des Werkes Bagnoli“; a. a. O., Nr. 2.9). Aufgrund dieser Faktoren war
die Kommission der Ansicht, daß ILP und AST lebensfähig seien. Insbesondereunter Zugrundelegung des Kriteriums, daß ein Stahlunternehmen dann
existenzfähig werde, „if it is able to show a return on its equity capital in the range
of 1 1.5 % of turnover“ („wenn es eine Eigenkapitalrendite von 1 1,5 % des
Umsatzes erzielen kann“; a. a. O., Nr. 3.3.2), hat sie darauf hingewiesen, daß die
Gewinne von ILP trotz einer Zunahme der Finanzkosten 1,4 bis 1,5 % des
Umsatzes erreichen würden. Was das Produktionsniveau betrifft, bei dem die
Lebensfähigkeit von ILP und AST nicht mehr beeinträchtigt ist, so enthalten die
Nummern 2.5 und 2.6 dieses Dokuments eine wirtschaftliche Analyse der
unerläßlichen Voraussetzungen dafür, spätestens Ende 1996 zu einer
zufriedenstellenden Lage zu gelangen; diese Ergebnisse wurden bei der Festlegung
des Inhalts von Artikel 2 der streitigen Entscheidung verwendet.
- Das Vorbringen der Klägerinnen zu den Auswirkungen der streitigen Entscheidung
auf den Wettbewerb entbehrt ebenfalls jeder Grundlage. Die Klägerinnen
berücksichtigen nämlich nicht die Vorkehrungen, die die Kommission in der
angefochtenen Entscheidung getroffen hat, um die Lebensfähigkeit von ILVA zu
gewährleisten, insbesondere durch Anordnung der Übernahme der Schulden dieses
Unternehmens (vgl. Abschnitt II der Begründung der streitigen Entscheidung) bei
gleichzeitiger Begrenzung der finanziellen Umstrukturierungsmaßnahmen auf die
erforderlichen Mindestbeträge, damit die Handelsbedingungen in der Gemeinschaft
nicht in einem Maß geändert werden, das insbesondere im Hinblick auf die
gegenwärtigen Schwierigkeiten des Stahlmarktes mit dem gemeinsamen Interesse
unvereinbar ist (vgl. Abschnitt VI der Begründung der angefochtenen
Entscheidung). Unter diesem Gesichtspunkt stellt das Gericht fest, daß die
Kommission, um dem begünstigten Unternehmen nicht ungerechte Vorteile
gegenüber anderen Unternehmen des Sektors zu verschaffen, in der angefochtenen
Entscheidung insbesondere dafür Sorge trägt, daß dieses Unternehmen nicht von
vornherein Nettozinslasten unterhalb von 3,5 % des Jahresumsatzes (bei AST
3,2 %) hat, was nach den insoweit von den Klägerinnen nicht bestrittenen Angaben
der Kommission dem gegenwärtigen Durchschnitt bei den Stahlunternehmen in der
Gemeinschaft entspricht. Allgemein stellt die streitige Entscheidung in Artikel 2
eine Reihe von Bedingungen auf, die gewährleisten sollen, daß die
Finanzierungsbeihilfe auf das unbedingt Erforderliche begrenzt wird. In Anbetracht
dieser Umstände entbehrt das Vorbringen der Klägerinnen, mit dem dargetan
werden soll, daß die fraglichen Beihilfen es ihrem Empfänger in der gegenwärtigen,
durch Überkapazitäten gekennzeichneten Situation nur ermöglichen würden, seine
Erzeugnisse zum Nachteil seiner Wettbewerber zu niedrigeren Preisen zu
verkaufen, jeder Grundlage.
- Somit haben die Klägerinnen nichts vorgetragen, was annehmen ließe, daß die
Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie die
Ansicht vertrat, daß die fraglichen Beihilfen, versehen mit den in der streitigen
Entscheidung aufgestellten Bedingungen, zur Erreichung bestimmter Ziele des
Vertrages erforderlich seien.
- Daraus folgt, daß die streitige Entscheidung nicht wegen Verstoßes gegen die
Anwendungsvoraussetzungen des Artikels 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages
rechtswidrig ist.
Dritter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen tragen vor, die streitige Entscheidung habe dem begünstigten
Unternehmen keinen ausreichenden Abbau seiner Stahlproduktion auferlegt. Sie
wenden sich gegen den Standpunkt der Kommission, daß die Verpflichtung von
ILVA zum Abbau ihrer Produktionskapazität um jährlich 2 Mio. Tonnen eine
ausreichende Gegenleistung für die Gewährung der fraglichen Beihilfen und die
Wettbewerbsverzerrungen, die daraus resultieren könnten, sei.
- Sie werfen der Kommission insbesondere vor, zur Bestimmung der Höhe der
Kapazitätsstillegungen ein „ähnliches Kriterium, wie es in anderen Fällen der
Beihilfegewährung an Stahlunternehmen herangezogen wurde“, angewendet zu
haben. Die Kommission hätte aber die besonderen Umstände des vorliegenden
Falles berücksichtigen müssen, speziell was die Wirtschaftlichkeit der Anlagen des
begünstigten Unternehmens und die Umstrukturierungsbemühungen, die es vor
Erhalt der Beihilfe unternommen habe, den wesentlichen Umstand, daß es zuvor
schon Beihilfen empfangen habe und wie es diese eingesetzt habe, und schließlich
seinen Anteil an den überschüssigen Produktionskapazitäten angehe. Nach diesen
Kriterien hätte die Gewährung der fraglichen Beihilfen mit der Verpflichtung zu
einem wesentlich höheren Kapazitätsabbau als 2 Mio. Jahrestonnen verbunden
werden müssen.
- Hätte die Kommission das gleiche Kriterium angewendet wie bei der Genehmigung
der Beihilfen für die ostdeutschen Unternehmen, so hätte sich der von ILVA zu
leistende Kapazitätsabbau jedenfalls auf rund 3 Mio. Tonnen belaufen müssen.
- Außerdem hätte die Kommission in den von ILVA geforderten Kapazitätsabbau
nicht die „früheren Stillegungen“ einbeziehen dürfen, weil diese bei ILVA jeweils
schon Gegenleistungen für in der Vergangenheit erhaltene Beihilfen gewesen seien.
- Im übrigen sei die Auffassung der Kommission, daß bei der Bestimmung des
vorzunehmenden Kapazitätsabbaus nur auf die höchstmögliche Erzeugung
abzustellen sei, zurückzuweisen, da sie keine tatsächliche Verringerung der
Produktion des Beihilfenempfängers ermögliche, die allein die durch diese Beihilfen
hervorgerufenen Wettbewerbsverzerrungen ausgleichen könnte. Vorliegend wäre
ein Kapazitätsabbau von deutlich mehr als 4 Mio. Tonnen Warmwalzprodukten
erforderlich, um eine Auswirkung auf den Markt zu erzielen, weil die Kapazität von
ILVA derzeit um mindestens 4 Mio. Tonnen über der tatsächlichen Produktion
liege.
- Dementsprechend gewährleiste die streitige Entscheidung nicht einmal den von der
Kommission geforderten Kapazitätsabbau von 2 Mio. Tonnen. Dieser Abbau
umfasse nämlich die Schließung des Stahlwerks Bagnoli, in dem seit Mitte 1992
nichts mehr produziert werde (vgl. Mitteilung der Kommission vom 15. Dezember
1993 an den Rat, S. 22 f.), sowie den Abbau von 1,7 Mio. Tonnen in Tarent, wo
die offiziellen Kapazitäten (3,5 Mio. Tonnen) weit über der tatsächlichen
Produktion (ungefähr 2 Mio. Tonnen) lägen.
- Die Kommission bestreitet das gesamte Vorbringen der Klägerinnen. Sie hält den
verlangten Kapazitätsabbau von circa 750 000 Jahrestonnen pro 1 Milliarde ECU
Beihilfe für angemessen. Im übrigen seien die „anderen Fälle der
Beihilfegewährung an Stahlunternehmen“, die sie in ihrer Mitteilung vom 15.
Dezember 1993 an den Rat erwähne, mit den genannten fünf anderen
Entscheidungen genehmigt worden, die am selben Tag wie die streitige
Entscheidung gemäß Artikel 95 des Vertrages erlassen worden seien. Diese
Entscheidungen stellten mit der streitigen Entscheidung das Paket der Maßnahmen
dar, die damals zur Erleichterung der Umstrukturierung der Stahlindustrie
getroffen worden seien. Von den 5,5 Mio. Tonnen Kapazitätsabbau, die in diesen
sechs Entscheidungen auferlegt worden seien, hätten 2 Mio. Tonnen ILVA
betroffen.
- Vorliegend habe die Kommission namentlich der besonderen Situation des ILVA-Konzerns Rechnung getragen. Sie habe nicht nur die abzubauenden
Produktionskapazitäten, sondern auch andere Elemente berücksichtigt, die von
einer Region der Gemeinschaft zur anderen unterschiedlich seien, wie z. B. die vor
1981 unternommenen Umstrukturierungsbemühungen, die durch die Krise der
Stahlindustrie hervorgerufenen regionalen und sozialen Probleme, die technische
Entwicklung und die Anpassung der Unternehmen an die Markterfordernisse.
- In diesem Zusammenhang könne der Kommission nicht vorgeworfen werden, die
früheren Beihilfen an ILVA nicht berücksichtigt zu haben. Die Klägerinnen hätten
insoweit für ihre Behauptungen keinen konkreten Anhaltspunkt geliefert, der
vermuten ließe, daß diese Beihilfen von dem begünstigten Unternehmen
zweckwidrig verwendet worden seien.
- ILVA weist darauf hin, daß die Kommission im vorliegenden Fall ähnliche
Beurteilungskriterien angewendet habe, wie sie sie gegenüber den anderen
Unternehmen, die Subventionen erhalten hätten, herangezogen habe. Die sechs
Entscheidungen vom 12. April 1994 erfüllten nämlich alle die gleichen
Voraussetzungen, verfolgten die gleichen Ziele und entsprächen den gleichen
Beurteilungskriterien, wie sie in dem allgemeinen Plan zur Umstrukturierung der
Stahlindustrie der Gemeinschaft festgelegt seien. Der von ILVA verlangte
Kapazitätsabbau entspreche nur einer besonders strengen und rigorosen
Anwendung dieser Kriterien. Auch wenn die Kommission nicht verpflichtet sei, ein
festes Verhältnis zwischen Kapazitätsabbau und Höhe der Beihilfen einzuhalten,
habe sie doch versucht, sich im Rahmen des Möglichen an eine Konstante von
750 000 abgebauten Jahrestonnen je 1 Milliarde ECU Beihilfe zu halten. ILVA
bestreitet außerdem die Behauptung der Klägerinnen, daß der durch die streitige
Entscheidung auferlegte Kapazitätsabbau keine praktischen Auswirkungen auf den
gemeinschaftlichen Stahlmarkt habe. Die derzeitige Lage würde nämlich die ohne
größere Schwierigkeiten durchzuführende Wiederinbetriebnahme des Werkes in
Bagnoli rechtfertigen. Was Tarent angehe, so sei das Argument, daß die
Kommission bei der Berechnung der Stillegungen Produktionskapazitäten
berücksichtigt habe, die als Gegenleistung für frühere Investitionen bereits
abgebaut gewesen seien, unbegründet, da der zweite Vorwärmofen in Tarent noch
einsatzbereit gewesen sei und die Entscheidung, ihn zu beseitigen, erhebliche
Auswirkungen auf den Stahlmarkt gehabt habe.
Würdigung durch das Gericht
- Im Rahmen dieses Klagegrundes des Verstoßes gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit tragen die Klägerinnen im wesentlichen vor, die streitige
Entscheidung schreibe dem begünstigten Unternehmen keinen ausreichenden
Kapazitätsabbau als Gegenleistung für die ihm mit den Beihilfen gewährten
wirtschaftlichen Vorteile und die daraus resultierenden Wettbewerbsverzerrungen
vor.
- Gemäß Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages müssen die Entscheidungen, die die
Kommission erläßt, um im Vertrag nicht vorgesehene Fälle zu meistern, die
Bestimmungen des Artikels 5 des Vertrages beachten, wonach die Kommission ihre
Aufgabe nur „durch begrenzte Eingriffe“ zu erfüllen hat. Die letztgenannte
Vorschrift ist als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen
(vgl. Schlußanträge des Generalanwalts Roemer zum Urteil des Gerichtshofes vom
4. April 1960 in der Rechtssache 31/59, Acciaieria e Tubificio di Brescia/Hohe
Behörde, Slg. 1960, 161, 187 und 197 f.).
- Im Bereich der staatlichen Beihilfen hat der Gerichtshof im Urteil
Deutschland/Kommission (a. a. O.) entschieden, daß die Kommission nicht die
Gewährung von Beihilfen genehmigen kann, „die zu Wettbewerbsverzerrungen auf
dem gemeinsamen Stahlmarkt führen würden“ (Randnr. 30). Im gleichen Sinne hat
er im Urteil vom 13. Juni 1958 in der Rechtssache 15/57 (Compagnie des hauts
fourneaux de Chasse/Hohe Behörde, Slg. 1958, 161, 187) ausgeführt, daß die
Kommission „verpflichtet [ist], mit Umsicht zu handeln, erst nach sorgfältiger
Abwägung aller betroffenen Interessen einzugreifen und eine vorhersehbare
Benachteiligung Dritter soweit möglich in Grenzen zu halten“.
- Im übrigen verfügt die Kommission nach gefestigter Rechtsprechung in diesem
Bereich über einen „weiten Ermessensspielraum ..., der ... [ihrer] politischen
Verantwortung ... entspricht“ (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 26. Juni 1990 in
der Rechtssache C-8/89, Zardi, Slg. 1990, I-2515, Randnr. 11). Folglich kann die
Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission nur dann beeinträchtigt sein,
wenn diese Entscheidung zur Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles offensichtlich
unangemessen ist oder außer Verhältnis steht (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom
11. Juli 1989 in der Rechtssache 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, Randnr. 22, und
vom 9. Juli 1985 in der Rechtssache 179/84, Bozzetti, Slg. 1985, 2301).
- Im vorliegenden Fall ist daher im Lichte der zitierten Rechtsprechung zu prüfen,
ob die Kommission dem begünstigten Unternehmen in der streitigen Entscheidung
als Gegenleistung für die genehmigten Beihilfen angemessene Stillegungen und
Kapazitätskürzungen auferlegt hat.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes muß keine „genaue mengenmäßige
Relation zwischen den Beihilfebeträgen und den abzubauenden
Produktionskapazitäten“ festgelegt werden (vgl. Urteil Deutschland/Kommission,
a. a. O., Randnr. 33). Im Gegenteil sind als Faktoren, die die genauen Beträge der
zu genehmigenden Beihilfen beeinflussen können, „nicht nur die Anzahl der
Tonnen abzubauender Produktionskapazität zu berücksichtigen; es kommen
vielmehr noch andere Elemente hinzu, die von einer Region der Gemeinschaft zur
anderen unterschiedlich sind, wie z. B. die ... [zuvor] unternommenen
Umstrukturierungsbemühungen, die durch die Krise der Stahlindustrie
hervorgerufenen regionalen und sozialen Probleme, die technische Entwicklung
sowie die Anpassung der Unternehmen an die Markterfordernisse“ (a. a. O.,
Randnr. 34). Daraus folgt, daß die Beurteilung der Kommission keiner
Nachprüfung unterzogen werden kann, die sich nur auf wirtschaftliche Kriterien
stützt. Die Kommission kann im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens nach
Artikel 95 des Vertrages einem weiten Spektrum politischer, wirtschaftlicher oder
sozialer Erwägungen Rechnung tragen.
- Im vorliegenden Fall läßt die Prüfung der Begründung und des Inhalts des
verfügenden Teils der streitigen Entscheidung wie auch ihres Kontextes erkennen,
daß die Kommission dem begünstigten Unternehmen als Gegenleistung für die
betreffenden Beihilfen angemessene Bedingungen auferlegt hat, um zur
Umstrukturierung des gesamten betroffenen Sektors und zum Abbau der
Kapazitäten unter gleichzeitiger Berücksichtigung der mit der Genehmigung dieser
Beihilfen verfolgten wirtschaftlichen und sozialen Ziele beizutragen (siehe oben,
Randnr. 81).
- Aus den Abschnitten V und VI der angefochtenen Entscheidung ergibt sich
nämlich, daß die Kommission auf die Einhaltung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit geachtet hat. Sie führt insbesondere in Abschnitt V aus, daß,
„um die Auswirkungen auf den Wettbewerb möglichst gering zu halten, ... die
staatseigene italienische Stahlindustrie in erheblichem Maße zu der in diesem
Sektor durchzuführenden Strukturanpassung beitragen [muß], indem sie als
Gegenleistung für die ... Beihilfen Kapazitätskürzungen vornimmt“, und daß „dieGewährung von Betriebsbeihilfen ... auf das erforderliche Mindestmaß begrenzt
werden [muß]“. Demgemäß verlangt sie in Artikel 2 der Entscheidung eine
Verringerung der Kapazitäten für warmgewalzte Enderzeugnisse um 1,7 Mio.
Tonnen pro Jahr durch den Abbruch bestimmter Nachwärmeöfen in Tarent oder
in Höhe von 0,5 Mio. Tonnen durch den Abbruch anderer Anlagen, die derartige
Erzeugnisse bis zum Zeitpunkt der Privatisierung von ILVA hergestellt haben und
dem neuen Eigentümer von ILP gehören sowie die vollständige Stillegung des
Werkes Bagnoli. Nach den von der Kommission gelieferten Angaben, denen
zufolge für die Stillegung des Werkes Bagnoli das über eine maximale
Produktionskapazität von 1,25 Mio. Tonnen verfügte nur 0,3 Mio. Tonnen
angesetzt worden sind, beläuft sich die vorgeschriebene Verringerung der
Gesamtkapazitäten auf 2 Mio. Tonnen pro Jahr. Sie erscheint in Anbetracht der
wirtschaftlichen und sozialen Lage im Stahlsektor des betroffenen Mitgliedstaats
nicht offensichtlich unverhältnismäßig, berücksichtigt man den Gesamtabbau von
19 Mio. Tonnen, den die Kommission im Rahmen ihres Programms zur globalen
Umstrukturierung der europäischen Stahlindustrie, in das sich die angefochtene
Entscheidung einfügt, vorgesehen hat.
- Insbesondere ist das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, mit dem sie
dartun wollen, daß die in der streitigen Entscheidung auferlegten
Kapazitätskürzungen unangemessen seien. Hierzu stellt das Gericht erstens fest,
daß die in der Entscheidung aufgeführten Kapazitätskürzungen keine Kürzungen
erfassen, die bereits in den früheren Entscheidungen über die Gewährung von
Beihilfen an ILVA auferlegt worden wären. Insoweit werden die Behauptungen der
Klägerinnen durch genaue und ausführliche Angaben widerlegt, die die Kommission
zu den Erzeugnisarten und den konkreten Anlagen, die nach den früheren
Entscheidungen von einem Kapazitätsabbau betroffen waren, sowie zur
tatsächlichen Durchführung dieses Abbaus unter der Kontrolle der Kommission
gemacht hat. Desgleichen tragen die Klägerinnen, wenn sie auf die Steigerung der
Produktionskapazität von ILVA im Anschluß an die Investitionen dieses Konzerns
während der vorangegangenen Jahre in Tarent und Novi Ligure hinweisen, dem
Umstand nicht Rechnung, daß die Entscheidung 89/218, mit der Beihilfen an ILVA
genehmigt worden waren, es diesem Unternehmen nicht untersagte, solche
Investitionen vorzunehmen. Außerdem erfolgte die Modernisierung der Anlagen
in Novi Ligure, wie sich aus den von den Klägerinnen nicht bestrittenen
Informationen der Kommission ergibt, jedenfalls nur als Gegenleistung für einen
entsprechenden Kapazitätsabbau. Unter diesen Umständen kann nicht behauptet
werden, daß die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen
hat, als sie in der streitigen Entscheidung keinen zusätzlichen Kapazitätsabbau, der
diesen Investitionen entspricht, auferlegt hat.
- Die Auffassung, daß die Kommission in der streitigen Entscheidung die früher an
ILVA gezahlten Beihilfen hätte berücksichtigen müssen, ist ebenfalls
zurückzuweisen, da die Genehmigung dieser Beihilfen unter anderen Umständen
als denen des vorliegenden Falles erteilt wurde und damals, wie oben ausgeführt,
mit der Verpflichtung zum Abbau bestimmter Kapazitäten versehen war. Im
vorliegenden Fall konnte und durfte die angefochtene Entscheidung nur einen
Kapazitätsabbau vorsehen, der im Hinblick auf den Betrag der mit ihr genehmigten
Beihilfe und deren Zielsetzung angemessen war.
- Zweitens ist das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, daß der auferlegte
Kapazitätsabbau unverhältnismäßig sei, weil er nicht den früheren
Umstrukturierungsbemühungen von ILVA, ihrer Rentabilität und ihrem Anteil an
den überschüssigen Produktionskapazitäten der Stahlindustrie Rechnung trage.
Zum einen sind nämlich die angeblichen Steigerungen der Produktionskapazität
von Rohstahl auf dem italienischen Markt, wie aus den Akten hervorgeht,
weitgehend den in diesem Land ansässigen großen privaten Stahlunternehmen und
nicht dem öffentlichen Unternehmen ILVA zuzurechnen, und zum anderen hat
ILVA gemäß der Entscheidung 89/218 zwischen 1980 und 1986 insbesondere ihre
Produktionskapazität von Roheisen und Stahl um 5,78 Mio. Jahrestonnen reduziert.
Im übrigen verkennt die Ansicht der Klägerinnen, wonach die Bemühungen um
einen Abbau von Produktionskapazitäten nur auf den beihilfebegünstigten
Unternehmen lasten und deren Rentabilität berücksichtigen dürften, während die
anderen Unternehmen, solange ihre wirtschaftliche Lage es ihnen erlaube, eine
Überkapazität behalten könnten, jedenfalls die Zielsetzung der streitigen
Entscheidung. Die Gewährung der fraglichen Beihilfen zielt nämlich nicht nur auf
eine Erleichterung des Abbaus der gesamten überschüssigen
Produktionskapazitäten ab, sondern sie soll auch die Lebensfähigkeit von ILVA
wiederherstellen, um im spezifischen Kontext des vorliegenden Falles bestimmte
wirtschaftliche und soziale Prioritäten zu verfolgen. In diesem Kontext mußte der
Kapazitätsabbau, der ILVA in der streitigen Entscheidung auferlegt wird, nicht nur
nach Maßgabe der Notwendigkeit, als Gegenleistung für die betreffenden Beihilfen
in einem bestimmten Maß zur Strukturanpassung im Stahlsektor beizutragen,
sondern auch aufgrund der mit der Wiederherstellung ihrer Lebensfähigkeit
verbundenen Erfordernisse bestimmt werden.
- Drittens kann in diesem Zusammenhang auch der Auffassung nicht gefolgt werden,
daß der Kapazitätsabbau auf der Grundlage der tatsächlichen Erzeugung des
begünstigten Unternehmens und nicht auf der seiner höchstmöglichen Erzeugung
hätte beurteilt werden müssen. Wie die Kommission vorträgt, hängt nämlich in
einer durch Überkapazität gekennzeichneten Situation die Menge, die ein
Unternehmen erzeugt, im wesentlichen von der Konjunkturentwicklung ab. Sie
spiegelt somit eher die Marktsituation als die Produktionskapazität dieses
Unternehmens wider. Nur die maximale Produktionskapazität die von dem
betreffenden Unternehmen schnell und mit geringem Kostenaufwand mobilisiert
werden kann stellt einen konstanten Wert dar, der es ermöglicht, die Kapazität,
über die das Unternehmen tatsächlich verfügt, unabhängig von
Konjunkturschwankungen zu bewerten. Außerdem wirkt sich eine Verringerung
dieser maximalen Produktionskapazität entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen
insoweit auf den Markt aus, als die stillgelegten Anlagen nicht mehr verfügbar sind,
was insbesondere bei Ausfall anderer Anlagen oder in Zeiten zunehmender
Nachfrage gilt.
- Aus all diesen Gründen kann dem Argument der Klägerinnen, das in einem
Vergleich des vorliegend angeordneten Kapazitätsabbaus mit den Kürzungen
besteht, die in anderen Entscheidungen, z. B. in bezug auf in der ehemaligen DDR
ansässige Unternehmen, auferlegt wurden, nicht gefolgt werden, da der
Kapazitätsabbau von der spezifischen Situation des betroffenen Marktes abhängt.
Die Klägerinnen geben aber nicht nur nicht an, auf welche „anderen
Entscheidungen“ sie sich beziehen, sondern sie machen auch keine Angaben zu
dem betreffenden Sektor und zur Situation der von diesen Entscheidungen
betroffenen Unternehmen. Im übrigen sind die einzigen von den Klägerinnen
angeführten präzisen Gründe, aus denen nach ihrer Ansicht die besondere
Situation der staatlichen italienischen Stahlindustrie einen erheblich größeren
Kapazitätsabbau, als in der angefochtenen Entscheidung vorgesehen, gerechtfertigt
hätte, wie oben ausgeführt, nicht stichhaltig.
- Daraus folgt, daß die Rüge des Verstoßes gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit unbegründet ist.
Vierter Klagegrund: Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Nach Ansicht der Klägerinnen verstößt die streitige Entscheidung gegen das
Diskriminierungsverbot des Artikels 4 Buchstabe b des Vertrages, wonach
Maßnahmen und Praktiken, die eine Diskriminierung zwischen Erzeugern oder
Käufern oder Verbrauchern herbeiführen, untersagt seien. Im Urteil vom 24.
Februar 1987 in der Rechtssache 304/85 (Falck/Kommission, Slg. 1987, 871,
Randnr. 27) habe der Gerichtshof entschieden, daß „die Kommission, wenn auch
jede Maßnahme auf dem Gebiet der Beihilfegewährung ein Unternehmen
gegenüber einem anderen begünstigen kann, Beihilfen nicht genehmigen [darf],
deren Gewährung eine offensichtlich diskriminierende Unterscheidung zwischen
dem öffentlichen und dem privaten Sektor bewirken könnte. In einem solchen Fall
würde die Beihilfegewährung nämlich in einer dem gemeinsamen Interesse
zuwiderlaufenden Weise zu Wettbewerbsverzerrungen führen.“
- Die streitige Entscheidung verstoße in zweierlei Hinsicht gegen das
Diskriminierungsverbot: Sie führe zu einer Ungleichbehandlung einzelner
Unternehmen, die sich in einer mit ILVA vergleichbaren Situation befunden hätten,
und zu einer Ungleichbehandlung des privaten Sektors gegenüber dem öffentlichen
Sektor, zu dem ILVA gehöre. Insbesondere die Thyssen Stahl, die Preussag Stahl
und die anderen Mitgliedsunternehmen der deutschen Wirtschaftsvereinigung Stahl
sowie die Hoogovens Groep, die sämtlich weit geringere Überkapazitäten
aufwiesen als ILVA, seien durch die Entscheidung über die Genehmigung von
Beihilfen an ILVA in ungerechtfertigter Weise diskriminiert worden. Das gleiche
gelte für den privaten Sektor insgesamt, da praktisch ausschließlich öffentliche
Unternehmen in den Genuß der nach Artikel 95 Absätze 1 und 2 des Vertrages
genehmigten Beihilfen gelangt seien.
- Das Argument von ILVA, wonach die Entscheidung des Gerichts das Gleichgewicht
zwischen den Positionen der einzelnen Subventionsempfänger nicht ins Wanken
bringen dürfe, sei offensichtlich unzutreffend. ILVA würde nämlich nicht
diskriminiert, wenn das Gericht die angefochtene Entscheidung für nichtig erklärte,
die übrigen Entscheidungen aber bestehenblieben. Es gebe keine Gleichheit im
Unrecht und keinen Anspruch auf eine rechtswidrige Gleichbehandlung.
- Die Kommission, unterstützt durch die Italienische Republik, verweist zunächst
darauf, daß jede Entscheidung über den Umfang der Beihilfen Sache der
Mitgliedstaaten sei, die den Inhalt der Entscheidung der Kommission mitteilen
müßten. Die Kommission habe nur zu prüfen, ob die Interessen der Gemeinschaft
insgesamt gewahrt blieben und mit den geplanten Beihilfen die Erreichung der
Ziele des Vertrages verfolgt würden, ohne den Wettbewerb zu verfälschen. Im
vorliegenden Fall trage die streitige Entscheidung zweifellos zur Umstrukturierung
der europäischen Stahlindustrie insgesamt bei, da sie Teil eines Gesamtplans sei,
der sehr strenge Auflagen hinsichtlich der Privatisierung von ILVA und der
Stillegung bestimmter Anlagen enthalte. Unter diesen Umständen könne von einer
Diskriminierung zwischen ILVA und den anderen konkurrierenden
Stahlunternehmen oder zwischen der privaten Stahlwirtschaft und den staatseigenen
Stahlunternehmen keine Rede sein. Im übrigen könnten die von privaten
Stahlunternehmen vorgenommenen Schließungen ebenfalls Anlaß für finanzielle
Unterstützungsmaßnahmen sein. Insbesondere hätten mehrere Unternehmen,
darunter die drei klagenden, über Eurofer die Genehmigung für eine gemeinsame
finanzielle Einrichtung zur Durchführung einzelner Programme zur Stillegung von
Produktionskapazitäten beantragt und mit der Entscheidung 94/6/EGKS der
Kommission vom 21. Dezember 1993 zur Genehmigung der Schaffung einer
finanziellen Einrichtung im Hinblick auf die Durchführung einzelner
Kapazitätsstillegungsprogramme in den Bereichen schwerer Formstahl,
warmgewalztes Breit- und Schmalband sowie Quartobleche (ABl. 1994, L 6, S. 30),
auch erhalten.
- Nach Ansicht des Rates verstößt die angefochtene Entscheidung nicht gegen das
Diskriminierungsverbot. Denn aus den Ausführungen der Klägerinnen hierzu
ergebe sich keineswegs, daß diese Entscheidung eine objektiv nicht gerechtfertigte
Ungleichbehandlung zwischen ILVA und den Klägerinnen bewirkt habe.
- ILVA vertritt die Auffassung, es könne nicht behauptet werden, daß die
Unternehmen, die Beihilfen erhielten, anders als ihre Konkurrenten behandelt
würden, es sei denn, es werde nachgewiesen, daß der ihnen damit gewährte Vorteil
nicht mit einer Gegenleistung einhergehe, die vom Standpunkt des gemeinsamen
Interesses aus angemessen sei. Vorliegend seien die betreffenden Beihilfen aber
nur im Gegenzug zu einem angemessenen Ausgleich in Form einer finanziellen
Umstrukturierung, eines Kapazitätsabbaus und einer Privatisierung gewährt worden.
Würdigung durch das Gericht
- Gemäß Artikel 4 Buchstabe b des Vertrages werden „Maßnahmen oder Praktiken,
die eine Diskriminierung zwischen Erzeugern ... herbeiführen“, als unvereinbar mit
dem gemeinsamen Stahlmarkt innerhalb der Gemeinschaft untersagt.
- Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine Diskriminierung vor, wenn vergleichbare
Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte
Wirtschaftsteilnehmer gegenüber anderen benachteiligt werden, ohne daß diese
Ungleichbehandlung durch das Vorliegen objektiver Unterschiede von einigem
Gewicht gerechtfertigt wäre (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 15. Januar 1985 in
der Rechtssache 250/83, Finsider/Kommission, Slg. 1985, 131, Randnr. 8). Speziell
im Bereich der Beihilfen für die Stahlindustrie hat der Gerichtshof festgestellt, daß
eine Ungleichbehandlung und damit eine Diskriminierung vorliegt, wenn eine
Genehmigungsentscheidung „entweder Stahlunternehmen, die sich in derselben
Situation befinden, unterschiedliche Vorteile oder Stahlunternehmen, die sich in
erheblich unterschiedlichen Situationen befinden, identische Vorteile“ verschafft
(vgl. Urteil Deutschland/Kommission, a. a. O., Randnr. 36).
- Die Frage der Diskriminierung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor
auf dem Gebiet der Gewährung von Beihilfen im Rahmen des Vertrages ist im
Urteil Falck/Kommission (a. a. O.) geprüft worden. Nach der Feststellung, daß für
die Gewährung der Beihilfe in erster Linie die betreffende Regierung
verantwortlich ist, hat der Gerichtshof die Rolle der Kommission wie folgt
beschrieben: „[Es] darf die Kommission, wenn auch jede Maßnahme auf dem
Gebiet der Beihilfegewährung ein Unternehmen gegenüber einem anderen
begünstigen kann, Beihilfen nicht genehmigen, deren Gewährung eine offensichtlich
diskriminierende Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten
Sektor bewirken könnte. In einem solchen Fall würde die Beihilfegewährung
nämlich in einer dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufenden Weise zu
Wettbewerbsverzerrungen führen“ (Randnr. 27).
- Im vorliegenden Fall ist für die Antwort auf die Frage, ob die streitige
Entscheidung diskriminierenden Charakter hat, zu prüfen, ob sie dasbeihilfebegünstigte Unternehmen anders behandelt, als sie andere Unternehmen
behandelt hätte, die sich in der gleichen Situation befinden, oder ob sie in einer
dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufenden Weise zu Wettbewerbsverzerrungen
führt.
- Die Klägerinnen tragen nichts vor, was dartun könnte, daß die fraglichen Beihilfen
von der Kommission in einer günstigeren Weise behandelt worden wären als
vergleichbare andere bei ihr angemeldete staatliche Beihilfen (siehe oben,
Randnr. 118). Sie liefern auch nicht den geringsten Anhaltspunkt für die Annahme,
daß die streitige Entscheidung geeignet wäre, die Wettbewerbsbedingungen „in
einer dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufenden Weise“ zu verfälschen, und
daher „offensichtliche“ Diskriminierungen insbesondere der privaten Unternehmen
mit sich bringen würde.
- Wie die italienische Regierung vorträgt, lassen außerdem der Kontext, in dem die
streitige Entscheidung ergangen ist, und die Entscheidung selbst nichts erkennen,
was die Feststellung erlaubte, daß die Entscheidung maßgebend dadurch beeinflußt
worden wäre, daß das beihilfebegünstigte Unternehmen ein öffentliches
Unternehmen war und daß die Entscheidung somit bei einem privaten
Unternehmen anders ausgefallen wäre. Im übrigen durfte die Kommission den
öffentlichen Charakter des betreffenden Unternehmens nicht berücksichtigen, um
die Genehmigung der Beihilfen zu versagen, da sie sonst gegen den Grundsatz der
Gleichbehandlung öffentlicher und privater Unternehmen verstoßen hätte.
- Darüber hinaus sind, wie bereits ausgeführt (siehe oben, Randnrn. 112 bis 121), die
Vorteile, die dem beihilfebegünstigten Unternehmen gewährt wurden, im
Verhältnis zu den verfolgten Zielen insbesondere aufgrund der diesem
Unternehmen im Gegenzug auferlegten Verpflichtungen in Form des Abbaus
seiner Produktionskapazität angemessen. Außerdem sind die sich aus der streitigen
Entscheidung ergebenden Wettbewerbsverzerrungen auf das unbedingt
Erforderliche beschränkt (siehe oben, Randnr. 93) und schon durch die Zielsetzung
dieser Entscheidung Wiederherstellung einer gesunden und rentablen Struktur
der begünstigten Unternehmen , die für vereinbar mit dem Vertrag befunden
worden ist (siehe oben, Randnrn. 77 bis 83), gerechtfertigt. Schließlich bestimmt
Artikel 1 Absatz 3 der Entscheidung, daß „die Beihilfen nicht für die Zwecke eines
unlauteren Wettbewerbs verwendet werden [dürfen]“. Gemäß Artikel 6 Absatz 1
der Entscheidung kann die Kommission im Fall des Verstoßes gegen eine dieser
Verpflichtungen die Aussetzung der Auszahlung oder die Rückzahlung der
betreffenden Beihilfe anordnen.
- Dementsprechend stellt das Gericht fest, daß die Kommission im gemeinsamen
Interesse gehandelt hat, als sie die verschiedenen in Frage kommenden Interessen
beurteilt und auf den Schutz bedeutender wirtschaftlicher und sozialer Interessen
geachtet hat, wobei sie nachteilige Auswirkungen für die anderen
Wirtschaftsteilnehmer insoweit vermieden hat, als der Gegenstand und die
Zielsetzung der streitigen Entscheidung dies erlaubten.
- Diese Analyse steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes, der
im Urteil Valsabbia u. a./Kommission (a. a. O., Randnr. 49) entschieden hat: „Zwar
ist die Kommission nach Artikel 3 des Vertrages verpflichtet, im gemeinsamen
Interesse zu handeln, dies bedeutet aber nicht, daß sie ausnahmslos im Interesse
aller zu handeln hat; denn sie ist nicht gehalten, in Erfüllung ihrer Aufgabe nur
dann zu handeln, wenn keinerlei Interessen beeinträchtigt werden. Vielmehr muß
sie bei ihrem Vorgehen die verschiedenen Interessen abwägen und nachteilige
Auswirkungen vermeiden, soweit es die zu erlassende Entscheidung
vernünftigerweise ermöglicht. Die Kommission kann von ihrer Befugnis zum Erlaß
von Entscheidungen im gemeinsamen Interesse so Gebrauch machen, wie die
Umstände es erfordern, selbst wenn bestimmte Einzelinteressen hierdurch
beeinträchtigt werden.“
- Daraus folgt, daß das Vorbringen der Klägerin, die streitige Entscheidung verstoße
gegen das Diskriminierungsverbot, zurückzuweisen ist.
Fünfter Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen sind der Auffassung, die angefochtene Entscheidung verstoße in
mehrfacher Hinsicht gegen die Begründungspflicht nach Artikel 15 des Vertrages.
- Erstens enthalte die Entscheidung keine Ausführungen über die für die
Kommission bestehende Möglichkeit, die betreffenden Beihilfen, die mit dem
geltenden Beihilfenkodex unvereinbar seien, außerhalb der Voraussetzungen und
Verfahren dieses Kodex zu genehmigen.
- Zweitens mache die Kommission in der streitigen Entscheidung nicht kenntlich,
welche der in Artikel 2 und 3 des Vertrages aufgeführten Ziele sie mit der
Genehmigung der Beihilfen an ILVA verfolge.
- Drittens habe die Kommission ebensowenig in zufriedenstellender Weise die
Unerläßlichkeit der genehmigten Beihilfen im Sinne der Rechtsprechung des
Gerichtshofes zu den Anwendungsvoraussetzungen des Artikels 95 Absätze 1 und
2 des Vertrages begründet. Sie habe nicht berücksichtigt, daß ILVA mehrfach
Beihilfen in bedeutender Höhe unter der Auflage gewährt worden seien, im
Rahmen eines Umstrukturierungsprogramms innerhalb einer bestimmten Frist ihre
Lebensfähigkeit herzustellen, und daß das Unternehmen dieser Verpflichtung in
keinem Fall nachgekommen sei.
- Schließlich habe die Kommission in der streitigen Entscheidung nicht begründet,
warum ein Kapazitätsabbau in Höhe von 2 Mio. Jahrestonnen als Gegenleistung
für Beihilfen in Höhe von 2,6 Milliarden ECU angemessen und ausreichend sei.
Außerdem enthalte die Entscheidung keinen Hinweis darauf, daß die Kommission
die Auswirkungen der Beihilfen auf den Wettbewerb und die Gefahr einer
Diskriminierung gegenüber den anderen Stahlunternehmen untersucht hätte.
- Die Kommission, unterstützt durch die Italienische Republik, erinnert daran, daß
der Umfang der Begründungspflicht von der Art des Rechtsakts und den
Umständen abhänge, unter denen er erlassen worden sei (vgl. z. B. Urteil des
Gerichtshofes vom 11. Januar 1973 in der Rechtssache 13/72,
Niederlande/Kommission, Slg. 1973, 27). Im vorliegenden Fall sei die Begründung
ausreichend, sowohl wegen des Gesamtzusammenhangs der angegriffenen
Entscheidung als auch wegen der Beteiligung der Klägerinnen an den
Überlegungen der Kommission zur Umstrukturierung der Stahlindustrie der
Gemeinschaft.
Würdigung durch das Gericht
- Gemäß Artikel 5 Absatz 2 vierter Gedankenstrich des Vertrages „gibt [die
Gemeinschaft] die Gründe für ihr Handeln bekannt“. In Artikel 15 Absatz 1 heißt
es, daß „die Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen der Kommission
... mit Gründen zu versehen [sind] und ... auf die pflichtgemäß eingeholten
Stellungnahmen Bezug zu nehmen [haben]“. Aus diesen Vorschriften sowie aus den
allgemeinen Grundsätzen des Vertrages ergibt sich, daß für die Kommission nur
dann eine Begründungspflicht besteht, wenn sie allgemeine oder individuelle
Entscheidungen erläßt, unabhängig von der Rechtsgrundlage, die sie dafür wählt.
- Nach ständiger Rechtsprechung muß die Begründung der Natur des betreffenden
Rechtsakts angepaßt sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den
Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, daß die
Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und
der Gemeinschaftsrichter seine Kontrolle ausüben kann. Es wird nicht verlangt, daß
alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte in der Begründung
genannt sind. Diese ist nicht nur im Hinblick auf den Wortlaut des Rechtsakts zu
beurteilen, sondern auch auf dessen Kontext und sämtliche Rechtsvorschriften, die
für das betreffende Gebiet gelten (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 29. Februar
1996 in der Rechtssache C-56/93, Belgien/Kommission, Slg. 1996, I-723, und Urteil
Skibsværftsforeningen u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 230). Außerdem ist die
Begründung eines Rechtsakts u. a. anhand „des Interesses zu beurteilen, das die
Adressaten oder andere von der Maßnahme betroffene Personen im Sinne von
Artikel 33 Absatz 2 EGKS-Vertrag an der Begründung haben können“ (Urteil des
Gerichtshofes vom 19. September 1985 in den Rechtssachen 172/83 und 226/83,
Hoogovens Groep/Kommission, Slg. 1985, 2831, Randnr. 24).
- Im vorliegenden Fall sind die verschiedenen Rügen der Klägerinnen in bezug auf
eine angeblich unzureichende Begründung der streitigen Entscheidung
nacheinander zu prüfen. Was erstens die Gründe betrifft, aus denen die
Kommission der Ansicht war, daß sie zur Genehmigung der fraglichen Beihilfen
außerhalb der Bestimmungen des Beihilfenkodex auf der Grundlage von Artikel 95
Absätze 1 und 2 des Vertrages befugt war, so enthält die Entscheidung in den
Abschnitten I und IV eine hinreichende Begründung, die klar und ausführlich
darlegt, daß sich die Gemeinschaft angesichts der sich ständig verschlechternden
Lage der Stahlindustrie und der erheblichen Schwierigkeiten, die in diesem Sektor
in mehreren Mitgliedstaaten, darunter Italien, aufgetreten waren, in einer nicht
vorhergesehenen Lage befand, die die Anwendung dieses Artikels rechtfertigte.
- Was zweitens die Gründe angeht, aus denen die Kommission der Ansicht war, daß
die betreffende Beihilfe, die auf die Wiederherstellung der Lebensfähigkeit des
begünstigten Unternehmens abzielte, zur Erreichung der Ziele des Vertrages
beitrug, so werden diese Gründe in Abschnitt IV angeführt und in der gesamten
Begründung der Entscheidung weiterentwickelt. Im einzelnen ergibt sich aus
Abschnitt IV, daß nach Auffassung der Kommission die Sanierung von ILVA
wegen der seit dem zweiten Halbjahr 1990 im Stahlsektor, und zwar in Italien,
aufgetretenen erheblichen Schwierigkeiten als mit den in den Artikeln 2 und 3 des
Vertrages bezeichneten Zielen vereinbar anzusehen war. Da die wirtschaftlichen
wie auch sozialen Auswirkungen der Wiederherstellung der Lebensfähigkeit dieses
Unternehmens auf den Stahlsektor des betroffenen Mitgliedstaats in der in dieser
Entscheidung beschriebenen Krisenzeit offensichtlich waren, kann die Tatsache, daß
die genauen Bestimmungen der Artikel 2 und 3 nicht ausdrücklich genannt waren,
auf deren Durchführung im vorliegenden Fall speziell abgestellt wurde, nicht als
eine unzureichende Begründung angesehen werden. Außerdem stellt die
Kommission in den Abschnitten V und VI der Begründung klar, daß die streitige
Entscheidung insbesondere zu einer Strukturanpassung des Sektors durch
Kapazitätskürzungen beitragen soll. Sie weist zudem darauf hin, daß eines der
Ziele, die mit den verschiedenen von ihr gestellten Bedingungen verfolgt würden,
darin bestehe, die Auswirkungen der fraglichen Beihilfen auf den Wettbewerb
möglichst gering zu halten. Unter diesen Umständen ist das Gericht der Ansicht,
daß die Begründung der streitigen Entscheidung ausreichend war, um es den
Klägerinnen zu ermöglichen, die Ziele des Vertrages, die diese Entscheidung
verfolgt, zu erkennen, und um zu beurteilen, ob die Sanierung von ILVA mit diesen
Zielen in Einklang stand.
- Drittens stellt das Gericht zu der Frage, ob die betreffende Beihilfe geeignet war,
die Sanierung des beihilfebegünstigten Unternehmens zu ermöglichen, fest, daß die
streitige Entscheidung die Mittel, mit denen die Lebensfähigkeit von ILVA nach
Ansicht der Kommission wiederhergestellt werden sollte, klar benennt, da sie
insbesondere in Abschnitt II der Begründung die verschiedenen Aspekte des mit
dieser Beihilfe unterstützten Umstrukturierungsplans aufzählt. Danach ergibt sich
ausdrücklich, daß die Wiederherstellung der Lebensfähigkeit von ILVA über die
Privatisierung des Konzerns, die das Hauptziel der Beihilfe darstellt, und mit einem
neuen Programm zur Umstrukturierung insbesondere durch Spaltung ihres
Kerngeschäfts in zwei neue Gesellschaften nach einem in der Entscheidung
dargelegten Plan erreicht werden soll.
- Darüber hinaus führt die Kommission in der streitigen Entscheidung (Abschnitt III
der Begründung) aus, daß sie im Rahmen ihrer Untersuchung des von der
italienischen Regierung gemeldeten Umstrukturierungsplans die Kriterien
angewendet habe, die sie bei der vorangehenden Umstrukturierung der
Stahlindustrie der Gemeinschaft zugrunde gelegt habe. Diese Kriterien konnten
daher den Wirtschaftsteilnehmern dieses Sektors und damit auch den Klägerinnen
nicht verborgen bleiben. Demgemäß waren in der streitigen Entscheidung durch
Angabe der Hauptaspekte des erwähnten Umstrukturierungsplans die Gründe
rechtlich zur Genüge angeführt, aus denen die fragliche Beihilfe es nach Ansicht
der Kommission ermöglichen würde, ILVA mit einer gesunden und lebensfähigen
Struktur zu versehen.
- Daraus folgt, daß entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen die Gründe, aus
denen es nach Auffassung der Kommission mit den fraglichen Beihilfen anders
als mit den Beihilfen, die ILVA in der Zeit von 1988 bis 1991 gewährt wurden
gelingen würde, die verfolgten Ziele zu erreichen, klar aus der angefochtenen
Entscheidung hervorgehen. In Abschnitt II der Begründung der Entscheidung stellt
die Kommission außerdem eine Bilanz dieser früheren Beihilfen auf, die gewährt
worden seien, um „die Lebensfähigkeit des Unternehmens unter normalen
marktwirtschaftlichen Bedingungen bei einer korrekten Ausführung dieser
Vorgaben und genauen Überwachung der Betriebsführung zu gewährleisten“. Sie
weist darauf hin, daß ILVA das angestrebte Ziel trotz eines erheblichen
Umstrukturierungsaufwands nicht habe erreichen können, sondern auch nach 1991
Verluste angehäuft habe. In Abschnitt IV der Begründung der Entscheidung stellt
die Kommission einen Zusammenhang zwischen dieser Situation und der sich seit
dem zweiten Halbjahr 1990 ständig verschlechternden Lage der Stahlindustrie her,
um den Erlaß der streitigen Entscheidung gemäß Artikel 95 des Vertrages zu
rechtfertigen.
- Überdies wird die Begründung der streitigen Entscheidung in bezug auf die
Lebensfähigkeit des begünstigten Unternehmens in sehr weitem Umfang durch den
Akteninhalt ergänzt und weiterentwickelt. Die Kommission hat insbesondere den
vollständigen Text ihrer Mitteilung vom 15. Dezember 1993 an den Rat (SEK[93]
2089 endg.) vorgelegt, in der sie um Zustimmung des Rates nach Artikel 95 Absatz
1 des Vertrages ersucht hatte. Diese Mitteilung, die zum Teil den Inhalt einer
vorangegangenen Mitteilung vom 10. November 1993 (SEK[93] 1745 endg.)
aufgreift, enthält eine eingehende Untersuchung der Voraussetzungen für die
Lebensfähigkeit des Unternehmens, das die betreffenden Beihilfen erhalten hat
(siehe oben, Randnr. 92).
- Viertens ist schließlich die Rüge zurückzuweisen, daß die Begründung zum einen
in bezug auf die Angemessenheit des als Gegenleistung für die Beihilfenauferlegten Kapazitätsabbaus und zum anderen auf die Begrenzung der
Wettbewerbsverzerrungen, zu denen die Beihilfen führten, unzureichend sei. Wie
bereits festgestellt (siehe oben, Randnrn. 93 und 113), sind diese verschiedenen
Gesichtspunkte in der streitigen Entscheidung ausführlich untersucht worden.
- Aus all diesen Erwägungen ergibt sich, daß die streitige Entscheidung nicht wegen
unzureichender Begründung rechtswidrig ist.
Sechster Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des Beschlußfassungsverfahrens
- Dieser Klagegrund gliedert sich in zwei Teile. Die streitige Entscheidung weiche
von der Zustimmung des Rates ab. Außerdem halte sie nicht das mit den Artikeln
97 ff. des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen)
eingeführte Verfahren ein.
Zur behaupteten Abweichung von der Zustimmung des Rates
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen tragen vor, die streitige Entscheidung beachte nicht die vom Rat
erteilte Zustimmung. Die ILVA für die Erfüllung ihrer Verpflichtungen zum
Kapazitätsabbau und zur Schließung von Anlagen gesetzte Frist bis zum 30. Juni
1994, die in der Mitteilung vom 15. Dezember 1993, auf die sich die Zustimmung
des Rates stütze, vorgesehen sei, sei nicht in den verfügenden Teil der streitigen
Entscheidung aufgenommen worden. Sie werde nur in den Begründungserwägungen
der Entscheidung als Bestandteil des von der italienischen Regierung vorgelegten
Umstrukturierungsprogramms erwähnt.
- Die Kommission bestreitet, daß die Entscheidung von der Zustimmung des Rates
abweiche. Auch wenn die Frist bis zum 30. Juni 1994 im verfügenden Teil der
Entscheidung nicht ausdrücklich genannt sei, verweise die Entscheidung doch auf
die Notwendigkeit der ordnungsgemäßen Durchführung des
Umstrukturierungsprogramms, das im achten Absatz des Abschnitts II beschrieben
werde, in dem diese Frist erwähnt sei. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes
sei die Begründung aber wesentlicher Bestandteil eines Rechtsakts (vgl. Urteil des
Gerichtshofes vom 23. Februar 1988 in der Rechtssache 131/86, Vereinigtes
Königreich/Rat, Slg. 1988, 905, Randnr. 37).
- ILVA trägt vor, die Frist, die der Rat für die Stillegung der betreffenden Anlagen
festgesetzt habe, tauche in der Begründung der Entscheidung auf. Außerdem habe
sie diese Frist eingehalten, so daß man nicht abstreiten könne, daß deren
Erwähnung in der Begründung der Entscheidung zur Erreichung des verfolgten
Zieles ausgereicht habe.
Würdigung durch das Gericht
- Die Klägerinnen sind der Ansicht, die streitige Entscheidung sei unter Abweichung
von der nach Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages zwingend vorgeschriebenen
Zustimmung des Rates erlassen worden, denn der Termin des 30. Juni 1994, bis zu
dem ILVA ihre Verpflichtung zum Abbau der Produktionskapazitäten im Werk
Tarent habe erfüllen müssen, stehe in der Mitteilung der Kommission vom 15.
Dezember 1993 (S. 25, Nr. 3.3.4), auf die sich die Zustimmung des Rates vom 22.
Dezember 1993 stütze, tauche aber nicht im verfügenden Teil der streitigen
Entscheidung, sondern nur in deren Begründung (Abschnitt II achter Absatz) auf.
- Es ist unstreitig, daß das Datum des 30. Juni 1994 im Programm zur
Umstrukturierung und Privatisierung des ILVA-Konzerns stand, das vom Istituto
nazionale per la ricostruzione industriale (IRI) im September 1993 genehmigt und
von der italienischen Regierung mit Schreiben vom 13. Dezember 1993 der
Kommission übermittelt worden war (vgl. Abschnitt II der Begründung der
Entscheidung). Es ist ebenfalls unstreitig, daß dieses Datum auf Seite 25 unter
Nummer 3.3.4 der Mitteilung der Kommission vom 15. Dezember 1993 an den Rat,
auf die sich die Zustimmung des Rates stützte, stand und daß es nicht im
verfügenden Teil der streitigen Entscheidung, sondern nur in deren Begründung
(Abschnitt II) auftaucht.
- Artikel 95 sieht zwar vor, daß die Entscheidung der Kommission „mit einstimmiger
Zustimmung des Rates“ ergeht, doch bestimmt er nicht die Modalitäten, nach
denen die Kommission um die Zustimmung ersuchen muß. Insbesondere regelt er
nicht eindeutig, ob die Kommission dem Rat einen Entscheidungsentwurf
vorzulegen hat. Die Entscheidungspraxis der Kommission besteht seit den sechziger
Jahren darin, daß sie den Rat mit einer Mitteilung befaßt, in der die grundlegenden
Elemente des nationalen Beihilfenprogramms und die großen Linien der geplanten
Maßnahme wiedergegeben sind. Das Verfahren, das für den Erlaß der
Entscheidung in bezug auf ILVA angewendet wurde, entspricht dieser
Verhaltensweise.
- Die Klägerinnen beanstanden nicht die Praxis, die darin besteht, dem Rat anstatt
eines Entscheidungsentwurfs eine Mitteilung vorzulegen. Sie machen nur geltend,
daß ein wichtiger Punkt der dem Rat vorgelegten Mitteilung nicht in den
verfügenden Teil der streitigen Entscheidung aufgenommen worden sei.
- Diese Rüge könnte nur für den Fall zur Nichtigerklärung der streitigen
Entscheidung wegen Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften führen, daß der
Rat seine Zustimmung nicht erteilt hätte, wenn ihm die Tatsache bekannt gewesen
wäre, daß die Kommission das Datum des 30. Juni 1994 in die Begründung und
nicht in den verfügenden Teil der von ihr zu erlassenden Entscheidung aufnehmen
würde (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 21. März 1990 in der Rechtssache
C-142/87, Belgien/Kommission, Slg. 1990, I-959, und Urteil Skibsværftsforeningen
u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 243).
- Der Rat trägt aber selbst vor, daß er „bestimmte Bedingungen der
Beihilfengewährung präzisiert hat, was von der Kommission ... berücksichtigt
wurde“, und daß er die von der Kommission getroffenen „Maßnahmen inhaltlich
voll und ganz mitgetragen hat“.
- Das Gericht schließt daraus, daß sich die Zustimmung des Rates auf den
wesentlichen Inhalt des Entwurfs der von der Kommission geplanten Maßnahme
bezog und der Kommission hinsichtlich der genauen Form, die die endgültige
Entscheidung aufweisen sollte, einen bestimmten Gestaltungsspielraum beließ. Im
verfügenden Teil der streitigen Entscheidung (Artikel 1 Absatz 1, 4 Absatz 1 und
6) wird auf die absolute Notwendigkeit hingewiesen, das
Umstrukturierungsprogramm einzuhalten, das in Abschnitt II der Begründung der
Entscheidung, in dem das Datum des 30. Juni 1994 ausdrücklich erwähnt wird,
beschrieben ist. Unter diesen Umständen kann nicht behauptet werden, daß die
streitige Entscheidung in einem wesentlichen Punkt von dem abweicht, dem der
Rat zugestimmt hatte.
- Daraus folgt, daß die streitige Entscheidung nicht wegen Abweichung gegen die
Zustimmung des Rates rechtswidrig ist.
Zum behaupteten Verstoß gegen Artikel 97 des EWR-Abkommens
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Die Klägerinnen tragen vor, die Kommission habe nicht das
Beschlußfassungsverfahren nach den Artikeln 97 ff. des EWR-Abkommens
eingehalten, das insbesondere verlange, daß die betreffende Vertragspartei die
übrigen Vertragsparteien von Änderungen ihrer internen Rechtsvorschriften
unterrichte und daß der Gemeinsame EWR-Ausschuß feststelle, daß die
geänderten Rechtsvorschriften das gute Funktionieren des Abkommens nicht
beeinträchtigten. Die Verpflichtung zur Einhaltung dieses Verfahrens ergebe sich
aus Artikel 27 dieses Abkommens in Verbindung mit Artikel 5 des Protokolls
Nr. 14. Diese Vorschriften bildeten einen integralen Bestandteil des
Gemeinschaftsrechts, sie seien für die Organe der Gemeinschaft bei der Ausübung
des ihnen eingeräumten Ermessens verbindlich, und ihre Mißachtung stelle einen
Ermessensfehler dar.
- Nach Ansicht der Kommission ist der Hinweis auf die Artikel 97 ff. des EWR-Abkommens verfehlt. Zum einen handele es sich bei der streitigen Entscheidung
nicht um einen Fall der Änderung der Gesetzgebung. Zum anderen könnten die
Klägerinnen keine eigenen Rechte aus einer eventuellen Mißachtung der fraglichen
Verfahrensvorschriften des Abkommens ableiten. Jedenfalls könne eine Verletzung
von Verfahrensvorschriften nur im EWR-Rahmen geltend gemacht werden, nicht
aber im vorliegenden Rechtsstreit.
Würdigung durch das Gericht
- Die von den Klägerinnen angeführten Vorschriften des EWR-Abkommens
enthalten Verfahrensregeln, die das Verhältnis zwischen den Vertragsparteien im
Rahmen dieses Abkommens betreffen und deren Verletzung einer speziellen Überwachungs- (Artikel 108 ff. des Abkommens) und Streitbeilegungsregelung (Artikel 111 ff. des
Abkommens) unterliegt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Ansicht der
Kommission, daß „die Klägerinnen keine eigenen Rechte aus einer eventuellen
Mißachtung der fraglichen Verfahrensvorschriften des EWR-Abkommens ableiten
[können]“, zutrifft, denn der Erlaß der streitigen Entscheidung stellt offensichtlich
keinen Fall einer Änderung der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft im Sinne der
Artikel 97 und 99 Absatz 1 des EWR-Abkommens dar, da es sich um einen
individuellen und keinen allgemeinen Rechtsakt handelt.
Siebter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
- Nach Ansicht der Klägerinnen verstößt die streitige Entscheidung gegen den
Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Auch wenn dies nicht ausdrücklich in Artikel 95
des Vertrages vorgesehen sei, hätte die Kommission die Beteiligten zu einer
Stellungnahme im Rahmen eines Anhörungsverfahrens auffordern, zumindest aber
die bei ihr beantragten Beihilfegenehmigungen zum Gegenstand einer
Veröffentlichung im Amtsblatt machen müssen und sich nicht darauf beschränken
dürfen, die Eröffnung eines Verfahrens gegen ILVA bekanntzugeben. Eine solche
Verpflichtung ergebe sich in Anlehnung an die Rechtsprechung des Gerichtshofes
zu Artikel 93 Absatz 2 EG-Vertrag (vgl. insbesondere Urteil vom 14. November
1984 in der Rechtssache 323/82, Intermills/Kommission, Slg. 1984, 3809, Randnrn.
15 bis 18) aus allgemeinen verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten. Aus diesem
Grund sehe Artikel 6 Absatz 4 des Beihilfenkodex vor, daß die Kommission vor der
Feststellung, daß eine Beihilfe mit den Bestimmungen des Beihilfenkodex
unvereinbar sei, die Beteiligten zur Stellungnahme auffordere. Dies müsse erst
recht in Fällen gelten, die vom Beihilfenkodex nicht gedeckt seien.
- Die Klägerinnen wenden sich gegen die Auffassung der Kommission, daß ein
Erfordernis, den Konkurrenten von ILVA vor Erlaß der Entscheidung rechtliches
Gehör zu gewähren, wegen des außergewöhnlichen Charakters einer Ad-hoc-Entscheidung im Sinne von Artikel 95 des Vertrages nicht bestanden habe. Diese
Auffassung sei mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang zu bringen und
widerspreche der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofes. Zudem genüge
eine bloße mittelbare Kenntnisnahme von der Eröffnung des
Genehmigungsverfahrens über Eurofer oder im Rahmen des Beratenden
Ausschusses der EGKS nicht. Die Kenntnisnahme über Eurofer sei nicht geeignet
gewesen, Einzelheiten des zugrundeliegenden Sachverhalts erkennbar zu machen,
und im Beratenden Ausschuß hätten einzelne Unternehmen keine realistische
Möglichkeit, ihre eigenen Bemerkungen vorzubringen.
- Die Kommission, unterstützt durch die Italienische Republik, weist darauf hin, daß
es keine Vorschriften über die Anhörung von Konkurrenten im Rahmen von Ad-hoc-Entscheidungen nach Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages gebe. Angesichts des
außergewöhnlichen Charakters dieser Entscheidungen sei wohl auch die
Rechtsprechung zu Artikel 93 Absatz 2 EG-Vertrag nicht anwendbar. Ebensowenig
liege ein Verstoß gegen die Verfahrensregeln des Artikels 6 des Beihilfenkodex vor.
Beabsichtige die Kommission, eine negative Entscheidung zu Beihilfevorhaben zu
treffen, weil diese mit Artikel 4 Buchstabe c des Vertrages unvereinbar seien, so
sei das Verfahren nach den Bestimmungen des Kodex einzuleiten; gelange die
Kommission jedoch mit Zustimmung des Rates nach Anhörung des Beratenden
Ausschusses der EGKS zu der Auffassung, daß eine Beihilfegenehmigung nach
Artikel 95 des Vertrages zu erteilen sei, so sei insoweit das Verfahren dieses
Artikels anzuwenden, das keine vorherige Anhörung der Konkurrenten vorsehe.
Jedenfalls hätten die Klägerinnen hinreichend Gelegenheit gehabt, sich in jeder
Phase des Verfahrens zu äußern, über dessen Ablauf sie sich über Eurofer und in
ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Beratenden Ausschusses, der gemäß Artikel 95
Absatz 1 des Vertrages anzuhören sei, hätten informieren können. Aus den
Sitzungsprotokollen des Beratenden Ausschusses ergebe sich, daß die Vertreter fast
aller Klägerinnen in diesem Ausschuß mitgewirkt hätten und einige von ihnen zu
dem Beihilfevorhaben Stellung genommen hätten.
Würdigung durch das Gericht
- Die streitige Entscheidung wurde auf der Grundlage von Artikel 95 Absätze 1 und
2 des Vertrages erlassen. Diese Vorschrift sieht die Zustimmung des Rates und die
obligatorische Anhörung des Beratenden Ausschusses der EGKS vor. Sie begründet
keinen Anspruch der Adressaten der Entscheidungen und der Beteiligten auf
rechtliches Gehör. Artikel 6 Absatz 4 des Fünften Beihilfenkodex führt dagegen
einen solchen Anspruch wie folgt ein: „Stellt die Kommission, nachdem sie die
Beteiligten zur Stellungnahme aufgefordert hat, fest, daß eine Beihilfe nicht mit den
Bestimmungen der vorliegenden Entscheidung vereinbar ist, so unterrichtet sie den
betreffenden Mitgliedstaat von ihrer Entscheidung.“ Diese Vorschrift war in allen
dem geltenden Kodex vorausgegangenen Beihilfenkodizes von dem ersten an (vgl.
Entscheidung Nr. 257/80/EGKS der Kommission vom 1. Februar 1980 zur
Einführung von gemeinschaftlichen Regeln über spezifische Beihilfen zugunsten der
Eisen- und Stahlindustrie, ABl. L 29, S. 5) enthalten.
- Die Klägerinnen sind der Ansicht, die Kommission habe gegen den Grundsatz des
rechtlichen Gehörs verstoßen, da sie auch ohne eine ausdrückliche Bestimmung in
Artikel 95 des Vertrages ihnen gegenüber ein kontradiktorisches Verfahren nach
dem Vorbild von Artikel 6 des Fünften Beihilfenkodex hätte einleiten müssen. Sie
ziehen außerdem eine Parallele zwischen Artikel 95 EGKS-Vertrag und Artikel 93
Absatz 2 EG-Vertrag, um daraus einen allgemeinen Grundsatz herzuleiten, der die
Kommission verpflichte, die Betroffenen systematisch immer dann am Verfahren
zu beteiligen, wenn sie die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Vertrag
zu beurteilen habe.
- Es kann dahingestellt bleiben, ob es einen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen
Grundsatz gibt, der den Beteiligten einen Anspruch auf rechtliches Gehör in einem
Beschlußfassungsverfahren im Bereich der staatlichen Beihilfen verleiht, denn die
Klägerinnen hatten im Rahmen des Verfahrens zum Erlaß der streitigen
Entscheidung gemäß Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages, der die Anhörung des
Beratenden Ausschusses der EGKS vorsieht, jedenfalls Gelegenheit, ihren
Standpunkt in diesem Ausschuß zu Gehör zu bringen. Gemäß Artikel 18 desVertrages besteht dieser Ausschuß nämlich aus Mitgliedern, die die Erzeuger, die
Arbeitnehmer, die Verbraucher und die Händler vertreten. Aus dem Verzeichnis
der Mitglieder des Ausschusses (Anlage 5 zur Gegenerwiderung) ergibt sich, daß
drei der Klägerinnen, nämlich die Wirtschaftsvereinigung Stahl, die Preussag Stahl
und die Hoogovens Groep, in dem Ausschuß hochrangig vertreten waren. Die
Thyssen Stahl konnte ihren Standpunkt über die Wirtschaftsvereinigung Stahl zu
Gehör bringen, in der sie eine bedeutende Rolle spielte, wie die Kommission
vorträgt, ohne daß ihr die Thyssen Stahl in diesem konkreten Punkt widersprochen
hätte. Es ist unstreitig, daß die Frage der Beihilfen an ILVA innerhalb des
Ausschusses lange erörtert wurde und daß die Vertreter der Klägerinnen anwesend
waren und entweder persönlich oder über die Wirtschaftsvereinigung Stahl zu den
von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen Stellung genommen haben.
- Im übrigen steht fest, daß die Klägerinnen ihren Standpunkt zu den fraglichen
Beihilfen vor Erlaß der angefochtenen Entscheidung im Rahmen des gemäß Artikel
6 Absatz 4 des Beihilfenkodex eingeleiteten Verfahrens hätten zur Kenntnis
bringen können, solange die Italienische Republik der Kommission noch nicht das
neue Programm zur Umstrukturierung und Privatisierung des ILVA-Konzerns
gemeldet hatte (Abschnitt II der Begründung der angefochtenen Entscheidung).
Dieses Verfahren wurde gleichzeitig mit dem Erlaß dieser Entscheidung eingestellt,
wie sich aus Abschnitt VIII ihrer Begründung ergibt.
- Daraus folgt, daß die streitige Entscheidung jedenfalls nicht wegen Verstoßes gegen
die Verpflichtung zur Einleitung eines kontradiktorischen Verfahrens rechtswidrig
ist.
- Nach allem ist die Nichtigkeitsklage abzuweisen.
Kosten
- Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Aus dem Vorstehenden folgt, daß
die Klägerinnen mit ihrem auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung
gerichteten Vorbringen unterlegen sind. Da die Kommission und ILVA, die sie als
Streithelferin unterstützt hat, einen entsprechenden Antrag gestellt haben, sind den
Klägerinnen deren Kosten aufzuerlegen.
- Nach Artikel 87 § 4 Absatz 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten
und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen
Kosten. Folglich haben der Rat und die Italienische Republik als Streithelfer ihre
eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen
hatDAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
- Die Klage wird abgewiesen.
- Die Klägerinnen werden zur Tragung der Kosten der Beklagten und der
Streithelferin ILVA Laminati Piani SpA verurteilt.
- Der Rat und die Italienische Republik tragen ihre eigenen Kosten.
SaggioKalogeropoulos
Tiili
Potocki Moura Ramos
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 24. Oktober 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
A. Saggio
1: Verfahrenssprache: Deutsch.